Prolog
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Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten. Wie jeder große Umbruch, begann die Abwicklung unzählige Male von neuem – bis eines Tages ein Punkt in der Geschichte erreicht war, an dem das Land, immer dieses Land, endgültig und unwiderruflich verändert war.
Wer um 1960 oder später geboren wurde, hat sein gesamtes Erwachsenenleben im Taumel dieser Abwicklung verbracht. Er musste mit ansehen, wie Bauwerke und Institutionen, die bereits vor seiner Geburt bestanden hatten – die Farmen des Piedmont von Carolina, die Fabriken des Mahoning Valley, die Wohnsiedlungen von Florida, die Schulen Kaliforniens – in der gewaltigen Landschaft wie Salzsäulen zerfielen. Auch andere Aspekte, weniger deutlich sichtbar vielleicht, aber mindestens ebenso unerlässlich für ein geordnetes Alltagsleben, zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit – der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral.
Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.
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Die Abwicklung ist nichts Neues. Alle ein oder zwei Generationen vollzieht sich eine solche Abwicklung: Der Absturz der himmlischen Republik der Gründerväter in einem lärmenden Markt zerstrittener Lager; der Krieg, der die Vereinigten Staaten zerriss und aus dem historischen Plural ein Singular machte; der Börsencrash, der die Wirtschaft Amerikas zerstörte und den Weg für eine Demokratie von Bürokraten und Bürgern freimachte. Jeder Zusammenbruch hat eine Erneuerung hervorgebracht, jede Implosion hat Energie freigesetzt, jede Abwicklung hat zu neuem Zusammenhalt geführt.
Abwicklungen verheißen Freiheit, eine Freiheit, die die Welt noch nie gesehen hat. Sie erreicht mehr Menschen als je zuvor. Es ist die Freiheit fortzugehen, die Freiheit zurückzukehren, die Freiheit sich neu zu erfinden, den Tatsachen ins Auge zu sehen, einen neuen Beruf zu ergreifen, entlassen zu werden, zu heiraten, sich scheiden zu lassen, pleitezugehen, einen neuen Anfang zu wagen, ein Geschäft zu gründen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, die Grenzen auszuloten, den Ruinen den Rücken zu kehren, erfolgreicher zu sein, als man für möglich gehalten hätte, über seine Erfolge zu prahlen, zu scheitern und wieder von neuem zu beginnen.
Mit der Freiheit schafft die Abwicklung ihre eigenen Illusionen, denn all diese Versuche, diese Träume sind flüchtig wie Seifenblasen, die zerplatzen, sobald sie die konkreten Umstände berühren. Gewinnen und verlieren – das ist das große amerikanische Spiel, und in der Abwicklung ist der Gewinn größer als je zuvor, die Gewinner entschweben wie riesige Luftschiffe, und die Verlierer fallen tiefer und tiefer, und manche kommen niemals unten an.
Diese Freiheit bedeutet, dass wir auf uns selbst gestellt sind. Mehr Amerikaner als je zuvor leben allein. Selbst eine kleine Familie kann Halt genug geben, um in der Einsamkeit, vielleicht im Schatten eines gigantischen Militärstützpunkts, zu überleben, an einem Ort, wo nicht eine Seele ist, an die man sich in der Not wenden könnte. Beinahe über Nacht kann ein glänzendes, neues Wohnviertel entstehen, an einem Ort im Nichts, und genauso schnell kann es wieder verschwinden.
Eine alte Stadt kann ihre Industriebasis verlieren und mit ihr zwei Drittel ihrer Bevölkerung, und alles, was diese Stadt ausgemacht hat – die Kirchen und Ämter, Geschäfte und Werkstätten, sozialen Einrichtungen, Gewerkschaften –, bricht lautlos in sich zusammen, wie ein billiges Holzhaus im Sturm.
Amerikaner sind es gewöhnt, allein in einer Landschaft zu leben, in der nichts Haltbares ist, nichts Festes. Deshalb sind sie bereit, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Erfolgsgeschichten und Heilsversprechen zu schreiben. Ein Junge in North Carolina hält seine Bibel fest in der Hand, als er im grellen Sonnenlicht eine Vision empfängt, wie das Land, in dem er lebt, neu erstehen könnte. Ein junger Mann zieht nach Washington und fragt sich ein Leben lang, was ihn einst dazu getrieben hat, diesen ersten Schritt zu tun. Eine junge Frau in Ohio kämpft um ihre Existenz, während um sie herum alles zerfällt. Erst als reife Frau kann sie endlich die Chance ergreifen, mehr zu tun, als nur zu überleben.
Wenn diese Amerikaner, die kaum jemand kennt, im Wandel neue Wege gehen, entdecken sie auf ihrem Weg, dort, wo einst die alten Institutionen der Gesellschaft gestanden haben, neuartige Denkmäler – überlebensgroße Bilder ihrer berühmtesten Mitbürger, der Stars, die immer bedeutender, immer reicher und mächtiger werden, je weiter der öffentliche Raum zerstört wird. Manche dieser Stars bekommen eigene Hausaltäre, sie sind die Götter des Alltags, die Orientierung geben sollen und Antwort auf die Frage nach einem guten, einem besseren Leben.
Alles unterliegt dem Wandel, nichts bleibt, wie es war, nur die Stimmen, die amerikanischen Stimmen, die lauten, sentimentalen, wütenden, sachlichen Stimmen bleiben dieselben: Sie nehmen sich die Ideen, wo sie sie finden, bei Gott, im Fernsehen, in der vage erinnerten Vergangenheit – sie stehen am Fließband und erzählen in den Lärm hinein Witze, sie ziehen die Vorhänge zu, verbergen sich vor der Welt und klagen, sie stehen in Parks oder einsam in irgendeiner Kammer und wettern über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, sie handeln am Telefon Verträge aus und sitzen in der Nacht vor ihren Häusern, während Sattelzüge durch die Finsternis donnern.
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George Packer - Prolog - Die Abwicklung