Betsy PetersenMeines Vaters TochterAnalyse eines MißbrauchsDancing with Daddy
1991 bei Bantam Books, New York 1993 im Rowohlt Taschenbuch Verlag |
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1991 200 Seiten detopia: |
Deutsch von Cornelia Holfelder
Dieses Buch ist für meinen Mann Jim und für unsere Söhne William und Tom Für die freundliche Genehmigung, Auszüge aus Briefen zu zitieren, dankt die Autorin Kitty Friesen, Bill Gallagher, Dr. John Ratcliffe, Dr. William Silen, Dr. Alex Weisskopf und anderen Kollegen, Freunden und Patienten ihres Vaters; Gerald Egelston gebührt Dank für die Genehmigung, Teile seines Nachrufs abzudrucken.
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<Meines Vaters Tochter> handelt von einem Trauma, von dessen Entdeckung und Heilung — und von großem Mut. Das Buch wird jeden bewegen, Mann oder Frau, auch jene, die als Kind nicht sexuell oder anders mißbraucht worden sind... Ich war erschüttert, als ich von der Hilflosigkeit las, die Betsy Petersen empfand, und ich bewundere die Entschlossenheit, mit der sie offen und ehrlich mit ihrem Haß und ihrem Zorn umgeht. Marilyn French Zu diesem Buch Ein Foto. Eine glückliche Familie ist darauf zu sehen: Vater, Mutter und zwei Töchter. Die jüngere, auf dem Schoß des Vaters, ist Betsy Petersen. Vierzig Jahre später beginnt sie eine Psychotherapie. Sie tut es zunächst nicht, um ihre eigene Kindheit zu erkunden, sondern für ihre beiden Söhne. Sie möchte wissen, warum es ihr nicht gelingt, ein liebevolles Verhältnis zu den eigenen Kindern herzustellen, warum sie ungerecht ist, zu Wutausbrüchen neigt, sich von ihnen zurückzieht. Das Bild der heilen Familie hält den mühsam freigelegten Erinnerungen schon bald nicht mehr stand: Immer deutlicher wird der Autorin bewußt, daß der vergötterte Vater sie während ihrer gesamten Kindheit sexuell mißbraucht hat. Der Verlauf des Textes folgt dem Prozeß der Bewußtwerdung des lange Verdrängten. Aus völliger Amnesie wird ein schmerzhaft genaues Benennen des Geschehenen, aus der unreflektierten Liebe zum Vater wird abgrundtiefer Haß. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter steht im Zentrum des Buchs, doch mit ebensolcher Beklemmung liest man von den Folgen der vergewaltigten Kindheit: von den unendlichen Mühen Betsy Petersens, ihrer eigenen Familie gerecht zu werden, von dem kurzen und erschreckend lieblosen Leben ihrer Schwester, die der Vater ebenfalls mißbraucht hat. Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist alles andere als ein vereinzelt auftretendes Phänomen; Schätzungen gehen davon aus, daß jedes fünfte Kind solchen Mißhandlungen ausgesetzt ist. Diese Autobiographie rüttelt mit ungeheuerlicher Offenheit an einem alten Tabu. Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Anklage gegen ihren Vater, sondern versucht zu ergründen, was ihn zum Inzest trieb. Sie schildert, wie sie Schritt für Schritt gelernt hat, mit ihrer Vergangenheit zu leben und den Menschen, die ihr am nächsten sind, mit Liebe zu begegnen. Betsy Petersen, Jahrgang 1942, ist als Journalistin für große Tageszeitungen tätig. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne. «Meines Vaters Tochter» ist ihr erstes Buch. |
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1 Familienfoto 7 Hinter uns an der Wand erheben sich Schatten wie Gespenster. Die von meiner Schwester und meinem Vater sind groß und mächtig. Meine Mutter schaut meinen Vater mit einem verführerischen Lächeln an. Er erwidert ihren Blick. Sein Lächeln ist schwach, fast nicht zu sehen. Meine Schwester Pat steht zwischen ihnen. Sie schaut aus dem Foto heraus. Ich auch. Ich sitze mit finsterem Gesicht auf dem Schoß meines Vaters. Auf dem Bild ist meine Schwester dreizehn, und ich bin zwei. Es ist im Jahr 1944 aufgenommen, kurz bevor mein Vater in den Pazifik geschickt wurde. Er hat oft Fotos gemacht oder machen lassen, um die Dinge festzuhalten. Auf dem Bild tragt er Uniform und eine Militärbrille mit einem Drahtgestell, und seine Hände wirken neben meinen riesig und schlaff. Die eine hält meine Hüfte umfaßt, die andere streift durch mein Kleid hindurch die Innenseite meines Oberschenkels. Ich schaue aus dem Foto heraus in die gleiche Richtung wie meine Schwester, und mein Gesicht ist genau wie ihres traurig, verwirrt und zornig. Auf meinem Gesicht ist der Zorn ziemlich deutlich zu sehen, auf dem meiner Schwester ist er besser verborgen. Wir drei — meine Schwester, mein Vater und ich — befinden uns auf dem Bild meiner Mutter gegenüber; wir bilden eine Front gegen sie. Meine Schwester und ich sind ihre Rivalinnen, aber das sieht sie nicht. Wir sind für sie unsichtbar. Sie sieht nur meinen Vater. |
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Kinder 1
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Als ich mit meinem ersten Sohn schwanger war, las ich sämtliche einschlägigen Bücher über Ernährung und sanfte Geburt und Stillen. Ich nahm mir vor, meinem Kind alles zu geben, was es brauchte. Ich hatte immer genau getan, was von mir erwartet wurde, überlegte ich, warum also nicht auch das?
Aber mein Körper sabotierte meine Vorsätze von Anfang an. Mein Muttermund wollte sich nicht öffnen, meine Gebärmutter sich nicht ordentlich zusammenziehen, und so quälte ich mich über einen großen Teil der vierundvierzig Stunden, die die Geburt dauerte, ohne großen Effekt mit den Wehen.
Und als ich ihn dann an die Brust legte, schrie er. Ich stillte William vierzehn Monate, und es lief immer gleich ab: Er nahm die Brustwarze, saugte ein paar Sekunden lang daran, ließ wieder los und schrie, bis er es erneut versuchte, wieder und wieder. Er bekam nicht, was er wollte, und ich wußte nicht, wie ich es ihm geben könnte. Und deshalb, so dachte ich, wollte er mich nicht.
Jetzt, vierzehn Jahre später, erscheint es mir so klar. Mein Körper verspannte sich, sobald er meine Brustwarze in den Mund nahm, und er spürte es. Ich selbst spürte es nicht, weil ich mein Bewußtsein von meinem Körper abspaltete, genau wie ich es als Kind getan hatte. Ich verschloß meine Ohren vor der Stimme des kleinen Mädchens in mir, das schrie: Laß mich, hör auf, laß mich in Ruhe, ich will dich da nicht haben, geh weg, GEH WEG, GEH WEG!
Mein jüngerer Sohn Tom reagierte nicht so unmittelbar auf diese Signale. Er nuckelte friedlich und endlos. Er hätte wahrscheinlich immer weiter getrunken, rund um die Uhr, tagaus, tagein, wenn ich ihn gelassen hätte, aber ich ließ ihn nie so viel von mir haben, wie er wollte. Ich weiß noch, wie er einmal, als er etwa vier war, auf dem Sofa lag, die Arme ausstreckte und rief «Gib mir..... gib mir..... dich.»
Er gab nie auf, versuchte es immer weiter, und erst als ich mich langsam wieder an das zu erinnern begann, was mir als Kind widerfahren war, erkannte ich, daß mein Widerstand sich nicht gegen meinen Sohn richtete, sondern gegen meinen Vater. Ich werde benutzt, ich muß ihm geben, was immer er von mir will, alles andere stehen und liegen lassen, wenn er nach mir ruft. Diese jähen Störungen! Wie ein Schlag ins Gesicht: kümmere dich nicht um dich selbst, kümmere dich um mich. Er fordert zu viel, er kommt mir zu nahe, er drängt sich in meinen Raum und meine Zeit, nichts ist mehr meins, alles gehört ihm. Er macht, daß ich mich auflöse. Nicht mein Sohn. Mein Vater.
Bis ich fünfundvierzig war, war mir nicht bewußt, daß mein Vater mich mißbraucht hatte — und doch hinderte mich diese Erfahrung trotz aller Verdrängung daran, die Mutter zu sein, die ich sein wollte, die Mutter, die ich mir so sehnlich gewünscht hatte, als ich selbst noch ein Kind war.
Ich habe mit meinen Kindern das Drama ausagiert, das ich am Rockzipfel meiner Mutter und auf dem Schoß meines Vaters verinnerlichte: die eine, so kam es bei mir an, wollte nichts mit mir zu tun haben, der andere wollte mich verschlingen. Ich wies meinen Kindern diese beiden Rollen zu und brachte ihnen ihren Text bei.
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Meine beiden Söhne wachten ständig nachts auf, manchmal zwei- oder dreimal, von ihrer Geburt an bis zu ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr. Wenn ich gerade zur Ruhe gekommen und eingeschlafen war, fuhr ich erschrocken wieder hoch, weil ich glaubte, sie weinen gehört zu haben, und das hieß, daß ich aufstehen und mich um sie kümmern mußte. Ich versuchte mir einzureden, daß es mit der Ernährung zu tun hatte. Wenn ich sie nur dazu bringen könnte, vor dem Schlafengehen ein Glas Milch zu trinken, wäre das Problem aus der Welt. Aber sie machten nicht mit.
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, nicht hinzugehen, wenn sie nach mir riefen, obwohl der Kinderarzt mir gesagt hatte, ich solle sie gar nicht beachten Heute bin ich froh, daß ich seinen Rat ignoriert habe, denn ich weiß, daß sie nachts aufwachten, weil sie tagsüber von mir einfach nicht das bekamen, was sie brauchten Aber damals ging ich zu ihnen, weil ich grundsätzlich das Gefühl hatte, ihnen nichts verweigern zu dürfen Ich sah meine Kinder so, wie ich meine Eltern gesehen hatte riesig und mächtig und gleichzeitig überaus zerbrechlich Eine falsche Bewegung von mir, und sie wurden mich vernichten oder ich sie Ich hatte Angst, daß sie sich, wenn ich ihnen irgend etwas verwehrte oder vorenthielt, auf mich stürzen und mich auffressen wurden, oder aber sie wurden mir entgleiten und von der Erde kippen und ins Nichts stürzen, aus meiner Reichweite, dorthin, wo ich sie nicht mehr retten konnte
Einmal, als sie zehn und zwölf waren, stritten sie miteinander herum. Es war ein ganz normaler Zank zwischen Geschwistern, aber plötzlich konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich schrie los «I......H !», wie eine Zweijährige. Ich ballte die Fauste, verdrehte die Augen und warf mich der Länge lang hin, keuchte und schluchzte und schlug auf den Fußboden ein. Ich hatte mich nicht mehr in der Gewalt. Ich dachte, ich sei dabei, verrückt zu werden. Aber als es vorbei war, wurde mir klar, daß ich für einen Moment wieder zum Kind geworden war. Ich hatte die Kontrolle verloren, weil sie außer Kontrolle geraten waren. Ich mußte etwas tun, damit sie zu streiten aufhörten, aber ich konnte es nicht.
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Sie hörten nicht auf mich. Es war ihnen egal, was ich wollte, was ich fühlte, und ich würde zugrundegehen. Ich würde zwischen sie geraten und zermalmt werden. «Sie» waren nicht meine Kinder, sondern meine Eltern.
William hockte sich zu mir auf den Boden, nahm mich in die Arme und sagte sanft «Ist ja gut. Ist ja gut.» Ich schämte mich sehr für meinen Ausbruch und war ihm zugleich sehr dankbar dafür, daß er mich tröstete. Ich kann mich nicht erinnern, als Kind jemals so in den Arm genommen worden zu sein, ich wußte nicht einmal, daß es so etwas gab. Aber gleichzeitig war mir klar, daß er eine Mutter brauchte, anstatt selbst eine zu sein.
Ich hatte schon einmal so geschrien, als er noch klein war, vielleicht drei Aus irgendeinem Grund waren wir in dem kleinen Badezimmer hinter der Küche hohe, eng zusammenstehende Wände, kaum Platz für uns zwei Er tat irgend etwas, ich weiß nicht mehr was, und mich überkam eine rasende Wut Ich schrie los, und er faßte mir an den Hals und packte mit zwei Fingern eine Hautfalte Er drehte daran, als wollte er den Schrei abstellen Er muß geglaubt haben, es sei seine Schuld, und ich nehme an, ich dachte es auch
Ich erinnere mich nicht an irgendwelche Wutanfalle in meiner Kindheit, aber man hat mir oft erzählt, daß ich gebissen hatte. Ich war «der Schrecken der Nachbarschaft». So stand es im Familienalbum, unter einem Foto von mir mit Zöpfen und Latzhose und gebleckten Zähnen. Die Familien-Fama behauptet, ich hatte mich so aufgeführt, während mein Vater im Krieg war, weil das eine so schwere Zeit für uns alle war, die Familien-Fama behauptet, ich hatte damit aufgehört, als er zurückkam. Aber ich erinnere mich, daß ich ein kleines Mädchen gebissen habe, als ich im Kindergarten war, also mindestens ein Jahr später. Ich erinnere mich noch genau an die feste, aber doch nachgiebige Rundung ihres Knies zwischen meinen Zähnen.
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William hatte eine Zeitlang — fast das ganze erste Jahr nach Toms Geburt — täglich etwa vier oder fünf Wutanfälle. Ich erzählte niemandem davon, weil ich mich deswegen schämte. Einmal grub er seine Zahne so heftig in Toms Rücken, daß ein Bißmal zurückblieb. Ein anderes Mal, als wir gerade im Auto saßen, sah ich im Rückspiegel, wie er sich selbst in den Arm biß. Eines Tages war es damit auf einmal vorbei. Er hörte auf, das zu fordern, was er haben wollte.
Auch Tom hatte Zornausbrüche, und bei ihm gingen sie immer weiter: er forderte und forderte und forderte. Er feuerte Gegenstände mit solcher Wucht auf den Fußboden, daß sie kaputt gingen, warf Möbelstücke um, spuckte mich an und beschimpfte mich. <Beachte mich>, forderte er — genau wie meine Schwester es getan hatte. «Sie war immer schwierig», meinte meine Mutter.
Ich hörte es nicht. Ich merkte nicht, daß ich noch einmal meine Kindheit durchlebte, in der sich unser ganzes Familienleben immer nur um das eine gedreht hatte: um den Zorn meines Vaters und unser verzweifeltes Bemühen, ihn zu besänftigen. Ich drängte Tom in diese Rolle, ohne es zu merken.
Wenn er sich in der Öffentlichkeit so aufgeführt hatte, hatte ich sein Verhalten vielleicht schon früher ernst genommen. Aber vor anderen Leuten war er immer reizend, willig, nett und wohlerzogen. Seine Ausbrüche waren ein Geheimnis. Niemand außerhalb der Familie wußte etwas davon, bis ich es eines Tages beiläufig der Schulpsychologin erzählte, einer Frau, die ich achtete und zu der ich Vertrauen hatte. Es war mir zu peinlich, als daß ich ihr alles gesagt hätte, aber ich erzählte ihr ein bißchen, und sie schickte mich zu Kris, einer weisen und einfühlsamen Therapeutin, die begriff, daß sie Tom am besten helfen konnte, indem sie mir half.
Als Kind wußte ich, daß ich mein Leid in mich hineinzufressen hatte. Dann brauchten meine Eltern es nicht zu sehen. Sie mußten sich nicht aufgefordert fühlen, in sich zu gehen und nach den Gründen meiner Qual zu forschen.
Das war meine Hauptmethode, sie zu schützen. Heute versuche ich, Schmerz....
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