9 - Politik contra Literatur - Eine Untersuchung von Gullivers Reisen
<Polemic>, Oktober 1946
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In <Gullivers Reisen> wird die Menschheit von wenigstens drei verschiedenen Seiten angegriffen oder kritisiert, wobei sich notwendigerweise der ursprüngliche Charakter Gullivers beträchtlich ändert.
Im ersten Teil ist er der typische Reisende des 18. Jahrhunderts, kühn, praktisch und unromantisch, von gutbürgerlichen Anschauungen, mit denen der Leser gleich am Anfang geschickt durch biographische Einzelheiten vertraut gemacht wird. So mit seinem Alter (er ist zu Beginn seiner Abenteuer ein Mann von vierzig mit zwei Kindern) und dem Inhalt seiner Taschen, vor allem mit dem Fernrohr, das mehrmals erwähnt wird.
Im zweiten Teil ist er im wesentlichen der gleiche, außer er verwandelt sich, wo die Erzählung es verlangt, in einen Querkopf, der imstande ist, sein Vaterland als Beschützer der Musen und Waffenkünste, als Geißel Frankreichs etc., etc., in den Himmel zu heben, um gleichzeitig jeden nur aufspürbaren Mißstand in dem Lande anzuprangern, das er angeblich liebt.
Im dritten Teil ist er im großen und ganzen der gleiche wie im ersten, obwohl man den Eindruck hat, daß er sozial aufgestiegen ist, da er hauptsächlich mit Höflingen und gebildeten Männern verkehrt.
Im vierten Teil verrät er einen Abscheu gegen das Menschengeschlecht, der in den früheren Abschnitten nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad erscheint und zu einer Art nicht religiösen Einsiedlertums wird, mit dem einzigen Wunsch, irgendwo allein zu leben, um ungestört über die Vollkommenheit der Houyhnhnms nachzudenken. Immerhin wird Swift zu diesen Sprüngen dadurch gezwungen, daß Gulliver hauptsächlich als Kontrastfigur dient.
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So ist es zum Beispiel notwendig, ihn im ersten Teil ganz vernünftig und im zweiten wenigstens stellenweise als Querkopf zu zeichnen, da in beiden Büchern das Hauptanliegen das gleiche ist, nämlich den Menschen als Wesen lächerlich zu machen, indem man ihn als ein sechs Inch großes Geschöpf präsentiert. Wenn Gulliver nicht als bloße Marionette handelt, ist seinem Charakter eine Art von Kontinuität eigen, die besonders bei seinem praktischen Einfallsreichtum und der Beobachtung physikalischer Vorgänge auffällt. Er ist fast die gleiche Person, auch in bezug auf den Stil seiner Erzählung, wenn er die Kriegsflotte von Blefuscu an einer Schnur hinter sich herzieht, wenn er der Riesenratte den Bauch aufschlitzt oder in einem kleinen gebrechlichen, aus dem Fell von Yahoos verfertigten Boot auf den Ozean hinaussegelt.
Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, daß Gulliver in seinen besten Momenten einfach Swift selbst ist, zumindest gibt es ein Vorkommnis, in dem Swift seinem privaten Groll gegen die Gesellschaft seiner Zeit Luft machte. Man wird sich erinnern, daß er beim Brand des Kaiserpalastes von Lilliput die Flammen löscht, indem er seinen Urin über sie ausgießt. Statt daß man ihn zu seiner Geistesgegenwart beglückwünscht, erfährt er, daß er ein Kapitalverbrechen begangen hat, dadurch, daß er im Bereich des Palastes Wasser ließ, und:
»... man versicherte mir insgeheim, daß die Kaiserin in höchster Abscheu vor meiner Tat den entlegensten Flügel des Palastes bezogen hatte, fest entschlossen, jene Gebäude nie wieder für ihren Gebrauch herrichten zu lassen, ja, daß sie es sich in Gegenwart ihrer engsten Vertrauten nicht hatte versagen können, Rache zu schwören ...«
Nach Professor G. M. Trevelyan (England unter Königin Anna) ist es Swift nicht gelungen, eine Pfründe zu bekommen, weil Königin Anna über <A Tale of a Tub>* schockiert war, eine Schrift, mit der Swift wahrscheinlich der englischen Krone einen großen Dienst erwiesen zu haben glaubte, weil darin die Abtrünnigen der Anglikanischen Kirche und mehr noch die Katholiken gegeißelt werden, die Staatskirche aber ungeschoren bleibt.
* <Erzählung von einer Tonne>, erschienen 1704.
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Jedenfalls kann niemand bestreiten, daß <Gullivers Reisen> ein ebenso böses wie pessimistisches Buch ist und besonders im ersten und dritten Teil in kleinlicher Weise politisch Partei nimmt. Kleinlichkeit und Großzügigkeit, Republikanertum und Autoritätsgläubigkeit, Liebe zur Vernunft und Mangel an Neugier, alles in buntem Gemisch. Der Ekel vor dem menschlichen Körper, besonders kennzeichnend für Swift, nimmt nur im vierten Teil eine dominierende Stellung ein, aber dieses ärgerliche Element kommt nicht überraschend. Man fühlt, daß all diese Abenteuer und Wandlungen der Einstellung zu ein und derselben Person gehören, und daß der Zusammenhang zwischen Swifts politischen Überzeugungen und seiner Verzweiflung am Ende eine der interessantesten Aspekte des Buches ist.
Politisch gehört Swift zu denen, die durch die Verrücktheiten der Fortschrittspartei der damaligen Zeit in ein unnatürliches Torytum hineingetrieben wurden. Teil I von Gullivers Reisen, scheinbar eine Verspottung menschlicher Größe, kann, wenn man etwas schärfer hinsieht, einfach als Angriff auf England, auf die herrschende Whig-Partei und den Krieg gegen Frankreich aufgefaßt werden, der immerhin, so fadenscheinig die Gründe der Alliierten auch sein mochten, Europa vor der Tyrannei einer einzigen reaktionären Großmacht gerettet hat. Swift war kein Jacobit, genaugenommen auch kein Tory, und das von ihm vertretene Kriegsziel war ein Verhandlungsfriede und nicht eine wirkliche Niederlage Englands. Trotzdem ist seine Haltung eine Spur landesverräterisch, was am Ende des ersten Teils deutlich erkennbar wird und der Allegorie des Ganzen ein wenig widerspricht.
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Als Gulliver aus Lilliput (England) nach Blefuscu (Frankreich) flieht, scheint die Annahme fallengelassen zu sein, daß ein menschliches Wesen, das nur sechs Inch groß ist, zwangsläufig verächtlich wirkt. Während sich die Leute von Lilliput zu Gulliver mit größter Niederträchtigkeit und Gemeinheit benommen haben, kommen ihm die von Blefuscu großzügig und aufrichtig entgegen, und dieser Abschnitt des Buches endet in der Tat in einem ganz anderen Ton als die vorangegangenen Kapitel mit ihrer durchgängigen Enttäuschung. Offensichtlich ist Swift in erster Linie gegen England eingestellt.
Es sind »Eure Eingeborenen« (das heißt, Gullivers Landsleute), die der König von Brobdingnag als »die gefährlichste Art von kleinen, abscheulichen Insekten, die mit Erlaubnis der Natur jemals über die Erde gekrochen sind« bezeichnet; und der lange Abschnitt am Schluß, in dem Kolonial- und Eroberungspolitik gegeißelt werden, zielt ganz eindeutig auf England, auch wenn dieses ausdrücklich geleugnet wird. Die Niederländer, Englands Verbündete und Zielscheibe einer der berühmten Streitschriften Swifts, werden gleichfalls mehr oder weniger grundlos im dritten Teil angegriffen. Dort findet sich sogar so etwas wie eine persönliche Bemerkung, und zwar in dem Absatz, in dem Gulliver seiner Befriedigung darüber Ausdruck gibt, daß die verschiedenen von ihm entdeckten Länder niemals Kolonien der Britischen Krone werden könnten:
»Die Houyhnhnms scheinen tatsächlich nicht auf einen Krieg vorbereitet zu sein; Krieg ist eine Wissenschaft, die ihnen vollkommen fremd ist, besonders in bezug auf Schußwaffen. Dennoch könnte ich, angenommen ich wäre ein Minister, nie einen Angriff auf sie befürworten ... Man stelle sich vor, wie 20.000 von ihnen mitten in eine europäische Armee hineinstürmen, die Reihen verwirren, den Wagenpark umstürzen und die Gesichter der Soldaten durch die furchtbaren Schläge ihrer Hinterhufe zu Brei zermalmen.«
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In Anbetracht der Tatsache, daß Swift seine Worte nicht vergeudet, scheint der Ausdruck »die Gesichter der Soldaten zu Brei zermalmen« den geheimen Wunsch zu verraten, es möge den unbesiegbaren Armeen des Herzogs von Marlborough ähnlich ergehen. Derartige Andeutungen finden sich auch an andern Stellen. So heißt im dritten Teil das Land, »in dem der Hauptteil der Bevölkerung aus Schnüfflern, Augenzeugen, Informanten, Anklägern, Staatsanwälten, Falschschwörern mit ihren verschiedenen untergeordneten Organen und Helfershelfern besteht, alle im Dienst und Sold der Staatsminister«, Langdon, das abgesehen von einem Buchstaben, ein Anagramm von England ist. (Da die ersten Auflagen des Buches Druckfehler enthielten, so ist es ursprünglich vielleicht ein vollkommenes Anagramm gewesen.)
Swifts physischer Abscheu vor der Menschheit ist sicherlich echt, aber man wird das Gefühl nicht los, daß seine Verachtung menschlicher Größe, seine gehässigen Angriffe auf Lords, Politiker, Günstlinge des Hofes etc. begrenzte Bedeutung und ihren eigentlichen Grund in dem Umstand haben, daß er zu der Partei gehörte, die nicht an der Macht war. Er wendet sich gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, aber nichts deutet auf eine Zuneigung zur Demokratie hin.
Trotz seiner unendlichen geistigen Überlegenheit ist seine Einstellung unausgesprochen eine ähnliche wie die der zahllosen dumm-schlauen Konservativen von heute — Leuten wie Sir Alan Herbert, Professor G. M. Young, Lord Elton, dem Tory-Reform-Ausschuß oder der langen Reihe von Sympathisanten mit dem Katholizismus, angefangen von W. H. Mallock: Leute, die ihre Hauptaufgabe in überflüssigen Witzen über alles sehen, was <modern> oder <fortschrittlich> ist, und deren Ansichten oft um so überspitzter sind, weil sie wissen, daß sie den Gang der Ereignisse nicht beeinflussen können.
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Schließlich ähnelt ein Pamphlet wie <Ein Argument, um zu beweisen, daß die Abschaffung des Christentums>* .... sehr stark <Timothy Shy>, der ein bißchen echtes Vergnügen an dem <Gehirn-Trust> hat, oder Pater Ronald Knox, der die Irrtümer von Bertrand Russell aufzählt. Und die Leichtigkeit, mit der man Swift die Blasphemien in A Tale of a Tub verziehen hat — manchmal sogar von strenggläubiger Seite —, zeigt deutlich, wie schwach der religiöse Glaube im Vergleich zu politischer Gesinnung ist.
Die reaktionäre Seite von Swifts Denken tritt jedoch nicht hauptsächlich in seiner politischen Stellung in Erscheinung. Wichtiger ist seine Einstellung zur Wissenschaft und im weiteren Sinne zur intellektuellen Neugier.
Die berühmte >Akademie von Lagado< im dritten Teil von Gullivers Reisen ist zweifelsohne eine berechtigte Satire auf die sogenannten Wissenschaftler zur Zeit Swifts. Bezeichnend ist, daß die Mitglieder der Akademie als >Erfinder< beschrieben werden, die also nicht der rein wissenschaftlichen Forschung dienen, sondern sich lediglich damit beschäftigen, neue technische Hilfsmittel aufzuspüren, die arbeitsparend und gewinnbringend sind. Tatsächlich deutet nichts im ganzen Buch darauf hin — vieles spricht eher für das Gegenteil —, daß rein wissenschaftliche Forschung von Swift höher eingeschätzt worden wäre. Die ernsteren Wissenschaftler haben bereits im zweiten Teil ihren Tritt bekommen, wenn der König von Brobdingnag die >Gelehrten< unter seiner Schirmherrschaft beauftragt, nach einer Erklärung für die kleine Figur Gullivers zu suchen:
»Nach vielem Diskutieren kamen sie einstimmig zu dem Schluß, daß ich nur ein Relplum Scalcath sei, was wörtlich übersetzt Lusus Naturae bedeutet, ein überaus willkommener Begriff für die moderne Philosophie Europas, deren Anhänger, die die alte Ausflucht der okkulten Ursachen verschmähen, hinter der die Schüler des Aristoteles umsonst ihre Unwissenheit zu verbergen suchten, diese wundervolle Lösung aller Schwierigkeiten ersonnen haben, und zwar zum unaussprechlichen Nutzen der menschlichen Weisheit.«
*.... vielleicht nicht so gute Effekte haben wird etc., erschienen 1711.
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Wäre dies die einzige Stelle, so könnte man annehmen, daß Swift lediglich ein Feind jeder After-Wissenschaft gewesen sei. Er schiebt jedoch an mehreren Stellen in seine Erzählungen Bemerkungen ein, in denen er die gesamte Wissenschaft und philosophische Spekulation für wertlos erklärt, die nicht auf irgendein praktisches Ziel gerichtet sind.
»Die Bildung der Einwohner von Brobdingnag ist sehr spärlich und beschränkt sich auf die Moral, Geschichte, Poesie und Mathematik, in der sie, wie man zugeben muß, hervorragend sind. Aber letztere ist gänzlich auf das gerichtet, was von Nutzen für das Leben sein und der Verbesserung der Landwirtschaft und aller mechanischen Einrichtungen dienen könnte, so daß sie bei uns nur gering geschätzt werden würde. Und was Ideen, Wesenheiten, Abstraktionen und Transzendentalbegriffe angeht, so konnte ich nie auch nur die leiseste Vorstellung davon in ihren Kopf treiben.«
Die Houyhnhnms, Swifts Idealwesen, sind sogar auf mechanischem Gebiet rückständig. Metalle sind ihnen unbekannt, von Schiffen haben sie nie etwas gehört, sie treiben nicht wirklich Landwirtschaft (es heißt, daß der Hafer, von dem sie leben, <wild wächst>), und scheinen noch nicht das Rad erfunden zu haben1). Sie haben kein Alphabet und zeigen keine Wißbegierde in bezug auf die Umwelt. Sie glauben nicht, daß es außer ihrem eigenen noch ein anderes bewohntes Land gibt, und wenn ihnen auch die Bewegungen von Sonne und Mond bekannt sind und auch die Natur von Eklipsen — »das ist die äußerste Grenze ihres Fortschritts auf astronomischem Gebiet«.
Im Gegensatz dazu sind die Gelehrten der <Fliegenden Insel Laputa> so ausschließlich von Mathematik absorbiert, daß man ihnen, ehe man mit ihnen sprechen kann, eine Schweinsblase um die Ohren hauen muß, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
1) Houyhnhnms, die zum Laufen zu alt sind, werden auf »Schlitten« befördert, oder »mit einer Art von Vehikel, das wie ein Schlitten gezogen wird«, also vermutlich ohne Räder (Orwell).
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Sie haben eine Liste von 10.000 Fixsternen angefertigt, die periodischen Umläufe von 93 Kometen festgestellt und noch vor den europäischen Astronomen entdeckt, daß der Mars zwei Monde besitzt, lauter Errungenschaften, die Swift offensichtlich für lächerlich, wertlos und uninteressant hält. Wie zu erwarten, ist er der Auffassung, daß der Platz des Wissenschaftlers, wenn er überhaupt einen hat, das Laboratorium ist, und daß wissenschaftliche Erkenntnisse keinen Einfluß auf das politische Geschehen haben:
»Was mir .... nachgerade unverständlich erschien, war die große Vorliebe, die ich bei ihnen für Nachrichten und Politik beobachtete, wobei sie sich persönlich vom Stand der öffentlichen Angelegenheiten überzeugten, ihr Urteil über Staatsgeschäfte abgaben und leidenschaftlich über jede Zeile eines Parteiprogramms diskutierten. Die gleiche Vorliebe habe ich unter den meisten Mathematikern beobachtet, die ich in Europa kennengelernt habe, auch wenn ich nie die geringste Verwandtschaft zwischen den beiden Disziplinen habe entdecken können, es sei denn, diese Leute seien der Auffassung, daß, weil der kleinste Kreis ebenso viele Grade enthält wie der größte, die Regulierung und Handhabung der Weltgeschäfte nicht mehr Fähigkeiten erfordere, als einen Globus zu drehen.«
Klingt da nicht etwas Vertrautes in dem Satz an: »Ich konnte nie auch nur die geringste Verwandtschaft zwischen den beiden Disziplinen entdecken«? Er hat genau den gleichen Ton wie die populären, katholischen Kanzelredner, die sehr überrascht tun, wenn ein Wissenschaftler seine Meinung über Fragen äußert, wie die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele. Der Wissenschaftler, so wird uns erklärt, ist nur für sein begrenztes Fachgebiet zuständig — wie kann da seine Meinung auf einem andern Gebiet von Wert sein? Dabei wird unterstellt, daß Theologie eine genauso exakte Wissenschaft ist wie etwa Chemie, und daß der Priester gleichfalls Fachmann ist, dessen Schlußfolgerungen auf bestimmte Fragen akzeptiert werden müssen.
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Swift erhebt denselben Anspruch für den Politiker — er geht nur noch einen Schritt weiter, indem er dem Wissenschaftler, sei es dem <reinen>, sei es dem <anwendenden> Forscher jeden Nutzen auch auf dessen ureigenstem Gebiet abspricht. Selbst wenn er den dritten Teil von Gullivers Reisen nicht geschrieben hätte, könnte man aus dem übrigen Buch schließen, daß ihm, wie Tolstoi und Blake, der bloße Gedanke, Naturvorgänge zu erforschen, verhaßt ist.
Die <Vernunft>, die er bei den Houyhnhnms so sehr bewundert, bedeutet nicht unbedingt die Fähigkeit, aus beobachteten Tatsachen logische Schlüsse zu ziehen. Obwohl er sie nicht klar definiert, geht aus dem Zusammenhang doch hervor, daß er damit meistens entweder den <gesunden Menschenverstand> meint, das heißt Sinn für das Offensichtliche und Verachtung alles Rätselhaften und Abstrakten — oder Mangel an Leidenschaft und Aberglauben. Ganz allgemein geht er davon aus, daß wir bereits alles wissen, was wir wissen müßten und nur nicht den richtigen Gebrauch davon machten.
Medizin zum Beispiel ist eine wertlose Wissenschaft, weil es keine Krankheiten geben würde, wenn wir nur natürlicher lebten. Dabei ist Swift keineswegs ein Kostverächter oder ein Bewunderer des >edlen Wilden<. Er liebt die Zivilisation und alle ihre Errungenschaften und Annehmlichkeiten. Er schätzt nicht nur gute Erziehung, gute Gespräche und sogar literarische und historische Bildung, er weiß auch, daß Landwirtschaft, Schiffahrt und Architektur Gegenstände sind, mit denen man sich beschäftigen, und die man zum eigenen Vorteil verbessern muß. Aber sein unausgesprochenes Ziel ist eine Zivilisation ohne Neu-Gier, die Welt seiner Zeit, ein bißchen sauberer, ein wenig gesünder, ohne radikale Veränderungen und ohne Herumstochern im Unerforschlichen.
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Und mehr als von einer Persönlichkeit zu erwarten wäre, die so vorurteilslos zu sein scheint, verehrt er die Vergangenheit, besonders die klassische Antike und glaubt, daß der moderne Mensch im Lauf der letzten hundert Jahre stark degeneriert ist.*
Sein Wunsch auf der <Insel der Zauberer>, wo man Tote heraufbeschwören kann:
»Ich verlangte, der Römische Senat sollte in einem großen Saal vor mir erscheinen, und in einem andern Saal das moderne Gegenstück einer regierenden Körperschaft. Erste-rer schien eine Versammlung von Helden und Halbgöttern, die andern ein Haufen von Hausierern, Taschendieben, Straßenräubern, nicht zuletzt die Zuhälter, zu sein.«
Obwohl Swift in diesem Abschnitt des dritten Teils hauptsächlich den Wahrheitsgehalt geschichtlicher Überlieferung anzugreifen scheint, verläßt ihn sein kritischer Geist, sobald er sich mit Griechen und Römern befaßt. Auch wenn ihm die Korruption im kaiserlichen Rom nicht entgeht, so hat er doch eine fast unvernünftige Bewunderung für einige der führenden Männer der Antike:
»Ich wurde beim Anblick von Brutus von tiefer Verehrung ergriffen und konnte unschwer in jeder Einzelheit seiner Erscheinung edelste Tugend, größte Unerschrockenheit und geistige Festigkeit, tiefste Vaterlandsliebe und umfassende Liebe zur Menschheit entdecken. Ich hatte die Ehre, eingehend mit Brutus zu sprechen, und erfuhr, daß sein Vorfahr Junius sowie Sokrates, Epaminondas, Cato der Jüngere, Sir Thomas Moore und er selber immer zusammen wären, ein Sextumvirat, zu dem kein Zeitalter der Welt ein siebentes Mitglied hinzufügen könnte.«
Bemerkenswert, daß unter den sechs Genannten nur ein Christ ist. Das ist ein wichtiger Punkt.
* Der körperliche Verfall, den Swift beobachtet haben will, könnte um jene Zeit tatsächlich eingetreten sein. Er führt ihn auf die Syphilis zurück, die damals auftauchte und virulenter war als heute. Auch Branntweine waren im 17. Jahrhundert eine Neuheit und müssen zu einer beträchtlichen Zunahme der Trunksucht geführt haben (Orwell).
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Addiert man Swifts Pessimismus, seine Verehrung der Vergangenheit, seinen Mangel an Wißbegier und seinen Abscheu vor dem menschlichen Körper zusammen, so ergibt sich eine Haltung, die vielen religiösen Reaktionären eigen ist, das heißt Leuten, die eine ungerechte Gesellschaftsordnung mit der Begründung verteidigen, daß diese Welt sich nicht wesentlich verbessern lasse und erst die <nächste Welt> von Bedeutung sei. Trotzdem ist bei Swift kein Anzeichen für religiöse Überzeugungen zu erkennen, wenigstens nicht im üblichen Sinn des Wortes.
Er scheint nicht ernsthaft an ein Leben nach dem Tod zu glauben, und seine Vorstellung von Güte ist an Republikanismus, Freiheitsliebe, Mut und <Wohlwollen> (im Sinne von Gemeingeist verstanden), <Vernunft> und andere heidnische Tugenden gebunden. Das erinnert daran, daß er noch etwas besitzt, das mit seinem Unglauben an Fortschritt und seinem Haß auf die Menschheit nicht recht in Einklang zu bringen ist.
Zunächst einmal hat er Momente, in denen er <konstruktiv> und sogar <fortschrittlich> ist. Zeitweilige Inkonsequenz ist bei utopischen Büchern fast ein Zeichen von Vitalität, und Swift flicht oft in einen eigentlich satirischen Absatz ein Lob ein. So schiebt er seine Gedanken über Jugenderziehung den Lilliputanern unter, die darüber fast die gleichen Anschauungen haben wie die Houyhnhnms. Die Lilliputaner haben auch verschiedene soziale Einrichtungen und gesetzliche Bestimmungen (zum Beispiel Altersrenten und Prämien für die, welche das Gesetz achten, wie Strafen für andere, die es brechen), deren Einführung in England Swift begrüßt haben würde.
Mitten im gleichen Absatz fällt ihm dann wieder ein, daß er eine Satire schreiben wollte, und so setzt er hinzu: »Unter diesem und den folgenden Gesetzen möchte ich die ursprünglichen Einrichtungen verstanden wissen und nicht die skandalösen Verfälschungen, die sie infolge der Degeneration der menschlichen Natur erfahren haben.« Da mit Lilliput England gemeint ist, und es zu den Gesetzen, von denen er spricht, in England niemals eine Parallele gegeben hat, ist klar, daß die Anwandlung zu konstruktiven Hinweisen zuviel für ihn war.
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Swifts größter Beitrag zum politischen Denken im engeren Sinne des Wortes ist jedoch, besonders im dritten Teil, sein Angriff auf das, was wir heute Totalitarismus nennen.
Er hat einen außergewöhnlich klaren Vorausblick auf den von Spionagefurcht besessenen <Polizei-Staat> mit seinen fortwährenden Ketzerjagden und Verratsprozessen, die alle in Wirklichkeit darauf abzielen, das Volk von seiner Unzufriedenheit abzulenken und sie in eine Kriegshysterie umzuwandeln.
Dabei muß man berücksichtigen, daß Swift hier ein Gesamtbild aus einem nur kleinen Ansatz entwickelt, denn die schwächlichen Regierungen seiner Zeit lieferten ihm keine Vorbilder, die dann nur von ihm zu übernehmen gewesen wären.
Da ist zum Beispiel der Professor an der Schule für politische Planung, »der mir eine umfangreiche Liste mit Anweisungen, die zur Aufdeckung von Komplotts und Verschwörungen führen sollte, zeigte«, und behauptete, man könne die geheimen Gedanken von Menschen aus ihren Exkrementen lesen:
»Weil Menschen nie so ernst und gedankenversunken sind, als wenn sie ihren Stuhlgang verrichten, wie sich aus häufigen Beobachtungen ergeben hat: denn wenn einer in dieser Lage nur zur Probe überlegte, welches die beste Methode sein würde, den König zu ermorden, so nahm sein Stuhl eine grüne Färbung an, ganz anders, wenn er nur daran dachte, einen Aufstand anzuzetteln oder die Hauptstadt in Brand zu setzen.«
Es heißt, Swift sei auf den Professor und dessen These durch den — von unserm Standpunkt aus — weder besonders überraschenden noch empörenden Umstand verfallen, daß in einem damals aktuellen Prozeß die auf der Toilette irgendeiner Persönlichkeit gefundenen Briefe als Beweismaterial verwendet worden waren. Etwas später in dem gleichen Kapitel hat man den Eindruck, sich tatsächlich mitten in den russischen Säuberungsaktionen zu befinden:
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»Im Königreich Tribnia, von den Bewohnern Langdon genannt ..... besteht der Hauptteil der Bevölkerung aus Spitzeln, Zeugen, Informanten, Denunzianten, Anklageerhebern, Staatsanwälten, Falschschwörern ..... Als erstes wird unter ihnen abgesprochen und bestimmt, welche verdächtigen Personen eines Komplotts beschuldigt werden sollen. Dann werden alle Briefe und Schriftstücke beschlagnahmt und deren Eigentümer in Ketten gelegt. Darauf übergibt man die beschlagnahmten Papiere einer Gruppe von Fachleuten, die besonders geschult sind, den geheimen Sinn von Worten, Buchstaben, Silben herauszufinden ..... Wo diese Methode versagt, haben sie noch zwei wirksamere zur Verfügung, die von den Gebildeten unter ihnen Akrostichons und Anagramme genannt werden. Bei ersteren handelt es sich darum, in den Anfangsbuchstaben einen politischen Sinn zu entdecken. So bedeutet N eine Verschwörung, B ein Kavallerieregiment, L eine Flotte auf See. Im zweiten Fall tauscht man die Buchstaben des Alphabets in den verdächtigen Schriftstücken gegeneinander aus, und so können sie die geheimsten Absichten einer unzufriedenen Partei an den Tag bringen. Wenn ich zum Beispiel in einem Brief an einen Freund schreiben würde, Our Brother Tom has just got the Piles (Unser Bruder Tom hat gerade Hämorrhoiden bekommen), so würde einer der geschickten Entzifferer herausfinden, daß die Buchstaben, aus denen der Satz besteht, bedeuten können: Resist - a Plot is brought home - The Tour. (Haltet aus - die Verschwörung ist entdeckt - Der Turm*) Das ist die Anagramm-Methode.«
Andere Professoren derselben Schule erfinden vereinfachte Sprachen, verfassen Bücher auf mechanischem Wege und unterrichten ihre Schüler, indem sie den Lehrstoff auf Waffeln schreiben, welche die Schüler dann essen müssen, oder sie arbeiten an einem Plan, die Individualität überhaupt abzuschaffen, wobei einem Menschen ein Teil des Gehirns herausgeschnitten und in den Kopf eines andern eingesetzt werden soll.
* Der Tower (Orwell).
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Etwas seltsam Vertrautes liegt in der Atmosphäre dieses Kapitels, weil es, mit viel Albernheit durchsetzt, die Erkenntnis enthält, daß der Totalitarismus nicht nur dafür sorgen möchte, daß alle das Richtige denken, sondern daß er sie buchstäblich weniger bewußt haben möchte. Dann wieder Swifts Bericht über den Führer, der für gewöhnlich über einen Stamm von Yahoos herrscht, und über den <Günstling>, der erst dreckige Arbeiten verrichtet und später als Sündenbock dient, das alles paßt sehr gut in den Rahmen unserer eigenen Zeit.
Aber können wir aus all dem schließen, daß Swift in erster Linie und hauptsächlich ein Feind der Tyrannei und ein Vorkämpfer der geistigen Freiheit war? Nein. Seine Ansichten, soweit sie erkennbar sind, sind nicht ausgesprochen liberal. Zweifellos galt sein Haß ganz allgemein Lords, Königen, Bischöfen, Generälen, Modedamen, Befehlen, Titeln und jeder Art von Überheblichkeit, aber er scheint vom einfachen Volk nicht besser zu denken als von denen, die es regieren, oder eine größere soziale Gleichheit zu befürworten oder sich für Volksvertretungen zu begeistern.
Die Houyhnhnms haben eine Art von Kastenherrschaft errichtet, die ihrem Wesen nach rassistisch ist. Die Arbeitstiere sind von anderer Färbung als ihre Herren und paaren sich nicht mit Angehörigen der Oberschicht. Das Erziehungssystem, das Swift bei den Lilliputanern bewundert, setzte ererbte Klassenunterschiede als selbstverständlich voraus. Die Kinder der Ärmsten gehen nicht zur Schule, weil »ihre Arbeit darin besteht, die Erde umzugraben und zu kultivieren .... weshalb ihre Erziehung von geringer Bedeutung für die Allgemeinheit ist.« Er scheint auch nicht sehr warm für Presse- und Redefreiheit eingetreten zu sein, trotz der Duldung, deren sich seine eigenen Arbeiten erfreuten.
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Der König von Brobdingnag ist erstaunt über die Vielzahl religiöser und politischer Gruppen in England und äußert die Ansicht, daß jeder, der der Allgemeinheit abträgliche Auffassungen vertritt (womit einfach ketzerische Ansichten gemeint sind), zwar nicht gezwungen werden sollte, sie zu ändern, wohl aber sie für sich zu behalten. Denn »wie es unter jeder Regierung eine Tyrannei wäre, ersteres zu verlangen, wäre es eine Schwäche, das zweite nicht zu erzwingen«. Swifts eigene Auffassung deutet sich etwas versteckter in der Art an, wie Gulliver das Land der Houyhnhnms verläßt.
Hin und wieder erweist sich Swift als Anarchist.
Im vierten Teil von Gullivers Reisen entwirft er das Bild einer anarchistischen Gesellschaft, die nicht durch Gesetze im gewöhnlichen Sinne regiert wird, sondern durch Diktate der <Vernunft>, denen sich der einzelne freiwillig unterwirft. Die Generalversammlung der Houyhnhnms <ermahnt> Swifts Herrn, sich seiner zu entledigen, und die Nachbarn üben Druck auf ihn aus, sich zu fügen. Zwei Gründe werden dafür angeführt. Und zwar erstens, daß die Gegenwart dieses ungewöhnlichen Yahoos die übrigen Stammesmitglieder in Aufruhr versetzen könnte, und zweitens, daß eine freundschaftliche Beziehung zwischen einem Houyhnhnm und einem Yahoo gegen Vernunft und Natur, also etwas sei, was es noch nie gegeben habe. Gullivers Herr ist ziemlich unwillig, sich zu fügen, aber die Ermahnung kann er nicht unbeachtet lassen. (Ein Houyhnhnm wird, wie wir erfahren, niemals zu etwas gezwungen, er wird lediglich ermahnt oder beraten.)
Das zeigt deutlich das totalitäre Element in einer anarchistischen oder pazifistischen Gesellschaftsdoktrin, bei der es keine Gesetze und theoretisch keinen Zwang gibt, und das Verhalten des Einzelnen ausschließlich von der allgemeinen Konvention bestimmt wird. Aber diese ist infolge des eisernen Zwanges, der die Herdentiere zusammenhält, weniger tolerant als jede gesetzliche Ordnung. Wenn menschliche Wesen nach dem Satz »Du sollst nicht« regiert werden, so bleibt dem Einzelnen immer noch ein gewisser Spielraum für sich.
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Werden sie aber etwa durch <Liebe> und <Vernunft> regiert, so unterliegt der Mensch dem ständigen Druck, sich genau so zu benehmen, so zu denken wie alle anderen. Die Houyhnhnms sind, so heißt es, in fast allem gleicher Meinung. Die einzige Frage, über die sie diskutieren, ist, wie man die Yahoos behandeln müßte. Davon abgesehen besteht unter ihnen nicht der geringste Anlaß zu irgendwelcher Unstimmigkeit, weil die Wahrheit entweder selbstverständlich oder unerforschlich und also unwesentlich ist. Es gibt in ihrer Sprache offenbar kein Wort für <Meinung>, und bei ihren Unterhaltungen keinen <Unterschied der Gefühle>.
Sie haben tatsächlich die höchste Stufe einer totalitären Gesellschaft erreicht, eine Stufe, auf der eine so allgemeine Gleichheit besteht, daß keine Polizei notwendig ist. Swift ist damit einverstanden, weil zu seinen Gaben weder Wißbegier noch Toleranz gehörten. Meinungsverschiedenheiten wären ihm wie eine perverse Verirrung erschienen. »Vernunft« bei den Houyhnhnms, schreibt er, »ist kein Problem wie bei uns, wo mit Berechtigung über beide Seiten einer Frage diskutiert werden kann, sondern sie überzeugt unmittelbar, wie das immer der Fall ist, wenn sie nicht von Leidenschaften und Interessen verfälscht, verdunkelt oder verfärbt wird.« Mit andern Worten - da wir sowieso alles wissen, wozu noch abweichende Ansichten dulden? Daraus ergibt sich natürlich, daß es in einer totalitären Gesellschaft der Houyhnhnms keine Freiheit und keine Entwicklung geben kann.
Wir sehen in Swift mit Recht einen Rebellen und Bilderstürmer, aber abgesehen von Nebenfragen, wie seinem Eintreten für eine gleiche Erziehung beider Geschlechter, kann man ihn nicht als >links< bezeichnen. Er ist ein anarchistischer Tory, der jede Autorität mißachtet, gleichzeitig nicht an Freiheit glaubt und eine aristokratische Weltanschauung behält, obwohl er klar sieht, daß die Aristokratie im Niedergang begriffen und zu verachten ist.
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Wenn er eine seiner bekannten Anklagen gegen die Reichen und Mächtigen erhebt, muß man, wie ich bereits ausführte, in Rechnung stellen, daß er zu der weniger erfolgreichen Partei gehörte und vermutlich persönlich enttäuscht war. Die <draußen> sind immer radikaler als die <drin>.* Aber das Entscheidende bei ihm bleibt seine Unfähigkeit zu glauben, daß das Leben — das gewöhnliche, praktische Leben auf dieser Erde und nicht eine rationalisierte und sterilisierte Version — lebenswert gemacht werden könnte. Natürlich wird kein ehrlicher Mensch behaupten wollen, daß Glückseligkeit unter den jetzigen Bedingungen der Normalzustand erwachsener menschlicher Wesen wäre, aber vielleicht könnte sie dazu werden, und es ist diese Frage, um die der ganze politische Kampf im Grunde geht. Swift hat vieles — mehr, als man bisher annahm — mit Tolstoi gemein, der gleichfalls nicht an die Möglichkeit irdischer Glückseligkeit glaubte. Bei beiden findet sich eine anarchistische Tendenz, hinter der sich eine autoritäre Geisteshaltung verbirgt.
Beide haben eine ähnliche Abneigung gegen die Wissenschaft, die gleiche Unduldsamkeit mit denen, die ihnen widersprechen, die gleiche Verständnislosigkeit auch wichtigen Fragen gegenüber, die sie nicht persönlich betreffen, und schließlich eine Art Horror vor den praktischen Lebensvorgängen, wobei Tolstoi erst später und auf andere Weise dazu kam. Die sexuelle Glücklosigkeit beider Männer war verschieden, aber bei beiden war die scharfe Ablehnung mit einer krankhaften Anziehung verbunden.
* Am Ende des Buches führt Swift als besonders charakteristische Typen menschlicher Verirrung und Niedrigkeit »einen Rechtsanwalt, einen Taschendieb, einen Obersten, einen Verrückten, einen Lord, einen Spieler, einen Politiker, einen Bordellwirt, einen Verräter, einen Arzt, einen Anstifter, einen Denunzianten und ähnliche« an. Wie man sieht, werden die, die sich über die gesellschaftliche Moral hinwegsetzen, mit denen zusammengeworfen, die sie hochhalten. Wenn man einen Oberst anprangert, nur weil er Oberst ist, mit welcher Begründung prangert man dann einen Verräter an? Oder wenn man den Taschendiebstahl bekämpfen will, so benötigt man dazu Gesetze, das heißt also auch Anwälte. Der ganze Schlußabsatz, in dem der Haß offen zutage tritt und die Begründung so unzureichend ist, wirkt unüberzeugend. Man hat das Gefühl, daß hier persönliche Verbitterung zum Ausdruck kommt. (Orwell).
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Tolstoi war ein bekehrter Wüstling, der zuletzt völlige Enthaltsamkeit predigte, während er bis in sein hohes Alter das Gegenteil trieb. Swift war vermutlich impotent und besaß einen übersteigerten Ekel vor menschlichen Ausscheidungen; wie sich in seinem ganzen Werk verfolgen läßt, war es eine Art fixer Idee, und solche Menschen können wahrscheinlich nicht einmal das bißchen Glück genießen, das den meisten Menschen vergönnt ist, und so glauben sie aus offenkundigen Motiven nicht an eine mögliche Verbesserung des irdischen Lebens. Ihr Mangel an Neugier und ihre daraus folgende Unduldsamkeit haben den gleichen Ursprung.
Swifts Ekel, Bitterkeit und Pessimismus hätten einen Sinn vor dem Hintergrund einer <nächsten Welt>, wozu die unsere nur ein Vorspiel ist. Da er aber nicht an so etwas zu glauben scheint, muß ein Paradies konstruiert werden, das womöglich auf dieser Erde existiert, sich aber von allem uns Bekannten unterscheidet und frei von allem ist, was er ablehnt — frei von Lüge, Torheit, Wechsel, Begeisterung, Freude, Liebe und Schmutz. Das von ihm gewählte Idealwesen ist ein Pferd, ein Tier, dessen Ausscheidungen keinen Ekel erregen.
Die Houyhnhnms sind traurige Kreaturen — das ist so allgemein anerkannt, daß man sich damit nicht lange aufzuhalten braucht. Der Genius Swifts kann sie glaubhaft machen, aber es dürfte nur wenige Leser gegeben haben, in denen sie ein anderes Gefühl als Abneigung hervorgerufen haben. Und das entspringt nicht gekränkter Eitelkeit, weil hier ein Tier dem Menschen vorgezogen wird — denn die Houyhnhnms gleichen den Menschen viel mehr als die Yahoos, und Gullivers Abscheu vor den Yahoos birgt zusammen mit der Erkenntnis, daß sie Geschöpfe seiner eigenen Art sind, einen logischen Widerspruch in sich. Dieser Abscheu überkommt ihn schon beim ersten Anblick. »Auf allen meinen Reisen«, schreibt er, »habe ich nie derart häßliche Tiere gesehen und keines, gegen das ich instinktiv eine so starke Abneigung empfand.«
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Aber im Vergleich wozu waren die Yahoos so abstoßend? Jedenfalls nicht im Vergleich zu den Houyhnhnms, denn zu dieser Zeit hatte Gulliver noch keine gesehen. Es kann also nur im Vergleich zu sich selbst gemeint sein, das heißt, zu einem menschlichen Wesen. Und später werden wir belehrt, daß die Yahoos wirklich menschliche Wesen sind, und daß Gulliver die menschliche Gesellschaft unerträglich findet, weil alle Menschen Yahoos sind. Wieso, fragt man sich, hat er seinen Abscheu vor den Menschen nicht früher entdeckt?
Dazu wird uns erklärt, daß die Yahoos sich in phantastischer Weise von Menschen unterscheiden und doch Menschen sind. Swift überschlägt sich hier in seinem Haß, er ruft seinen Artgenossen zu: »Ihr seid noch widerwärtiger, als Ihr seid!« In der Tat bringt man auch für die Yahoos keine Sympathie auf, aber die Houyhnhnms wirken nicht etwa sympathischer, weil sie die Yahoos unterdrücken. Sie sagen einem so wenig, weil die <Vernunft>, die sie leitet, im Grunde eine Todessehnsucht ist. Liebe, Freundschaft, Wißbegierde, Furcht, Sorge, Zorn und Haß — ausgenommen in ihrer Beziehung zu den Yahoos, die etwa die gleiche Stellung innerhalb der Gesellschaft einnehmen wie die Juden in Nazi-Deutschland — liegen ihnen fern. »Sie empfinden keine besondere Zuneigung zu ihren Füllen oder Fohlen, und die Sorgfalt, mit der sie sie aufziehen, wird ausschließlich von der Vernunft diktiert.«
Sie legen auf <Freundschaft> und <Wohlwollen> Wert, aber das beschränkt sich nicht auf besondere Einzelwesen, sondern gilt der gesamten Rasse. Sie schätzen Unterhaltungen, aber dabei gibt es nie Meinungsverschiedenheiten, und »nichts kam zur Sprache, was nicht nützlich gewesen wäre, mit den knappsten und treffendsten Worten ausgedrückt«. Sie beachten eine strenge Geburtenkontrolle, jedes Paar bringt nicht mehr als zwei Nachkommen zur Welt und enthält sich danach jeden Geschlechtsverkehrs.
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Die Gattenwahl wird von den Eltern unter eugenischen Gesichtspunkten bestimmt, und ihre Sprache enthält kein Wort für >Liebe< im geschlechtlichen Sinne. Wenn eins stirbt, geht alles seinen gewöhnlichen Gang weiter, ohne daß ein Gefühl von Trauer aufkommt. Ihr Bestreben geht dahin, unter Beibehaltung ihres physischen Lebens einem Leichnam so ähnlich wie möglich zu werden. Allerdings, die eine oder andere Eigenschaft scheint nicht streng >vernünftig< in dem Sinn zu sein, den sie dem Wort geben. So legen sie größten Wert nicht nur auf körperliche Abhärtung, sondern auch auf Athletik, und auch für Poesie haben sie eine Vorliebe.
Diese beiden Ausnahmen mögen weniger willkürlich gewählt sein, als es zunächst den Anschein hat. Swift betonte vermutlich die Körperkräfte der Houyhnhnms, um dadurch auszudrücken, daß sie niemals von den verhaßten Menschen besiegt werden könnten, während die Vorliebe für Poesie ihnen zugeschrieben wird, weil Swift in der Poesie den Gegensatz zur Wissenschaft sah, die von seinem Standpunkt aus unter allen Disziplinen die nutzloseste war. Im dritten Teil bezeichnete er »Vorstellungsvermögen, Phantasie und Erfindungsgabe« als erstrebenswerte Eigenschaften, die den Mathematikern von Laputa (trotz ihrer Liebe zur Musik) völlig gefehlt hätten. Man muß sich erinnern, daß Swift, obwohl ein bewundernswerter Autor satirischer Verse, unter wertvoller Dichtung vermutlich eine Art didaktischer Poesie verstand. Über die Poesie der Houyhnhnms heißt es bei ihm:
»Man muß ihr zugestehen, daß sie der aller übrigen Sterblichen überlegen ist, denn die Richtigkeit ihrer Gleichnisse und ihre Genauigkeit sowie Echtheit der Schilderung sind tatsächlich unnachahmlich. Ihre Verse sind voll von beidem und behandeln entweder begeisterte Vorstellungen über Freundschaft und Wohlwollen oder Lobeshymnen auf Sieger bei Rennen oder anderen Wettkämpfen.«
Leider war selbst der Genius Swifts nicht imstande, eine Probe davon zu liefern, so daß wir uns selbst ein Urteil über die Dichtkunst der Houyhnhnms hätten bilden können. So hat man nur den Eindruck, daß es ziemlich fades Zeug gewesen sein muß und nicht ernstlich in Widerspruch zu den Grundsätzen der <Vernunft>.
Glück zu beschreiben ist bekanntlich schwer, und Schilderungen einer gerechten, wohlgeordneten Gesellschaft sind nur selten verlockend oder überzeugend. Den meisten Schöpfern "beliebter" Utopien geht es darum, zu zeigen, was das Leben sein würde, wenn es mehr ausgelebt werden könnte.
Swift aber tritt für eine Ablehnung des Lebens ein mit der Behauptung, <Vernunft> bestehe darin, den Instinkt zum Absterben zu bringen. Die Houyhnhnms, geschichtslose Geschöpfe, führen Generation für Generation ein Leben in Klugheit, indem sie ihre Anzahl auf dem stets gleichen Stand halten, heftige Gemütsbewegungen und Krankheiten vermeiden, dem Tod mit Gelassenheit begegnen, ihre Nachkommen nach den gleichen Grundsätzen aufziehen — und das alles wozu? Um den gleichen Lebensablauf bis in alle Ewigkeit fortzusetzen.
Der Gedanke, daß das Leben hier und jetzt lebenswert ist oder lebenswert gemacht werden könnte, oder daß es unter Umständen für eine bessere Zukunft geopfert werden muß, ist ihm gänzlich fremd. Die graue Welt der Houyhnhnms war eine so gute Utopie, wie Swift sie sich nur vorstellen konnte, gemessen daran, daß er weder an eine <nächste> Welt glaubte, noch das geringste Vergnügen an bestimmten normalen Betätigungen hatte.
Aber diese Utopie wird nicht als etwas an sich Wünschenswertes hingestellt, sondern als Rechtfertigung für einen weiteren Angriff auf die Menschheit. Der Zweck ist, wie immer, den Menschen zu demütigen, indem man ihm vorhält, wie schwächlich und lächerlich er ist und vor allem, daß er stinkt. Der tiefere Grund aber dürfte Neid sein, der Neid des Abgestorbenen auf den Lebenden, der Neid eines Mannes, der weiß, daß er der anderen wegen nicht glücklich sein kann, die, wie er befürchtet, etwas glücklicher sind als er.
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Die politische Form einer solchen Einstellung muß entweder reaktionär oder nihilistisch sein, denn wer so denkt, möchte die Gesellschaft am liebsten davon abhalten, eine Entwicklung zu nehmen, die seinen Pessimismus Lügen straft. Man kann das erreichen, indem man entweder alles in die Luft sprengt, oder sich jeder sozialen Veränderung in den Weg stellt. Swift sprengte schließlich — auf die vor der Atombombe einzig mögliche Weise — alles in die Luft, indem er dem Wahnsinn verfiel, aber seine politische Einstellung war, wie ich zu zeigen versucht habe, im Ganzen reaktionär.
Nach allem, was ich gesagt habe, könnte man den Eindruck bekommen, ich sei gegen Swift und wolle ihn ablehnen oder gar verkleinern. Im politischen und moralischen Sinne bin ich gegen ihn, soweit ich ihn verstehe. Als Schriftsteller aber gehört er zu denen, die ich rückhaltlos bewundere. Besonders von Gullivers Reisen könnte ich, wie es scheint, nie genug haben. Ich habe es zum ersten Mal mit acht Jahren gelesen, oder, um genau zu sein, einen Tag bevor ich acht wurde. Ich stahl das Exemplar, das mir am nächsten Tag zum Geburtstag geschenkt werden sollte, und las es heimlich. Seitdem habe ich es bestimmt ein halbes Dutzend Mal gelesen. Sein Zauber scheint unerschöpflich. Wenn ich eine Liste von sechs Büchern aufstellen sollte, die erhalten bleiben müßten, wenn alles andere vernichtet würde, bestimmt würde ich Gullivers Reisen darin aufnehmen. Hier taucht die Frage auf: Welche Beziehung besteht zwischen der Zustimmung zu den Auffassungen eines Schriftstellers und dem Genuß an seinen Werken?
Ist man imstande, sich geistig zu distanzieren, so kann man den Wert eines Schriftstellers einschätzen, auch wenn man ganz anderer Ansicht ist als er; aber Genuß ist eine andere Sache. Nehmen wir an, es gäbe so etwas wie gute oder schlechte Kunst, dann muß dieses Gute oder Schlechte im Kunstwerk selbst angesiedelt sein — natürlich nicht unabhängig vom Betrachter, aber natürlich unabhängig von dessen Stimmung.
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Es kann daher in einem bestimmten Sinn nicht wahr sein, daß ein Gedicht am Montag gut und am Dienstag schlecht ist. Wertet man jedoch ein Gedicht nach der Zustimmung, die es hervorruft, dann kann es sehr wohl wahr sein, weil Genuß oder Zustimmung subjektive Werte sind, die sich nicht kommandieren lassen. Selbst der kultivierteste Mensch besitzt einen Gutteil seines Lebens hindurch überhaupt keinen ästhetischen Sinn, und die Befähigung, ästhetisch zu empfinden, ist sehr leicht zerstörbar. Wenn man erschrocken oder hungrig ist, an Zahnschmerzen oder Seekrankheit leidet, wird einem König Lear vom persönlichen Standpunkt aus nicht besser vorkommen als Peter Pan.
Vom Intellekt her mag man wissen, daß es besser ist, aber das ist eine bloß erinnerte Tatsache: empfinden wird man den Wert von Lear erst wieder im normalen Zustand. Und ein ästhetisches Urteil kann eine geradezu erschreckende Änderung erfahren, wenn man politisch oder moralisch anderer Meinung ist — ja noch erschreckender, weil der Grund nicht so leicht erkannt wird. Wenn ein Buch einen ärgert, verletzt oder beunruhigt, wird man es kaum genießen, so groß seine Bedeutung auch sein mag. Wenn es einem geradezu schädlich erscheint, wird man sich eine ästhetische Theorie zurechtlegen, um nachzuweisen, daß es keinen Wert besitzt.
Die übliche literarische Kritik besteht zu einem großen Teil aus diesem Jonglieren zwischen zwei Standpunkten. Es kann auch das Umgekehrte eintreten, daß der Genuß über die Mißbilligung die Oberhand gewinnt, obwohl man sich klar ist, etwas zu genießen, das man ablehnt. Swift, dessen Weltanschauung unannehmbar war, aber als Schriftsteller große Verbreitung fand, ist ein gutes Beispiel dafür. Wie kommt es, daß wir uns nicht daran stoßen, als Yahoos, bezeichnet zu werden, obwohl wir fest davon überzeugt sind, keine zu sein?
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Es genügt nicht, darauf die übliche Antwort zu geben, nämlich, daß Swift sich geirrt habe. Er war in der Tat verrückt, aber ein <guter Autor>. Es stimmt, daß die literarische Qualität eines Buches bis zu einem geringen Grad unabhängig von seinem Thema ist. Einige Leute haben eine angeborene Begabung, mit Worten umzugehen, so wie andere eine <gute Nase> beim Spielen haben.
Es ist oft eine Frage des richtigen Zeitpunktes und eines instinktiven Wissens, wie weit man gehen darf. Ein Beispiel ist der Absatz, den ich hier schon einmal zitiert habe, und der beginnt: »Im Königreich Tribnia, von den Eingeborenen Langdon genannt.« Viel von seiner Überzeugungskraft rührt vom Schlußsatz her: »Und das ist die Anagramm-Methode.« Strenggenommen ist der Satz überflüssig, da wir das entzifferte Anagramm bereits kennen, aber die spöttisch-feierliche Wiederholung, bei der man Swifts eigene Stimme zu hören glaubt, hämmert einem die Idiotie der beschriebenen Tätigkeiten noch einmal ein, sozusagen mit einem letzten Hammerschlag.
Aber weder die Kraft und Einfachheit von Swifts Prosa, noch sein Einfallsreichtum, der nicht nur eine, sondern eine Reihe phantastischer Welten glaubwürdiger gemacht hat als die Mehrzahl aller Geschichtsbücher, nichts von alldem würde uns dazu bringen, Swift zu genießen, wenn seine Weltanschauung wirklich verletzen oder schockieren würde.
Millionen Menschen in zahlreichen Ländern müssen Gullivers Reisen mit Genuß gelesen haben, auch wenn sie mehr oder minder deutlich die gegen den Menschen gerichtete Tendenz gespürt haben. Selbst ein Kind, das sich den ersten und zweiten Teil als einfache Geschichte erzählen läßt, gewinnt den Eindruck von etwas Absurdem bei der Vorstellung von sechs Inch großen Lebewesen.
Die Erklärung muß darin liegen, daß Swifts Weltanschauung nicht durchgängig als abwegig empfunden wird.
Er war ein kranker Mann, litt unter ständigen Depressionen, von denen andere nur zeitweise befallen werden; wir alle kennen diesen Gemütszustand, und sein Ausdruck ruft in uns verwandte Gefühle hervor.
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Man nehme eins der besonders charakteristischen Werke von Swift, The Lady's Dressing Room. Und das verwandte Gedicht: Upon a beautiful Young Nymph going to Bed. Was stimmt mehr, der in dem Gedicht enthaltene Ausdruck, oder die Wendung Blakes von »der Göttlichkeit der nackten weiblichen Formen«? Zweifellos kommt Blake der Wahrheit näher, und doch, wer könnte sich eines geheimen Vergnügens erwehren, wenn er die Lüge von der <weiblichen Zartheit>, diesen Mythos, einmal entlarvt sieht. Swift verfälscht das ganze Weltbild, weil er im menschlichen Leben nichts als Schmutz, Narrheit und Verderbtheit sehen will. Aber den Teil des Ganzen, den er verallgemeinert, gibt es, und wir alle kennen ihn, auch wenn wir davor zurückschrecken, ihn zu erwähnen.
Ein Teil unseres Gehirns — bei jedem normalen Menschen der vorherrschende — glaubt, daß der Mensch ein edles Tier und das Leben lebenswert ist; aber zugleich gibt es eine Art zweites Ich, das wenigstens zeitweise sprachlos den Schrecken des Daseins gegenübersteht. Lebensgenuß und Lebensekel sind in seltsamer Weise miteinander verknüpft. Der menschliche Körper ist schön und gleichzeitig häßlich und lächerlich, wovon man sich in jedem Schwimmbad überzeugen kann.
Die Geschlechtsorgane sind ebenso ein Objekt der Begierde wie des Abscheus, und zwar in solchem Maße, daß ihre Bezeichnung in vielen, wenn nicht in allen Sprachen ein Schimpfwort ist. Fleisch ist etwas Köstliches, aber beim Anblick eines Metzgerladens wird einem übel, und letztlich stammt unsere gesamte Nahrung aus Dung und Leichen, den beiden Dingen, die uns von allen am widerlichsten sind. Der junge Mensch, der eben der Kindheit entwachsen ist und die Welt noch unbefangen sieht, wird fast ebenso oft von Ekel wie von Verwunderung ergriffen, Ekel vor Nasenschleim und Auswurf, dem Hundekot auf den Straßen, einer sterbenden Kröte voller Maden, dem Schweißgeruch Erwachsener, der Häßlichkeit alter Männer mit ihren Glatzen und Nasenwarzen.
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Bei seinem ausführlichen Herumwühlen in Krankheit, Schmutz und Mißbildung erfindet Swift nichts, aber er läßt etwas aus. Das menschliche Benehmen, besonders das Verhalten in der Politik, ist genau so, wie er es beschreibt, hat aber andere, wichtigere Seiten, die er nicht sehen will. Soweit unsere Erkenntnis reicht, sind Schrecken und Leiden notwendige Elemente für den Fortgang des Lebens auf diesem Planeten. Man kann es pessimistisch sehen wie Swift und sagen: wenn Schrecken und Leiden uns ständig begleiten, wie kann man dann das Leben wesentlich erfreulicher gestalten? Seine Haltung ist in Wahrheit die christliche, ohne den Schwindel mit der »nächsten Welt«, die aber wahrscheinlich auf Gläubige nicht so überzeugend wirkt, wie der Gedanke, daß die Erde ein Jammertal und das Grab eine Ruhestätte ist. Ich bin sicher, daß es eine falsche Haltung ist, die sich auf unser Verhalten negativ auswirken könnte; aber etwas in uns wird damit angesprochen, wie mit den düsteren Worten bei einer Trauerfeier und dem süßlichen Leichengeruch in einer Dorfkirche.
Es wird oft behauptet, jedenfalls von Leuten, die zugestandenermaßen das Thema eines Buches für wichtig halten, daß ein Buch nicht <gut> sein könne, wenn es eine spürbar falsche Weltanschauung vertrete. Man erklärt uns zum Beispiel, daß jedes literarisch wertvolle Buch von heutzutage in seiner Tendenz mehr oder weniger progressiv sei. Dabei wird die Tatsache übersehen, daß im ganzen Verlauf der Geschichte ein ähnlicher Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion getobt hat, und daß die besten Bücher jedes beliebigen Zeitalters immer von verschiedenen Standpunkten aus geschrieben worden sind, der eine offenkundig falscher als der andere. Wenn es sich um einen Propagandisten handelt, kann man von ihm nicht mehr verlangen, als daß er aufrichtig an das glaubt, was er schreibt, und daß es nicht verheerend dumm ist.
Heute kann man sich durchaus vorstellen, daß ein gutes Buch von einem Katholiken, Kommunisten, Faschisten, Pazifisten, Anarchisten, ja vielleicht sogar von einem altmodischen Liberalen oder gewöhnlichen Konservativen verfaßt ist, dagegen nicht von einem Spiritisten, einem Anhänger Buchmans oder dem Mitglied des Ku-Klux-Klan. Die Anschauungen eines Schriftstellers müssen vom medizinischen Standpunkt aus als gesund gelten und die Kraft kontinuierlichen Denkens aufweisen. Außerdem verlangen wir Talent, das vermutlich nur eine andere Bezeichnung für Überzeugung ist. Was Swift fehlte, war Weisheit im gewöhnlichen Sinne, aber er hatte eine große visionäre Gewalt, und er konnte eine verborgene Wahrheit bloßlegen und sie dann übertreiben und verzerren.
Die Dauerhaftigkeit von <Gullivers Reisen> zeigt, daß eine Weltanschauung, die gerade noch als gesund gelten kann, hinreicht, ein großes Kunstwerk zu schaffen, wenn die Macht eines Glaubens dahinter steht.
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