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   5  -  Rache ist sauer  

<Tribüne>, 9.11.1945 

 

 

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Immer wenn ich etwas von ›Kriegsschuldprozessen‹ lese, ›Bestrafung von Kriegsverbrechern‹ und so weiter, kommt mir die Erinnerung an eine Episode, die ich vor kurzem in diesem Jahr in einem Kriegsgefangenenlager in Süddeutschland erlebt habe. 

Ein anderer Korrespondent und ich wurden von einem kleinen Wiener Juden durch das Lager geführt, der bei jener Abteilung der amerikanischen Armee eingestellt worden war, die sich mit dem Verhör der Gefangenen befaßt. Er war ein aufgeweckter, blonder, recht gut aussehender junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren und politisch so viel besser beschlagen als der amerik­anische Durchschnittsoffizier, daß es Freude machte, mit ihm zusammen zu sein.

Das Lager befand sich auf einem Flugplatz, und nachdem wir die einzelnen Teile besichtigt hatten, brachte unser Führer uns zu einem Hangar, in dem verschiedene Gefangene, die einer anderen Kategorie angehörten, besonders gründlich ›durchleuchtet‹ wurden.

An dem einen Ende des Hangars lagen ungefähr ein Dutzend Männer in einer Reihe auf dem Zementboden. Das, so wurde uns erklärt, waren SS-Offiziere, die man von den übrigen Gefangenen getrennt hatte. Unter ihnen befand sich ein Mann in schäbiger Zivilkleidung, der einen Arm über sein Gesicht gelegt hatte und anscheinend schlief. Er hatte seltsame und schrecklich deformierte Füße. Beide waren zwar ganz symmetrisch, liefen aber keulenartig zu einer so absonderlichen Kugelform aus, daß sie eher wie Pferde- denn wie Menschenfüße anmuteten. Als wir uns der Gruppe näherten, schien der kleine Jude sich wie unter einem Zwang in einen Zustand der Erregung hineinzusteigern.

»Der ist ein wirkliches Schwein!« sagte er, holte plötzlich mit seinem schweren Armeestiefel aus und versetzte dem ausgestreckt daliegenden Mann einen fürchterlichen Tritt genau gegen die Anschwellung eines seiner deformierten Füße.

»Get up, you swine!« schrie er, als der Mann aus dem Schlaf hochschreckte, und wiederholte diese Aufforderung dann anscheinend noch auf deutsch. Der Gefangene rappelte sich mühsam auf und nahm eine unbeholfene Achtungstellung ein. Mit der gleichen krampfhaften Art, sich in Wut zu steigern — er konnte sich tatsächlich nur mit Mühe beherrschen, nicht von einem Fuß auf den anderen zu tänzeln —, erzählte der Jude uns die Geschichte des Gefangenen. Er war ein ›echter‹ Nazi: seine Partei-Mitgliedsnummer zeigte daß er schon fast von Anfang an dabeigewesen war, und er hatte eine Stellung in der politischen Abteilung der SS, die der eines Generals entsprach. Man konnte ziemlich sicher sein, daß er Konzentrationslager befehligt und Folterungen sowie Erhängungen angeordnet hatte. Kurz gesagt, er repräsentierte alles, wogegen wir in den vergangenen fünf Jahren gekämpft hatten.

Inzwischen betrachtete ich den Mann eingehend. Ganz abgesehen von dem abgerissenen, hungrigen und stoppelbärtigen Aussehen, das ein vor kurzem gefangengenommener Mann gewöhnlich hat, war er ein besonders abstoßendes Exemplar. Dabei sah er jedoch nicht etwa brutal oder in irgendeiner Weise furchterregend aus: lediglich neurotisch und auf niedrige Art intelligent. Seine blassen, unsteten Augen waren von starken Brillengläsern entstellt. Er konnte genausogut ein aus dem Amt entlassener Priester sein, ein von Trunksucht ruinierter Schauspieler oder ein spiritistisches Medium. Ich habe ähnliche Leute in Londoner Herbergen für Obdachlose gesehen und auch im Lesesaal des Britischen Museums. Ganz offensichtlich war er geistesgestört — auf jeden Fall nur bedingt zurechnungsfähig, auch wenn er in diesem Moment genügend beieinander zu sein schien, um sich vor einem weiteren Fußtritt zu fürchten.

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Und dennoch konnte alles, was der Jude mir über ihn erzählte, wahr sein und war es sicherlich auch! So schrumpfte der Nazi-Folterknecht unserer Vorstellungen, das Ungeheuer in Menschengestalt, gegen das wir so viele Jahre gekämpft hatten, zu diesem erbärmlichen kleinen Wicht zusammen, der offensichtlich nicht so sehr einer Bestrafung als vielmehr einer psychiatrischen Behandlung bedurfte.

Später sahen wir noch weitere Erniedrigungen. Ein anderer SS-Offizier, ein großer, muskulöser Mann, mußte seinen Oberkörper bis zur Hüfte entblößen, um uns seine auf den Unterarm tätowierte Blutgruppennummer zu zeigen; wieder ein anderer wurde gezwungen, uns zu erklären, wie er seine Mitgliedschaft bei der SS abgestritten und mit Lügen versucht hatte, als normaler Soldat der Wehrmacht durchzukommen. Ich fragte mich, ob der Jude wirklich echtes Vergnügen an dieser neugefundenen und von ihm ausgeübten Macht hatte. Und ich kam zu dem Schluß, daß er es nicht wirklich genoß, sondern sich lediglich - wie ein Mann in einem Bordell, oder ein Junge, der seine erste Zigarre raucht, oder ein durch eine Gemäldegalerie latschender Tourist — vormachte, daß er Vergnügen daran fände, und sich so benahm, wie er es sich in den Tagen seiner Hilflosigkeit vorgenommen hatte.

Es ist absurd, einen deutschen oder österreichischen Juden dafür zu tadeln, daß er erlittenes Leid den Nazis heimzahlt. Der Himmel weiß, was für eine Rechnung dieser Mann hier zu begleichen haben mochte; höchstwahrscheinlich war seine ganze Familie ermordet worden; und letzten Endes ist selbst ein willkürlicher, harter Fußtritt für einen Gefangenen eine überaus geringe Sache, verglichen mit jenen Greueltaten, die das Hitlerregime begangen hat. Doch diese Szene und vieles andere, was ich in Deutschland sah, haben mir eindringlich vor Augen geführt, daß die ganze Vorstellung von Vergeltung und Bestrafung eine kindische Traumvorstellung ist.

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Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.

Wer wäre nicht 1940 bei dem Gedanken, SS-Offiziere mit Füßen getreten und erniedrigt zu sehen, vor Freude in die Luft gesprungen? Doch wenn dieses Handeln möglich wird, erscheint es einem nur noch pathetisch und widerlich. Als Mussolinis Leichnam öffentlich zur Schau gestellt wurde, soll eine alte Frau, so erzählt man, einen Revolver gezogen und fünf Schüsse mit dem Ausruf: »Die sind für meine fünf Söhne!« hineingefeuert haben. Das ist so eine Geschichte, wie sie die Zeitungen erfinden, aber sie könnte auch wahr sein. Ich frage mich, wieviel Genugtuung die Frau aus diesen fünf Schüssen bezogen hat, von denen sie zweifellos schon jahrelang geträumt hatte. Aber als Voraussetzung dafür, daß sie nahe genug an Mussolini herankommen konnte, um auf ihn zu schießen, mußte er eben erst eine Leiche sein.

Die breite Öffentlichkeit in diesem Lande ist insofern mitverantwortlich für die ungeheuerlichen Friedensbedingungen, die man Deutschland jetzt aufzwingt, weil niemand rechtzeitig im voraus einsehen will, daß die Bestrafung eines Feindes keine Genugtuung verschafft. Wir haben seelenruhig Verbrechen wie die Vertreibung aller Deutschen aus Ostpreußen hingenommen — Verbrechen, die wir in manchen Fällen nicht verhindern, gegen die wir jedoch zumindest hätten protestieren können —, weil die Deutschen uns geärgert und Angst gemacht hatten; und deshalb waren wir sicher, daß wir kein Mitleid mit ihnen haben würden, wenn sie einmal am Boden lägen. Wir verfolgen diese Methode weiter oder lassen sie andere in unserem Namen ausüben, weil wir das unbestimmte Empfinden haben, wir müßten Deutschland unbedingt bestrafen, da wir nun einmal mit diesem Vorsatz dagegen zu Felde gezogen sind.

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In Wirklichkeit gibt es inzwischen in diesem Lande sehr wenig echten, tiefen Haß gegen Deutschland, und noch weniger glaube ich in der Besatzungsarmee finden zu können. Nur eine Minderheit von Sadisten, die aus irgendeiner Quelle ihre ›Ungeheuerlichkeiten‹ beziehen müssen, haben ein brennendes Interesse an der Hetzjagd auf Kriegsverbrecher und Quislinge und deren Ergreifung. Wenn man den Durchschnittsbürger fragt, welcher Verbrechen Göring, Ribbentrop und die übrigen an ihrem Prozeß zu beschuldigen seien, wird er es nicht sagen können. Die Bestrafung dieser Unmenschen scheint irgendwie nicht mehr attraktiv zu sein, sobald sie möglich geworden ist: in der Tat hören sie fast auf. Ungeheuer zu sein, wenn sie erst einmal hinter Schloß und Riegel sitzen.

Unglücklicherweise braucht es oftmals einen konkreten Fall, ehe jemand seine wahren Gefühle entdecken kann. Hier ist eine andere Erinnerung aus Deutschland. Ein paar Stunden nach der Einnahme Stuttgarts durch die französische Armee rückten ein belgischer Journalist und ich in die Stadt ein, in der noch alles drunter und drüber ging. Der Belgier hatte während des ganzen Krieges Sendungen für den Europadienst der BBC gemacht und, wie fast alle Franzosen oder Belgier, eine wesentlich schroffere Einstellung gegenüber den ›Boches‹ als ein Engländer oder Amerikaner. Alle großen Brücken in der Stadt waren in die Luft gejagt worden, und wir mußten über eine schmale Fußgängerbrücke gehen, die die Deutschen offensichtlich heftig verteidigt hatten. Ein gefallener deutscher Soldat lag ausgestreckt auf dem Rücken am Fuß der Brückenstufen. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe. Auf seine Brust hatte jemand einen Strauß blauen Flieder gelegt, der hier überall blühte.

Der Belgier wandte sein Gesicht ab, als wir vorbeigingen. Wir waren schon fast über die Brücke, da gestand er mir, daß dies der erste Tote war, den er in seinem Leben gesehen hatte.

Ich glaube, er war etwa fünfunddreißig Jahre alt und hatte vier Jahre lang Kriegspropaganda über das Radio gemacht. Noch etliche Tage nach diesem Zwischenfall war seine Haltung völlig anders als zuvor. Mit Abscheu betrachtete er die zerbombte Stadt und die Demütigungen, denen die Deutschen ausgesetzt waren, und bei einer Gelegenheit schritt er sogar selbst ein, um einen besonders häßlichen Fall von Plünderung zu verhindern. Als er abreiste, gab er den Deutschen, bei denen wir einquartiert waren, den Rest des Kaffees, den wir mitgebracht hatten. 

Noch vor einer Woche wäre er wahrscheinlich schockiert gewesen bei dem Gedanken, einem <Boche> Kaffee zu schenken. Aber seine ganze gefühlsmäßige Einstellung, so erzählte er mir, hätte sich beim Anblick dieses <pauvre mort> am Fuße der Brücke gewandelt: ihm sei plötzlich die Bedeutung des Krieges zum Bewußtsein gekommen. 

Doch wenn wir die Stadt nun zufällig über einen anderen Zugang betreten hätten, wäre ihm womöglich sogar dieses Erlebnis des Anblicks eines einzigen Toten von den — vielleicht — zwanzig Millionen erspart geblieben, die dieser Krieg zur Folge hatte.

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