5 Weitere Beobachtungen und Überlegungen zum Wiedererleben
1 Sinneswahrnehmungen, Reaktionen und Körperzustände beim Wiedererleben
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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die äußeren Sinne des Menschen ihm Informationen über Vorgänge seiner (je nach Sinnesorgan engeren oder weiteren) Umgebung vermitteln, während die inneren Sinne ihm Zustände und Vorgänge im Inneren seines Körpers signalisieren. Beide Arten von Informationen können entweder bewußt oder unbewußt aufgenommen und weiterverarbeitet werden, oder es kann beides zugleich geschehen. Die bewußt wahrgenommenen Informationen werden nur zu einem kleinen Teil und nur für eine gewisse Zeit im kognitiven Gedächtnis gespeichert und unterliegen dort Verfälschungs-, Verfalls- und Verdrängungsprozessen.
Das Erlebnisgedächtnis dagegen speichert in weitaus größerem, jedoch noch nicht genau bekanntem Umfang bewußt oder unbewußt aufgenommene Informationen mit großer Genauigkeit und Dauerhaftigkeit und ermöglicht deren Wieder-erleben. Dies wurde für die prominentesten der äußeren Sinne, den Gesichts- und Gehörsinn (sie können mit Abstand den größten Informationsfluß aufnehmen und dementsprechend beeinträchtigt ihr Ausfallen beim Erblinden oder Ertauben den Menschen auch am stärksten), bereits beiläufig in obigen Fallbeispielen gezeigt.
Für das Wiedererleben der anderen äußeren Sinneswahrnehmungen sind die Beispiele etwas seltener, dennoch haben wir reichlich Belege dafür, daß auch alle anderen Sinneswahrnehmungen wiedererlebt werden können:
Der Geschmack von Speisen und Getränken, insbesondere von solchen mit Beimengungen, zum Beispiel von bitteren Medikamenten, der Geschmack von Tabletten und Sperma; der Geruch von Zigarettenrauch, von herbstlichem Laub und feuchten Kellern; der Hautkontakt mit Stoffen,Stricken, Riemen, Sperma, mit heißen oder sehr kalten Gegenständen (hier werden beim Wiedererleben oft sichtbare Körperreaktionen reproduziert, zum Beispiel Rötungen der Haut oder Gänsehaut) und heftige Berührungen; und natürlich und immer wieder: Schmerzen, Schmerzen durch Verbrennungen, Verbrühungen, Prellungen, Quetschungen, Schnitte und Folterungen.
Beim Wiedererleben werden die früheren Sinneswahrnehmungen als gegenwärtig existierend empfunden und können sowohl innere als auch nach außen wirkende Körperreaktionen auslösen. Kognitive Erinnerungen an (bewußt gewordene) äußere Wahrnehmungen dagegen sind abstrakt (»da habe ich gesehen, gehört..., damals war es heiß bzw. kalt ..., die Verbrühung hat mir sehr weh getan ...«); sie spielen sich gleichsam nur im Kopf ab. Dasselbe gilt auch für kognitive Erinnerungen an Empfindungen der inneren Sinne, soweit diese überhaupt bewußt wahrgenommen werden können (und zudem auch bewußt wahrgenommen wurden). Beim Wiedererleben werden auch die Wahrnehmungen der inheren Sinne als gegenwärtig existent empfunden. Die von ihnen unbewußt ausgelösten Körperreaktionen werden vom Körper reproduziert und können (teilweise auch vom Therapeuten) wahrgenommen werden.
Charakteristische Wahrnehmungen der inneren Sinne und Körperzustände, die häufiger wiedererlebt werden, sind:
Die Schmerzen innerer Verletzungen, spastische Schmerzen, Muskelkater und andere
Störungen des Gleichgewichtssinns, Desorientierung im Raum, Übelkeit, Brechreiz, Taumeln beim Gehen (unmittelbar nach der Sitzung)
Körperstellungen wie die charakteristische Embryohaltung, Hochwerfen der Arme, Anziehen der Beine, Aufreißen oder Zusammenkneifen der Augen beim Erschrecken bzw. beim Geblendetwerden, Spreizen der Finger bei Ekel, Herunterfallen des Unterkiefers, sämtliche Körperreaktionen auf Drosselung oder Würgen bis hin zum typischen krampfartigen Strecken der Füße nach abwärts; spastische Verformungen der Hände (»Pfötchen- und Krallenhände«), Krümmen, Winden, Aufbäumen und Verzerrungen des Gesichts als Reaktion auf Schmerzen; Kopfschütteln, Schulterzucken, krampfhaftes Festhalten eines Gegenstandes oder an einem Gegenstand; Strampel-, Schaukel-, Lauf- und Kriechbewegungen; Steifheit und Gelenkschmerzen nach längerer Fixierung eines Körperteils zum Beispiel durch Angebundensein und viele andere mehr. Auch körperliche Anomalien können beim Wiedererleben reproduziert werden. (Beispiele: Sichelfüße und Klumpfüße, auch wenn sie später korrigiert wurden.)
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Körpertemperatur, Blutdruck, Pulsfrequenz, Tonuslage des vegetativen Systems, Schüttelfrost, Hitzeschauer, Koliken, Entzündungen, Krankheiten (zum Beispiel Grippe und Erkältungen, Niesen, Husten, Schnupfen), Ermüdungszustände, körperliche Auswirkungen von Medikamenten und anderen Drogen, usw. Personen, die sich in der Säuglingszeit wiedererleben, haben oft das Gefühl, keine Zähne zu haben.
Wie schon oben gesagt, werden beim Wiedererleben die Sinneswahrnehmungen und die Körperreaktionen darauf analog zur Originalsituation reproduziert.
Für die Wahrnehmungen der äußeren Sinne bedeutet dies: Sie entstehen und verschwinden beim Wiedererleben zu dem Zeitpunkt der Episode, zu dem sie beim ursprünglichen Erleben entstanden bzw. verschwunden sind. (Auch in dieser Hinsicht ist Wiedererleben völlig andersartig als kognitives Erinnern.)
Bei den Wahrnehmungen der inneren Sinne und den Körperreaktionen darauf können verschiedene besondere Phänomene auftreten:
• Wahrnehmungen und Körperreaktionen, die zeitlich an die spezifische, gerade wiedererlebte Situation gebunden sind, verschwinden sofort, wenn die Person die Situation vollständig durchlebt hat und sie danach verläßt, indem sie entweder zu einer anderen Situation übergeht oder in die Gegenwart zurückkehrt. Wird dagegen in der Therapiesitzung ein Durchgang aus irgendeinem Grund vorzeitig abgebrochen, dann bringt die Person häufig die gerade erlebten Wahrnehmungen und Körperreaktionen »mit in die Gegenwart« und kann anschließend eine Zeitlang davon belästigt werden.
Beispiel: Antonia erlebte ihre Geburt wieder und brach unmittelbar danach - noch bevor das Neugeborene gewaschen und die
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Vernix caseosa, die »Käseschmiere«, von seinem Körper entfernt worden war - aus Angst vor einer darauf folgenden, sehr unangenehmen Wahrnehmung (nämlich die Berührung mit dem kalten Stethoskop) spontan den Durchgang ab, sie »stieg aus«, was gelegentlich geschieht. Die Folge war, daß sie nach der Sitzung mehr als zwei Stunden lang einen unwiderstehlichen Waschzwang spürte und sich immer wieder duschen mußte - natürlich erfolglos. (Die Lehre daraus: Wenn irgend möglich, sollte ein begonnener Durchgang auch zu Ende geführt werden.)
• Bestand dagegen in der wiedererlebten Situation ein länger anhaltender Zustand, zum Beispiel eine Erkrankung oder eine Verletzung (etwa eine Beule nach einem Autounfall), so können Spuren davon selbst dann mit in die Gegenwart gebracht werden, wenn der Durchgang korrekt abgeschlossen wurde. Die Person hat dann zum Beispiel plötzlich Schnupfen oder Husten oder unerklärliche Rückenschmerzen, die nach kürzer Zeit wieder verschwinden.
• Wurde in der Originalsituation durch irgendeinen Vorgang eine Spätfolge veranlagt, die erst nach einiger Zeit in Erscheinung trat, dann kann diese nach dem Wiedererleben mit entsprechender Verzögerung ebenfalls auftreten.
Beispiele:
- Eva wiedererlebte am Vormittag eine fieberhafte Erkrankung in der Kindheit. Am Nachmittag traten Fieberbläschen an ihren Lippen auf.
- Brigitte erlebte ihre Geburt wieder und hatte einige Tage später eine völlig ungewöhnliche Rötung in der Umgebung des Nabels, die - wie eine Hebamme konstatierte - einer für Neugeborene typischen Nabelentzündung täuschend ähnlich sah.
- David, drei Jahre alt, wiedererlebte, wie seine Mutter ihn im 1. Lebensjahr mit einem Stock auf das linke Ohr geschlagen hatte. Am Tag nach der Sitzung klagte er über Schmerzen in diesem Ohr. Der Arzt konstatierte eine untypische Entzündung, die ihm merkwürdig vorkam. Nach kurzem Nachdenken fragte er: »Ist der Junge auf das Ohr geschlagen worden?«
• Es kann auch vorkommen, daß ein wiedererlebter Körperzustand, der eng mit einem bestimmten Wochentag (»Gedenktag«) assoziiert ist, nach dem Wiedererleben bis zur Auflösung des Protokolls regelmäßig an diesem Tag wiederkehrt.
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Beispiel: Nathalie wiedererlebte einen grippalen Infekt, den sie als sechs Wochen alter Säugling hatte und dessentwegen ein Arzt zugezogen worden war. Sie erfuhr durch eine für sie schmerzliche Äußerung der Mutter, daß sie »ausgerechnet am Sonntag« krank geworden war (siehe Seite 60). Fortan hatte sie bis zur Auflösung des Protokolls an jedem Sonntag eine stark fieberhafte »Grippe«, die tags darauf prompt wieder verschwunden war. Alle diese Phänomene wären beim kognitiven Erinnern völlig undenkbar und sind deutliche Hinweise darauf, daß der Organismus beim Wiedererleben mehr oder weniger ausgeprägt seinen damaligen Zustand annimmt.
Zu den Folgen äußerer und innerer Wahrnehmungen zählt auch die Auslösung von Reflexen, also von automatischen, nicht willentlich beeinflußbaren Reaktionen des Organismus auf eine Reizung seiner Rezeptoren. Einige solcher Reflexe (oder ihr charakteristisches, situationsbedingtes Ausbleiben) können auch beim Wiedererleben beobachtet werden.
Beispiele:
- Die damals achtjährige Thea, von ihrem Vater schwer mißhandelt, wird von ihm mit häufigen Gaben eines Beruhigungsmittels in einen anhaltenden tranceartigen Zustand versetzt. In diesem Zustand ist der Lidschlußreflex ausgeschaltet, und sie stiert starr vor sich hin. Beim Wiedererleben dieses Zustands könnte ich die Hornhaut ihrer Augen mit dem Finger berühren, ohne den Lidschlußreflex auszulösen.
- Alle Patienten zeigten beim Wiedererleben von Szenen aus der Säuglingszeit den bekannten Greifreflex, wenn man die Innenseite einer Hand berührt. Der Reflex bleibt sofort aus, sowie sie eine Episode aus der Zeit vor ihrer Geburt wiedererleben.
Beobachtungen derart erstaunlicher Effekte, wie sie eben nur beim Wiedererleben auftreten und dem kognitiven Erinnern völlig fremdartig sind, gehören buchstäblich zum Alltag des Begleiters. Und immer wieder kommen neue, überraschende und oft kuriose Beobachtungen hinzu. Sie lassen oft wichtige Schlüsse auf das damalige Ergehen des Patienten und seine Reaktionen zu, häufig geben sie auch erste Hinweise auf das psychologische Gewicht und die Auswirkungen des jeweiligen Traumas, sowie auf Zusam-
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menhänge mit früheren oder späteren Traumata. Aus manchen Reaktionen kann der Begleiter auf gerade hervortretende Emotionen schließen (An-die-Stirn-Schlagen bei Selbstanklagen, Haareraufen bei Verzweiflung zum Beispiel) und aus Vermeidungsgesten auf unangenehme Wahrnehmungen (Augenzukneifen oder -zuhalten und Kopf- oder Körperabwenden bei Nicht-sehen-Wollen, Ohrenzuhalten bei Nicht-hören-wollen, Auf-den-Kopf-Schlagen als Versuch, sich gewisse Gedanken oder Bilder »aus dem Kopf zu schlagen«, usw.). Es ist faszinierend, dabei zu sehen und zu erkennen, welch drastische Bedeutung solche Gesten, deren Beschreibungen im Alltag zu bloßen Metaphern degeneriert sind, ursprünglich wohl hatten (Beispiele: Schlag dir das aus dem Kopf! Es ist zum Haareausreißen! Mit dem Kopf gegen die Wand rennen).
Auf solche Beobachtungen hin kann der Begleiter gezielt die gerade aufkeimenden Emotionen hervorlocken und verstärken bzw. die Person ermutigen, sich der unangenehmen Situation zu stellen.
Fallbeispiel 8: Ein Suizidversuch
Die Patientin Eva hatte im zehnten Lebensjahr aus Verzweiflung über die Mißhandlungen durch ihren Vater wieder einmal einen Suizidversuch mit Tabletten gemacht. (Siehe dazu auch PETRY, S. 115 ff. Das Buch enthält auch eine Fülle von Beispielen aus fast allen Dimensionen des Wiedererlebens.) Die Bearbeitung dieses Traumas erschien mir als besonders günstige Gelegenheit, (mit Evas Einverständnis) einmal zu überprüfen, ob beim Wiedererleben einer Situation sich auch Blutdruck und Pulsfrequenz entsprechend verändern. Die Messungen zu Beginn der Sitzung und während des ersten Durchgangs (dieser Sitzung) ergaben folgende Werte:
Blutdruck Pulsfrequenz (mm Hg) (pro Minute)
Zu Beginn der Sitzung 149/90 85
(entspricht dem gegenwärtigen Normalzustand der Patientin)
Unmittelbar nach Einnahme der Tabletten 129/76 87
(entspricht vermutlich dem damaligen Normalwert)
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Kurz vor der Magenspülung 104/81 93
Nach der Injektion eines kreislauf- 125/73 81
stabilisierenden Mittels
Bei späteren Durchgängen waren die augenscheinlichen Symptome noch weit stärker ausgeprägt; vermutlich waren dann auch Blutdruck und Pulsfrequenz noch auffälliger verändert. Aus naheliegenden Gründen habe ich damals jedoch auf weitere Messungen verzichtet.
5.2 Seelische (psychische) Zustände beim Wiedererleben
Wie früher dargestellte Fallbeispiele zeigen, vermag das Erlebnis-gedächtnis auch Emotionen zu speichern und beim Wiedererleben zu reproduzieren. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die wiedererleb-baren Gefühle das ganze Spektrum menschlicher Emotionen umfassen. Naturgemäß werden bei der Traumabehandlung vorwiegend schmerzliche oder unangenehme Emotionen wiedererlebt, insbesondere starke Ängste. Nach unserer Erfahrung wiegen seelische Verletzungen oft viel schwerer als selbst heftige körperliche Schmerzen und können sich später viel verhängnisvoller auswirken.
Die Patienten können wiedererlebte Gefühle benennen und beschreiben, doch meist zuvor schon erkennt sie der aufmerksame Therapeut an Mimik oder Gestik oder an den äußeren Merkmalen der Tonuslage des vegetativen Systems: am Leuchten oder Mattwerden der Augen, am Erröten oder Erbleichen der Wangen oder des Halses, am Sichstraffen oder Welken der Haut, am Muskeltonus (von krampfartiger Starre über unkontrollierbares Zittern bis zur völligen Erschlaffung), an der Peristaltik und anderen Zeichen. Auch hier zeigt sich der Wesensunterschied zwischen Wiedererleben und kognitivem Erinnern, das auf abstrakte Informationen (»Das hat mir angst gemacht, da habe ich mich riesig gefreut ...«) beschränkt ist.
Doch nicht nur Emotionen kann das Erlebnisgedächtnis speichern, sondern auch psychische Vorgänge und Zustände wie Alpträume, halluzinatorische, paranoide und psychotische Zustände, so daß sie wie fast real wiedererlebt werden können. Auch dafür finden sich Beispiele in oben genanntem Buch.
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Fallbeispiel 9: Ein Fall von multipler Persönlichkeit, im fünften Lebensjahr
Die Ursachen der multiplen Persönlichkeitsstörung, von der im folgenden berichtet wird, waren jahrelange Mißhandlungen und sexueller Mißbrauch durch den Vater der Patientin Thea, verbunden mit »Erklärungen«, Behauptungen und Schuldzuweisungen, die dem Kind unverständlich waren oder widersprüchlich erschienen, wie etwa: »Ich muß das tun; es muß sein; du bist selbst schuld; du bist böse; stell dich nicht so an, das machen alle Papis mit ihren kleinen Mädchen, das macht allen kleinen Mädchen Spaß ...«
Während der Therapie erlebt Thea - nun vierzigjährig - ihre damalige seelische Situation zuerst noch unspezifisch und beschreibt sie etwa so: Da sind so viele in mir, das verwirrt mich so! Ich weiß gar nicht, wo ich dabei bin. Bin ich verrückt? Ich hab' so Angst, daß ich verrückt bin! Schließlich aber kann Thea die einzelnen »Personen«, die keine Namen haben und von ihr »Kinder« oder »Mädchen« genannt werden, durch deren Verhalten oder Empfinden charakterisieren, wobei sie die für die einzelnen Kinder bezeichnenden Stimmungen und Emotionen selbst intensiv erlebt:
• Da ist eine, die ist ganz stark und sicher. Sie glaubt, daß er ihr nichts tun kann. Die geht dann ganz weg ... sie verschwindet einfach und kommt nicht wieder. Die war ganz stark ... jetzt ist sie weg ... die hat keine Angst gehabt ... sie war trotzig, da ist er immer böse geworden. Jetzt ist sie weg ... (Die Ursache für das Verschwinden dieses Kindes war der Versuch des Vaters, den Widerstand Theas zu brechen und sie zum Schweigen zu bringen, indem er sie während des Badens in der Wanne unter Wasser drückte. Thea nahm dabei trotz ihrer Todesangst den Gesichtsausdruck des Vaters wahr: »Er ist gar nicht wütend oder böse, er schaut mich ganz einfach an ...« Ihr wurde dabei intuitiv klar, daß dieser Mensch zu allem fähig ist, daß er keine Grenzen kennt oder respektiert, daß sie mit allem rechnen muß. Es gibt nichts, was er nicht tun könnte. Und dies raubte ihr den letzten Rest von Sicherheit, den Glauben an eine unüberschreitbare Grenze, hinter der sie sicher wäre.)
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• Da ist eine, die redet immer. Sie ist nie still, sie redet immerzu. (Thea will absolut nicht hören, was dieses Kind sagt, aber schließlich kann sie die Wahrnehmung nicht länger unterdrücken:) Sie sagt, ich soll lieb sein, soll mich nicht so anstellen. Er muß das tun, es muß sein. Ich bin selber schuld. Ich bin böse. Immer wieder sagt sie das. (Thea schlägt sich zwischendurch wiederholt mit den Fäusten an den Kopf; sie will die Stimme zum Schweigen bringen.)
(Dieses Kind ist offenbar ein Produkt einer »Introjektion« oder einer Identifikation mit dem Vater, dessen Sätze es ständig wörtlich rezitiert. [Auch der Vater redete oft - und mit der Absicht einer Gehirnwäsche - viertelstundenlang pausenlos auf Thea ein, wobei diese sich immer die Ohren zuhalten wollte.] Bezeichnenderweise kann Thea die Emotionen dieses Kindes nicht nachempfinden und wiedererleben, sie kann dem Kind nur mit Widerwillen zuhören.)
• Eine andere ist wütend (Thea ballt die rechte Hand zur Faust und bewegt sie, als ob sie damit schlagen oder stechen wolle). Sie schreit ... sie schreit ganz laut: »Nein, nein, nein!« Sie ist eingesperrt, in einen Käfig eingesperrt, sie darf nicht raus ... sie ist zu gefährlich. (Sehr viel später erst erfahre ich, daß der Käfig kein Phantasieprodukt war: der Vater hatte der widerspenstigen Thea immer wieder gedroht, sie werde demnächst in einen Käfig gesperrt, den er gerade baue. Einmal zeigte er ihr sogar eine Skizze davon.)
• Da sind noch mehr ... Eine ist ganz klein, die weint und ist traurig, niemand hat sie lieb (Thea beginnt bitterlich zu weinen). Sie will, daß sie jemand liebhat. Sie wünscht es sich so sehr, sie ist doch noch so klein ... (Daß jemand sie liebhabe, ist Theas innigster Wunsch, den sie jedoch im Laufe der Zeit mehr und mehr verdrängt hatte: »Ich brauche niemanden, ich brauche euch alle nicht!«)
• (Nach einer Weile beruhigt sich Thea wieder, doch nach einer kurzen Pause beginnt sie erst ängstlich, dann panisch zu atmen und reißt die Augen voller Angst auf.) Da ist eine, die hat Angst ... schreckliche Angst. Sie hat immerzu Angst. Sie (das Mädchen wie die Angst) ist immer da. (Dies ist in der Tat Theas emotionales Grundbefinden.)
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• (Als die Angst nach einer Weile abgeklungen ist, beginnt Thea erst fast unmerklich, dann immer deutlicher zu lächeln. Es ist ein seltsames, irres Lächeln.) Da ist eine, die hat sich 'ne Höhle gebaut, da darf niemand rein. Sie redet nicht, sie hat einfach aufgehört zu reden ... Sie ist so weit weg, sie gehört irgendwie nicht mehr dazu ... (Thea hatte schon lange gelernt, bei sehr großen Schmerzen »weit wegzugehen«.)
• (Thea wird wieder unruhig und zeigt dann Anzeichen zunehmender Schmerzen.) Es tut so weh! Au, au! - Da ist noch eine ... der tut's so weh (Thea weint lange). Die muß immer hin, wenn's weh tut ... (gemeint ist: Sie ist diejenige, die zum Vater gehen muß, wenn dieser ruft.) Es ist nicht die erste ... da waren vorher schon mehrere ... (»Was ist aus denen geworden?«) Die sind weg ... da waren so viel Schmerzen, die haben sie nicht ausgehalten ... die sind gestorben.
Immer wenn Thea die sieben Kinder durchgegangen war, spürte sie ihre eigene ungeheure Verwirrung und ihre Angst, verrückt zu werden: »Was ist nur mit mir los? Was geschieht da mit mir? Werde ich verrückt?«
Nach der Sitzung, in der die sieben Kinder erstmals deutlich geworden waren, ist Thea äußerst erstaunt und beunruhigt wegen des Erlebten. Sie fragt mich immer wieder, was da vorgegangen sei. Ich erinnere sie schließlich an das, was sie seit langem über multiple Persönlichkeiten weiß. Sie meint, darüber gelesen zu haben oder aber diesen Zustand zu erleben, sei doch zweierlei. (So wie eben kognitives Erinnern und Wiedererleben zweierlei sind.) Sie habe sich nicht mehr wie eine eigenständige Person gefühlt, sondern eher wie eine Wohnung, in der sich die anderen herumgetrieben hätten. Plötzlich begreift sie auch mit großer Erleichterung, warum sie ihr Leben lang immer zwanghafte Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren.
Im Abschnitt 5.1 habe ich berichtet, daß akute körperliche Ausnahmezustände wie zum Beispiel Krankheiten, die früher in einer traumatischen Situation bestanden und darüber hinaus einige Zeit andauerten, auch nach dem Wiedererleben der betreffenden Situation in der Therapie eine Weile anhalten können. Dies gilt auch für Emotionen und akute psychische Ausnahmezustände: Wenn die in einer traumatischen Situation ausgelösten Emotionen oder psychischen Ausnahmezustände (wie zum Beispiel der oben beschriebene tranceartige Zustand Theas) seinerzeit einige Stunden oder
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gar Tage anhielten (die lang anhaltenden Wirkungen von Traumata, die gleichsam chronisch werden, sind hier nicht gemeint), dann kann die Person auch nach dem Begleiteten Wiedererleben im Alltag einige Zeit lang davon akut betroffen sein.
5.3. Kognitive Zustände und Fähigkeiten beim Wiedererleben
Mit kognitiven Zuständen und Fähigkeiten meine ich die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt im kognitiven Gedächtnis eines Menschen gespeicherten und abrufbaren (erinnerbaren) Informationen sowie seine kognitiven Fähigkeiten (»Denkfähigkeiten«). Seine augenblicklichen kognitiven Fähigkeiten zu dem betrachteten Zeitpunkt können durch Störungen mehr oder weniger vermindert sein, sind aber ein Charakteristikum des jeweiligen Zustands der Person. Eventuelle Defizite mögen der Person nicht immer bewußt sein, können aber vom Therapeuten in etwa gleichem Maße beobachtet werden, wie es in der früheren Realität möglich gewesen wäre.
Beispiel: Unter dem Einfluß eines starken Beruhigungsmittels ist die damals achtjährige Thea nicht fähig, die Frage des Vaters »Was ist drei mal drei?« zu beantworten. Sie quält sich sichtlich mit der Lösung der Aufgabe und ist durch ihren Mißerfolg verängstigt, weil »ich genau weiß, daß ich das sonst immer weiß!« Nachdem sie drei Tage »weitergegangen« ist und die Wirkung der Droge nachgelassen hat, beantwortet sie mühelos meine Fragen nach vier mal vier, fünf mal fünf usw.
Vorhandene Informationen und Fähigkeiten können, wie obiges Beispiel zeigt, abgefragt und eventuell von der Person demonstriert werden: Wie heißt du? Wie alt bist du? Weißt du, was XY (irgendein Begriff) bedeutet? Gehst du schon in den Kindergarten? Kannst du schon zählen, lesen, schreiben, rechnen? Ist deine Mama da? Wo bist du jetzt? Fragt man nach etwas (damals) Unbekanntem, schaut die Person verständnislos drein. Und manchmal hat man auch mit anscheinend deplazierten Fragen unerwartetes Glück.
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Beispiel: In Begleitung von K. erlebt Nathaiie eine Erkältung im Babyalter wieder. Aus irgendeinem Grund fragt K. sie nach dem Wochentag und erhält prompt die Antwort »Sonntag«. »Woher weißt du das?« - »Mama sagt: >Muß dieses doofe Kind ausgerechnet am Sonntag krank werden!<« Das ermutigt K., sie nach ihrem Alter zu fragen. Nach kurzem Überlegen sagt Nathaiie: »Sechs Wochen - Mama sagt.« - »Was hat denn die Mama gesagt?« Sofort wird die kleine Nathaiie sehr traurig. Nach einigem Sträuben - der Satz tut ihr offenbar sehr weh - bringt sie mühsam und unter Tränen hervor: »Sechs Wochen ist die jetzt da, und nix als Theater!«
Die folgenden Fallbeispiele zeigen, in welchem Maße man beim Begleiteten Wiedererleben Einblick in die kognitiven Fähigkeiten (und in das seelische Befinden) eines Menschen und in die Verhältnisse in unserer Gesellschaft zu einer hier über dreißig- Jahre zurückliegenden Zeit gewinnen kann.
Fallbeispiel 10: Gespräch mit einer »Zweijährigen«
K. ist während der Therapie - zunächst unbeabsichtigt - zu einer fiktiven Gesprächspartnerin der kleinen Nathaiie geworden. Später benutzte sie die von ihr entdeckte Möglichkeit, sich mit der kleinen Nathaiie in ihrer damaligen Situation zu unterhalten, manchmal absichtlich zur Gewinnung zusätzlicher Informationen und - vor allem - um Nathaiie Erholungspausen von schrecklichen Erlebnissen zu schenken. Diese Gespräche machen Klein-Nathalie sehr viel Freude, aber merkwürdigerweise kann sie sich nach der Sitzung nicht an deren Inhalt erinnern, wogegen sie doch die wiedererlebten Geschehnisse aus der damaligen Zeit nachher genau kennt. (Nach der Sitzung freut sie sich immer sehr über die Schilderungen dieser Gespräche.) Wenn sie aber in einer der folgenden Sitzungen eine etwas spätere Episode aus ihrer Kindheit wiedererlebt, kann sie sich (während des Wiedererlebens) sehr wohl an die Gespräche erinnern. Mehr noch: Es zeigt sich dabei, daß sie aus den früheren Gesprächen sogar kognitiv gelernt hat. So hat beispielsweise K. ihr einmal den Begriff »Vergangenheit« erklären müssen (Nathaiie war damals drei Jahre alt). Einige Zeit später fragt K. die kleine Nathaiie, ob sie noch wisse, was »Ver-
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gangenheit« bedeutet. Nach kurzem Überlegen kommt die Antwort: »Alles, was vor heute ist.«
Das Folgende ist ein wörtliches Therapieprotokoll, die Transkription einer Videoaufzeichnung. Nathalie spricht für ihr Alter eine gut entwickelte Sprache, kann jedoch manche Laute noch nicht richtig aussprechen.
K: Wie alt bist du denn? Weißt du das schon?
N: Noch paarmal ßlafen, dann so: (sie zeigt zwei Finger der
linken Hand; die kleine Nathalie ist Linkshänderin) K: Du bist also zwei. Dann hast du ja bald Geburtstag? N: Hmm ...
K: Und kannst schon so gut sprechen! N: Hmm ... sprechen ... das is ßön! K: Kannst schon so viele Wörter! Die merkst du dir immer
gut? N: (Imitiert Schwester Erika mit erhobenem Zeigefinger:)
»Genau ßuhören!« sagt Eerka. K: Ja, genau zuhören, dann merkt man sich die Wörter. Da
hast du dir schon so viele Wörter gemerkt? N: Wörter ßöön! K: Zahlen auch?
N: So was? (streckt abzählend nacheinander die Finger aus) K: Ja, eins - zwei - drei ... das sind Zahlen. N: (Schüttelt den Kopf) Sind niß ßön ... kann man niß mit pie-
len. K: Aber mit Wörtern kann man spielen? N: Ja!
K: Erzähl mal! Wie kann man denn mit Wörtern spielen? N: (Lacht, tippt sich mit der flachen Hand an die Stirn) Im
Topf! K: Im Kopf? - Erzähl mal, wie man damit spielt! N: (Macht mit den Fingern vertauschende Bewegungen) Vorn
und hinten ... und dann umgedreht! K: Ach, umgedreht! So verdrehst du die Wörter? Sag mir mal
so ein Wort, ein verdrehtes! N: (Denkt kurz nach) Sseibenfenster! Mußt du jetzt... K: Muß ich jetzt raten? Kann das sein ... vielleicht ... Fensterscheibe? N: Sehr gut!
K: Das ist schön! - Machst du das mit der Schwester Erika? N: Ja.-Jetzt du!
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K: (Sucht ein Wort, schaut sich dabei im Zimmer um) Topfblume?
N: (Leicht ungehalten:) Das iß doch'n richtiges Wort!
K: (Stutzt) Ja ... kein gutes Beispiel ... aber das kann man auch umdrehn!
N: (Überlegt, hilft mit den Fingern nach, nickt) Blumentopf! -Aber das iß doch wieder ein richtiges Wort!
K: Ja, das sind beides richtige Wörter ... kein gutes Beispiel...
N: (Lächelt verschmitzt, schüttelt dann den Kopf) Große Leute können das niß so gut! (Beide lachen)
K: Ja, du hast das ja schon so viel geübt ... (denkt nach) -Weißt du denn, was aus ... Läuseblatt wird?
N: Läuse? - Das sind die kleinen Krabbeltierchen (macht mit den Fingern Laufbewegungen)
K: Ja.
N: (Denkt nach ... bewegt die Finger ... dann plötzlich:) Blattläuse!
Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommen die beiden auch auf das Essen zu sprechen: Nathalie mag kein warmes Essen, das tut am Gaumen weh und im Magen wird ihr schlecht (siehe dazu Fallbeispiel 2). Sie mag kein Fleisch, keinen Pudding, keine Milch, nur kalten Tee. (Für alle diese Aversionen gibt es gute Gründe, sie hängen mit dem schon lange vorher aufgedeckten sexuellen Mißbrauch Nathalies durch den Großvater im Babyalter zusammen.) Dann beschreibt sie genau die einheitliche Kleidung der Kinder im Heim: Bluse, Faltenrock, Schürze (sonntags weiß) und weiße Strümpfe. Dann kommen sie auf die Beinschiene zu sprechen, die Nathalie zur Korrektur einer Fehlhaltung des linken Fußgelenks (der Folge einer schweren Mißhandlung durch den Bruder) tragen muß. Schwester Erika hat ihr begreiflich zu machen versucht, daß sie die Schiene immer tragen muß, damit sie später schnell laufen kann. (Nathalie hat mit knapp zwei Jahren beschlossen, später Läuferin und Springerin zu werden; das geht nur, wenn sie die Schiene immer trägt.) K. gebraucht im Gespräch darüber das Wort »vernünftig« und muß nun der Zweijährigen erklären, was das bedeutet - aus dem Stegreif keine ganz leichte Aufgabe. K. gibt sich redlich Mühe, und nach zwei Versuchen hat Nathalie verstanden: »Das ist, wenn ich was versteh' und es dann mach' - das ist vernünftig?«
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Plötzlich beginnt Nathalie an den Fingernägeln zu knabbern, sie wird sichtlich nervös. Nur mit Mühe kann K. sie bewegen, über den Grund zu sprechen: Es wird gleich Nacht, und Nathalie hat Angst davor: »Dann sind so komische Sachen in meinem Kopf, und die Hände sind kalt und mir ist schlecht im Bauch - wie bei warmem Essen.« Und oft muß sie sich mitten in der Nacht im Bett aufsetzen, damit sie Luft bekommt. Schwester Erika hat ihr erzählt, daß sie schon als Baby immer wieder die Luft anhielt und in Atemnot geriet und daß es nun schon viel besser geworden sei. Und oft hat sie »die Töne im Kopf« (sie meint, wie K. aus früheren Sitzungen weiß, Geräusche wie heftiges Schnaufen und Stöhnen bei sexuellen Aktivitäten). Als K. die Geräusche nachahmt, um sie noch tiefer in ihre Angst hineinzuführen und die Auflösung zu beschleunigen, schreit Nathalie laut: »Nein, nein!« und will nicht weiter darüber reden. Wer denn die Töne mache, fragt K. Das bringt Nathalie in Panik; sie wirft sich auf die Seite und zittert am ganzen Körper. (Zweifellos erinnert sie sich hier an frühere Mißhandlungen.)
Fallbeispiel 11: Gespräch mit einer »Dreijährigen«
Nathalie ist nun drei Jahre und drei Monate alt. Seit einigen Monaten muß sie gegen ihren Willen jedes Wochenende daheim bei ihrer Mutter (die sie »die Frau« nennt) verbringen, wo der Großvater sie regelmäßig besucht - und mißbraucht. (Damit nicht genug: Er verkauft sie auch an andere Männer, die sie in seinem Beisein in seinem Atelier - er ist Fotograf - foltern und sexuell mißbrauchen, während er Pornoaufnahmen davon macht. Wir haben inzwischen erfahren, daß er damit seine vierzehntäglichen Besuche der Spielbank in Baden-Baden finanziert hat.) Bald nach Beginn der Besuche und einem dadurch verursachten Suizidversuch (sie hat sich eine lange Treppe im Heim hinabfallen lassen) hört Nathalie, die Wörter und Sprache so liebte (siehe S. 82 ff.), auf zu sprechen. Nur in der künstlichen, »virtuellen« Welt, die sich Nathalie und ihre Begleiterin in der Therapie erschaffen haben (und die uns noch beschäftigen wird), spricht sie mit K. Ihrer Sprechfertigkeit merkt man anfangs den Mangel an Übung an, später nimmt sie erkennbar zu.
Nathalie stottert jetzt (dies wird in der Transkription nur angedeutet), manchmal mehr, manchmal weniger, je nach dem Ge-
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sprächsthema, und noch immer stößt sie mit der Zunge an, was jetzt mehr auffällt als vor einem Jahr.
K: Haben wir eigentlich Winter oder Sommer jetzt? (Nathalie weiß mit der Frage nichts anzufangen.)
K: N K N K: N K
Ist es kalt ?
Ja, kalt ... aber kein Ssnee, ßade ...
Kein Schnee? Du magst Schnee gern?
Ja-
Habt ihr schon (Advents-)Kerzen an?
Ja, ßwei Kerzen.
Zwei Kerzen habt ihr an? Im Kinderheim oder bei der
Frau? N: Im Kinderheim.
K: Hat die Frau auch einen Adventskranz mit Kerzen drauf? N: Ja, aber nicht so ßön. K: Der ist nicht so schön? Und heute ist die zweite Kerze
dran? Ist heut' Sonntag? N: (Sehr bestimmt:) Nein, heut' ist nicht Sonntag! K: Was ist denn heute? - (Nathalie überlegt.) K: (Versucht ihr zu helfen:) Heut' ist schon die zweite Kerze
dran ... ist schon Sonntag gewesen? N: Ja ... gewesen!
K: Und jetzt habt ihr ... Freitag ... oder Samstag? N: (Überlegt, nimmt dabei die Finger zu Hilfe:) Sa ... Sa ...
Samstag. K: Samstag. Ach, Freitag ist Kindergarten und am Samstag
kommst du zu der Frau? N: Nein ... Freitag nach dem Kindergarten. K: Ach ja, gestern bist du schon zu der Frau gekommen.
Heut' ist Samstag, und morgen kommt die dritte Kerze
dran? N: Ja!
K: Ach so! Und die Frau hat auch einen Adventskranz. N: Ja, ist aber nicht so ßön, viel kleiner. K: Und im Heim? N: Da haben wir drei Adventskränze! Einen auf dem Tisch
und einen riiiesengroßen an der Decke, mit ßooo dicken
Kerzen dran (zeigt mit den Händen, wie dick sie sind).
Muß der Onkel Eduard raufklettern und anmachen. K: Welcher Onkel?
Onkel Eduard!
Ach, der Onkel Eduard! Euer Hausmeister?
Hausmeister?
Das kennst du nicht, das Wort?
Ähäh...
Der Mann, der alles ganz macht?
Jaaa. Wenn was kaputt ist, dann kommt der immer.
Und der hängt auch den großen Adventskranz auf?
Ja - und den riiiesig großen Tannenbaum.
Ah, habt ihr so was auch?
Ja, draußen - bis in'n Himmel!
Bis in den Himmel geht der?
Ach, der ist ßön!
Da muß er aber eine große Leiter haben!
Ja, ganz große Leiter, kann man so ausziehn.
Eine ganz große Leiter, bis in den Himmel.
(Etwas ungehalten:) Die Leiter nicht - der Tannenbaum! -
(Kurze Pause, dann plötzlich:) An Weihnachten will ich
aber nicht zu der Frau!
Du warst Weihnachten immer im Kinderheim? Ist's da
schön?
Ja-
Dann geht ihr in die Kirche? Ja.
Was macht ihr da in der Kirche? (Erstaunt:) Weißt du das nicht, was man da macht? Doooch.
(Stöhnt ungeduldig.) Mit dem lieben Gott reden. Machst du das gerne?
Jaa, jaa, aber Weihnachten und Ostern und so alle Tage, die wichtig sind, da dauert's immer so lang! Da ist es langweilig?
Ja, dann hör' ich gar nicht zu und red' im Kopf mit dem lieben Gott.
Du redest im Kopf mit dem lieben Gott? Und dann guck' ich mir die Maria an ... mit dem Jesuskind. Und was sagst du dann zum lieben Gott? (Heftig:) Daß diese neuen Leute verschwinden! Die neuen Leute? Die Frau und der Junge (ihr Bruder) und der Opi?
N: Ja, und daß er mich wieder richtig machen soll in meinem Kopf!
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K: Ist es nicht mehr richtig in deinem Kopf?
N: Nein! Alles durcheinander!
K: Und da sagst du ihm, daß er die neuen Leute verschwinden lassen soll und dich wieder richtig machen soll in deinem Kopf?
N: Ja - und daß er auf meine Eerka aufpassen soll. Und daß der doofe Frieder nicht immer seinen Kopf abschalten soll. (Frieder, drei Jahre älter als Nathalie, leidet unter epileptischen Anfällen. Nathalie aber glaubt, daß er absichtlich »seinen Kopf abschaltet«. )*
Und daß ich mich freu', daß es so schöne viele Bäume gibt ... und daß ich sein Jesuskind mal gern sehen möchte!
K: Ach!
N: Jaa! Wenn Weihnachten ist, hat Jesuskindchen Geburtstag ... aber man kann es gar nicht sehen.
Wenn ich allein in der Kirche bin, dann muß ich nicht immer mit dem lieben Gott reden - dann merk' ich den!
K: Ach, dann merkst du den?
N: Ja.
K: Das ist schön! Wie fühlt sich das an? Was spürst du da?
N: (Denkt nach.) Soo schwer zu sagen! (Überlegt weiter.) Kein Knubbel mehr im Bauch ... dann wird's innen drin ganz warm ... kein Durcheinander im Kopf ...
K: Aha!-Was noch?
N: (Mit wachsender Erregung:) Dann ... dann ... dann gibt's die ganze Welt nicht mehr!
K: Ach so! Dann gibt's die ganze Welt nicht mehr? Nur den lieben Gott und dich?
N: Jaa, ßoo ist das!
K: Ach ja, jetzt versteh' ich das! Schön ist das! Da gehst du sicher öfter allein in die Kirche? Die ist immer offen?
N: Ja. Und wenn die doofe Schwester Eva Maria - (erschrickt) - das darf ich jetzt nicht sagen! - und wenn die Schwester Eva Maria, wenn die mich sieht, dann fragt die mich immer, was ich gebetet hab'. Und die Eerka sagt (sehr bestimmt), das geht keinen Menschen auf der Welt was an!
K: Ja, aber es ist schön, daß du mir das erzählt hast, da versteh' ich dich dann besser.
* Übrigens lebt auch Frieder noch und der später auftauchende »schlaue Thomas«, und sie alle und Magda und Schwester Erika haben sich inzwischen öfter getroffen.
N: (Etwas ungläubig:) Verstehst du das?
K: Ja, das versteh' ich gut! Wann hast du denn immer so ein
Durcheinander im Kopf? N: (Stöhnt.) Wenn dunkel ist ... und wenn Montag ist ... K: Ja ... da muß am Sonntag irgendwas passiert sein? N: Sonntag? K: Oder? Warum ist am Montag immer alles so durcheinander
im Kopf? N: Ich mag Sonntag nicht ... nicht mehr! Nee, nee, nee! K: So? Und Samstag? N: Auch nicht!
Diese beiden Transkriptionen können nur einen kleinen Teil dessen wiedergeben, was die Videoaufnahmen zeigen: Mimik und Gestik der kleinen Nathalie, die Unvollkommenheiten ihrer Sprache, ihr Zögern und Stottern, ihre Unruhe und ihre Angst, wenn von den Wochenenden bei »der Frau« die Rede ist, die Zeichen ihrer Liebe zu ihrer »Eerka«, ihr tiefes Glück bei ihren Gesprächen mit dem lieben Gott, ihre Geborgenheit im Kinderheim - und ihr Entsetzen bei jedem GedanKen an die schrecklichen Erlebnisse »daheim«. Doch selbst die Videoaufnahmen können nur zeigen, was für den Zuschauer und Zuhörer von außen erkennbar ist; sie lassen lediglich erahnen, was die kleine Nathalie dabei erlebt. So sind also die oben geschilderten Dialoge doppelte Transkriptionen, zweifache Transformationen und Abstraktionen der Wirklichkeit des Wiedererlebens. Dennoch: Sie zeigen immerhin ein wenig von dessen Vieldimensionalität; sie zeigen, wie beim Wiedererleben einer längst vergangenen Zeit der Organismus sogar seinen kognitiven Zustand von damals annimmt und Wortschatz wie Sprech- und Denkfertigkeiten einer Zwei- oder Dreijährigen offenbaren kann. Und nicht zuletzt lassen diese Protokolle erahnen, wie dürr, abstrakt, »kopfig«, lückenhaft und eindimensional kognitive Erinnerungen im Vergleich zum Wiedererleben sind.
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5.4 Motorische Fähigkeiten beim Wiedererleben
Unter Motorik versteht man die Bewegungen des Körpers und der Körperteile, die weitgehend bewußt kontrolliert oder zumindest bewußt eingeleitet werden und dann, je nach Übung, mehr oder weniger automatisch, fast reflexartig ablaufen. Die elementaren Bewegungsfähigkeiten des Menschen werden auch Willkürmotorik genannt. Sie entfalten sich in den ersten 15 Lebensmonaten und können beim Wiedererleben reproduziert (bzw. falls sie noch fehlen, eben nicht reproduziert) werden oder zumindest vom Therapeuten erfragt werden. Wenn eine Person zum Beispiel ihr frühes Säuglingsstadium wiedererlebt, dann ist sie nicht in der Lage, sich zu drehen; sie kann nicht anders als auf dem Rücken liegen, allenfalls den Kopf heben und Arme und Beine bewegen. Dagegen kann man beim Wiedererleben späterer Phasen sehr oft Krabbel- oder Laufbewegungen beobachten. Aus den Wahrnehmungen und Auskünften kann daher auf das gerade wiedererlebte Alter geschlossen werden.
Die normale Entwicklung der Willkürmotorik verläuft etwa wie folgt:
Entwicklung der Willkürmotorik |
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1.-2. Monat: |
Kopfheben in Bauchlage |
3.-4. Monat: |
Drehen aus der Rückenlage in die Bauchlage |
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und umgekehrt |
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Freie Bewegung des Kopfes, Greifen |
6.-8. Monat: |
Freies Sitzen, Unterarmstütz in Bauchlage |
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Krabbeln: Vorwärtsschieben ohne Bewegung |
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der Beine |
9.-12. Monat: |
Aufsetzen, Aufstehen, Legen |
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Kriechen: gekreuzte Koordination von Armen |
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und Beinen |
12.-15. Monat: |
Freies Stehen, freies Gehen |
Abweichungen |
davon können Indikatoren für Retardierung |
und evtl. neurologische Erkrankungen (unter anderem früh- |
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kindliche Hirnschädigung) sein. |
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Beispiel: Ein Therapeut sagte zu einem Patienten, der sich gerade im Mutterleib »befand«, er möge (in der Zeit) vorangehen - und erhielt prompt die Antwort: »Ich kann doch noch nicht gehen!« (Seither vermeiden wir solche Anweisungen und sagen lieber etwa: »Die Zeit vergeht... ein Tag ... noch ein Tag ...)
Bei den komplexeren Bewegungsabläufen, die ein hohes Maß von (erst einzuübender) Koordination erfordern, spricht man auch von Psychomotorik; dazu gehören die mimischen und gestischen Bewegungen (die zur individuellen Gewohnheit werden können und dann hochgradig reflexartig verlaufen) und Bewegungsabläufe wie Schwimmen, Schreiben, Radfahren, Klavierspielen usw. Letztere werden auch psychomotorische Fähigkeiten genannt. Beim Wiedererleben eines früheren Geschehens verfügt die Person über genau die psychomotorischen Fähigkeiten, die sie seinerzeit hatte.
Beispiel: Barbara wiedererlebte ein sehr unangenehmes Geschehen aus ihrer Kindheit. Unmittelbar danach wird sie von ihrer Begleiterin gebeten, über das Erlebte zu sprechen. Sie will dies aus Scham nicht tun. »Magst du es vielleicht aufschreiben?« Mit der für solche Situationen charakteristischen reflexartigen Schnelligkeit kam etwas barsch die Antwort: »Ich kann doch noch nicht schreiben!« Bald stellte sich heraus, daß Barbara damals erst drei Jahre alt war.
Im Vergleich zu den in den vorangegangenen Abschnitten behandelten Fähigkeiten spielen die motorischen Fähigkeiten beim Wiedererleben eine nur bescheidene Rolle. Immerhin ist wichtig, daß sie wie alle anderen Fähigkeiten und Zustände wiedererlebt werden können. Das Wiedererleben ist also ein ganzheitlicher, alle Eigenschaften, Fähigkeiten und Zustände des Organismus umfassender und sie darstellender, reproduzierender Vorgang. Dies wird um so deutlicher, je genauer man die Eigenschaften des Wiedererlebens studiert, und um so deutlicher wird auch, wie sehr es sich vom kognitiven Erinnern unterscheidet. Dies im einzelnen immer wieder erneut nachzuweisen und festzuhalten, erschien eben so notwendig, wie es - leider - für die Leserin und den Leser ermüdend gewesen sein mag.
*
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6. Vorläufige Zusammenfassung
Aufgrund der bisher beschriebenen Beobachtungen läßt sich folgende Zwischenbilanz ziehen:
1. Das von der Posttraumatischen Belastungsstörung bekannte Symptom des Wiedererlebens einer früheren traumatischen Situation (durch eine entfernt ähnliche Situation initiiert oder spontan in Alpträumen auftretend) weist auf eine besondere Fähigkeit des menschlichen Organismus hin, die jedoch in diesem Zusammenhang als belastende Störung registriert wird.
2. Beobachtungen im Alltag und verbreitete Hinweise in der biographischen Literatur deuten darauf hin, daß das Wiedererleben zumindest ansatzweise auch unter normalen Umständen auftreten kann und keineswegs nur traumatische Situationen betrifft. Auch dabei wird es im allgemeinen durch situative Ähnlichkeiten angeregt (siehe Schema 2 auf Seite 93).
3. Beobachtungen in psychotherapeutischen Sitzungen mit einer speziellen Methode, die ich »Begleitetes Systematisches Wiedererleben« nenne, zeigen, daß das Wiedererleben systematisch eingeleitet und psychotherapeutisch genutzt werden kann. Auf diese Weise können sowohl spontan auftauchende frühere Erlebnisse (auch solche mit nichttraumatischem Inhalt) als auch ganz bestimmte, gezielt ausgewählte Geschehnisse wiedererlebt werden. Diese können aus allen Lebensabschnitten der Person stammen, vom frühen pränatalen Zustand bis zur Gegenwart.
Das Prädikat »systematisch« im Namen der Methode soll darauf hinweisen, daß
- das Wiedererleben systematisch eingeleitet wird,
- die wiederzuerlebenden traumatischen Geschehnisse oft nach ihrer Zusammengehörigkeit systematisch ausgewählt werden, und
- das Wiedererleben ein und desselben Traumas so lange wiederholt wird, bis das »Protokoll« gelöscht ist und das Trauma nicht mehr wiedererlebt werden kann.
4. Während des Begleiteten Wiedererlebens konnte wiederholt beobachtet werden, daß Kinder innerhalb eines früheren Erlebnisses (das gleichsam die Rahmenhandlung für das Folgende bildet)
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ein noch früheres Geschehen wiedererlebten (»Wiedererleben ir Wiedererleben«, siehe Schema 3 auf Seite 94), was zeigt, daß in de Kindheit Wiedererleben eine verbreitete Erscheinung ist. Die wurde auch durch Beobachtungen meiner in Kindergruppen ai beitenden Mitarbeiterinnen bestätigt, daß auf eine situative Anre gung hin Kinder häufiger in ein früheres Geschehen »zurückfal len« und dieses wiedererleben. Ich bin überzeugt, daß Eltern un Erzieher ebenfalls diese Beobachtungen machen würden, wenn si von dem Phänomen des Wiedererlebens wüßten.
Schema 2: Situativ angeregtes Wiedererleben (Wiedererleben im Alltag oder »Wiedererleben im Erleben«)
Irgendeine Wahrnehmung im 1. Teil von E 2 regt durch eine situative Ähnlichkeit über das Protokoll P 1 das Wiedererleben des Erlebnisses E 1 an (»Situative Anregung«). Dieses Wiedererleben wird Bestandteil des Erlebnisses E 2. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung des aktuellen Geschehens (vermindert) fortgesetzt (E 2, Teil 2 := E 2-2). Im allgemeinen folgt danach noch ein 3. Teil des Erlebnisses E 2 (E 2-3). Das gesamte Erlebnis E 2 wird im Erlebnisgedächtnis gespeichert.
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Wiedererleben unterscheidet sich in Inhalt, Qualität und Quantität der Reproduktionen sowie im subjektiven Erleben der Person (neuerliches Erleben vs. abstrakte kognitive Erinnerung) radikal und total vom hinlänglich bekannten kognitiven Erinnern an frühere Erlebnisse.
Daher ist evident, daß es sich beim Wiedererleben um einen völlig anderen Prozeß als beim kognitiven Erinnern handeln muß. Der darauf folgende, naheliegende Schritt ist die Hypothese, daß den beiden so verschiedenen Prozessen Wiedererleben und kognitives Erinnern zwei ebenso verschiedene »Datenspeicher«, also Gedächtnisse (»Erlebnisgedächtnis« vs. kognitives Gedächtnis). entsprechen und schließlich auch zwei verschiedene Speicheroder Einprägungsvorgänge (»Erlebnislernen« vs. kognitives Lernen). Für diese Annahmen sprechen folgende Beobachtungen:
• Erlebnislernen ist unabhängig vom Vorhandensein und vom Funktionieren des Bewußtseins und des kognitiven Gedächtnisses, beides unbedingte Voraussetzungen des kognitiven Lernens.
• Erlebnislernen erfolgt mühelos, ohne Absicht und ohne Willensanstrengung mit sehr viel größerer Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit als kognitives Lernen. (Da der Begriff »Lernen« sehr leicht mit absichtlichem und meist anstrengendem [kognitiven] Lernen assoziiert wird, erinnere ich nochmals daran, daß Erlebnislernen so unbeabsichtigt, mühelos und beiläufig zum Erleben erfolgt, daß Erleben und Erlebnislernen untrennbar verbunden sind.)
• Erlebnislernen umfaßt nicht nur die Wahrnehmungen der äußeren, sondern auch die der inneren Sinne. Letztere werden oft gar nicht bewußt registriert, zum Teil können sie überhaupt nicht bewußt wahrgenommen werden.
• Beim Wiedererleben können auch die ursprünglichen Reaktionen des Organismus auf (äußere wie innere) Sinneswahrnehmungen und die sich daraus ergebenden Körperzustände reproduziert werden. Bestandteil dieser Dimension des Wiedererlebens ist es, daß der frühere Körperzustand nachgebildet wird, und zwar
- im Körper: innere Schmerzen, Störungen des Gleichgewichtssinns, Übelkeit ..., Körpertemperatur, Blutdruck, Pulsfrequenz, Tonuslage des vegetativen Systems, Koliken, Schüttelfrost ...
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- am Körper: Veränderungen der Haut (Entzündungen, Gänsehaut ...) und andere, und
- durch den Körper: Taumeln beim Gehen, Mimik und Gestik, Glieder- und Gelenkstellungen, Deformationen, Bewegungen
• Beim Wiedererleben werden auch frühere seelische (psychische) Zustände des Organismus (die auch oft Reaktionen auf Sinneswahrnehmungen sind) nachgebildet und neuerlich empfunden.
• Beim Wiedererleben werden auch die kognitiven Zustände und Fähigkeiten der Person zur Zeit des ursprünglichen Geschehens reproduziert und wirken sich dementsprechend aus.
• Dasselbe gilt für die motorischen Fähigkeiten des Organismus zur Zeit der gerade wiedererlebten Phase.
• Die letztgenannten fünf Dimensionen des Wiedererlebens setzen voraus, daß beim (vorausgegangenen) Erlebnislernen in der Ursprungssituation die dazugehörigen Daten (Informationen über die einzelnen Sinneswahrnehmungen, über die Reaktionen des Organismus darauf - Parameter wie Körpertemperatur, Blutdruck, Herzfrequenz, Tonuslage des vegetativen Systems und alle übrigen, oben nur unvollständig aufgeführten Körperzustände -, Informationen über damals empfundene Emotionen und das sonstige psychische Befinden, über die vorhandenen kognitiven Kenntnisse und Fähigkeiten sowie über die verfügbaren motorischen Fähigkeiten) umfassend und nachhaltig gespeichert wurden; eine Leistung, die für sich allein schon das kognitive Gedächtnis unermeßlich überfordern würde.
• Schließlich hat sich beim Systematischen Wiedererleben erwiesen, daß die Daten im Erlebnisgedächtnis chronologisch geordnet sind. Im kognitiven Gedächtnis ist dies nicht der Fall, wovon sich jeder überzeugen kann, indem er versucht, sich an die Reihenfolge zweier (nicht irgendwie miteinander verknüpfter) Ereignisse zu erinnern. Auch darin zeigt sich ein struktureller Unterschied zwischen den beiden Gedächtnissen.
Diese von mir beim Begleiteten Wiedererleben erhobenen, hier erstmals umfassend dargestellten Befunde halte ich für verläßliche, hinreichende Stützen meiner Hypothese der Existenz eines Erlebnisgedächtnisses mit den oben beschriebenen Eigenschaften. Die Beobachtungen sind überprüfbar und - im Prinzip - reproduzierbar.
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Beim Erlebnislernen und beim Wiedererleben handelt es sich offenbar um einen zweiten Weg, Erfahrungen zu speichern und zu erinnern, der vom ersten, dem kognitiven, Weg völlig unabhängig ist. Auf diesem zweiten Weg sind ganz andere Mechanismen tätig, die beim Lernen weit umfassendere und vielfältigere Datenmengen speichern und beim Erinnern gänzlich andersgeartete Reproduktionen liefern als die Mechanismen des kognitiven Lernens und Erinnerns.
Der Vorgang des Erlebnislernens ist mit dem Vorgang des Erlebens untrennbar verbunden (was das Individuum erlebt, das lernt bzw. speichert es); das Erinnern geschieht (ganz analog dazu) als neuerliches »Erleben«, als Wiedererleben (wessen sich das Individuum erinnert, das »erlebt« es). Erlebnislernen und Wiedererleben sind demnach eigenständige, wesenhaft andersartige, nicht-kognitive, vor- und unbewußte Formen des Lernens und Erinnerns. Weil sie einerseits von den entwicklungsgeschichtlich relativ jungen kognitiven Fähigkeiten, dem charakteristischen, wesensbestimmenden Merkmal des Menschen, völlig unabhängig sind, andererseits aber auch bei Tieren beobachtet werden können, ist zu vermuten, daß sie weit älter sind als die kognitiven Funktionen. Wie sich diese Vermutung bestätigt hat, wird im nächsten Kapitel gezeigt.
Schema 4: Das Lebensprotokoll
Wenn - zumindest im Prinzip - alle Geschehnisse aus dem Leben eines Individuums wiedererlebt werden könnten, dann müßten alle oben genannten Daten fortlaufend im Erlebnisgedächtnis aufgezeichnet werden. Das Erlebnisgedächtnis würde dann das »Lebensprotokoll« des Individuums enthalten, und die einzelnen Protokolle, von denen oben die Rede war, wären lediglich zeitlich begrenzte Ausschnitte daraus.
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