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7  Der Kind-Erwachsene

 

 

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Es gibt einen häufig gesendeten Werbespot für Ivory-Seife, in dem zwei Frauen auftreten, die uns als Mutter und Tochter vorgestellt werden. Der Zuschauer soll nun raten, wer die Mutter und wer die Tochter ist — beide sehen aus wie Ende zwanzig und sind mehr oder weniger austauschbar. Mir erscheint dieser Werbefilm als ein ungewöhnlich direkter Beleg für die These, daß die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern nach und nach erlöschen. 

Auch viele andere Werbefilme enthalten unausgesprochen die gleiche Botschaft, aber der hier erwähnte Streifen proklamiert ganz ausdrücklich, es gelte in unserer Kultur heute als wünschens­wert, daß eine Mutter nicht älter aussieht als ihre Tochter oder daß eine Tochter nicht jünger aussieht als ihre Mutter.

Ob man daraus nun den Schluß zieht, daß die Kindheit verschwindet, oder aber den, daß das Erwachsen­enalter verschwindet, ist bloß eine Frage der Perspektive. Ohne klare Vorstellung davon, was es bedeutet, Erwachsener zu sein, kann es auch keine klare Vorstellung davon geben, was es bedeutet, Kind zu sein. Den Grund­gedanken dieses Buches — daß unsere elektronische Informationsumwelt die Kindheit zum Ver­schwinden bringt — kann man daher auch so formulieren: unsere elektronische Informations­umwelt bringt die Erwachsen­heit ebenfalls zum Verschwinden.

Ich habe mich bemüht darzustellen, daß die moderne Vorstellung von Erwachsenheit zum großen Teil ein Produkt der Drucker­presse ist.

Fast alle Merkmale, die wir mit dem Erwachsensein verbinden, werden (und wurden) durch die Anforderungen einer entfalteten Schriftkultur hervorgebracht oder weiterentwickelt: die Fähigkeit zur Selbst­beherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenz­iertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung.

In dem Maße, wie die elektronischen Medien die Schriftbeherrschung an die Peripherie der Kultur drängen und ihren Platz im Zentrum einnehmen, steigen andere Haltungen und Charakterzüge in der Wertschätzung, und eine reduzierte Definition von Erwachsenheit beginnt sich abzuzeichnen. Diese Definition schließt die Kinder nicht mehr aus, und so kommt es zu einer neuen Einteilung der menschlichen Lebensalter. In der Ära des Fernsehens gibt es drei Lebensstufen — am einen Ende das Säuglings­alter, am anderen Ende die Senilität und dazwischen das, was wir als den Kind-Erwachsenen bezeichnen können.

Der Kind-Erwachsene ist ein Mensch, dessen intellektuelle und emotionale Fähigkeiten sich im Laufe seiner Geschichte nicht entfaltet haben und sich insbesondere von denen der Kinder nicht sonderlich abheben. Solche Menschen hat es immer gegeben, doch die Kulturen unterscheiden sich darin, wie weit sie die Entwicklung einer solchen Charakterstruktur begünstigen oder hemmen. Im Mittelalter war der Kind-Erwachsene gleichsam der Regelfall, vor allem, weil es in einer Welt ohne Literalität, ohne Schulen und civilite keiner besonderen Disziplin und Unterweisung bedurfte, um erwachsen zu werden. 

Aus ähnlichen Gründen wird der Kind-Erwachsene auch in unserer Kultur wieder zum Regelfall. Daß dies tatsächlich geschieht, möchte ich im nächsten Kapitel nachweisen; zunächst jedoch will ich darstellen, wie und warum es geschieht.

Eine knappe Antwort auf diese Frage ist in dem bereits Gesagten enthalten. Indem sich der symbolische Schauplatz, auf dem die menschliche Entwicklung vor sich geht, seiner Form und seinem Inhalt nach verändert, und zwar insbesondere in dem Sinne, daß es nicht mehr erforderlich ist, zwischen der Wahrnehmungsfähigkeit von Erwachsenen und der von Kindern zu differenzieren, verschmelzen diese beiden Lebensalter unweigerlich zu einem. So lautet die Theorie. Sie soll im folgenden erläutert werden.

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Wenn wir untersuchen wollen, wie der moderne Kind-Erwachsene entsteht, bieten sich uns mehrere Anknüpfungspunkte, doch der interessanteste ist unstreitig die Frage, was aus dem politischen Bewußtsein und dem politischen Urteilsvermögen in einer Gesellschaft wird, in der dem Fernsehen die Hauptlast bei der Vermittlung politischer Informationen zufällt. Bevor es das Fernsehen gab, ließen sich Umfang und Art der Informationen über Politiker, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, relativ leicht kontrollieren. Heute ist dies so schwierig geworden, daß jene, die ein politisches Amt anstreben, »Image-Manager«  benötigen, um zu steuern, was das Publikum erfahren soll. Ein wichtiger Grund für diesen Wandel ist schon die bloße Menge der Informationen, die das Fernsehen verbreitet. Aber am wichtigsten ist die Form, in der die Informationen verbreitet werden.

Wie jeder Mensch, so liefern auch unsere Politiker Informationen nicht allein durch gesprochene Sprache, sondern ebenso durch nicht-verbale Mittel, beispielsweise ihre »Ausstrahlung«. Wie sie stehen und lächeln, wohin sie ihren Blick richten, wie sie schwitzen oder Zorn zeigen — all das sagt über sie genausoviel, wie sie selbst uns sagen könnten. Natürlich ist die eigene »Ausstrahlung« viel schwerer zu kontrollieren als das, was man bewußt mitteilt —  weshalb denn auch Richard Nixon das Image eines Gebrauchtwagen­händlers so wenig abschütteln konnte wie Gerald Ford das eines Einfaltspinsels.

Das Fernsehen ist in großem Umfang für diese Wahrnehmungsraster verantwortlich, weil es gerade das, was die lebenden »Images« auf dem Bildschirm »ausstrahlen«, genau sichtbar macht. Es ist falsch, wenn wir in Amerika weiterhin den Begriff televison audience, Fernseh-Hörerschaft, verwenden, ein Terminus, der vom Radio übernommen wurde. 

Auch dann, wenn das Bild relativ unbewegt ist, wie etwa bei einer Ansprache des Präsidenten, steht es im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Zuschauers, verlangt danach, gedeutet zu werden, und tritt in eine scharfe Konkurrenz zur gesprochenen Sprache. Wo sich das Fernsehbild, wie es normalerweise der Fall ist, ständig verändert, wird der Zuschauer gänzlich von nicht-verbalen Informationen in Anspruch genommen, wenn nicht gar überwältigt. Das Fernsehen lenkt, um es einfach (und, wie ich fürchte, zum wiederholten Male) zu sagen, die Aufmerksamkeit nicht auf eine Abfolge abstrakter, distanzierter, komplexer Gedanken, sondern auf konkrete, anschauliche, festkonturierte Personen.

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Hierdurch nun hat sich die symbolische Form politischer Informationen radikal gewandelt. Im Fernseh­zeitalter besteht die politische Urteilsbildung nicht mehr aus der intellektuellen Überprüfung bestimmter Sätze und Argumente, sondern aus der intuitiven, emotionalen Reaktion auf die Totalität eines Bildes. Im Fernsehzeitalter geht es nicht so sehr darum, ob die Leute mit den Ansichten der Politiker übereinstimmen oder anderer Meinung sind, sondern darum, ob ihnen die Politiker sympathisch sind oder nicht. Das Fernsehen führt zu einer Neubestimmung dessen, was man unter einem »vernünftigen politischen Urteil« versteht, indem es aus dieser vormals intellektuellen Anstrengung und Erfahrung eine ästhetische macht. 

Ein Zehnjähriger, der kaum schreiben und lesen kann, vermag die Informationen, die ein politischer Kandidat »ausstrahlt«, ebenso leicht und rasch zu deuten oder wenigstens zu registrieren wie ein gut informierter Fünfzigjähriger; wahrscheinlich sogar noch besser und schärfer. Aber wie dem auch sei, mit Sprache und Vernunft hat das alles kaum etwas zu tun.

Zu diesem Wandel des politischen Urteilsvermögens kam es nicht erst mit dem Fernsehen. Er zeichnete sich schon im 19. Jahr­hundert als Nebenwirkung der optischen Revolution ab. Das Fernsehen allerdings hat diese Entwicklung so sehr beschleunigt, daß man mit Recht behaupten kann, wir seien nun auf eine qualitativ andere Ebene des politischen Bewußtseins abgestiegen. Dieser Abstieg ist vor allem deshalb aufschlußreich, weil sich an ihm zeigen läßt, wie die einem alten Medium innewohnenden Tendenzen mit denen eines neuen Mediums in Konflikt geraten. 

Als die Verfassung der Vereinigten Staaten zu Papier gebracht wurde, gingen James Madison und seine Mitarbeiter davon aus, daß ein reifer Staatsbürger notwendigerweise auch über ein ziemlich hohes Maß an Literalität und die damit zusammenhängenden analytischen Fähigkeiten verfügte. Aus diesem Grund waren die jungen Menschen, zumeist definiert als diejenigen unter einundzwanzig Jahren, zum Wahlvorgang nicht zugelassen, denn man nahm an, daß die Entfaltung einer differenzierten Literalität ein langwieriges Training erforderte. Diese Annahmen trafen im 18. Jahrhundert auf eine um das gedruckte Wort organisierte Gesellschaft sehr genau zu, in der sich der politische Diskurs vorwiegend in Büchern, Zeitungen, Flugschriften und einer vom Buch stark beeinflußten Redekunst vollzog.

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Die Politik Amerikas war, wie uns Tocqueville mitteilt, die Politik des gedruckten Worts. Auch andere Grundannahmen haben die Entwicklung des politischen Systems geprägt (etwa solche über Eigentum und Rasse), aber keine war tiefer verwurzelt als die, daß sich Erwachsene und Kinder intellektuell voneinander unterscheiden, daß Erwachsene über Mittel verfügen, um politische Urteile zu fällen, die Jugendlichen nicht zu Gebote stehen. Vielleicht geht es zu weit, wenn man mit George Counts behauptet, die elektronischen Medien hätten die Bill of Rights außer Kraft gesetzt, aber es ist jedenfalls offensichtlich, daß sich das politische Urteilsvermögen im Zeitalter des Fernsehens nicht auf die komplexen Fähigkeiten der Schriftbeherrschung stützt, ja diese nicht einmal voraussetzt.

Wie viele wahlberechtigte Amerikaner haben jemals etwas von dem gelesen, was Ronald Reagan geschrieben hat? Oder was die geschrieben haben, die ihm Ideen zuschanzen? Wie viele waren imstande, den Argumenten zu folgen, die in den Fernsehdiskussionen vor den Präsidentschaftswahlen vorgetragen wurden? Wie viele waren der Ansicht, daß Ronald Reagan Argumente vorbrachte, die Jimmy Carter oder John Anderson nicht widerlegen konnten?

Man braucht diese Fragen nur zu stellen, um sogleich zu erkennen, wie irrelevant sie sind und wie belanglos ideologische Grundsätze, Schlüssigkeit und Überzeugungskraft von Argumenten oder Vertrautheit mit Sprache bei der Beurteilung eines Fernsehbildes sind. Wenn man sagen kann, daß die Ära Andrew Jacksons, der von 1829 bis 1837 Präsident der Vereinigten Staaten war, die Politik der Aristokratie entrissen und in die Hände der Massen gelegt hat, dann kann man mit gleichem Recht behaupten, daß die Ära des Fernsehens dem erwachsenen Verstand die Politik überhaupt entrissen hat. Wie Jackson den gesellschaftlichen Schauplatz der Politik veränderte, so hat das Fernsehen den symbolischen Schauplatz verändert, auf dem Politik ausgedrückt und verstanden wird. Obwohl die Zeitungen dies aus einem berechtigten Eigeninteresse heraus bestreiten, weiß doch jedermann, daß es sich genau so verhält, zumal jene, die auf ein politisches Amt aus sind, und die, die man angeheuert hat, um ihnen zu zeigen, wie man es bekommt.

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Wem diese Ausführungen übertrieben scheinen, der schaue sich einmal an, welche Art von Informationen das Fernsehen vermittelt. Wenn wir uns ein Bild von der Beschaffenheit des politischen Bewußtseins machen wollen, müssen wir untersuchen, wie die Informationen beschaffen sind, die dem Bürger zugänglich gemacht werden. Es ist nachgewiesen, daß die meisten Amerikaner ihre Informationen über die Welt hauptsächlich aus dem Fernsehen beziehen, und zwar zu einem erheblichen Teil aus jener Gattung von Sendungen, die man als television news show, als Fernseh­nachrichten-Show bezeichnet. Was erfahren sie hier? Welcher Art sind die Informationen, die sie empfangen? Welche Einsichten und Erkenntnisse werden ihnen hier zuteil? In welchem Sinne, wenn überhaupt, wird das Publikum hier unterrichtet? In welchem Maße ist die Nachrichten-Show auf den Verstand des Erwachsenen zugeschnitten?

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Betrachten wir zunächst den Aufbau einer Fernsehnachrichten-Show, so wie man sie allabendlich in New York, Chicago oder San Francisco verfolgen kann. Am Beginn und am Ende dieser Sendungen steht Musik; auch bei jeder Unterbrechung für Werbespots erklingt Musik. Welchem Zweck dient sie? Dem gleichen wie im Theater oder im Film: sie soll beim Publikum Gefühle erregen, Spannung erzeugen, Erwartungen wecken. Aber zwischen einer Filmmusik und einer Fernsehnachrichten-Musik besteht ein wichtiger funktionaler Unterschied — die Filmmusik variiert entsprechend den Emotionen, die der jeweilige Inhalt einer Szene oder Konstellation hervorruft. Es gibt bedrohliche Musik, fröhliche Musik, romantische Musik und dergleichen mehr. In der Fernsehnachrichten-Show aber wird stets die gleiche Musik gespielt, ob die Hauptstory nun von der Invasion in Afghanistan, der Verabschiedung des Gemeindeetats oder einem spektakulären Footballspiel handelt. 

Indem die Nachrichten-Show allabendlich die gleiche Musik an den gleichen Stellen zur Untermalung unterschiedlicher Ereignisse einsetzt, vermittelt sie bereits eine Botschaft: daß es zwischen Gestern und Heute keine bedeutsamen Unterschiede gibt, daß die gleichen Gefühle, die gestern geweckt wurden, auch heute passen, und daß die Ereignisse des Tages jedenfalls keinen spezifischen Sinn, den es zu ergründen gälte, haben.

Diese Botschaft wird auch durch verschiedene andere Momente vermittelt, darunter Schönheit, Tempo und Zusammen­hanglosigkeit.

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Zur Schönheit gibt es nicht viel zu sagen, man braucht nur festzuhalten, daß fast alle Nachrichtensprecher und -sprecherinnen jung und attraktiv sind. Natürlich tendiert das Fernsehen zu einer unwiderstehlichen Bildsprache, und in fast allen Fällen gewinnen daher die Reize des menschlichen Antlitzes die Oberhand über die Möglichkeiten der menschlichen Stimme. Es kommt nicht darauf an, daß ein Nachrichtensprecher die Bedeutung dessen, was er mitteilt, erfaßt; viele von ihnen sind nicht einmal imstande, eine Mimik zu produzieren, die zu den von ihnen gesprochenen Worten paßt. Und einige haben diesen Versuch längst aufgegeben. Wichtig ist, daß den Zuschauern ihre Gesichter gefallen. Um es ganz plump zu sagen: im Fernsehen der Vereinigten Staaten hätte eine sechzigjährige Frau als Nachrichtensprecherin keine Chance. Die Zuschauer würden sich von ihrem Gesicht nicht »fesseln« lassen. Denn auf den Sprecher oder die Sprecherin kommt es an, nicht auf das, was gesprochen wird.

Man nimmt auch an, daß das Publikum von Vielfalt angezogen, von Komplexität dagegen abgestoßen wird, und deshalb werden im Laufe einer typischen 30-Minuten-Show zwischen 15 und 20 verschiedene »Storys« gebracht. Wenn man die Zeit für Werbespots, Ankündigungen der nächsten Storys und die Gags der Nachrichtensprecher abrechnet, ergeben sich durchschnittlich 60 Sekunden für eine Story.

In einer zufällig herausgegriffenen WCBS-Show sah das an einem Abend folgendermaßen aus: 264 Sekunden für eine Story über die Bestechlichkeit von Politikern; 37 Sekunden für eine damit zusammenhängende Story über Senator Larry Pressler; 40 Sekunden über den Iran; 22 Sekunden über die Aeroflot; 28 Sekunden über ein Massaker in Afghanistan; 25 Sekunden über Muhammad Ali; 53 Sekunden über eine Gefängnisrevolte in New Mexico; 160 Sekunden über Proteste gegen den Film Cruising; 18 Sekunden über die Besitzer der Diskothek »Studio 54«; 18 Sekunden über Suzanne Somers; 16 Sekunden über die Rockettes; 174 Sekunden für eine »Hintergrund«-Studie über Depression (Teil I); 22 Sekunden über Lake Placid; 166 Sekunden für das Basketballspiel St. John's-Louisville; 120 Sekunden für das Wetter; 100 Sekunden für eine Filmkritik.

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Diese Art, »Nachrichten« zu definieren, hat zwei bedeutsame Auswirkungen. Erstens macht sie es schwierig, sich über ein Ereignis Gedanken zu machen; zweitens macht sie es schwierig, gegenüber einem Ereignis Gefühle zu entwickeln. Sich Gedanken machen — das würde bedeuten, Fragen zu stellen: Was bedeutet dieses Ereignis? Was war seine Vorgeschichte? Wo liegen die Ursachen? Wie fügt es sich in das, was ich über die Welt weiß?

Mit »Gefühle entwickeln« meine ich die normalen menschlichen Reaktionen auf Mord, Vergewaltigung, Feuer, Bestechung und die allgemeine Selbstzerstörung. Bei einer Untersuchung, die ich vor einiger Zeit durchgeführt habe, konnte ich nur eine einzige Story ermitteln, auf die die Zuschauer mit einem ihnen erinnerlichen Gefühl von Abscheu und Schrecken reagiert hatten: eine Mutter hatte ihr von einem Dämon »besessenes« Baby verbrannt. 

Ich glaube, es steckt ein tieferer Sinn darin, daß die Nachrichten-Shows häufig 30 bis 45 Sekunden mit Meinungs- und Gefühlsäußerungen von »Leuten auf der Straße« bringen, gleichsam als wollten sie die Zuschauer daran erinnern, daß auch sie im Hinblick auf die einzelnen Storys eigentlich Gefühle und Meinungen entwickeln müßten. Ich sehe darin einen Ausdruck von Skrupeln der Produzenten, die sehr genau wissen, daß ihre Shows wenig Raum für solche Reaktionen lassen. In der hier untersuchten WCBS-Show wurden in bezug auf das Massaker in Afghanistan und den Gefängnisaufstand in New Mexico keine Meinungsäußerungen eingeholt. Aber 35 Sekunden standen zur Verfügung, um zu zeigen, was die »Leute auf der Straße« von den Bestechungs-vorwürfen gegen Senator Harrison Williams aus New Jersey hielten. Die Leute, die sich äußern konnten, sagten ausnahmslos, sie fänden es »schrecklich«.

Entscheidend ist natürlich, daß Ereignisse im Fernsehen jeglichen historischen oder sonstigen Zusammen­hangs beraubt sind und derartig rasch und zerstückelt aufeinander folgen, daß sie über unser Bewußtsein hinwegfluten — das Fernsehen als Narkotikum, das den Verstand ebenso einschläfert wie die Wahrnehmungs­fähigkeit. Gewiß, die Musik, die Vorankündigungen (»Und gleich nachher ein Gefangenen­aufstand in New Mexico ...«) und die Interaktionen der Nachrichtensprecher (»Was ist denn in New Jersey los, Jane?«) erzeugen eine Atmosphäre der Erregung, der Spannung, die gelöst werden muß. Aber das ist »Mache«, denn das, was gezeigt wird, ist so komprimiert und hat es so eilig — schon zappelt hinter der Bühne die nächste Story, ganz versessen darauf, ihre 37 Sekunden hinter sich zu bringen —, daß man die Verbindung zwischen der versprochenen Spannung und ihrer Einlösung kaum im Gedächtnis behalten kann.

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Mit anderen Worten, die Erregung, die eine Fernsehnachrichten-Show auslöst, ist vor allem eine Funktion ihres Tempos, nicht ihrer Substanz, d.h. Erregung über die Bewegung von Informationen, nicht über ihre Bedeutung.

Auch wenn es schwierig ist, angesichts der Nachrichten Gedanken und Gefühle zu entwickeln, darf man doch nicht annehmen, es würde vom Zuschauer gar nicht erwartet, daß er bestimmte Gefühle und Meinungen oder eine bestimmte Vorstellung von der Welt hätte. Wie ich schon gesagt habe, geht diese Vorstellung davon aus, daß die Ereignisse keine tieferen Ursachen und keine Folgen haben und deshalb ohne spezifischen Wert und bedeutungslos sind. Man muß bedenken, daß die Fernseh­nachrichten-Shows geradezu surrealistisch sind — zusammenhanglos bis zu dem Punkt, wo sich nichts mehr auf irgend etwas anderes beziehen läßt. 

Worin besteht etwa der Zusammenhang zwischen der Aeroflot und Suzanne Somers? 

Zwischen dem »Studio 54« und dem Iran? Zwischen Cruising und einem Massaker in Afghanistan? Zwischen bestechlichen Politikern und den Rockettes? Wird irgendeiner dieser Vorfälle weiterverfolgt? Waren sie auch gestern schon aktuell? Warum ist der Iran 40 Sekunden wert und das St.-John's-Spiel 166?

Wie gelangt man zu der Entscheidung, daß für Suzanne Somers weniger Zeit zur Verfügung stehen soll als für Muhammad Ali? Und in welchem Verhältnis stehen schließlich die Werbespots zu den anderen Storys? In der WCBS-Show gab es 21 Werbespots, die insgesamt ungefähr zehn Minuten dauerten. Drei von ihnen gingen der Bestechungsstory voran, vier der Gefängnisrevolte in New Mexico, drei dem Spezialreport (Teil I) über Depression. Wie man sich denken kann, waren die Werbefilme optimistisch, versprachen Zufriedenheit, Sicherheit und, in zwei Fällen, erotisches Vergnügen.

Was für ein Bild soll man sich angesichts dieses Neben- und Durcheinanders von der Wirklichkeit machen? Wie soll man die Wichtigkeit von Ereignissen abschätzen? Welche Prinzipien menschlichen Verhaltens werden hier vorgeführt und nach welchen moralischen Maßstäben werden sie beurteilt? Auf all diese Fragen hat die Fernsehnachrichten-Show eine einzige, gleichbleibende Antwort: Ein Sinn für Proportionen läßt sich in der Welt nicht erkennen.

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Jedes Ereignis steht für sich; Vergangenheit und Geschichte sind belanglos; es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, ein Faktum höher zu bewerten als ein anderes. Kurz, die Nachrichten korrespondieren nicht den Rationalitätsansprüchen eines Erwachsenen.

In dem Weltbild, das die Nachrichten zur Schau stellen, gibt es nicht einmal Empfindlichkeit für Widersprüche. Sonst würde man uns nicht den Wohlstand Amerikas feiernde Werbefilme vorführen und dann Bilder von der Verzweiflung und Erniedrigung von Gefängnisinsassen in New Mexico nachreichen. Zumindest ein Augenzwinkern des Nachrichtensprechers hätte man erwarten dürfen, aber der achtete gar nicht auf das, was er sagte.

Eine Fernsehnachrichten-Show ist also genau das, was ihr Name besagt. Eine Show bietet Unterhaltung, setzt eine Kunst- und Phantasiewelt in Szene und produziert ihre Effekte so, daß das Publikum nachher lachend oder weinend oder verblüfft dasitzt. Darauf hat es die Nachrichten-Show abgesehen, und es ist bloßes Marktgeschrei, zu behaupten — wie es die Produzenten anläßlich von Fernsehpreisverleihungen gern tun —, Sinn und Zweck solcher Shows sei es, das Publikum zu unterrichten. Der Effekt ist vielmehr, daß die Idee des homo politicus trivialisiert und die Differenz zwischen erwachsenengemäßem und kindgemäßem Begreifen getilgt werden.

Diese Wirkung geht weit über den politischen Bereich hinaus. 

Eines der Kennzeichen erwachsener Wahrnehmungs­fähigkeit ist z.B. das Vermögen, zwischen der Welt des Handels und der Geschäfte einerseits und der spirituellen Welt andererseits zu unterscheiden. Und in den meisten Kulturen ist diese Unterscheidung klar erkennbar. Im Fernsehzeitalter jedoch ist an ihre Stelle ein Chaos getreten — in erheblichem Maße bedingt durch jene allgegenwärtige Kommunikationsform, die wir als Fernseh­werbung bezeichnen. Wie die Nachrichten-Show das politische Urteilsvermögen verändert, so verändert die Fernseh­werbung die Konsumentenhaltung und die Religiosität.

Man hat so viel über die Fernsehreklame und ihre korrumpierenden Auswirkungen und Grundannahmen geschrieben, daß sich darüber kaum noch etwas Neues sagen läßt. Aber einige Sachverhalte sind nicht genügend beachtet worden. Ich meine z.B. den Umstand, daß sie zur Schwächung erwachsener Haltungen beiträgt.

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Nichts in der Fernsehreklame gebietet, zwischen Erwachsenen und Kindern zu unterscheiden. Fernsehwerbe­spots machen keine Aussagen, sie überreden nicht; sie verwenden Bilder. Soweit Sprache gebraucht wird, ist sie hoch emotional. Deshalb sind Werbespots einer logischen Analyse nicht zugänglich, sie lassen sich nicht widerlegen und verlangen selbstverständlich auch keine differenzierte Bewertung durch einen Erwachsenen. 

Seit Beginn der optischen Revolution hat man den homo oeconomicus stets für ein irrationales Wesen gehalten, dem man mit Argumenten und verständigen Ausführungen nicht kommen kann. Im Fernsehen freilich wird diese Annahme so sehr ins Extrem getrieben, daß man der dort inszenierten Werbung fast den Vorwurf machen muß, sie hebe die gesamte kapitalistische Ideologie aus den Angeln. Die Fernsehwerbung hat nämlich eine der Grundüberzeugungen des Merkantilismus aufgegeben, der zufolge Käufer und Verkäufer fähig sind, aufgrund rationaler Erwägung ihrer Eigeninteressen ein Geschäft miteinander abzuschließen.

Diese Überzeugung ist im Kapitalismus so tief verankert, daß unsere Gesetze den kommerziellen Transaktionen von Kindern sehr enge Grenzen ziehen. Die kapitalistische Ideologie, die selbst stark durch den Aufstieg der Literalität beeinflußt wurde, nimmt an, daß Kinder nicht über die analytischen Fähigkeiten verfügen, einen Kaufgegenstand zu bewerten, und daß Kinder noch nicht imstande sind, rationale Transaktionen zu tätigen. Der Werbespot im Fernsehen aber stellt die Produkte nicht in einer Weise vor, die die analytischen Fähigkeiten des Zuschauers herausfordert oder das, was wir gemeinhin als rationales, reifes Urteil bezeichnen. Dem Verbraucher werden keine Fakten dargeboten, sondern Idole, für die sich Erwachsene und Kinder gleichermaßen begeistern können, ohne sich um Logik und Nachprüfung bemühen zu müssen. 

Es ist daher irreführend, wenn man den Fernsehwerbefilm in Amerika als commercial bezeichnet, denn diese commercials verschmähen gerade die Rhetorik von Geschäft und Kommerz und halten sich vorwiegend an die Symbole und die Rhetorik der Religion. Ich behaupte sogar, daß man die Werbespots im Fernsehen als eine Form von religiöser Literatur interpretieren kann. Nicht, daß jeder Werbespot einen religiösen Inhalt hätte! Doch so wie der Pfarrer in der Kirche die Aufmerksamkeit seiner Gemeinde zuweilen auf außerkirchliche Belange lenkt, so gibt es auch Reklamespots, die rein »weltlicher Natur« sind.

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Jemand hat etwas zu verkaufen; man erfährt, worum es sich handelt, wo man es bekommen kann und was es kostet. Eine solche Werbung mag schreierisch und aggressiv sein, aber sie propagiert keine Doktrin und beschwört keine Theologie.

Die Mehrzahl der wichtigen Werbespots im Fernsehen nimmt jedoch die Form eines religiösen, auf einer kohärenten Theologie errichteten Gleichnisses an. Wie alle religiösen Gleichnisse entfalten sie eine Vorstellung von Sünde, geben Hinweise auf den Weg der Erlösung und eröffnen eine Vision des Himmelreiches. Außerdem deuten sie an, wo die Wurzeln allen Übels liegen und worin die Pflichten des Tugendhaften bestehen.

Betrachten wir etwa das Gleichnis vom Kragenrand. Innerhalb der Fernsehtheologie nimmt es etwa die Stelle ein, die dem Gleichnis vom verlorenen Sohn in der Bibel zukommt, nämlich die eines Archetyps, der die meisten formalen und inhaltlichen Elemente umfaßt, die für seine Gattung typisch sind. Das Gleichnis vom Kragenrand ist kurz, fordert vom Zuschauer nicht mehr als 30 Sekunden Zeit und Aufmerksamkeit. Hierfür gibt es drei naheliegende Gründe. Erstens, es ist kostspielig, im Fernsehen zu predigen. Zweitens, die Aufmerksamkeitsspanne der Gemeinde ist kurz und die Gemeinde anfällig für anderweitige Zerstreuungen. Und drittens, ein Gleichnis braucht nicht ausführlich zu sein; die Tradition schreibt vor, daß seine Erzählstruktur komprimiert, seine Symbole unzweideutig und seine Erklärung bündig sein sollen.

Tatsächlich folgt die Erzählstruktur des Gleichnisses vom Kragenrand den gewohnten Bahnen der Tradition. Die Geschichte hat einen Anfang, ein Mittelstück und ein Ende. 

Hier eine kurze Beschreibung für die, die sie nicht kennen.

 

Wir sehen ein Ehepaar in zwangloser Umgebung — einem Restaurant. Die beiden sind offenkundig gern zusammen und fühlen sich sichtlich wohl. Eine Kellnerin nähert sich ihrem Tisch und bemerkt, daß der Mann einen schmutzigen Kragenrand hat; unverwandt blickt sie nach dem Kragen und verkündet dann mit einem höhnischen, von Verachtung zeugenden Grinsen allen in Hörweite Sitzenden, worin das Vergehen des Mannes besteht. Der Mann ist gedemütigt und wirft seiner Frau einen vorwurfs­vollen Blick zu. Sie blickt jetzt drein, als ekelte sie sich vor sich selbst, eine Miene, in die sich noch ein Anflug von Selbstmitleid mischt. Das ist der Anfang des Gleichnisses: die Entstehung eines Problems. 

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Im weiteren Verlauf sieht man, wie die Frau zu Hause ein Waschmittel benutzt, das den Schmutz an jedem Männerhemdkragen unfehlbar beseitigt. Stolz zeigt sie ihrem Mann, was sie gerade tut, und er verzeiht ihr mit einem bewundernden Lächeln. Dies ist das Mittelstück des Gleichnisses: die Lösung des Problems. Schließlich sehen wir das Paar noch einmal in einem Restaurant, diesmal jedoch kann ihnen der prüfende, ächtende Blick der Kellnerin nichts anhaben. Hier endet das Gleichnis: mit der Moral, der Erklärung, der Exegese. Wir brauchen daraus nur noch die richtigen Schlüsse zu ziehen.

 

Bei den Reklamegleichnissen des Fernsehens liegt die Hauptwurzel allen Übels in einer naiven, unwissenden Einstellung zur Technik, in der Ahnungslosigkeit gegenüber den wohltätigen Errungenschaften des industriellen Fortschritts. Sie ist die Hauptquelle allen Leids, aller Beschämung, aller Zwietracht im Leben. Und wie das Gleichnis vom Kragenrand klar erkennen läßt, können einen die Folgen dieser Ahnungslosigkeit jederzeit ereilen, ohne Vorwarnung und mit der ganzen Kraft ihrer zerstörerischen Wirkung.

Diese unberechenbaren Auswirkungen technischer Ahnungslosigkeit und ihre Kraft bilden ein wichtiges Element der Reklametheologie des Fernsehens, denn sie gemahnen die Gemeinde ständig an die eigene Verletzbarkeit. Nie darf man sich der Selbstzufriedenheit oder gar dem Selbstlob überlassen. Der Versuch, ohne die Wohltaten der Technik zu leben, birgt Gefahren in sich, denn für den Wachsamen ist die in diesem Versuch sich bekundende Ahnungslosigkeit jederzeit schmerzlich sichtbar. Dieser Wachsame kann in Gestalt einer Kellnerin, eines Freundes, einer Nachbarin auftreten oder gar als Gespenstererscheinung, sozusagen als heiliger Geist, der wie aus dem Nichts plötzlich in der Küche steht und einem die eigene verbohrte Ahnungslosigkeit aufdeckt.

Die Idee der technischen Ahnungslosigkeit muß hier natürlich sehr weit gefaßt werden und bezieht sich nicht nur auf Waschmittel, Tabletten, Monatsbinden, Autos, Salben und Nahrungsmittel, sondern auch auf technische Einrichtungen wie Sparkassen oder Verkehrsmittel.

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So kann es z.B. geschehen, daß man in den Ferien zufällig den Nachbarn über den Weg läuft (in TV-Reklame­gleichnissen immer ein Zeichen von Gefahr) und erfährt, daß sie ihr Geld bei einer bestimmten Bank angelegt haben, deren Zinssätze man nicht kannte. Das ist natürlich eine moralische Katastrophe, man steht da wie ein Dummkopf, und der Urlaub ist verdorben.

Aber wie wir am Gleichnis vom Kragenrand schon gesehen haben, gibt es einen Weg der Erlösung. Wenn man ihn beschreitet, muß man allerdings zwei Hindernisse überwinden. Erstens muß man sich den Ratschlägen und der Kritik jener öffnen, denen bereits größere Erleuchtung zuteil geworden ist. Im Gleichnis vom Kragenrand kommt der Kellnerin die Funktion des Ratgebers zu. obwohl sie natürlich sehr hart, ja fast unerbittlich auftritt. In anderen Gleichnissen ist der Ratgeber eher sarkastisch als streng. In den meisten aber, etwa in allen Werbespots für Binden, Mundwasser, Schampun und Aspirin, erscheinen die Berater freundlich und sympathisch und sind sich ihrer eigenen Verwundbarkeit in anderen Angelegenheiten durchaus bewußt.

Vom Ahnungslosen wird nun nichts weiter verlangt, als daß er die Unterweisung in dem Geiste annimmt, in dem sie ihm gewährt wird. Damit wird der Gemeinde eine doppelte Lektion erteilt: man soll die Ratschläge nicht nur bereitwillig akzeptieren, man soll sie auch ebenso bereitwillig austeilen. Das Ratgeben ist sozusagen die oberste Pflicht der Frommen. Und die ideale Religionsgemeinschaft könnte man sich als eine Gruppe von Dutzenden von Leuten vorstellen, die untereinander fortwährend Ratschläge über die neuesten technischen Errungenschaften austauschen. Das zweite Hindernis auf dem Weg der Erlösung bildet die eigene Bereitschaft, dem empfangenen Rat entsprechend zu handeln. Wie in der traditionellen christlichen Theologie genügt es nicht, das Evangelium zu hören oder es zu verkünden. Das Verstehen der Botschaft muß in guten Werken zum Ausdruck kommen, also in Handlungen. Im Gleichnis vom Kragenrand handelt die Ehefrau, die zuvor so jämmerlich dastand, sofort, und das Gleichnis schließt damit, daß es der Gemeinde die Wirkung ihres Tuns vorführt.

Im Gleichnis von der Person mit dem Mundgeruch, das in mehreren Versionen umläuft, sehen wir eine Frau, die von den technischen Möglichkeiten zur Behebung ihrer Reizlosigkeit nichts ahnt und nun von einer hilfreichen Zimmergenossin aufgeklärt wird.

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Die Frau nimmt den Rat unverzüglich an, mit dem Ergebnis, das uns in den letzten fünf Sekunden gezeigt wird: Flitterwochen auf Hawaii. Im Gleichnis vom dummen Geldanleger wird uns ein Mann vorgeführt, der nicht weiß, wie er sein Geld zum Geldverdienen veranlassen kann. Nachdem man ihn aufgeklärt hat, handelt er rasch und wird am Schluß des Gleichnisses mit einem Auto oder einem Trip nach Hawaii oder etwas anderem, das Seelenfrieden zu stiften vermag, belohnt.

Wegen der Kompaktheit der Reklamegleichnisse muß der Schluß, also die letzten fünf Sekunden, einen doppelten Zweck erfüllen. Zunächst einmal liefert er die Moral der Geschichte — wenn man in dieser Weise handelt, wird jenes die Belohnung sein. Aber indem uns das Ergebnis gezeigt wird, führt man uns auch ein Bild des Himmels vor Augen. Gelegentlich dürfen wir auch einen Blick in die Hölle werfen, etwa im Gleichnis von den verlorenen Travellerschecks: technisch Ahnungslose, die auf ewig dazu verdammt sind, in der Fremde, fern der Heimat herumzuirren. Aber häufig wird uns ein Himmel gezeigt, zugänglich und voller Herrlichkeit, ein Himmel im Hier und Jetzt, auf Erden, in Amerika und nicht selten auf Hawaii.

Aber Hawaii ist nur ein zweckdienliches, immer wieder verwendetes Symbol. Der Himmel kann überall Gestalt annehmen und sich auftun. Im Gleichnis von dem Mann, der ständig mit dem Flugzeug unterwegs ist, gelangt der verwirrte Flugreisende in den Himmel, indem er an den Schalter eines Autoverleihs tritt, zu dem ihn ein engelsgleicher Bote geleitet. Der Ausdruck von Ekstase auf dem Gesicht des Mannes verrät, daß er der Transzendenz in diesem Augenblick so nahe ist, wie er es sich nur je erhoffen kann.

»Ekstase« ist hier die zentrale Idee, denn in den Reklamegleichnissen werden die verschiedenen Arten von Ekstase nicht minder detailliert geschildert als in der religiösen Literatur. Gegen Ende des Gleichnisses von den fleckigen Gläsern zeigt sich auf den Gesichtern des Ehemanns und seiner Frau ein ekstatischer Ausdruck, den man unschwer als den himmlischer Glückseligkeit entziffern kann. Selbst in dem Gleichnis vom Hemdkragen, wo wir es auf den ersten Blick mit einer weniger tiefen moralischen Krise als im Gleichnis von den fleckigen Gläsern zu tun haben, begegnet uns reine, ungetrübte Ekstase.

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Wo aber Ekstase ist, da ist auch der Himmel. Kurzum, der Himmel ist überall, wo wir unsere Seele mit Gott vereinen — und dieser Gott ist natürlich die Technik samt ihren Errungenschaften.

Wann genau die Amerikaner als religiöses Volk ihren traditionellen Gottesglauben durch den Glauben an die veredelnde Kraft der Technik ersetzt haben, läßt sich nicht leicht bestimmen. 

Die Fernsehwerbung — das muß betont werden — hat diesen Wandel jedenfalls nicht herbeigeführt, doch es ist unverkennbar, daß sie ihn widerspiegelt, dokumentiert und intensiviert und damit zur Schwächung intellektueller Deutungsmuster beiträgt. Infolgedessen verwischt sie auch die Grenze zwischen Erwachsenenalter und Kindheit, denn Kinder haben keinerlei Schwierigkeiten, die Theologie des Fernsehwerbespots zu erfassen, der keine komplexen Anforderungen stellt oder keine existentiellen Konflikte beschreibt. Der Erwachsene, der die dort signalisierte Theologie übernimmt, unterscheidet sich nicht mehr vom Kind.

Es sei noch einmal betont, daß die Politiker, die Reklameexperten und die Fernsehleute, die für den Inhalt der Sendungen zuständig sind, an der kindlichen Innenausstattung des politischen, wirtschaftlichen und religiösen Bewußtseins keine »Schuld« tragen. Sie verwenden das Fernsehen so, wie sie es vorfinden, und ihre Motive sind nicht besser und nicht schlechter als die der Zuschauer. Gewiß, sie machen sich die Mittel des Fernsehens zunutze, aber es ist der Charakter des Mediums und nicht der Charakter seiner Benutzer, der den Kind-Erwachsenen hervorbringt. Man muß sich das ganz klarmachen. Andernfalls könnte man zu der irrigen Annahme gelangen. Erwachsenheit ließe sich dadurch sichern, daß man das Fernsehen »verbessert«. Aber das Fernsehen läßt sich nicht wesentlich verbessern, jedenfalls nicht dort, wo es um seine symbolische Form geht, um den Kontext, in dem es erlebt wird, oder um seinen »lichtgeschwinden« Umgang mit Informationen. Und vor allem ist das Fernsehen kein Buch und kann weder den gedanklichen Gehalt eines Buches ausdrücken, noch die mit dem Buch verbundenen Verhaltensweisen und sozialen Strukturen unterstützen.

Das Fernsehen hat z.B. keine Möglichkeiten, einen Begriff von Vergangenheit oder Zukunft zu vermitteln. Es ist ein gegenwarts-zentriertes Medium.

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Im Fernsehen wird alles so wahrgenommen, als ereigne es sich »jetzt«, weshalb man den Zuschauern in Worten mitteilen muß, daß das Videotape, das sie gerade sehen, schon Tage oder Monate zuvor produziert worden ist. Auf diese Weise wird die Gegenwart über die Maßen stilisiert und verstärkt, und man darf wohl vermuten, daß das Fernsehen Erwachsene dazu drängt, das kindliche Streben nach direkter Bedürfnis­befriedigung ebenso wie die kindliche Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen von Handlungen als normal hinzunehmen.

Die Umgebung, in der das Fernsehen für gewöhnlich erlebt wird, ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Wie Radio- oder Schallplattenhören ist auch Fernsehen ein eher isolierendes Erlebnis und verlangt vom Zuschauer nicht, daß er bestimmte für das Verhalten in der Öffentlichkeit geltende Regeln einhält. Das Fernsehen verlangt vom Zuschauer nicht einmal Aufmerksamkeit. Insgesamt trägt es also nichts zur Ausbildung eines Bewußtseins von sozialem Zusammenhalt bei.

Aber der wichtigste Aspekt des Fernsehens ist ohne Zweifel der, den ich hier hervorzuheben versucht habe — den größten Teil seiner Inhalte drückt es in Bildern aus, nicht in Sprache. Und deshalb muß es notwendigerweise auf die Exposition, auf den Modus der Erörterung verzichten — zugunsten eines narrativen Modus. Daher rührt die nahezu unerschöpfliche Kraft des Fernsehens, zu unterhalten. Es ist das erste wirkliche Theater der Massen, nicht nur, weil es eine riesige Zahl von Menschen erreicht, sondern auch, weil im Fernsehen fast alles die Form einer Geschichte, einer Story, und nicht eines Arguments oder einer Gedankenfolge annimmt. Politik wird zur Story; Nachrichten werden zur Story; Wirtschaft und Religion werden zur Story. Selbst die Wissenschaft wird zur Story. 

Deshalb sind Sendungen wie Cosmos und The Ascent of Man visuell ebenso dynamisch und dramatisch wie alle übrigen; Carl Sagan und Jacob Bronowski werden eben als Persönlichkeiten, als Entertainer und Geschichtenerzähler, umgeben von allerei interessant anzusehenden Dingen, präsentiert und müssen so präsentiert werden. 

Die Kosmologie als Wissenschaft gibt im Fernsehen nichts her, und deshalb besteigt Carl Sagan ein Fahrrad, wenn er uns etwas über sie erzählen will. Auch eine Theorie des Kulturwandels, von der Bronowskis Sendung The Ascent of Man eigentlich handeln sollte, läßt sich nicht in eine Fernseh­form bringen.

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Daß in dieser Sendung eine Theorie im Mittelpunkt stand, hat von hundert Zuschauern nicht einer bemerkt, denn diese Theorie ebenso wie die zu ihrer Stützung angeführten Argumente gingen in einem Geflacker von Kurzzeitbildern unter. Erst als man die Bilder beiseite schob und die Sprache vernehmbar wurde (als nämlich das Skript der Sendung in Buchform erschien), traten Bronowskis Ideen zutage, und man konnte sich ein Urteil über seine fragwürdige Theorie bilden.

Immer wieder hört man von Kritikern die Klage, das Fernsehen appelliere an den »kleinsten gemeinsamen Nenner«. Aber erscheint es überhaupt möglich, daß Fernsehbilder (z.B. Sagan auf dem Fahrrad) ein höheres intellektuelles Niveau erreichen könnten? Der Wissenschaftsautor und Professor für Physik Jeremy Bernstein gibt darauf in seiner Kritik an Cosmos1 gleichsam eine Antwort. Bernstein schlägt vor, bei einer Wissenschaftssendung solle das Bild unbewegt bleiben, der Professor oder die Professorin solle hinter einem Schreibtisch sitzen und sprechen. Wenn ein solcher Vortrag komplexe Tatsachen, Überlegungen und Hypothesen enthält, dann werde die Sendung, wie Bernstein annimmt, die entwickelte Vorstellungskraft anregen. Aber es wäre kein Fernsehen mehr. Es wäre Sunrise Semester — das Fernsehen als Kopie des Hörsaals oder des Klassenzimmers, und es ist zweifelhaft, ob diejenigen, die nach einer höheren Bildung streben, sich das lange ansehen würden. Diese Leute gehen in die Hörsäle und Klassenzimmer und holen sich dort, was Professor Bernstein über das Fernsehen zu vermitteln hofft. Vom Fernsehen dagegen erwarten sie etwas ganz anderes, und jene, die die Programme machen, liefern es. 

Während ich dies schreibe, beginnt WCBS mit einer neuen »Wissenschafts-Show«. Ihr Titel lautet Walter Cronkite's Universe.  

Als gebildeter Erwachsener wäre Professor Bernstein sicherlich der Meinung, daß das Universum durchaus für sich selbst sprechen kann und auf die Reklame und den Beistand von Mr. Cronkite nicht angewiesen ist. WCBS weiß es besser. Denn WCBS weiß, daß das Zeitalter der Erörterung, das mit der Erfindung der Druckerpresse anbrach und den Verstand des erwachsenen Menschen in einer ganz bestimmten Weise geprägt hat, fast vorüber ist. Ihm folgt das narrative Zeitalter, das Zeitalter der Story, oder, um es genauer und anschaulicher zu formulieren, das Zeitalter des Show Business.

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Wenn ich vom Zeitalter des Show Business spreche, dann meine ich das nicht metaphorisch. Man darf diesen Ausdruck getrost wörtlich nehmen, allerdings in zwei verschiedenen Bedeutungen.« So liegt es im Wesen des Fernsehens, jeden Aspekt des Lebens in ein Show-Business-Format zu bringen. Es gibt ja nicht nur Walter Cronkite's Umverse (wo ohne weiteres auch Don Rickles auftreten könnte, um sechs Minuten lang Weltraumwitze zu erzählen, oder Lola Falana mit der Titelmelodie aus Krieg der Sterne), es gibt auch — im Abonnentenfernsehen — Rex Humbard and His Family, der uns eine Botschaft von Gott bringt. Reverend Humbard gehört zu jener Schar von Predigern, die mit ihren Sendungen der Fernsehwerbung beigesprungen sind, um die Infantilisierung der Theologie zu vollenden. 

Umgeben von Sängern und Sängerinnen, Familienmitgliedern und lauter netten Leuten, sowohl auf der Bühne als auch im Publikum, preisen diese Wanderprediger eine Religion an, die es an Einfalt und Bühnenwirksamkeit mit jeder Varietevorstellung in Las Vegas aufnehmen kann. Da gibt es kein Glaubensdogma, keine Terminologie, keine Logik, keinen Ritus und keine Tradition — nichts, was den Verstand der Zuschauer beanspruchen könnte, von denen vielmehr nur verlangt wird, auf das Charisma des Predigers zu reagieren.

Wie wir festgestellt haben, verlangen auch die Fernsehnachrichten nichts anderes als dies vom Zuschauer. Soeben meldet WNBC, Tom Brokaw sei für mehrere Millionen Dollar mehrere Jahre lang unter Vertrag genommen worden. Um was zu tun? Um Nachrichten vorzulesen. Man ist versucht zu fragen, ob Mr. Brokaw seine Vorstellung nicht mit Gewinn auch in Las Vegas geben könnte: »Tom Brokaw's Welt, mit Don Rickles als Sportredakteur und Lola Falana als Wetterfrau.« Aber das wäre überflüssig, denn im Fernsehen erreicht sein Auftritt ein viel größeres Publikum. 

 

Das beste Beispiel für eine an dem Weltmodell des Show Business orientierte Sendung ist <Sesamstraße>, das mit viel Beifall begrüßte pädagogische Kinder­programm. Die Erfinder von Sesamstraße sind überzeugt davon, daß Lernen durch Unterhaltung nicht nur nicht behindert wird, daß es sich vielmehr von Unterhaltung gar nicht unterscheiden läßt. 

Zur Rechtfertigung seiner Erziehungskonzeption hat Jack Blessington, der Direktor der pädagogischen Programme von WCBS, dargelegt, »daß eine Kluft zwischen der persönlichen und der kognitiven Entwicklung der Kinder besteht, mit der die Schule nicht zurecht­kommt. Wir leben in einer hochkomplexen, elektronisch ausgerichteten Gesellschaft; Bücher verlangsamen alles.« 2)

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Ganz recht! Bücher — das bedeutet bedachtsames Denken. Elektronik bedeutet beschleunigtes Denken. Und eine von Jack Blessington offenbar nicht wahrgenommene Folge dieser Tatsache besteht darin, daß das Fernsehen unsere Kultur in ein allgegenwärtiges Las Vegas verwandelt. Die Kluft, von der er spricht, ist der Unterschied zwischen den durch ein diskursives Verfahren unterstützten, verlangsamten Denkprozessen und den flinken Reaktionen, die eine visuell unterhaltsame Show verlangt. Es versteht sich von selbst, daß gerade Sesamstraße für die Hauptsendezeit und für Erwachsene wie für Kinder hervorragend geeignet wäre, jedoch nicht wegen der angeblichen Erziehungsfunktion dieses Programms, sondern schlicht deshalb, weil es eine erstklassige Schau ist.

Eine zweite Bedeutung des Ausdrucks »Zeitalter des Show Business« hängt mit der ersten zusammen, bedarf aber einer gesonderten Erläuterung: the business of TV is to show — die Aufgabe, die Sache des Fernsehens ist es, sich aller Abstraktion zu entschlagen und die Dinge konkret, anschaulich, bildhaft vorzuführen.

Und wir können verstehen, warum die Erwachsenheit auch in dieser Hinsicht geschmälert und ausgehöhlt wird. Erinnern wir uns an das, was Lewis Carrolls Alice sagt, bevor ihre Abenteuer beginnen. An einem langweiligen Tag hat sie nichts zu tun und wirft einen Blick in das Buch, das ihre Schwester gerade liest. Aber das Buch enthält nirgends Bilder oder Unterhaltungen, womit Alice Geschichten meint. »... und was für einen Zweck haben schließlich Bücher«, so überlegt Alice, »in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?« Lewis Carroll will hier offensichtlich darauf hinweisen, daß die bildliche, narrative Darstellungsweise auf einer niedrigeren Komplexitäts- und Reifestufe steht als die erörternde Darstellungsweise. Bilder und Geschichten sind die natürliche Form, in der Kinder die Welt begreifen. Die Erörterung ist eine Sache der Erwachsenen.

Ausgehend von Alices Fragen kann man weitere Fragen stellen: Wie wirkt sich eine von Bildern und Geschichten beherrschte Kultur auf die Erwachsenen aus? Wie wirkt sich ein Medium aus, das sich ganz auf die Gegenwart konzentriert und außerstande ist. die Kontinuität der Zeit zu vermitteln? Wie wirkt sich ein Medium aus, das der Komplexität abschwören und die Persön­lichkeit in den Vordergrund rücken muß? Wie wirkt sich ein Medium aus, das stets zu direkter, emotionaler Reaktion auffordert?

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Wenn das Medium so allgegenwärtig ist wie das Fernsehen, dann kann man hierauf die folgende Antwort geben: So wie die phonetische Literalität im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts die Mentalität der Menschen umgewälzt hat, so wie das Verschwinden der sozialen Literalität im 5. nachchristlichen Jahrhundert zur Entstehung des mittelalterlichen Bewußtseins beigetragen hat, so wie der Buchdruck im 16. Jahrhundert die Komplexität des Denkens erhöht und sogar die Denkinhalte verändert hat, so macht das Fernsehen überflüssig, weiterhin zwischen Kind und Erwachsenem zu unterscheiden. Denn es liegt in seinem Wesen, unterschiedliche Mentalitäten einander anzugleichen. Wenn. man von Fernsehsendungen sagt, sie seien auf die Mentalität von Zwölfjährigen zugeschnitten, dann liegt darin ja eine häufig nicht bemerkte Ironie: Fernsehsendungen kann man nämlich gar nicht auf eine andere Mentalität als die von Zwölfjährigen »zuschneiden«. Das Fernsehen ist ein Medium, das aus kaum etwas anderem als »Bildern und Geschichten« besteht, und Alices Bedürfnissen hätte es wohl durchaus entsprochen.

Mit allem, was ich hier gesagt habe, möchte ich — dem Anschein zum Trotz — das Fernsehen nicht »kritisieren«, ich möchte nur seine Beschränktheit und die Auswirkungen dieser Beschränktheit anzeigen. Sehr viel hängt davon ab, wie wir das Wesen dieses großen kulturverändernden Mediums auffassen. In einer Rede anläßlich der Verleihung der akademischen Grade am Emerson College im Jahre 1981 sagte Leonard H. Goldenson, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Fernsehgesellschaft ABC: 

»... wir können uns nicht mehr auf unsere Beherrschung traditioneller Fertigkeiten verlassen. Als Kommunikatoren, als Darsteller, als schöpferische Menschen — und als Bürger — verlangt [die elektronische Revolution] eine neue Art von Literalität. Es wird eine visuelle Literalität sein, eine elektronische Literalität, und sie wird ein ebensogroßer Fortschritt gegenüber der Literalität des geschriebenen Wortes sein, wie diese ein Fortschritt gegenüber der rein mündlichen Überlieferung in der frühen Menschheits­geschichte war.«3)  

Obwohl Mr. Goldenson in einem der oben zitierten Sätze zu erkennen gibt, daß er selbst bereits die Beherrschung traditioneller Fertigkeiten, jedenfalls teilweise, eingebüßt hat, bin ich der Ansicht, daß der erste Teil seiner Argumentation zutrifft, allerdings nicht so, wie er es meint.

Das Fernsehen und andere elektronische Medien verlangen, wie er ganz richtig sagt, die Beherrschung traditioneller Fertigkeiten nicht. Das entspricht genau meiner These, denn es bedeutet, daß jene Fertigkeiten nicht mehr die Kraft besitzen werden, die intellektuelle Differenzierung zu fördern, ohne die man die Unterscheidung zwischen Erwachsenheit und Kindheit gar nicht treffen kann. Und was die Feststellung angeht, die »visuelle Literalität« werde gegenüber der des geschriebenen Wortes einen ebensogroßen Fortschritt darstellen wie diese gegenüber der mündlichen Überlieferung, so bleibt wohl zu klären, welche Art von Fortschritt Mr. Goldenson hier im Sinn hat. 

Obwohl es naiv und unrichtig wäre zu behaupten, die Literalität sei in jeder Hinsicht ein ungetrübter Segen für die Kultur gewesen, muß man doch festhalten, daß das geschriebene und später das gedruckte Wort der Zivilisation zu einer neuen sozialen Organisation verholfen hat. Es brachte Logik, Wissenschaft, Erziehung, civilite hervor — und auch jene Technik, der Mr. Goldenson vorsteht. 

Insofern kann man sagen, daß das literale Denken seine eigene Zerstörung in die Wege leitete, indem es Medien schuf, die jene »traditionellen Fertigkeiten« überflüssig machen, auf denen Literalität beruht. Es ist mir allerdings ein Rätsel, warum diese Tatsache für irgend jemanden ein Anlaß zum Optimismus sein sollte — außer für den Verwaltungs­ratsvorsitzenden einer Fernsehgesellschaft.

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