Teil 2 Störende Wirkungen des Erlebnisgedächtnisses
1 Erlebnisgedächtnis und psychische Störungen
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In diesem Kapitel möchte ich nachweisen, daß - und wie - Inhalte des Erlebnisgedächtnisses, nämlich die Aufzeichnungen früherer traumatischer oder belastender Ereignisse, zum Auslöser psychischer Störungen werden können. Dazu zeige ich anhand einer Reihe von Fallbeispielen, von denen jedes exemplarisch für eine oft große Anzahl ähnlicher Beobachtungen ist, wie durch Systematisches Wiedererleben der Zusammenhang jeweils einer speziellen Störung mit einem bestimmten Ereignis im Leben der Person aufgedeckt wurde.
Im Prinzip konnte dies auf zweierlei Weise geschehen:
Die Person gelangte in der Therapie, von einer bestimmten belastenden Emotion, einem unangenehmen Körpergefühl oder von aktuellen Alpträumen ausgehend und sich darauf konzentrierend, entweder spontan oder durch gezieltes Hinführen zum Wiedererleben eines bestimmten Geschehens. Dabei zeigte sich regelmäßig ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und dem anfänglichen Gefühl bzw. den Alpträumen.
Beim Wiedererleben irgendeines traumatischen Geschehens erkannte die Person plötzlich den Zusammenhang eines Details dieses Geschehens mit einer in ihrem Alltagsleben immer wieder auftretenden Störung.
Der endgültige und zwingende Beweis dieses Zusammenhangs ist in beiden Fällen die Tatsache, daß nach Bearbeitung des betreffenden Protokolls die Störung verschwand oder - falls es noch andere Auslöser gab - zumindest gemildert wurde. In diesem Fall konnten die anderen Auslöser leicht gefunden werden, falls sie nicht ohnehin von selbst »auftauchten«. Nach Bearbeitung der entsprechenden Protokolle verschwand die Störung endgültig. Die Fallbeispiele sind eingebunden in eine systematische Aufzählung der wichtigsten psychischen Störungen, die ich jeweils vorab kurz beschreibe. Diesen Beschreibungen wiederum möchte ich ein Zitat aus dem Vorwort zur 3. Auflage von DAVISON/NEALE, Klinische Psychologie, voranstellen: »Die heutige Klinische Psychologie stellt ein Gebiet dar, in dem es nur wenige gesicherte Ergebnisse gibt.«
1.1 Ängste, Paniken, Phobien, Zwänge
Diese vier Störungen fasse ich in einem Abschnitt zusammen, da sie wesensverwandt sind und zudem häufig auch ursächlich zusammenhängen.
Angst ist ein natürliches und notwendiges Gefühl wie andere Gefühle auch. Sie hat vor allem zwei Funktionen: Sie mahnt uns zur Vorsicht in gefährlichen Situationen, und sie mobilisiert im Falle einer akuten Bedrohung über das vegetative System die Reserven des Organismus für wirksame Reaktionen, zum Beispiel Angriff oder Flucht. Die zahlreichen Verkehrsunfälle junger Menschen mit oft tödlichen Folgen sind nicht zuletzt auf mangelnde Angst (wegen Unterschätzung der Gefahr und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten) zurückzuführen. Keine Angst zu haben ist weniger ein Zeichen von Mut als von mangelnder Phantasie und Vorstellungskraft.
Überschreitet die Angst aber ein vernünftiges Maß und wird zur Panik oder tritt sie schon in völlig ungefährlichen Situationen auf, so kann sie das Allgemeinbefinden der Person ernsthaft beeinträchtigen; sie wird zur Angststörung (bei der Bezeichnung der Störungen folge ich dem DSM-III-R).
Bei übersteigerter Angst können folgende Symptome auftreten:
Atemnot oder Erstickungsgefühl
Schwindel oder Ohnmachtsgefühl
starker oder beschleunigter Herzschlag
Zittern oder Beben
Würgegefühl oder Übelkeit
Schwitzen, Hitzewallungen oder Kälteschauer
Schmerzen oder Unwohlsein in der Brust
Furcht zu sterben, verrückt zu werden oder außer Kontrolle zu geraten, und andere.
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Der Krankheitsbeginn liegt nach Meinung der Fachleute gewöhnlich am Ende des dritten Lebensjahrzehnts, nach unseren Beobachtungen bedeutend früher. Jedoch werden Angststörungen in der Kindheit oder Jugend oft wenig beachtet (kindliche Ängste z. B. bei Dunkelheit gelten als fast normal), oder sogar verheimlicht (z. B. wenn sie als Makel angesehen werden oder als Folge von Mißhandlungen auftreten), eher ausnahmsweise psychiatrisch behandelt und daher von der Statistik nicht erfaßt. Hier liegt ein weites Dunkelfeld unserer Gesellschaft. (Noch im Jahr 1993 empfahl eine Psychologin in einer Beratungsstelle einer Mutter, sie solle ihr Kind, das häufig nachts schreiend erwachte, dann kalt abduschen.)
Hier ein Beispiel aus jüngster Zeit, das ausnahmsweise ein glückliches Ende nahm, weil dem Kind durch L, eine meiner Schülerinnen, relativ bald geholfen wurde: Der kleine Klaus erlitt vom ersten Tag seines Lebens an allnächtlich zur selben Zeit (nämlich zur Stunde seiner Geburt) einen heftigen Angstanfall, wobei er offensichtlich jedesmal die Todesangst bei seiner Geburt wiedererlebte, wo er von der verkürzten, ihm um den Hals geschlungenen Nabelschnur stranguliert worden war. Außerdem hatte er Schwierigkeiten beim Schlucken von Nahrung und lehnte feste Speisen gänzlich ab. Als Folge davon war er erheblich untergewichtig. Auch sprach er noch nicht, sondern gab nur einzelne unartikulierte Laute von sich. Anscheinend vermied er so jede Reizung des Schlundes und des Kehlkopfs, die eine situative Anregung des Wiedererlebens der Erstickungsgefühle bei seiner Geburt gewesen wäre. Im Alter von sechzehn Monaten wurde er durch Systematisches (sechsmaliges) Wiedererleben des Traumas innerhalb einer Dreiviertelstunde geheilt. Von diesem Tag an schlief er nachts durch. Zur großen Überraschung seiner Eltern verschwanden auch seine Eßstörungen sofort: Er aß fortan heißhungrig alles, was ihm angeboten wurde, und nahm in den nächsten 3 Wochen zweieinhalb Kilogramm zu. Außerdem begann er nach wenigen Tagen zu sprechen.
Das Angstsyndrom ist weit verbreitet: 15% aller Bundesbürger erleben einmal in ihrem Leben Angst mit Panik und Todesgefühl, bei einem Drittel davon bleibt es nicht bei einem einzigen Anfall, und mit jeder neuen Attacke wächst »die Angst vor der Angst«. In 95% dieser Fälle besteht die Tendenz zur Ausbreitung der Symptome und zur Generalisierung der Ängste: die betroffene Person
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hat im Laufe der Zeit vor immer mehr Situationen immer heftigere Angst, wodurch ihre Aktivitäten zunehmend eingeschränkt werden und sie sich immer mehr in sich selbst verkriecht, so daß etwa ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen nach durchschnittlich zehn Jahren das Haus nicht mehr verlassen kann. Durch diese Einschränkungen wiederum entstehen fast zwangsläufig Depressionen, die der betroffenen Person das Leben noch schwerer machen. In allen von uns behandelten Fällen von Angststörung konnte ein Zusammenhang mit einem vor der Behandlung meist unbekannten traumatischen Erlebnis in der Kindheit oder früher nachgewiesen werden. Demnach ist die Angst- und Panikstörung zumindest in vielen Fällen nichts anderes als eine Posttraumatische Belastungsstörung (s. S. 140 ff.), bei der das ursächliche Trauma - häufig ein Trauma vor oder während der Geburt, Mißhandlung oder sexueller Mißbrauch in der Kindheit - weit zurückliegt, seinerzeit unerkannt oder unbeachtet geblieben ist, häufig verheimlicht und von der betroffenen Person selbst »vergessen« wurde. Ich nehme an, daß in vielen Fällen einer frühen Traumatisierung unmittelbar danach Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten, die nach einiger Zeit (etlichen Monaten oder Jahren) abklingen oder gar fast völlig verschwinden. Viel später aber, manchmal erst nach zwei oder drei Jahrzehnten, treten Störungen auf, die als (scheinbar unbegründete) Angststörungen (oder auch als eine andere Störung, z. B. als Konversionsneurose -siehe Fallbeispiel 20) diagnostiziert werden und die im Laufe der Zeit meist intensiver werden. Beim Systematischen Wiedererleben wurde regelmäßig der Grund dafür entdeckt: Nachdem das Ursprungstrauma lange latent geblieben war, wurde es irgendwann durch ein situativ oder in seinen seelischen oder körperlichen Auswirkungen ähnliches Erleben plötzlich virulent. Von dem Moment an begann die Person immer stärker unter den Symptomen zu leiden.
Die Theorie des Erlebnisgedächtnisses und des Wiedererlebens erklärt dieses Phänomen zwanglos: Ein Trauma wird im allgemeinen erst dann wiedererlebt, wenn die Person sich in einer Situation befindet, die mit der ursprünglichen, traumatischen Situation eine gewisse Ähnlichkeit hat, und das geschieht vielleicht erst nach längerer Zeit. Durch das erstmalige Wiedererleben aber wird ein Teu-
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felskreis in Gang gesetzt, dessen Mechanismus schon oben angedeutet wurde: Durch das Wiedererleben wird die neue, auslösende Situation in unangemessenem Maße als traumatisch empfunden, weil zu deren eigenen unangenehmen Gefühlen noch die Schrek-ken der ursprünglichen Situation (zum Beispiel Todesangst) dazu-erlebt werden. Im Erlebnisgedächtnis entsteht dabei ein neues Protokoll mit gleichsam aufsummierten Schrecknissen. (Siehe Schemata 8 und 9 .
Schema 8: Reizgeneralisierung bei der Angst- und Panikstörung (I)
Irgendeine Wahrnehmung im 1. Teil von E 2 regt über das Protokoll P 1 das Wiedererleben des Erlebnisses E 1 an (»Situative Anregung«). Dieses Wiedererleben (E 2-WE 1) wird Bestandteil des Erlebnisses E 2. Während des Wiedererlebens wird auch das aktuelle Geschehen (E 2-2) - evtl. vermindert - wahrgenommen. Möglicherweise folgt danach noch ein 3. Teil (E 2-3) des Erlebnisses E 2.
In dem Protokoll P 2 des Erlebnisses bilden E 2-2 und E 2-WE 1 zusammen den 2. Teil des Protokolls.
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Schema 9: Reizgeneralisierung bei der Angst- und Panikstörung (II)
Erlebnisgedächtnis vor E 3
Erlebnisgedächtnis nach E 3
Irgendeine Wahrnehmung im 1. Teil des Erlebnisses E 3, die eine Ähnlichkeit mit früheren Wahrnehmungen in E 1 und/oder E 2 hat, regt über das Protokoll P 1 und/oder über einen Teil des Protokolls P 2 (oder über mehrere) das Wiedererleben von E 1 und/oder E 2 an. Sollte P 1 nicht direkt angeregt worden sein, dann kann es indirekt über einen der Teile von P 2 (oder mehrere) angeregt werden, und sei es auf dem Umweg über das Wiedererleben von E 2. Das Erlebnis E 3 erzeugt ein dreiteiliges Protokoll P 3. Wichtig ist, daß in P 2 auch harmlose, irrelevante Details gespeichert sein können (zusammen mit wirklich gefährlichen, die spätestens durch das Wiedererleben von E 1 dazugekommen sind). Tritt so ein irrelevantes Detail in einer vielleicht völlig harmlosen Situation (E 3) auf, dann vermag auch dieses das Wiedererleben anzuregen (Reizgeneralisierung). Ferner werden die Wiedererlebensprozesse durch die Beteiligung von nunmehr zwei Protokollen intensiver.
Ein weiteres Erlebnis E 4 mit situativen Ähnlichkeiten zu E 1, E 2 oder E 3 regt verstärkt die beiden Effekte weiter an usf.
Ergebnis: Die Person wird im Laufe der Zeit vor immer mehr Dingen zu immer heftigerem Wiedererleben angeregt, wodurch die Angst- oder Panikanfälle sowohl häufiger als auch intensiver werden.
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Dieses Protokoll enthält zudem auch die situativen Einzelheiten der neuen Situation, die an sich belanglos sein können, nun aber als gefährlich und alarmierend gelten (»Generalisierung«). Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit des neuerlichen Anstoßes des Wiedererlebens durch eine weniger ähnliche und weniger dramatische Situation vergrößert. Und schließlich trainiert jedes neuerliche Wiedererleben die Fähigkeit der Person zum Wiedererleben, wodurch dieses jedesmal eindringlicher wird, mit dem bekannten Ergebnis, daß die Anfälle zugleich häufiger und intensiver werden: das Leben scheint immer gefährlicher zu werden und wird tatsächlich immer unangenehmer.
Die häufigste Form der Angststörung (Anteil: 70%) ist die Agoraphobie (mit oder ohne Panik): die Angst vor Menschenansammlungen, öffentlichen Plätzen, Kaufhäusern, Straßenbahn-, Omnibus- und Fahrstuhlfahren, allgemein: vor Situationen oder Orten, an denen eine Flucht nur schwer möglich (oder peinlich) oder beim Auftreten der Panikattacke keine Hilfe verfügbar wäre. Recht verbreitet ist eine Sonderform, die häufig nur einen einzigen Auslöser (»Stressor«) hat, daher auch weniger belastend ist und folglich geringere Aufmerksamkeit findet: die Höhenangst, die auf Brücken, langen Treppen, hohen Baikonen, Türmen, Schiliften, Bergbahnen und natürlich beim Fliegen auftreten kann. Viele dieser Situationen können problemlos gemieden werden, doch wer im Urlaub gern ferne Länder aufsucht oder beruflich dazu genötigt ist, dem wird die Angst vor dem Fliegen zur Belastung. Die Höhenangst wird schon oft zu Beginn des dritten Lebensjahrzehnts oder früher auffällig und nimmt mit dem Alter im allgemeinen zu.
Wir haben bisher nur wenige Fälle von Höhenangst behandelt, und diese stets beiläufig im Rahmen anders begründeter Therapien, so daß unsere Beobachtungen keine Verallgemeinerung zulassen. Es sei aber doch erwähnt, daß wir in allen diesen Fällen einen Zusammenhang mit zwei bestimmten Traumata nach der Geburt feststellen konnten: In vielen Geburtskliniken Deutschlands werden die Neugeborenen an den Füßen gehalten und mit dem Kopf nach unten hängen gelassen - und dies oft recht unsanft (»die Kinder merken ja nichts davon«) -, weil »nur auf diese Weise ihre Länge auf den Zentimeter genau gemessen werden kann«.
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Außerdem wird der Oberkörper des Neugeborenen zum Testen des Moro-Reflexes plötzlich nach hinten fallen gelassen. Das Prinzip dieses »für ein vollständiges Geburtsprotokoll unerläßlichen Tests« ist naturwissenschaftlich völlig einwandfrei: Der Arzt oder die Hebamme jagt dem Kind einen Schrecken ein und prüft, ob es auch ordnungsgemäß erschrickt und entsprechend reagiert. Für die Kinder sind beides äußerst unangenehme Schockerfahrungen, die noch nach Jahrzehnten wiedererlebt werden können. In den von uns behandelten Fällen wurde die Höhenangst durch Systematisches Wiedererleben dieser Traumata geheilt. Als eine weitere Sonderform der Agoraphobie mit nur einem Stressor kann die begreiflicherweise immer häufiger auftretende phobische Angst vor dem Autofahren nach einem Unfall angesehen werden. Hier ist die Ursache offensichtlich. Neuartig dagegen ist einerseits unsere Erklärung des Phänomens als Wiedererleben des Ursprungstraumas (Wiedererleben als nicht-kognitive, unbewußte Form des Erinnerns auf der Basis des Erlebnisgedächtnisses): Jede Autofahrt regt durch situative Ähnlichkeit das (unbewußte) Wiedererleben der Panik oder der Todesangst an, die bei dem Unfall erlebt wurde. (Anders ausgedrückt: Autofahren ist zum konditionierten Reiz geworden, der allein schon genügt, die Reaktion des Organismus, nämlich Angst oder Panik, auszulösen. Nach einigen wenigen solcher Panikanfälle genügt schließlich schon der Gedanke daran, Auto fahren zu müssen, um Angst auszulösen.) Und neuartig ist andererseits auch die Möglichkeit schneller und nachhaltiger Heilung der Panikanfälle durch Systematisches Wiedererleben.
Der Agoraphobie folgen in der Häufigkeit die sozialen Ängste: die Angst davor, Bekannte zu treffen, zu telefonieren, in der Öffentlichkeit sprechen zu müssen, ausgelacht zu werden oder nicht antworten zu können. Die angstauslösenden Situationen werden von der betroffenen Person gemieden oder nur unter intensiver Angst durchgestanden. Dies beeinträchtigt die berufliche Leistungsfähigkeit, die üblichen sozialen Aktivitäten und Beziehungen und verursacht ausgeprägtes Leiden.
Ferner gibt es die Zwangsstörung, die häufig mit Depression, Angst und phobischem Vermeiden einhergeht. Häufige Zwangshandlungen sind Händewaschen, Zählen, Kontrollieren, Berühren
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bestimmter Gegenstände und das Wiederholen bestimmter Gedanken oder Vorstellungen (Zwangsgedanken). Beim Zählzwang fühlt die Person den unwiderstehlichen Drang, zum Beispiel die Gegenstände in ihrer Tasche oder die auf dem Tisch immer wieder zu zählen; vom Kontrollzwang Befallene kommen oft erst nach stundenlangem Anlauf aus der Wohnung, weil sie zum Beispiel immer wieder kontrollieren müssen, ob der Herd auch wirklich abgestellt ist.
Unter den Zwängen finden sich auch mildere, oft kuriose Obsessionen: Da kann jemand nicht ungestört im Bett liegen, weil er immer wieder kontrollieren muß, ob die Kippen im Aschenbecher nicht mehr glimmen oder ob seine Schuhe auch schön parallel stehen und mit den Fersen zur Bettkante fluchten; da muß eine Frau täglich alle Fenster ihrer Wohnung putzen, und viele deutsche Hausfrauen müssen unbedingt montags waschen (was die Elektrizitätswerke zwingt, große Kraftwerkskapazitäten bereitzuhalten, die in der übrigen Zeit nicht gebraucht werden). Es gibt die zwanghafte Pünktlichkeit (die Königsberger konnten einst ihre Uhren nach den Spaziergängen Immanuel Kants stellen), die zwanghaft übertriebene Ordnungsliebe und viele andere Zwänge mehr, von relativ harmlosen, fast liebenswerten Marotten bis zu Eigenheiten, die den Besitzer und seine Umgebung tyrannisieren. Die Ursachen zwanghaften Verhaltens sind nach unseren Erfahrungen (neben traumatischen Erlebnissen) oft verbale Botschaften wie Ausrufe, Drohungen, Befehle, aber auch andere, unauffälligere Aussagen, die aus irgendeinem Grund, meist im Zusammenhang mit einer traumatischen Situation, im Erlebnisgedächtnis aufgezeichnet wurden. Sie können später ein Eigenleben gewinnen und erstaunliche Macht entfalten. Ich erinnere an den im Fallbeispiel 5 zitierten Satz »Du bist schuld, du hast nicht aufgepaßt!« und verweise auf den Satz »Du solltest eigentlich gar nicht leben!« im Fallbeispiel 19.
Ein weiteres Beispiel: Martin, 34 Jahre alt, erlebte als Säugling einen heftigen Streit der Eltern mit, der ihm angst machte. Dabei schrie der Vater die Mutter an: »Wenn du nicht ruhig bist, bring' ich dich um!« Bis zur Bearbeitung dieses Protokolls konnte Martin keinen Streit vertragen und war nicht fähig, sich selbst einmal laut bemerkbar zu machen.
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Im Extremfall können Befehle oder energisch vorgetragene Aussagen für den Zuhörer, der vielleicht gar nicht gemeint war, später zu einer Art Lebensprogramm werden, zumindest jedoch zu unumstößlichen, nicht zu hinterfragenden Wahrheiten, Maximen oder Verhaltensregeln. Je nach der Schwere der begleitenden Traumatisierung ist späteres Zuwiderhandeln schwer bis unmöglich, und jeder Verstoß zieht diffuse Angst- und Schuldgefühle nach sich, die oft als »schlechtes Gewissen« beschrieben werden. In diesen Fällen gewinnen die Sätze ihre Macht zum Teil auch dadurch, daß sie dem Bewußtsein und der kognitiven Erinnerung unzugänglich sind. Werden sie auch nur ein einziges Mal wiedererlebt, büßen sie bereits viel von ihrer Wirkung ein. Zudem ist es für die betroffene Person beruhigend und entlastend, die Ursache ihrer Zwangshandlung zu kennen. Diese verschwindet vollends, wenn das Protokoll aufgelöst ist.
Solche verhängnisvollen Sätze können auch dann wirken, wenn sie eigentlich ganz anders gemeint waren. Der fürchterliche Satz von Margrets Oma (Fallbeispiel 19): »Du Satansbraten, du solltest eigentlich gar nicht leben!«, den Margret mir während einer Sitzung voller Schrecken und Entsetzen zitierte, hörte sich eigentlich ganz liebevoll an. Die Oma stammte aus einem Bauernhof in Polen, wo etwas derbe Koseworte wie »Du Satansbraten« nicht ungewöhnlich waren. Und der Satz »Du solltest eigentlich gar nicht leben!« erweckte in mir den Eindruck, die Oma wußte von dem Abtreibungsversuch der Mutter Margrets, hatte ihn nicht gebilligt und wollte nun ausdrücken: »Sie wollte(n) eigentlich gar nicht, daß du lebst.«
Und schließlich gibt es eine riesige Zahl von »nicht-klinischen«, harmloseren Phobien. Laien können sich kaum vorstellen, wie verbreitet solche Trivialphobien sind und wovor Menschen Angst oder Ekel haben können: vor Wärmflaschen, Waschhandschuhen, Handschuhen überhaupt, vor dem Geräusch beim Anziehen von Gummihandschuhen, vor Dunkelheit, warmen Speisen und Getränken, rauhen Stoffen, lauten Stimmen, bestimmten Berührungen, vor Spritzen und Spritzbestecken, vor Hautcreme, Milch, Pudding, Götterspeise, dem Blitz beim Fotografieren, vor Spiegeln, Mäusen, Spinnen, grünen Weinflaschen, dem Geruch von Zwetschgenschnaps ... (In allen behandelten Fällen hat sich ge-
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zeigt, daß die phobische Angst in einem traumatischen Erlebnis begründet war, in dem das Objekt der Phobie eine - oft nur nebensächliche - Rolle gespielt hat.)
Natürlich kommt kaum jemand wegen solcher Trivialphobien oder wegen marottenhafter Zwänge in die Therapie; sie kommen -manchmal dutzendweise - erst dann zur Sprache (und werden der Person oft erst dann bewußt), wenn beiläufig ihre Gründe entdeckt werden (»Jetzt weiß ich auch, warum ich ...«), und verschwinden nach Bearbeitung und Auflösung der entsprechenden Protokolle.
Das Ausmaß des Leidens unter einem Zwang oder einer Phobie hängt stark von deren Intensität ab, vor allem aber von ihrem Gegenstand: selbst mit heftigstem Ekel vor Spinat kann man im übrigen recht angenehm leben; dagegen läßt die unüberwindliche Abneigung, sich zu waschen, einen schon bald etwas einsam werden; eine ausgeprägte Agoraphobie aber kann einem das Leben vergällen.
»Trennungsangst in der Kindheit und plötzlicher Verlust bzw. Abbruch wichtiger sozialer Beziehungen prädisponieren offensichtlich zur Entwicklung« der Panikstörung (a.a.O.). Auch diese Beobachtung stützt meine Vermutung, daß Trennungsängste oder -erlebnisse in der Kindheit die eigentliche Ursache, der spätere Verlust sozialer Einbindungen oder Beziehungen dagegen situativer Auslöser der Störung ist, der ohne die Primärursache weniger oder gar keine Wirkung hätte, wie denn auch solche Verluste keineswegs bei allen Betroffenen zu Panikstörungen führen. Alle diese Beobachtungen weisen in dieselbe Richtung: Die eigentliche Ursache von Ängsten, Phobien und Zwängen sind Aufzeichnungen früherer traumatischer Erfahrungen im Erlebnisgedächtnis, die bei ähnlichen Geschehnissen aktiviert und (fast immer unbewußt) wiedererlebt werden und reflexartige Reaktionen des Organismus auslösen, die als Angst, Phobie oder Zwang erlebt werden. Die dabei wirksamen Mechanismen, die zur bekannten Steigerung der Häufigkeit und der Intensität der Attacken führen, wurden oben bereits ausführlicher beschrieben. Das stärkste und unwiderlegliche Argument für die Annahme, daß Ängste, Phobien und Zwänge durch Inhalte des Erlebnisgedächtnisses ausgelöst werden, aber ist die Tatsache, daß in allen bisher bearbeiteten Fällen die Symptome durch Auflösung der entsprechenden Protokolle beseitigt werden konnten.
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Fallbeispiel 14: Eine Gewitterphobie
Artur lebt seit acht Jahren in einem Kinderheim. Er ist Analphabet, gilt als lernbehindert und ist stark verhaltensauffällig. Er ist schlechthin unfähig, normal zu sprechen: er schreit, randaliert, legt sich ständig mit den anderen Kindern an, ist stark übergewichtig, stapft und taumelt beim Gehen, seine Schritte sind schon aus der Ferne hörbar; er leidet unter Alpträumen und hat eine ausgeprägte Gewitterphobie. Schon beim Aufziehen eines Gewitters steigt die Angst in ihm auf, die sich beim ersten Donnerschlag zur Panik und Todesangst steigert. Er bekommt dann Atemnot, sein Herz rast, im Handumdrehen ist er schweißgebadet.
Im Frühjahr 1994 beginnt C. mit ihm eine Wiedererlebensthera-pie. Sehr schnell geht er in sein fünftes Lebensjahr zurück und wiedererlebt, wie sein Vater ihn mit einem Ledergürtel schlägt. In der vierten Sitzung wird das Protokoll aufgelöst. Dabei ist deutlich geworden, daß Artur wohl häufiger von seinem Vater mißhandelt wurde. Doch schon während der Arbeit an diesem ersten Protokoll hat die Behandlung positive Wirkungen gezeigt: Artur ist ausgeglichener und fröhlicher geworden, er fühlt sich wohl, schläft gut und schreit nicht mehr. Die anderen Kinder seiner Gruppe sind geradezu irritiert: sie erkennen ihren Artur nicht wieder.
Nun drängt er darauf, die Behandlung weiterer Mißhandlungen zunächst zurückzustellen: er möchte unbedingt die für einen Jungen schmähliche Gewitterangst loswerden, derentwegen er immer wieder ausgelacht wird. C. fordert ihn auf, sich vorzustellen, daß ein Gewitter heraufzieht und es anfängt zu donnern. Plötzlich ist Artur scheinbar vier Jahre alt, die Mutter hat ihn ausgesperrt und ist fortgegangen. So kann er, als ein schweres Gewitter aufzieht, nicht im Haus Schutz suchen. Bald blitzt und kracht es um den kleinen Artur herum, der in höchster Todesangst ist. Er wirft sich (während der Sitzung) verzweifelt und laut schreiend auf dem Bett hin und her, hält sich die Hände vors Gesicht, zuckt immer wieder zusammen. Nach zwei weiteren Sitzungen (mit insgesamt sieben Durchgängen) ist das Gewittertrauma aufgelöst.
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Artur freut sich auf das nächste Gewitter, er ist ganz sicher, daß er die Feuerprobe bestehen wird. Doch seine Geduld wird arg strapaziert: in diesem Sommer gibt es keine Gewitter. Endlich, nach mehr als zwei Monaten, entlädt sich spät abends ein schweres Gewitter über der Stadt. Viele Kinder im Heim sind wach geworden und voller Angst, manche davon sind panisch. Erst lange nach dem Gewitter kehrt wieder Ruhe ein. Artur aber hat den ganzen Tumult verschlafen. Dies tut ihm leid, und er möchte das nächste Gewitter unbedingt im Freien erleben. Sechs Wochen später besteht er auch diese Probe mit Bravour.
Fallbeispiel 15: Lernbehindert?
Nach den Sommerferien begleitet eine Erzieherin Artur zu den Motopädagogen, bei denen er wöchentlich in Behandlung ist. Diese berichten spontan, Artur habe sich schon vor den Ferien auffällig verändert (nach nur vier Sitzungen): er sei gelöster, traue sich nun an alle Geräte, die er zuvor gemieden habe, und sei sehr viel zugänglicher geworden. Inzwischen hat er acht Sitzungen gehabt, und seine Fortschritte bringen C. auf den Gedanken, auch seine anhaltende Weigerung, lesen und schreiben zu lernen, könne mit den Mißhandlungen in seiner Kindheit zusammenhängen. Vielleicht ist Artur von Natur aus gar nicht lernbehindert?
In der nächsten Sitzung sagt C. ihm, er möge zu irgendeinem Geschehen zurückgehen, das ihn sehr erschreckt hat. Artur kommt rasch in sein drittes Lebensjahr und wiedererlebt unter fürchterlichen Ängsten und mit heftigen Körperreaktionen eine Szene, in der sein Vater ihm einen Zeitungsbericht über einen Mord mit einem Messer vorliest. Danach schlägt er ihn und bedroht ihn mit einem großen Messer: er werde ihn genau so abstechen, wie er es in dem Bericht gehört habe. Artur wiedererlebt seine Todesängste, er wälzt sich auf dem Bett herum, stöhnt und schreit; am Ende ruft er vehement: »Ich will nicht lesen lernen, wenn ich groß bin!«
Nach sieben Durchgängen ist das Protokoll aufgelöst, Artur ist krebsrot im Gesicht und strahlt seinen Erzieher an: »Wann übst du mit mir lesen?«
In der folgenden Nacht schläft Artur zehneinhalb Stunden und muß - völlig ungewöhnlich - am Morgen geweckt werden. Er ist gut gelaunt, hopst durch die Gruppenräume und freut sich - noch
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ungewöhnlicher - auf die Schule, um seinem Lehrer zu sagen, daß er lesen lernen möchte.
Tatsächlich machte Artur zunächst rasche Fortschritte im Lesen und Schreiben. Aber leider - und bezeichnenderweise - hielten seine Begeisterung und das Tempo seiner Fortschritte nicht lange an; nach einigen Wochen erlahmten beide.
Dies ist ein Effekt, der uns schon seit langem bekannt ist. Nach Auflösung eines Protokolls bessert sich das Befinden des Patienten sehr rasch, seine Stimmung ist sofort aufgehellt, er fühlt sich erleichtert, befreit, entlastet, und in kurzer Zeit verschwinden bestimmte Symptome oder werden zumindest schwächer. Nach einiger Zeit jedoch können diese positiven Wirkungen nachlassen und schließlich fast verschwinden, wenn auch nicht ganz. Dies beruht darauf, daß es noch weitere traumatische Erlebnisse in seiner Vergangenheit gibt, die ebenfalls an den betreffenden Symptomen ursächlich beteiligt sind und die nun in den Vordergrund treten. Wenn man den Patienten in einer der folgenden Sitzungen auffordert, zu dem Geschehen zurückzugehen, das seine neu aufflackernden Beschwerden verursacht, wird er mit großer Zielstrebigkeit und Treffsicherheit das entsprechende Protokoll finden. Dieser Vorgang kann sich noch einige Male wiederholen, bis alle beteiligten Protokolle aufgelöst sind. Dann aber ist der Patient endgültig von den Symptomen befreit.
Im Falle Arturs gab es tatsächlich noch einige weitere Mordgeschichten, die der Vater seinem kleinen Sohn zur Einschüchterung vorgelesen und die er zur Steigerung der Wirkung mit drastischen Drohungen untermalt hatte. Nach ihrer Bearbeitung war Arturs Abneigung gegen Lesen und Schreiben endgültig überwunden.
Fallbeispiel 16: Wasserscheu
Die achtzehnjährige Ramona lebt seit über zehn Jahren in einem Kinder- und Jugendheim. Schon als sie ins Heim kam, fiel ihre Abneigung gegen Waschen und Duschen auf. Wenn überhaupt, duschte sie kalt oder allenfalls lauwarm und empfand das Wasser dann als heiß. »Immer gab es beim Duschen Theater mit ihr.« Als sie in die Pubertät kam, fiel sie durch extrem unangenehmen Körpergeruch auf, insbesondere an den Füßen. Sie wurde nun täglich
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zum Duschen geschickt - vergeblich. Sie wusch sich den anderen zuliebe zweimal täglich die Füße mit einem medizinischen Badezusatz - erfolglos. Ihre Socken waren gelb und steif; ihre Leibwäsche, ihr Bett, ihr Zimmer - alles stank. Ihre Erzieherinnen bezeichneten den Zustand als unbeschreiblich und unerträglich. Sie betraten ihr Zimmer nur mit angehaltenem Atem, rissen die Fenster auf und flohen so schnell wie möglich wieder. Eine der Erzieherinnen, meine Schülerin Ute, schöpfte den Verdacht, Ramona könnte früher im Zusammenhang mit Duschen traumatisiert worden sein. Als sie Ramona fragte, ob sie früher vielleicht einmal zu heiß geduscht worden wäre, meinte diese unsicher und etwas betreten, sie glaube, ihr Vater hätte sie einmal heiß abgeduscht. Von da an tauchte dieses Trauma jede Nacht in Alpträumen Ramonas auf. Nach einer Woche hielt sie es nicht mehr aus und bat Ute um Wiedererlebenssitzungen.
Die erste fand bei Nacht statt, als Ramona gerade aus einem Alptraum erwacht war, »ein richtiges Häuflein Elend«. Ute ließ sich den Traum erzählen, danach ermutigte sie Ramona, in diese Situation zurückzugehen und sie wiederzuerleben. »Es klappte sofort.« Ramona wiedererlebt zunächst eine Situation, in der sie sieben Jahre alt ist und der Vater mit dem Finger in ihre Scheide eindringt. Nach zwei Wiederholungen gelangt sie spontan zu einer Vergewaltigung mit Vaginalverkehr im neunten Lebensjahr. Ute läßt sie dann noch ein angenehmes Geschehen wiedererleben, um ihr das Einschlafen zu erleichtern: Ramona ist - ebenfalls im neunten Lebensjahr - mit ihrer Mutter auf dem Spielplatz, wo sie zusammen schaukeln. »Danach fühlt Ramona sich besser, sie strahlt und ist gutgelaunt, doch müde.« Zwölf Stunden später findet die zweite Sitzung statt. Jetzt taucht ein Geschehen auf, das mit Duschen zu tun hat: Ramona ist fünf Jahre alt, sie steht nachts in der Badewanne, der Vater duscht sie sehr heiß ab und spritzt ihr auch noch das heiße Wasser in die Scheide und in den Po. Schließlich kommt ihr die Mutter zu Hilfe und weist den Vater zurecht. Ramona durchlebt die Szene sechzehnmal, die Intensität des Erlebens nimmt erst zu, dann rasch ab. Die letzten Durchgänge dauern nur noch eine Minute. Dann geht Ramona spontan zu einer Szene im sechsten Lebensjahr, als der Vater »an ihr herumspielt«, bis die Mutter dazwischengeht.
Nach der Sitzung fühlt Ramona sich besser; sie hat seither keine Alpträume mehr. »Und das Tollste ist, daß sie nicht mehr stinkt;
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die Füße riechen jetzt ganz normal, gut oder schlecht (wenn sie sich nicht pflegt), wie bei anderen auch. Der penetrante Geruch ist weg, das Zimmer riecht ganz normal. Ramona geht jetzt auch mal freiwillig duschen und kann inzwischen etwas wärmeres Wasser vertragen.« (Zitate nach den Sitzungsprotokollen von Ute.)
Noch zwei Monate später war Ramona geruchsfrei, dann stellte sich ihr altes Leiden langsam wieder ein, wenn auch schwächer als früher. Weitere Sitzungen, in denen ähnliche Szenen aufgedeckt und bearbeitet wurden, führten zur anhaltenden Heilung. Und nun kann Ramona auch warm duschen.
Der Zusammenhang zwischen Ramonas frühen Erlebnissen und ihrer Wasserscheu ist offensichtlich, andererseits auch verständlich: »Duschen« ist durch Erlebnislernen verknüpft mit »zu heißem Wasser« und mit »sexueller Mißhandlung«; jedes Duschen löst unbewußtes Wiedererleben der beiden Erlebnisse aus, ist daher angstbesetzt und wird vermieden (ein Konditionierungseffekt).
1.2 Posttraumatische Belastungsstörung
»Das Hauptmerkmal dieser Störung ist die Ausbildung charakteristischer Symptome nach einem belastenden Ereignis, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt (d. h. außerhalb so allgemeiner Erfahrungen wie Trauer, chronische Krankheit, geschäftliche Verluste oder Ehekonflikte). Das belastende Ereignis, der Stressor, der dieses Syndrom hervorruft, wäre fast für jeden belastend und wird üblicherweise mit intensiver Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit erlebt. Zu den charakteristischen Symptomen gehören das Wiedererleben des traumatischen Ereignisses, Vermeidung von Stimuli, die mit dem Ereignis im Zusammenhang stehen, Erstarren der allgemeinen Reagibilität und ein erhöhtes Erregungsniveau. (...) Das traumatisierende Ereignis kann auf verschiedene Weise wiedererlebt werden. Häufig hat die Person wiederholte, sich aufdrängende Erinnerungen an das Ereignis oder wiederholte, stark belastende Träume, während derer das Ereignis noch einmal durchlebt wird. In seltenen Fällen kommt es zu dis-
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soziationsartigen Zuständen, die einige Sekunden, mehrere Stunden oder sogar Tage andauern können, bei denen das Ereignis teilweise wieder durchlebt wird und die Person sich so verhält, als ob sie das Ereignis gerade durchsteht.« (DSM-III-R) Zu den häufigsten Traumata gehören eine ernsthafte Bedrohung des eigenen Lebens oder der körperlichen Integrität (zum Beispiel durch Folterung), ernsthafte Bedrohung oder Schädigung der eigenen Kinder, des Ehepartners oder anderer naher Verwandter und Freunde, plötzlicher Verlust des eigenen Heims oder der Heimat, oder ansehen zu müssen, wie eine andere Person durch einen Unfall oder durch körperliche Gewalt ernsthaft verletzt wird oder stirbt. Lokomotivführer, deren Zug einen Suizidanten überfahren hat, (was einem Lokführer im Laufe seines Berufslebens durchschnittlich ein- oder zweimal widerfährt), leiden fast immer unter Posttraumatischer Belastungsstörung und können oft ihren Beruf längere Zeit nicht ausüben.
»Die Störung kann in jedem Alter auftreten, auch in der Kindheit. Die Symptome setzen normalerweise unmittelbar oder bald nach dem Trauma ein. Das Wiedererleben kann sich nach einer Latenzzeit von Monaten oder Jahren entwickeln, obwohl während dieser Zeit üblicherweise Vermeidungssymptome bestanden. (...) Einige Untersuchungen zeigen, daß früher bestehende psychopatholo-gische Störungen zur Entwicklung der Störung prädisponieren.« (A.a.O.) Dabei drängt sich die Frage auf, ob diese früheren psy-chopathologischen Störungen nicht bereits Folgen eines (nicht aufgedeckten) traumatischen Geschehens sind und ob nicht dieses Trauma der eigentliche prädisponierende Faktor ist. Nach unseren Erfahrungen tritt die Posttraumatische Belastungsstörung häufig als Folge von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit auf, und zwar meist im zweiten, dritten oder zu Beginn des vierten Lebensjahrzehnts, in Form von Alpträumen, nachdem bereits lange vorher Ängste, Vermeidungssymptome und andere Verhaltensauffälligkeiten bestanden haben, wozu vor allem Eßstörungen (Bulimie, Magersucht, Eßsucht) und andere autoaggressiven Verhaltensweisen gehören, wie Haareausreißen, Hautaufkratzen oder ernstgemeinte wie auch halbherzige Suizidversuche (Schneidedrang, das sogenannte »Schnippeln«). Das Fallbeispiel 16 zeigt,
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Schema 10: Wiedererleben als Symptom der
Posttraumatischen Belastungsstörung (I)
Vorausgegangen ist eine schwere Traumatisierung durch ein Erlebnis E 1, das im Erlebnisgedächtnis in einem Protokoll P 1 aufgezeichnet wurde. 1. Im Wachzustand (Vereinfachte Darstellung; siehe dazu auch Schema 2)
daß manchmal ein objektiv geringfügiger, aber subjektiv treffender Anlaß genügt, um Alpträume auszulösen.
Durch Begleitetes Wiedererleben konnte bisher in jedem behandelten Fall nachgewiesen werden, daß das traumatische Erlebnis mit großem Detailreichtum im Erlebnisgedächtnis aufgezeichnet worden war. Durch Auflösung des Protokolls konnte dann die Posttraumatische Belastungsstörung behoben werden. Damit ist -wie oben schon für Ängste, Phobien und Zwänge - nachgewiesen, daß Protokolle von traumatischen Erlebnissen zur Ursache psychischer Störungen werden können. Der dabei wirkende Mechanismus wurde früher schon hinreichend beschrieben.
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Schema 11: Wiedererleben als Symptom der
Posttraumatischen Belastungsstörung (II)
Vorausgegangen ist eine schwere Traumatisierung durch ein Erlebnis E 1, das im Erlebnisgedächtnis in einem Protokoll P 1 aufgezeichnet wurde. 2. Im Schlaf
Fallbeispiel 17: Ein Entbindungstrauma
Das folgende Beispiel zeigt die noch recht wenig auffällige Anfangsphase einer Posttraumatischen Belastungsstörung, deren eventuelle vollständige Ausprägung durch rechtzeitige Behandlung des auslösenden Traumas verhindert werden konnte. Das belastende Ereignis selbst lag sicherlich nicht »außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung« und war vielleicht kein hinreichender Grund zur Ausbildung der Posttraumatischen Belastungsstörung. Während der Behandlung wurde jedoch ein viel früheres, schweres Trauma aufgedeckt, und dieses war zweifellos der prädisponierende Faktor für jene.
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Wiltrud, 32 Jahre, Diplompsychologin, ist eine sehr sensible, aber alles andere als zimperliche Person. Vor vier Monaten hat sie bei der Geburt ihres ersten Kindes eine Art Klinikschock erlitten, der sie noch immer beschäftigt und der auch die Beziehung zu ihrer Tochter belastet. Während der Geburtsvorbereitung in der Klinik wurde manches über ihren Kopf hinweg mit ihr gemacht, was nicht mit ihr besprochen worden war; sie fragte immer wieder einmal nach und spürte, daß dies unerwünscht war, weil es den Betrieb störte. Sie äußerte Bedenken gegen manche Maßnahmen (Injektionsnadel prophylaktisch legen, rasieren, ...), setzte sich aber nicht durch. Sie eckte noch ein paarmal an und war mit der Behandlung insgesamt unzufrieden. Das Entscheidende aber geschieht während der Endphase der Geburt: Einem instinktiven Impuls folgend, will sie sich mit dem Oberkörper aufrichten, doch eine der Schwestern drückt ihr die Ellenbogen, auf die sie sich stützt, zur Seite, und sie »plumpst auf den Rücken«. Sie fühlt sich dabei »vergewaltigt«*. (Bitte beachten Sie die in diesem Zusammenhang etwas ungewöhnliche Wortwahl.) Nach vier Sitzungen ist das Protokoll des Traumas aufgelöst. Spontan wiedererlebt Wiltrud nun noch ein Geschehen aus ihrer Kindheit: Sie wird von einem Bäcker, der mit einem Verkaufswagen auf dem Lande umherfährt, hinter der großen Hecktür oral vergewaltigt (!). Wir bearbeiten dieses Trauma und noch einige geringfügigere, die aber alle mit körperlichen Übergriffen zu tun hatten, und beenden die Behandlung nach elf Sitzungen. Wiltrud ist von ihren Beschwerden befreit, das Verhältnis zu ihrer Tochter bessert sich in kurzer Zeit entscheidend.
1.3 Depression
Wohl jeder kennt Gefühle der Niedergeschlagenheit, der Traurigkeit und der Deprimiertheit über Widrigkeiten des Alltags - Gefühle die kommen und auch wieder vergehen. Von einem akuten Schub einer Depression sprechen Ärzte erst dann, wenn solche Gefühle mehr als zwei Wochen lang fast ununterbrochen anhalten und wenn zu den psychologischen Symptomen wie Nieder-
* Ein namhafter Ethnologe sagte kürzlich auf einem Kongreß (und belegte seine Ausführungen mit triftigen anatomischen Argumenten), die bei uns durchgängig praktizierte, den Frauen aufgenötigte Gebärstellung - nämlich die im Liegen - sei die zweitidiotischste, die überhaupt möglich sei - nach dem Kopfstand. Gynäkologen, die ich damit konfrontierte, zeigten sich von dieser Feststellung keineswegs überrascht, wandten aber sofort ein, daß nur in dieser Lage die vollständige Kontrolle des Vorgangs durch den Arzt und die Hebamme gewährleistet sei.
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geschlagenheit, Verlust oder drastische Verminderung der Konzentrationsfähigkeit, der Lebensfreude und des Selbstwertgefühls auch körperliche Veränderungen treten: Schlafstörungen, Appetit-und Gewichtsveränderungen (nach oben oder nach unten), Kraftlosigkeit und Müdigkeit.
Die Depression ist eine der häufigsten psychischen Störungen: im Laufe des Lebens erkranken etwa 15% der Bevölkerung daran. Charakteristisch ist, daß es den Betroffenen zwischen den akuten Schüben gutgeht. In der letzten Zeit hat die Häufigkeit der Depression in jüngeren Jahren gravierend zugenommen: sie ist heute bei der Gruppe der 14- bis 25jährigen zwei- bis dreimal so groß wie bei älteren Gruppen. (Bei Anhalten dieser Erscheinung wird in absehbarer Zeit etwa ein Drittel der Bevölkerung depressiv sein.)
Die Depression tritt bei Frauen doppelt so häufig auf wie bei Männern. Von Experten werden dafür zwei Gründe genannt: Die erhöhte Verletzlichkeit von Frauen, die auch mit dem weiblichen Zyklus zusammenhänge, und die soziale Rollenverteilung in unserer Gesellschaft, die verheirateten Frauen überwiegend die Aufgaben der Mutter und Hausfrau zuordnet. Merkwürdigerweise taucht in der (überwiegend von Männern geführten) Diskussion ein wichtiger Grund überhaupt nicht auf, nämlich die Tatsache, daß Frauen etwa doppelt so häufig Erfahrungen mit sexuellem Mißbrauch machen wie Männer (nach FINKELHOR ca. 20% gegenüber 10%), wobei es unstrittig ist, daß Depressionen zu den Folgen (häufig erst zu den Spätfolgen) sexuellen Mißbrauchs zählen (siehe dazu z. B. RENSEN).
Etwa 60% der schweren Depressionen sind Folgen anhaltender Angststörungen und Agoraphobien. Solche Depressionen gelten als besonders schwer zu behandeln. (Bemerkenswerterweise sprechen Ärzte bei Depressionen nicht von Heilung, sondern nur von Beseitigung der Symptome.)
Anfällig für Depressionen sind auch Menschen, die als Kinder in ihren Familien ein nur geringes Selbstwertgefühl vermittelt bekamen oder deren Eltern selbst an einer Depression litten. Sie können später belastende Erfahrungen schwerer verkraften als andere. Unerwähnt bleiben in diesem Zusammenhang meist die ungewollten, unerwünschten und nicht geliebten Kinder, bei denen die Ge-
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fahr einer Schädigung des Selbstwertgefühls doch besonders groß ist. Nach unseren Beobachtungen scheinen auch bestimmte unangenehme Erfahrungen des Ungeborenen spätere Depressionen zu prädisponieren. Dazu gehören erwogene, geplante oder gar versuchte Abtreibungen und der Verlust eines Zwillingsgeschwisters im Mutterleib. (Dies ist nach neueren Erkenntnissen ein gar nicht seltenes Ereignis: Mindestens jede achte Schwangerschaft beginnt mit zwei oder mehr Embryos, nur jede zehnte davon aber endet auch mit einer Mehrlingsgeburt. Kommt es zum Verlust eines Zwillings, bemerkt die Mutter davon oft nur eine Blutung. [Psychologie Heute, Januar 1996])
Alles in allem scheint die Depression zumindest zu einem hohen Prozentsatz keine originäre Störung zu sein, sondern die Folge einer anderen Störung oder eines traumatischen Erlebnisses. Beides führt letzten Endes auf im Erlebnisgedächtnis gespeicherte Erfahrungen, also auf traumatische Protokolle, die in all diesen Fällen als die eigentliche Ursache der Depression angesehen werden müssen.
1.4 Andere psychische Störungen
Abgesehen von einem Fall multipler Persönlichkeitsstörung im fünften Lebensjahr (siehe Fallbeispiel 9) und einigen Fällen vorübergehender psychischer Störungen in der Kindheit, die eindeutig auf schwere Mißhandlungen und deren Aufzeichnung im Erlebnisgedächtnis zurückgeführt werden konnten, haben wir aus verständlichen Gründen keine Erfahrung mit den eher klinischen Formen psychischer Störungen wie Schizophrenie, Paranoia und Psychosen. Es ist jedoch sehr wohl möglich, daß auch diese Störungen wenigstens zum Teil mit Aufzeichnungen im Erlebnisgedächtnis zusammenhängen. Insbesondere liegt die Vermutung nahe, daß psychotische Schübe die Folge von situativ ausgelöstem Wiedererleben eines schweren Traumas sein können, das selbst nicht bekannt ist.
Wenn es gelänge, solche Zusammenhänge zwischen schweren psychischen Störungen und Aufzeichnungen im Erlebnisgedächtnis aufzudecken, könnte dies zu ganz neuen Behandlungsansätzen führen.
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