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3  Spezielle Teilphänomene des Wiedererlebens

 

 

 

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In diesem Kapitel möchte ich drei wenig bekannte und im allgemeinen kaum beachtete Phänomene beschreiben, die eher als Kuriositäten gelten. Lediglich das letzte davon beschäftigt seit den sechziger Jahren anhaltend einige wenige Spezialisten, die sich mit noch bescheidenem Erfolg bemühen, ihm vor allem in der Chirurgie und der Anästhesie mehr Beachtung zu verschaffen. Die drei Phänomene, deren innerer Zusammenhang bislang noch nicht erkannt wurde, lassen sich als Teilphänomene des Wiedererlebens deuten und damit erstmals verstehen.

 

1  Eidese und ungewöhnliche Gedächtnisleistungen

Die Definitionen des Begriffs »Eidese« sind nicht einheitlich. Einige Forscher verstehen darunter lediglich das Sehen »visueller Nachbilder«, die nach kurzer Zeit verschwinden und dann auch nicht mehr hervorgerufen werden können. Andererseits gibt es sehr viel weiter reichende Definitionen wie »die sehr plastische Vorstellung und das (fast) reale Erleben früher wahrgenommener Ereignisse« (ZETKIN-SCHALDACH), die sich weitgehend mit meiner Definition des Wiedererlebens decken. Während es über das Sehen visueller Nachbilder einige wenige größere Untersuchungen gibt, scheint das viel umfassendere Phänomen der Eidese als Form des Wiedererlebens kaum genauer untersucht worden zu sein. 

Die im Zusammenhang mit eidetischen Phänomenen auch benutzten Begriffe »photographisches oder filmisches Gedächtnis« bzw. »phonographisches Gedächtnis« sollen die Genauigkeit und Dauerhaftigkeit solcher Erinnerungen beschreiben, schränken sie aber gleichzeitig auf visuelle bzw. akustische Wahrnehmungen ein. Auch in anderer Hinsicht bagatellisieren diese Vergleiche das Phänomen, bleiben doch die Eindrücke beim Betrachten eines Fotos oder beim Anhören einer Schallplatte hinter dem fast realen Wiedererleben eines Geschehens weit zurück.

Es besteht Übereinstimmung darüber, daß eidetische Fähigkeiten - was immer darunter verstanden wird - bei Erwachsenen nur ausnahmsweise oder sehr rudimentär zu finden sind. Kleine Kinder scheinen sie weit häufiger zu besitzen, jedoch werden sie kaum erkannt, geschweige denn beachtet. Im Laufe der Jahre gehen sie dann mehr und mehr verloren. Nur beim Memoryspiel fällt Erwachsenen häufig auf, daß sie gegen einen vier- oder acht-, ja selbst zehnjährigen Partner kaum eine Chance haben. Der Grund dafür kann in dem Rest eidetischer Fähigkeiten gesehen werden, den diese Kinder immer noch besitzen. Ihrem »fotografischen Gedächtnis« prägen sich Bild und Position einer vorübergehend aufgedeckten Memorykarte schnell und zuverlässig ein: Sie können später gleichsam noch sehen, wo die gesuchte Karte liegt. Bei manchen Kindern findet man auch überraschende Fähigkeiten im Puz-zeln. Diese Kinder gehen dabei aber ganz anders vor als Erwachsene, die zunächst den Rand des Bildes auflegen und sich dann an unterschiedlichen Farben oder auffälligen Details, schließlich gar an den Formen der Puzzlestücke zu orientieren versuchen. Die Kinder dagegen greifen, nachdem sie die Vorlage betrachtet haben, irgendeinen Stein heraus und wissen fast immer genau, wohin er gehört.

Erwachsene, denen eidetische Fähigkeiten wenigstens teilweise erhalten geblieben sind, werden Eidetiker genannt. Zu ihnen gehörte J. W. v. Goethe, wohl der bekannteste visuelle Eidetiker. Angeblich konnte er, nachdem er ein Bild, eine Landschaft oder eine Gruppe Menschen in einem Raum kurze Zeit betrachtet hatte, mit geschlossenen Augen eine sehr genaue und detaillierte Schilderung davon geben. Dabei sah er die betrachtete Szene förmlich vor seinem inneren Auge und brauchte nur zu beschreiben, was er sah. W. A. Mozart dagegen war ein auditiver Eidetiker. Er konnte eine einmal gehörte Symphonie innerlich wieder hören und dabei notengetreu aufzeichnen - einschließlich der bei der Aufführung gemachten Fehler. Auch seine schriftlichen Wiedergaben von Reden sind als »Resultate eines filmischen Gedächtnisses« zu betrachten. (FRAUCHINGER)

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Es liegt nahe, ja es drängt sich geradezu auf, diese eidetischen Phänomene dem weit umfassenderen Phänomen des Wiedererlebens als spezielle Teilphänomene zu- und unterzuordnen. Dafür spricht ebenfalls, daß nach unseren Erfahrungen bei Kindern die Fähigkeit des Wiedererlebens im umfassenden Sinn noch stärker ausgeprägt ist. Dies belegen einerseits Erfahrungen meiner Mitarbeiter, die mit kleinen Kindern arbeiten, andererseits zahlreiche Beobachtungen während therapeutischer Sitzungen, in denen Personen eine Episode ihrer Kindheit wiedererleben, wo sie - als Teil dieser Episode! - ein noch früheres traumatisches Geschehen wiedererlebten (siehe dazu Fallbeispiel 7). Dieses »Wiedererleben im Wiedererleben« (etwa vergleichbar dem Fernsehen im Fernsehen) zeigt, daß kleine Kinder leicht und offenbar nicht selten durch einen situativen Anstoß in ein früheres Geschehen »zurückfallen« und dieses wiedererleben, was verständlicherweise große Verwirrung auslöst. Erwachsene, die dabei anwesend sind, bemerken dies entweder nicht oder sind völlig verständnislos. So kommt es, daß dieses Phänomen bisher nicht bekannt wurde. Beim Wiedererleben (von der Gegenwart aus) aber kann es häufig beobachtet und dann - wenn man das Phänomen erst einmal kennt - mühelos erkannt und verstanden werden.

Hier noch zwei zuverlässig belegte Beispiele außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen, die man vielleicht nicht dem Phänomen »Eidese« (im engeren Sinne verstanden) zuordnen möchte, die aber auch durch Wiedererleben erklärt werden können:

1. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte war als Kind Gänsehüter auf einem Gut in der Oberlausitz. »Der Gutsherr kommt eines Sonntags um die Mittagszeit in das Dorf und ist höchst betrübt darüber, daß er die Predigt versäumt hat. Aber man tröstet ihn: Der Hütejunge Fichte könne alle Predigten wortwörtlich wiederholen. In der Tat kopiert der kleine Fichte den Pfarrer nach Wort, Ton und Gesten so vollendet, daß der Gutsherr zu Entschlüssen kommt, die der philosophischen Welt am Ende ihren Fichte bescheren: er läßt den Gänsehüter auf seine Kosten ausbilden.« (WEISCHEDEL)

2. Der geniale Mathematiker John von Neumann (1903-1957) las als Achtjähriger zwei Seiten eines Telefonbuchs und konnte dann mit geschlossenen Augen Namen, Adressen und Telefonnummern wiederholen. Einer seiner Mitarbeiter am Institute for Advanced Studies in Princeton erinnerte sich: »Soweit ich das beurteilen

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kann, konnte er ein Buch oder einen Artikel, den er einmal gelesen hatte, wörtlich wiederholen; das konnte er sogar Jahre später ohne Zögern. Bei einer Gelegenheit wollte ich diese Fähigkeit prüfen und fragte ihn nach dem Anfang von Dickens >Eine Geschichte zweier Städte<, woraufhin er ohne Pause sofort begann, das erste Kapitel zu rezitieren und weitermachte, bis ich ihn nach zehn oder fünfzehn Minuten bat, aufzuhören.« (REGIS)

In beiden Beispielen übertreffen die Lern- und Behaltensleistun-gen ungeheuer weit die oben beschriebenen Fähigkeiten des kognitiven Gedächtnisses - so weit, daß es schwerfällt, sie einfach als außergewöhnliche Leistungen anzusehen. (Bitte erinnern Sie sich daran, daß das Lernen einer einzigen fremdsprachigen Vokabel ein bis zwei Minuten erfordert. Sollte das Gedächtnis eines Genies tausendmal schneller und zugleich fünfhundertmal beständiger und getreuer sein können als das eines normalen Menschen? Und warum finden sich diese Fähigkeiten nicht auch bei anderen Genies?) Für das Erlebnisgedächtnis aber sind solche Leistungen ganz natürlich; ungewöhnlich ist nur, daß ein Mensch über die (stets latent vorhandenen) Fähigkeiten auch ohne weiteres verfügen kann.

 

3.2 »Hören unter dem Messer«

Dies ist ein weiteres Phänomen, das im Rahmen unserer Betrachtungen interessant ist. Es hat seit etwa dreißig Jahren (eine wenn auch noch immer bescheidene) wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Doch gibt es inzwischen Tausende von Berichten über operierte Patienten, die belegen, daß Menschen unter Narkose zwar betäubt, aber nicht unbedingt taub sind. Gelegentlich können sich Patienten an Vorgänge während der Operation oder an den Eingriff selbst erinnern, häufiger schlummern ihre Erlebnisse im Unbewußten und führen zu bleibenden Traumata. (Kurzzeitig »aufblühende« Magengeschwüre nach schweren und langen Operationen gelten als durchaus üblich.) Insbesondere wurde beobachtet, daß abfällige Äußerungen eines Anwesenden über den Körper einer Patientin und pessimistische Prognosen

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über den Ausgang der Operation oder den anschließenden Heilungsprozeß sich nachteilig auswirkten. Während deutsche Forscher die Ursache dafür zunächst in einer zu flachen Narkose sahen oder annahmen, die erinnerten Eindrücke stammten aus der Aufwachphase gegen Ende des Eingriffs, war BENNET (Uni-versity of California) der Auffassung, daß selbst bei ausreichender Anästhesie die Fähigkeit des Gehirns, akustische Reize zu verarbeiten, unberührt bleiben kann. Das Gehör, das Menschen wie Tieren auch als Alarmsystem (selbst im Schlaf) dient, sei womöglich nur sehr schwer auszuschalten. (Zitiert nach GEO) Auf dem Deutschen Anästhesie-Kongreß 1994 berichtete Dierk SCHWENDER, Anästhesist am Münchener Klinikum Großhadern, über die Ergebnisse einer von ihm geleiteten Studie. Schwender erforschte nicht das eher seltene Aufwachphänomen, sondern die »geglückte« Narkose ohne Komplikationen, bei der es zunächst keine Hinweise darauf gibt, daß der Patient während der Operation etwas wahrgenommen hat. Von 45 herzchirurgischen Patienten, die an der Untersuchung teilnahmen, hörten 30 während ihrer Operation eine Kassette, die von einer ihnen bekannten Therapeutin zuvor besprochen worden war. Der Text bestand aus ermutigenden Vorschlägen für die Zeit der Genesung und aus einer kurzen Version der Geschichte von Robinson Crusoe und seinem Gefährten Freitag. Er endete mit der Aufforderung, nach der Operation beim Stichwort »Freitag« an die Robinson-Ge-schichtezu denken. In einem Interview nach dem Eingriff konnte sich keiner der Patienten daran erinnern, unter Narkose etwas gehört zu haben. Auf die Frage, was ihnen zu dem Stichwort »Freitag« einfalle, gab über ein Fünftel der Patienten, die die Kassette gehört hatten, Inhalte aus der Robinson-Crusoe-Geschichte zum besten. Aber selbst als sie ausdrücklich danach gefragt wurden, brachten sie diese Assoziation nicht in Zusammenhang mit der Operation. Aus der Gruppe der Patienten, die die Kassette nicht gehört hatten, assoziierte niemand zu dem Wort »Freitag« die Crusoe-Erzählung. Diese Ergebnisse zeigen, daß unter den derzeit üblichen Narkosen akustische Wahrnehmungen möglich sind und zumindest auf einem unbewußten Niveau bis nach dem chirurgischen Eingriff erhalten bleiben. Einige Studienergebnisse weisen darauf hin, daß durch positive Suggestionen während der

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Narkose Patienten in der Genesungsphase weniger Schmerzmedikamente brauchen und kürzer im Krankenhaus bleiben müssen. (Süddeutsche Zeitung Nr. 172/1994, Seite 24)

Das Phänomen »Hören unter dem Messer« zeigt, daß Sinneswahrnehmungen unter Umgehung des Bewußtseins (das heißt, ohne vorher bewußt wahrgenommen worden zu sein) vom Organismus registriert werden können und später angemessene oder positive Reaktionen, unter Umständen aber auch psychische oder psychosomatische Störungen hervorrufen können. Darüber hinaus habe ich wiederholt beobachtet, daß Personen während des Wiedererlebens einer unter Narkose durchgeführten Operation Schmerzen wahrnehmen und Äußerungen der Ärzte wiedergeben konnten. Dies läßt darauf schließen, daß »Hören unter dem Messer« auf das Erlebnisgedächtnis zurückzuführen ist.

Beispiel:

Lina E. ließ in einer Klinik einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Bald darauf sucht sie wegen heftiger Unterleibsbeschwerden die Klinik wieder auf und wird unter Narkose neuerlich operiert. Beim Begleiteten Wiedererleben dieser Operation hört sie die Gespräche der Ärzte und erfährt, was ihr nie mitgeteilt worden war und was sie daher nicht wußte: Bei der Abtreibung war ein Beinchen des Embryos nicht entfernt worden und in ihrem Körper geblieben.

 

*

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4. Die Sinne des Menschen

 

 

Um weitere wichtige Unterschiede zwischen dem Erlebnisgedächtnis und dem kognitiven Gedächtnis darstellen zu können, muß ich zunächst genauer auf die menschlichen Sinne eingehen.

4.1 Die »äußeren Sinne«

Die herkömmliche Aufzählung von fünf Sinnen (zum Beispiel nach WAHRIG, Deutsches Wörterbuch: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl) und einem lediglich metaphorischen sechsten Sinn für Intuitionen und Ahnungen (»der richtige Riecher«) hat sich längst als unvollständig erwiesen. Der oft »Gefühl« genannte fünfte Sinn besteht nämlich aus mindestens zwei verschiedenen Sinnen, dem Tastsinn (Druck- und Berührungssinn) und dem Temperatursinn, denen nicht nur qualitativ verschiedene Wahrnehmungen, sondern auch verschiedene Rezeptoren (Sensoren) entsprechen. Diese beiden Sinne können allenfalls unter dem Oberbegriff »Hautsinne« zusammengefaßt werden, wozu dann auch der Schmerzsinn für den sogenannten Oberflächenschmerz (Gegensatz: Tiefenschmerz, siehe unten) gezählt werden kann. Dagegen spräche lediglich, daß es für den Schmerz keine eigenen Sinnesorgane und daher auch keinen spezifischen Reiz (entsprechend dem Licht für das Auge und dem Schall für das Ohr) gibt. Doch ist andererseits der Schmerz eine Wahrnehmung, wobei zwischen Oberflächenschmerz und Tiefenschmerz unterschieden werden kann. Der als »hell und stechend« gekennzeichnete Oberflächenschmerz beruht auf mechanischen oder chemischen Verletzungen der Haut oder auf starker Überreizung von Sinnesorganen (Auge, Ohr, Haut).

Unterteilt man die Sinne in äußere Sinne (diese empfangen Reize der Außenwelt und der Oberfläche des eigenen Körpers) und innere Sinne (sie empfangen ihre Informationen aus dem Körperinneren), so ist der Oberflächenschmerz eine äußere, der Tiefenschmerz dagegen eine innere Wahrnehmung.

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Äußere Sinne

 

Gesichtssinn

 

Gehörsinn

 

Geruchssinn

 

Geschmackssinn

 

Tastsinn (Druck- und Berührungssinn) *

 

Temperatursinn

► Hautsinne

Äußerer Schmerzsinn

1

 

4.2 Die »inneren Sinne«

Dazu gehören die folgenden Sinne:

4.2.1 Der innere Schmerzsinn

Er dient der Wahrnehmung des Tiefenschmerzes in Muskeln, inneren Organen, Gelenken und Geweben. Der Tiefenschmerz wird von Verletzungen und krampfhaften Veränderungen im Körper hervorgerufen und als »dumpf, unlustbetont und quälend« beschrieben. Eine besondere Rolle spielt dabei die Art des Reizes: Magen, Darm und Blase sind zum Beispiel gegen einen Schnitt unempfindlich, sprechen dagegen stark auf Dehnung, Verkrampfung und Sauerstoffmangel an. Die wesentliche Folge des Tiefenschmerzes ist eine Verschiebung der vegetativen Tonuslage: es kommt zum Überwiegen des Tonus des Sympathikus und damit zur Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, zur Steigerung der Bewußtseinshelligkeit und Erhöhung der Abwehr- und Fluchtbereitschaft. Die Willkürmotorik wird gehemmt und dadurch Ruhestellung oder Schutz erkrankter Organe bewirkt.

 

4.2.2 Der Gleichgewichtssinn (statischer Sinn)

Er ist der Sinn zur Wahrnehmung und Beurteilung der Stellung des Körpers im Raum in bezug auf die Wirkungsrichtung der Schwerkraft. Sein Sitz ist das Gleichgewichtsorgan im inneren Ohr, das in funktioneller Verbindung zum Kleinhirn steht. Der Gleichgewichtssinn funktioniert ohne Beteiligung des Bewußtseins; Störungen (zum Beispiel durch übermäßigen Alkoholgenuß) führen zum Taumeln oder Hinfallen. Starke Irritationen des

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Gleichgewichtssinns (zum Beispiel durch schnelle oder ungleichmäßige Drehbewegungen) können Schwindel, Übelkeit und Erbrechen hervorrufen.

 

4.2.3 Der Tiefensinn (Tiefensensibilität, propriozeptiver Sinn) 

Er ist der Sinn für die Lage und Haltung des Körpers, insbesondere der Gliedmaßen zum Rumpf, und für die Gelenkstellungen. Er ermöglicht deren Kontrolle und das Bewußtsein der körperlichen Existenz (»Coenaesthesie«). Der Tiefensinn beruht auf Existenz und Wirkung der Propriozeptoren (auch Propriorezeptoren genannt); dies sind vor allem Muskelspindeln, Sehnenspindeln und Gelenkrezeptoren, welche die Länge von Muskeln sowie Druck und Spannung von Organen kontrollieren.

 

4.2.4 Der kinästhetische Sinn (Bewegungssinn, Kraftsinn)

Er ist der Sinn für die Bewegungen des Körpers und einzelner Körperteile gegeneinander sowie für die dabei und beim Festhalten auftretenden Kraftleistungen. Auch er beruht auf Propriozeptoren und ermöglicht die »Automatisierung« ursprünglich bewußt erlernter Fähigkeiten, dient jedoch überwiegend zur unbewußten reflektorischen Kontrolle und Steuerung von Bewegungen.

Innere Sinne

Innerer Schmerzsinn Gleichgewichtssinn Tiefensinn Kinästhetischer Sinn

 

4.3 Die Entwicklung der Sinne beim Ungeborenen

Die Wahrnehmungsfähigkeiten Ungeborener werden selbst (oder gerade?) von Medizinern oft weit unterschätzt und daher werden auch unsere Berichte über das Wiedererleben pränataler Ereignisse bezweifelt: ein Ungeborenes kann doch in diesem Alter noch gar nicht sehen, hören, fühlen, greifen ... Darum gebe ich im folgenden eine kurze Übersicht über die pränatale Entwicklung des Menschen. Die genannten Daten sind eher konservativ.

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Die pränatale Entwicklung des Menschen

Alter Größe Entwicklung

(Tage)

0—4 Erste Zellteilungen.

6-12 Der Keim nistet sich in der Gebärmutter ein.

13 Die Verbindung des Embryos mit dem mütterli-

chen Stoffwechsel wird hergestellt. Spätestens von nun an ist der Embryo empfindlich gegen schädigende Einflüsse über den Stoffwechsel der Mutter: Alkohol (bereits früher), Nikotin, Drogen, Pharmaka.

21

1,7 mm

Das Herz entsteht aus zwei miteinander verschmelzenden Blutgefäßen. Es beginnt sofort zu arbeiten.

22-26

3 mm

Anlage der Lunge. Das Neuralrohr (Frühform des zentralen Nervensystems) schließt sich.

26-28

3-6 mm

Beginn der Gehirnausbildung in Bläschenform: Vorder-, Mittel-und Rautenhirn werden angelegt. Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse und Darmrohr entwickeln sich. Armknospen werden sichtbar.

31

6 mm

Beinknospen bilden sich.

37-40

8-11 mm

Die Fußplatten sind ausgebildet, die Retina ist pigmentiert, Ohrwülste haben sich gebildet.

41-43

11-14 mm

Fingerstrahlen erkennbar. Der Embryo beginnt mit seinen Armanlagen eine Greifbewegung einzuleiten (»Wachstumsgreifen«).

44-46

13-17 mm

Zehenstrahlen treten auf. Erste Strampelbewegungen (»Wachstumsstrampeln«). Die Augenlider entwickeln sich.

49-51

18-22 mm

Die Arme beugen sich im Ellenbogen, Finger sind erkennbar.

52-53

22-24 mm

Die Finger sind getrennt.

54-55 23-28 mm Die Zehen sind getrennt.

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56 27-31 mm Der Embryo macht erste Wahrnehmungserfahrungen: Die Region um den Mund wird empfindlich für Berührungsreize.

Reflexzentren für die Atembewegung sind entstanden (die spätere Atemfähigkeit wird schon während des embryonalen Lungenwachstums geübt).

Alter Größe Entwicklung

(Wochen)

9 5 cm Die Augen schließen sich. Reaktionen auf Außen-

reize mit Bewegungen des ganzen Körpers. Das Gehirn gliedert sich in Stamm-, Klein- und Mittelhirn, Hypothalamus, Thalamus und Großhirn. Gewicht: 8 Gramm

10 6,1 cm Hände, Fußsohlen und nach und nach die ganze

Körperoberfläche werden empfindlich für Berührungsreize. Kopfbewegungen (Drehung und Beugung). Das vestibuläre System (Wahrnehmung von Gleichgewicht, Raumorientierung und Beschleunigungen [Rotation, Translation], Einleitung von Körperreaktionen darauf) beginnt zu arbeiten. (Das vestibuläre System umfaßt die oben einzeln aufgezählten Sinne: Gleichgewichtssinn, Tiefensinn, kinästhetischer Sinn.) Gewicht: 14 Gramm

12 8,7 cm Geschlecht bestimmbar. Entwicklung des Gehörs.

Saug- Schluck- und Suchbewegungen; Daumenlutschen. Der Fötus kann seine Lage bestimmen und verändern. Alle Organe sind angelegt. Gewicht: 45 Gramm

16 14 cm Knochenbildung weit fortgeschritten, Skelett auf

Röntgenschirm erkennbar. Greifreaktionen. Gewicht: 200 Gramm

20 19 cm Beginn der Markscheidenbildung im Gehirn. Der

Geschmackssinn ist ausgereift. Der Fötus ist reiz-und schmerzempfindlich. Kindliche Bewegungen können von der Mutter wahrgenommen werden. Von hier an kann ein frühgeborenes Kind unter Umständen am Leben erhalten werden. Gewicht: 460 Gramm

21 Der Fötus kann hören.

24 23 cm Der Fötus träumt. Schlaf-Wach-Rhythmus vor-

handen. Druck-, Vibrations-, Temperatur- und Schmerzempfindungen an der Hand. Das Riechzentrum ist reif; der Geschmackssinn löst bei Mißempfinden Reaktionen aus; das Hörsystem reagiert auf Schallreize. Das Labyrinth ist ausgereift. Das Zentralnervensystem ist so weit ausgereift, daß man von wirklichem Erleben im Mutterleib sprechen kann. Gewicht: 820 Gramm

26 27 cm Der Fötus wird jetzt lebensfähig auch außerhalb

des Mutterleibs, weil sein Atemsystem - wenn auch unzulänglich - bereits funktioniert. Gewicht: 1000 Gramm

38 Der Fötus reagiert auf Lichtreize.

(Quellen: BLECHSCHMIDT 1989, GRABER 1974, LANGMANN 1989, NIELSSON 1990, TOMATIS 1990, VERNEY 1987, ZIMMER 1992)

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