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 Prolog

Das neue Wetter

 

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Wir sind die erste Generation, die ein anderes Wetter erlebt. Wetter, das sich spürbar von dem unterscheidet, was noch unsere Großeltern und deren Großeltern kannten sowie deren Großeltern und so fort.

Während meiner Lebenszeit hat sich die Temperatur auf der Erde um etwa 0,6 Grad erhöht. Und damit hat sich auch in unserem Wetter etwas Grundlegendes verändert. Dieses Etwas ist nicht mit einem großen Knall in unser Leben getreten, sondern hat sich ähnlich wie eine schlechte Angewohnheit oder ein Körperleiden langsam eingeschlichen. Daher stellte sich - zumindest hier in Europa - bislang nicht viel mehr als ein vages Unbehagen ein.

Unbehagen angesichts von Hitze, wie wir sie nur aus fernen Regionen kannten, von sintflutartigem Regen, der unsere Straßen und unsere Keller überflutet, und von Stürmen, die mächtige Bäume entwurzeln und den Zugverkehr lahmlegen. Etwas hatte sich verschoben im Wettergefüge. Im Sommer 2018 verstärkte sich das Unbehagen: die beständige Hitze, die gnadenlose Dürre und die Klagen der Bäuer*innen über Ernteausfälle, dazu die vergebliche Hoffnung auf eine Abkühlung, die einfach nicht kommen wollte ... Vielen, die unter der Hitze litten, kam da der Gedanke, dass der Klimawandel womöglich nicht erst in ferner Zukunft drohte, sondern bereits hier und jetzt seine Auswirkungen zeigte.

Diese Erfahrung machten die Deutschen nicht alleine. Schlimmer noch erging es Hunderten von Japanerinnen, die Anfang Juli 2018 nach schweren Regenfällen und Überflutungen auf ihren Dächern festsaßen. Oder den Griechinnen: Die berühmte Marathon-Avenue im Osten Athens war nach den Waldbränden Ende Juli gesäumt von ausgebrannten Autowracks, verkohlten Bäumen und fensterlosen Ruinen. Später fand man eng umschlungene Menschen, die sich nicht mehr retten konnten, während andere vor der Feuerwalze ins Meer geflohen waren, wobei sechs von ihnen ertranken.

Extremes Wetter verheerte schon ein Jahr zuvor Barbuda: Die Karibikinsel wurde im September 2017 vom Wirbelsturm Irma komplett zerstört, die gesamte Bevölkerung musste auf die Nachbarinsel evakuiert werden.

»Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir in dieser Zeit die stärksten Wirbelstürme in der Welt erlebt haben«, erklärte der Klimawissenschaftler Michael Mann von der Pennsylvania State University im September 2017.* Er bezog sich dabei auf Patricia über dem Pazifik (2015), Winston in der südlichen Hemisphäre (2016) und Irma über dem Atlantik (2017).

Dennoch fragten wiederum nicht wenige: Hat es extremes Wetter nicht immer schon gegeben? Unsere Wahrnehmung und Erinnerung verzerren sich bekanntlich im Lauf des Lebens. Auch schaffte es vor 30 Jahren eher der Orkan über der norddeutschen Tiefebene oder die Überflutung der Elbe ins Fernsehen, nur selten aber die Überschwemmung in Bangladesch oder die Hitzewelle in Kenia. In unserer vernetzten Welt von heute hingegen dringen die Katastrophenmeldungen noch aus dem letzten Winkel der Erde zu uns. Trügt also unser Gefühl, dass das Wetter extremer geworden ist?

Die Antwort lautet in vielen Fällen: Nein, es trügt uns nicht. Denn wir Menschen haben die Rahmenbedingungen für unser Wetter verändert.

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Jedes Wettergeschehen - ein Hurrikan genauso wie ein leichter Sommerregen - findet heute unter anderen Umweltbedingungen statt als noch vor 250 Jahren. Das bedeutet: Der Klimawandel ist kein Phänomen, das nur die Bevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern betrifft oder mit dem sich irgendwann unsere Töchter und Söhne und deren Töchter und Söhne herumschlagen müssen, sondern er zeigt uns allen bereits sein Gesicht, und zwar durch das Wetter.

Das Trügerische ist, dass sich gar nicht so einfach unterscheiden lässt, ob ein Sturm über Deutschland nur ein »normaler« Wintersturm ist und wir einfach Pech hatten - oder ob wir einen Sturm, wie wir ihn bislang nur alle 100 oder 1000 Jahre erlebt haben, auf einmal viel häufiger zu spüren bekommen. Denn der Klimawandel, den wir in Gang gesetzt haben, kann nicht für jedes einzelne Wetterereignis verantwortlich gemacht werden, auch wenn das die Schlagzeilen in den Zeitungen oft nahelegen. Die korrekte Antwort auf die Frage, ob das Wetter extremer geworden ist, lautet also: in vielen Fällen ja - aber eben nicht immer und unter allen Umständen.

Um herauszufinden, ob der Mensch seine Finger mit im Spiel hatte, braucht es wissenschaftliche Arbeit, und zwar die unseres »World Weather Attribution«-Teams. Als wir, eine Handvoll Wissenschafler*innen, das Projekt im Jahr 2014 gründeten, kam das einer Revolution in der Klimawissenschaft gleich. Was wir machen: Wir rekonstruieren den Hergang eines Extremereignisses, indem wir Wetterdaten auswerten und mit Wettersimulationen unserer Computermodelle vergleichen. Damit schaffen wir innerhalb weniger Tage oder Wochen, was viele Jahre unmöglich schien: einzelne Wetterereignisse dem Klimawandel zuzuordnen - oder auch das Gegenteil zu belegen, nämlich dass der Klimawandel an einem konkreten Ereignis gar nicht beteiligt ist. Deshalb nennt sich unser neues Forschungsfeld Zuordnungswissenschaft (Event Attribution Science).

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Wir reden also nicht mehr nur über allgemeine Klimaprozesse in Zeiträumen von 30 Jahren, wie es Klimaforscher*innen bisher üblicherweise getan haben, sondern über das, was uns hier und jetzt betrifft.

Über das aktuelle Wetter zu reden - das war unter Wissen-schaftler*innen tatsächlich lange verpönt. Mit unserem Projekt können wir diese Leerstelle füllen, denn zum ersten Mal in der Geschichte verfügen wir über die Mittel, um belastbare Aussagen über einzelne Wetterereignisse zu treffen. Damit stellen wir die Klimawissenschaft gewissermaßen vom Kopf auf die Füße - auch wenn wir wissen, dass wir damit bei manchen Kolleginnen anecken. Was uns antreibt? Wir wollen das Unbehagen und das diffuse Bauchgefühl über die Ursachen des Wetters durch konkrete Fakten ersetzen. Das hat vor uns -in dieser Schnelligkeit - noch keiner gemacht.

Zwar haben die Medien angesichts der Aussicht auf gute Quoten schon immer unmittelbar und ausführlich über Stürme, Überschwemmungen und Hitzewellen berichtet - allerdings fast nur über das Ereignis selbst sowie dessen Folgen. Selten fanden sich in der Berichterstattung Hinweise darauf, dass das Wetterereignis für die Jahreszeit oder Region ungewöhnlich war. Und die Zeitungen erwähnten meist nicht, in welchem Gebiet genau der Regen fiel, der die Überschwemmungen auslöste, oder ob es sich um ein meteorologisch extremes und damit seltenes Ereignis handelte. Vielleicht war gar nicht der Regen selbst, sondern waren nur seine Auswirkungen ungewöhnlich dramatisch?

Das Wetter - es wurde (und wird) hingenommen, als wäre es von Göttinnen gegeben. Längst schon wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Das Wetter ist heute ein anderes, weil wir Menschen das Klima verändert haben. Im Meinungswirrwarr der Interessen und Ideologien geht diese Tatsache allerdings oft unter.

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Im Prinzip kann jeder behaupten, was er will: Klimaskeptiker*innen, Vertreterinnen der Energiewirtschaft und ihre Unterstützerinnen in der Politik tun Stürme als Launen der Natur ab. Nach dem Motto: Mistwetter hat es schon immer gegeben. Solange Unklarheit herrscht, lassen sich die Förderung und Verbrennung von Kohle, Ol und Gas kaum eindeutig mit dem Wetter in Verbindung bringen. Andere - darunter viele Evangelikaie in den USA - betrachten die Wirbelstürme als Akte Gottes: als Strafen für weltliche Verfehlungen, die wir erdulden müssen.

Wieder andere sehen im Klimawandel den Alleinschuldigen. Dazu zählen nicht selten Umweltaktivist*innen und Wissenschaftler*in-nen, die zunächst einmal Gutes wollen, nämlich einen Weckruf aussenden, um der schläfrigen Menschheit die Gefahren des Klimawandels drastisch vor Augen zu führen. Doch vom Weckruf zum Alarmismus ist es bekanndich nicht weit. In das gleiche Hörn wie die engagierten Überzeugungstäter*innen blasen auch Politikerinnen, die sich hinter dem Klimawandel verstecken, wenn mangelnde und falsche Planung aus einem Wetterereignis erst eine Katastrophe gemacht hat. Ihr Motto wiederum lautet: Seht her, wir können leider gar nichts tun, es liegt alles am Klimawandel.

Keine dieser Aussagen beruht auf Fakten. Letztere herauszufinden ist der Job unserer neuen Wissenschaft. Viele Male haben wir in den vergangenen vier Jahren midiilfe einer neuen Methode aufgedeckt, ob und wie stark sich der Klimawandel in unserem Wetter offenbart - in Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen. Unser Ziel: die Klimawissenschaft aus der Zukunft in die Gegenwart zu holen.

Geht alles glatt, können wir innerhalb einer Woche den Anteil des Klimawandels an einem Wetterereignis berechnen, und zwar noch während die Medien darüber berichten. Wir agieren also in Echtzeit, und das ist wichtig. Denn nur so können wir die Debatte beeinflussen und den Menschen ein Gefühl dafür geben, dass der Klimawandel kein Phänomen der Zukunft ist, sondern sich schon heute abspielt - vor unseren Augen und in unseren Vorgärten,

Mit der neuen Methode können wir aber auch dafür sorgen, dass die Welt besser auf ein sich veränderndes Klima vorbereitet ist. Denn erst wenn wir wissen, welche Wetterereignisse in welchen Jahreszeiten und Weltregionen viel wahrscheinlicher werden und welche nicht, lassen sich Gelder und Katastrophenschützer*innen effektiv einsetzen. Das kann Leben retten.

Die Chancen stehen gut, dass unsere Arbeit auch dabei hilft, die Schuldigen am neuen Wetter zur Rechenschaft zu ziehen. So wird es künftig noch viel häufiger vorkommen, dass Energiekonzerne auf der Anklagebank landen - erste Klagen auf Grundlage von Naturkatastrophen, die in Zusammenhang mit dem Klimawandel gebracht werden, laufen bereits. Mithilfe unserer Attributionsstudien könnten die Konzerne in die Pflicht genommen werden, diejenigen für Klimaschäden zu entschädigen, die keine Lobby haben.

Ja, Fakten können mächtig sein. Sie schaffen Klarheit. Anhand eines konkreten Ereignisses möchte ich erzählen, wie wir als Wissenschaftler*innen zu diesen Fakten kommen. Ich habe dafür Harvey ausgewählt - jenen Hurrikan, der 2017 über die USA hinwegfegte und unglaubliche Wassermengen auf Houston entlud. Harvey eignet sich aus meiner Sicht besonders gut, weil man an ihm nicht nur die Grundlagen unserer Arbeit erklären, sondern auch die Auswüchse einer interessengesteuerten Klimapolitik und des Lobbyismus aufzeigen kann.

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Tag 0

 

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Alles beginnt mit einer verhängnisvollen Konstellation: Ungewöhnlich hohe Ozeantemperaturen von über 30 Grad haben im Golf von Mexiko ein tropisches Tiefdruckgebiet in einen Wirbelsturm verwandelt. Kilometerhohe Wolkenberge kreisen gegen den Uhrzeigersinn um den Mittelpunkt des Sturms, angetrieben von der Drehung der Erde. Sie versprechen nicht nur extreme Windgeschwindigkeiten, sondern auch enorm viel Regen. So zeigen es die Satellitenbilder.

Von unten saugt der Sturm ständig neue, feuchtwarme Luft aus dem warmen Wasser an, die dem Wirbel mehr Kraft verleiht. Meteorolog*innen haben den tropischen Sturm zum Hurrikan hochgestuft. Und der rast nun mit hoher Geschwindigkeit auf die Küste von Texas zu. Genauer: auf Houston, die viertgrößte Stadt der USA mit knapp sieben Millionen Einwohnerinnen in der Umgebung sowie all ihren Raffinerien, ein gewaltiger Umschlagplatz für Erdöl. Erinnerungen an Katrina werden wach, ein Wirbelsturm, durch den 2005 so viele Menschen in den USA gestorben sind wie seit 100 Jahren nicht mehr.

Es ist der 24. August 2017, ein neues Ereignis bahnt sich an. Es hat sogar schon einen Namen: Harvey. In sicherer Entfernung von 7700 Kilometern, auf der anderen Seite des Atlantiks in Oxford, fische ich mein Telefon aus der Tasche und überfliege noch vor dem Frühstück die Meldungen zu Harvey. Ein Tweet des US-Meteorologen Eric Holthaus sticht mir ins Auge:

»Habe gerade mein GFS-Model (12Z) fertiggestellt, es zeigt uns nicht weniger als eine Überschwemmungskatastrophe für Texas. 600-1200 mm an Regen in drei oder vier Tagen. Bitte gebt acht.«

Mir ist klar: Wir müssen handeln. Wir müssen die Schuldigen finden - und zwar solange alle Aufmerksamkeit auf Texas gerichtet ist,

Von uns hängt ab, was viele Menschen in Houston, den USA und dem Rest der Welt über den Hurrikan denken werden. Von uns hängt ab, wer am Schluss als Schuldige am Sturm dastehen wird.

Es ist eine Ironie der Natur: Ausgerechnet jetzt trifft mit Harvey der erste Hurrikan seit Jahren eine US-Küstenstadt und wird sie aller Voraussicht nach ins Chaos stürzen. Jetzt, da im Weißen Haus ein Präsident sitzt, der den Klimawandel leugnet und angekündigt hat, sein Land - den historisch größten Verursacher von Treibhausgasemissionen - aus dem Pariser Klimaschutzabkommen herauszuziehen. Die USA wären damit das einzige Land der Welt, das sich offiziell weigert, seinen Ausstoß an Treibhausgasen immer weiter zu senken.

Wenn wir uns nicht äußern und unser Team nicht eingreift, überlassen wir denjenigen die Bühne, die nur eine politische Agenda verfolgen und entsprechend ihrem Weltbild wilde Spekulationen anstellen. Und wir lassen einen Großteil der Bevölkerung weiter im Irrglauben, dass Wetter und Klima nichts miteinander zu tun haben. Oder zumindest dass der Zusammenhang so kompliziert ist, dass man ihn nicht berechnen kann.

Auch Klimawissenschaftler*innen haben diesen Glauben befördert, indem sie jeden Sturm mit den Worten kommentierten, ein einzelnes Wetterereignis lasse sich nicht auf den Klimawandel zurückführen. Für belastbare Aussagen brauche es mindestens Zeiträume von 30 Jahren. Als Klimaforscher*in konkret über ein Wetterereignis reden? Das war lange nicht möglich, und für viele ist es noch immer ein Tabu.

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Dabei geschehen heute alle Wetterereignisse unter veränderten Umweltbedingungen. Schließlich haben wir jahrhundertelang fossile Energieträger verbrannt und damit unsere Atmosphäre bis heute um ungefähr ein Grad aufgeheizt und die Zirkulation von Hoch- und Tiefdruckgebieten verändert. Inzwischen hat jeder Sturm mit dem Klimawandel zu tun. Die Frage ist nur: Wie sehr? Und ob der Klimawandel den Sturm geschwächt oder gestärkt hat - denn beides ist möglich. Und genau da beginnt unser Job.

Das Problem mit Harvey: Hurrikans hat unser Team noch nie berechnet. Sie sind komplex, und als Physikerin habe ich einen Heidenrespekt vor ihnen. Erst seit Beginn der Satellitenära im Jahr 1979 lassen sie sich wirklich gut beobachten. Aber da sie im Gegensatz zu Dürren oder Hitzewellen nur einen kleinen Raum bedecken, fällt es schwerer, sie in Klimamodellen zu simulieren.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir das schaffen können, zumal in wenigen Tagen oder Wochen. Sollten wir uns in der Eile verrechnen, könnten wir die mühsam erworbene Reputation unseres gerade erst etablierten Forschungszweigs aufs Spiel setzen. Es ist riskant, das in der Wissenschaft übliche - und im Prinzip notwendige —, aber zeitraubende Prozedere für die Publikation von Studien zu umgehen und Ergebnisse schon dann zu veröffendichen, wenn die Welt noch über das Ereignis spricht.

Aber genau das müssen wir tun, wenn wir tatsächlich etwas bewirken, in die Debatten eingreifen und die Klimawissenschaft in die Offensive bringen wollen. Uns ist klar, dass wir uns damit auf sehr dünnem Eis bewegen, das jederzeit einzukrachen droht. Schließlich brechen wir - zumindest für eine Übergangszeit - mit einem Kernprinzip der wissenschafdi-chen Qualitätssicherung, das sich über Jahrhunderte hinweg eingebürgert hat - dem sogenannten Peer-Review-Verfahren: Unabhängige Gutachter*innen aus demselben Fachgebiet prüfen eine Studie, bevor deren Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Publikation erscheinen. Das ist überaus sinnvoll, und auch wir würden gerne immer erst in Ruhe unsere Analysen abklopfen lassen.

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Auch wir halten uns an das übliche Verfahren - allerdings nur dann, wenn wir neue Methoden entwickeln. Ansonsten fehlt uns schlicht die Zeit dafür. Wenn wir erst Monate warten, bis wir ein Ergebnis publik machen, dann interessiert sich niemand in der breiten Öffentlichkeit mehr dafür, was genau da eigentlich passiert ist. Womöglich hat es in der Zwischenzeit längst weitere Extremwetterereignisse gegeben, auf die sich alle Aufmerksamkeit der Bürgerinnen, Medien und Politikerinnen wie ein Suchscheinwerfer lenkt. Und an unserem Ort ist es inzwischen dunkel.

Also zerlegen wir das Peer-Review-Verfahren in zwei Schritte. Wohl wissend, dass wir damit auch Widerspruch hervorrufen. Allerdings veröffentlichen wir nicht wahllos alle möglichen Zahlen, sobald wir sie ausgerechnet haben. Wir verwenden nur Methoden, die bereits in Fachjournalen veröffentlicht wurden, und gehen nur dann vor der Überprüfung unserer Ergebnisse mit ihnen an die Offendichkeit, wenn es sich um ein neues Ereignis, nicht aber um einen neuen Typ von Ereignis handelt.

Damit entsprechen wir zugegeben-erweise nicht den wissenschaftlichen Gepflogenheiten, aber gute Wissenschaft machen wir trotzdem. Wer aber sind wir?

 

 

Unser Team

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Wir sind weder Polizist*innen noch Katastrophenschützer*in-nen oder Sanitäter*innen, geschweige denn Politikerinnen. Wir sind Klimaforscher*innen. Aber keine gewöhnlichen.

Wir, das sind die Klimawissenschaftler*innen Geert Jan van Oldenborgh, ich und unsere Managerin, die Ozeanografin Heidi Cullen. Wir sind ein eingespieltes Team, Auch wenn gerade nichts los ist, halten wir mindestens alle zwei Wochen eine Videokonferenz ab; wenn wir einen Fall haben, beinahe jeden Tag. Und das seit 2014. Heidi aus Princeton, Geert Jan aus De Bilt und ich aus Oxford. Wir sind nicht alleine, viele unterstützen unsere Arbeit - darunter auch meine Mitarbeiterinnen im Institut für Umweltveränderungen an der Universität Oxford. Aber wir drei halten den Kopf hin und entscheiden am Ende, wann wir einen Fall aufnehmen, wann der Hergang hinreichend geklärt ist und wann wir an die Öffentlichkeit gehen. So auch heute.

 

13:00 Uhr. Unsere Konferenz beginnt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Harvey dem Festland weiter genähert und seine Form verändert - und zwar nicht zum Guten: Jagdflieger*innen der Luftwaffe haben den Tropensturm überflogen und das Auge des Sturms ausmachen können.2 Das Wirbelsystem im Golf von Mexiko hat sich innerhalb eines halben Tags über dem warmen Wasser verstärkt, mit nun maximalen Windgeschwindigkeiten von bis zu 160 Kilometern pro Stunde - am Morgen waren es noch knapp 100 Kilometer pro Stunde gewesen.3 Texas' Gouverneur Greg Abbott kündigte an, vorsorglich den Katastrophen­zustand auszurufen, um im Notfall schneller handeln zu können. Laut dem Nationalen Hurrikan-Zentrum soll Harvey Freitagnacht oder am frühen Samstagmorgen die Küstenlinie überschreiten.

Auch US-Präsident Donald Trump hat reagiert. Er schickte Bilder in die Welt, die ihn in den Räumen der Bundesagentur für Katastrophenschutz in Washington, D.C., zeigen: Auf ihnen sieht man ihn gestenreich mit dem Behördenchef diskutieren. Darunter die Warnung an die Texaner*innen, sich auf den Notfall vorzubereiten.

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All das soll zeigen: Auf den Präsidenten ist Verlass, wenn es hart auf hart kommt. Dass er erst kürzlich die Mittel für Katastrophenhilfe zusammengestrichen hat und die Auswirkungen des Klimawandels leugnet, ist eine andere Sache.

7700 Kilometer entfernt vom Sturm lote ich in meinem drei mal fünf Meter kleinen Büro in einem Backsteingebäude in Oxford mit unserem Team aus, was wir dem entgegensetzen können. Und ob wir unsere Untersuchung aufnehmen sollen.

Niemand ist überrascht, dass Geert Jan schon die Beobachtungsdaten und Wettervorhersagen beschafft und diese nahezu stündlich auf den neuesten Stand gebracht hat, seit sich Harvey in den Wettermodellen des Königlich Niederländischen Meteorologischen Instituts, seinem Arbeitsplatz seit 20 Jahren, auf den Weg von der Westküste Afrikas über den Atlantik gemacht hat und damit als potenzieller Hurrikan in den Vorhersagen aufgetaucht ist. Geert Jan ist der Antreiber unserer Gruppe. Wenn es nach ihm ginge, würden wir unsere Studien immer innerhalb von zwei Tagen veröffentlichen. Schlaf? Wozu denn? Wenn man auch Wetterdaten analysieren kann!

Für uns Wissenschaftler*innen besteht die Welt zum Großteil aus Zahlen, Diagrammen und Computern. Aber wir brauchen auch eine Verbindung zum eigendichen Geschehen und den von der Katastrophe angerichteten Schäden und Opfern. Dieses Auge sind Katastrophenschützer und Hilfsorganisationen vor Ort. Sie haben schließlich die Aufgabe, die Menschen vor und während einer Katastrophe in Sicherheit zu bringen. Die Daten, die sie uns beschaffen, sind nur mit Aufwand zu bekommen. Wie viele Menschen sind betroffen? Gab es Verletzte und Tote? Die Teams vor Ort wissen oft schon vor uns Wissenschafder*innen, ob ein Wetterereignis eine Katastrophe auslösen könnte oder nicht, denn sie erhalten Frühwarnungen von lokalen Wetter- und anderen Diensten. Mit all den Daten können sie abschätzen, wie gut eine Bevölkerung

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vorbereitet ist. Was sie über Harvey erfahren, bereitet Sorgen: Die Infrastruktur der Millionenstadt Houston, auf die Harvey zusteuert, ist dem zu erwartenden Extremregen nicht gewachsen. Und ob die Bevölkerung die Warnungen ernst nehmen wird, ist noch nicht absehbar.

Allerdings sind wir uns nicht immer einig, wer die wichtigsten Adressaten sind: Für die Katastrophenschützer*innen sind das die Lokalpolitiker*innen, die am Ende entscheiden, ob sie Häuser wieder aufbauen oder abreißen lassen, ob sie einfach zum Alltag zurückkehren oder die Planung an die veränderten Umweltbedingungen anpassen. Alles Entscheidungen, die weder von Politikerinnen in Washington noch von den Medien getroffen werden.

Letztere haben aber vor allem Heidi und ihre Kolleginnen im Sinn. Ihre Aufgabe ist es, die Weltöffentlichkeit zu erreichen. Heidi organisiert nicht nur unser Team, sondern fasst als Wissensbrokerin unsere Fachartikel so zusammen, dass sie jeder versteht. Ihr ist es wichtig, dass wir die Kernaussagen unserer Arbeit dann mit der Öffentlichkeit teilen, wenn diese aufmerksam ist.

Harvey macht Heidi Angst. Denn der Druck ist enorm: Wir können einerseits nicht schweigen, denn es ist ein wichtiger Sturm. Andererseits sind Hurrikans aber Neuland für uns, und wir haben keine erprobten, getesteten Methoden und Modelle, auf die wir zurückgreifen können. Um uns nicht angreifbar zu machen, dürfen wir unter keinen Umständen Aussagen treffen, die nicht zu 100 Prozent belastbar sind. Denn die Aufmerksamkeit, die auf den USA liegt, ist nicht zu vergleichen mit dem Rest der Welt. Wir müssen uns also die nötige Zeit nehmen.

»Sobald wir uns äußern, stehen wir im Mittelpunkt der Öffendichkeit«, sage ich. »Die ganze Weltpresse blickt auf Harvey.«

»Wir haben die Beobachtungsdaten, wir können uns auf

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den Niederschlag statt auf den Sturm konzentrieren«, schlägt Geert Jan vor und erinnert daran, dass wir erst vor einem Jahr eine ähnliche Studie für ein Gebiet gemacht haben, das dem von Houston sehr nahe liegt. Und zwar für extreme Regenfälle in Louisiana im August 2016. Im Fall von Houston müsse man nur den geografischen Fokus ein wenig nach Westen verschieben. »Das dauert keine zwei Tage, wenn wir die amerikanischen Modelle benutzen, mehr Zeit wird am Ergebnis nichts ändern.«

»Doch«, widerspreche ich und gebe zu bedenken, dass wir diesmal ein anderes Zirkulationssystem haben. »Zeit erlaubt uns, Fehler zu finden, sorgfältig zu formulieren und viele verschiedene Modelle zu benutzen. Außerdem ist der Sturm noch nicht mal vorbei - die Frage nach der Rolle des Klimawandels interessiert die Leute doch auch noch in zwei Wochen!«

Heidi stimmt dem zu - und damit ist klar, dass wir noch vorsichtiger vorgehen müssen als sonst, auch wenn wir wissen, dass jeder verstrichene Tag vielen Menschen eine Bühne bieten wird, krude Thesen über die Ursachen von Harvey zu verbreiten.

Ein leicht enttäuschter Geert Jan gibt uns noch mit auf den Weg: »Über den Zeitplan haben wir nicht zum letzten Mal gesprochen ...«

Seine Unzufriedenheit währt jedoch nicht lange, denn die Beobachtungsdaten für Harvey zu analysieren und aktualisieren ist wirklich spannend. Zumindest von Europa aus betrachtet -wenn man sich nicht selbst im Sturm befindet.

Mir kommt die Aufgabe zu, die Klimamodelle auszuwerten und vor allem dafür zu sorgen, dass zur richtigen Zeit die richtigen Simulationen da sind. Und das erweist sich als komplizierter als gedacht: Wir in Oxford haben zwar ein regionales Klimamodell für den Golf von Mexiko. Also ein Modell, welches zwar das Klimasystem der ganzen Erde abdeckt, aber das Gebiet von Zentralamerika mit einer vier Mal so hohen Auflösung abbildet. Allerdings wurden die Simulationen von einer Kollegin in Mexiko gemacht, weshalb sie nun auf einem Server im Bundesstaat Baja California liegen. Eigentlich sollte es im 21. Jahrhundert eine Kleinigkeit sein, die Daten nach Oxford zu transferieren, aber mehr, als eine E-Mail an die Kollegin zu schicken, kann ich erst mal nicht tun.

Unser Team beschließt, dass wir einen Hurrikanexperten brauchen. Davon gibt es nur wenige auf der Welt - einer ist Gabe Vecchi, der viele Jahre lang am Geophysikalischen Labor für Strömungslehre in Princeton geforscht hat, einem der wichtigsten Forschungszentren für Tropenstürme. Mit ihm haben wir schon vor einem Jahr zusammengearbeitet, als große Teile von Louisiana unter Wasser standen.

Außerdem brauchen wir jemanden, der Zugang zu den neuesten Beobachtungsdaten vor Ort hat - Antonia Sebastian von der Rice University in Houston. Unser Team komplettiert Karin van der Wiel, die in De Bilt im Büro neben Geert Jan sitzt, aber lange mit Gabe in Princeton gearbeitet hat.

Expertinnen sind wichtig, aber nur wenn man sich kennt und vertraut, kann man unter Zeitdruck bestehen. Das gilt besonders für ein international aufgestelltes Team wie das unsere. Ohne Vertrauen geht es nicht. Das haben wir mühsam gelernt.

Unsere Videokonferenz endet mit klaren Aufgaben: Geert Jan kontaktiert Gabe, Karin und Antonia. Ich werde mich so schnell wie möglich mit meiner Kollegin in Mexiko in Verbindung setzen sowie mit dem IT-Team in Oxford, schließlich nimmt die Simulation von Hurrikans viel Speicherplatz in Anspruch: Mehrere Terabyte an Klimadaten müssen wir nach Oxford transferieren.

Am Ende unserer Konferenz steht unsere Entscheidung: Harvey wird Gegenstand einer »World Weather Attribution«-Studie.

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