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8  Das verschwindende Kind  

 

 

 

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Bislang habe ich darzustellen versucht, wie die symbolische Umwelt, in der sich eine Gesellschaft bewegt, die Kindheit entweder notwendig oder überflüssig macht. Dabei habe ich vor allem erklären wollen, inwiefern unsere neuen, umwälzenden Medien die Ursache dafür sind, daß die Kindheit jetzt aus der abendländischen Tradition vertrieben wird. 

Es bleibt mir noch, im folgenden die Indizien dafür zu erörtern, daß diese Vertreibung tatsächlich begonnen hat.

Die Indikatoren für das Verschwinden der Kindheit sind sehr unterschiedlicher Art und stammen aus verschiedenen Quellen. Da gibt es z.B. die Hinweise, die die Medien selbst liefern, denn sie betreiben die Abschaffung der Kindheit nicht nur mittels ihrer Form und durch den Kontext, in dem sie sich präsentieren; sie spiegeln den Niedergang auch in ihren Inhalten wider.

Indizien liefert auch die Angleichung von Kindern und Erwachsenen in Geschmack und Stil sowie der sich wandelnde Blickwinkel, aus dem soziale Institutionen, wie das Recht, die Schule oder der Sport, die Kindheit wahrnehmen. Und es gibt inzwischen Indizien von der »harten« Art — Zahlen über Alkoholismus, Drogenkonsum, sexuelle Aktivitäten, Kriminalität usw., die auf ein Verblassen des Unterschieds zwischen Kindheit und Erwachsen­enalter schließen lassen. 

Bevor ich aber näher auf dieses Material eingehe, möchte ich betonen, daß sich die im vorliegenden Buch entwickelte Hypothese darüber, warum all dies geschieht, nicht beweisen läßt, gleichgültig, wieviel Beleg­material man zu ihrer Stützung zusammenträgt.

Das gilt nicht nur, weil man Hypothesen und Theorien — selbst in den physikalischen Wissenschaften — prinzipiell nicht beweisen kann, sondern auch, weil in den Sozialwissenschaften schon die Idee eines Beweises oder einer Widerlegung so sehr von Mehrdeutigkeiten und komplexen Zusammenhängen überlagert ist, daß man nie ganz sicher sein kann, ob das Belegmaterial eine bestimmte Vermutung stützt, ob es sie zu Fall bringt oder ob es ihr gegenüber neutral ist.

Zur Veranschaulichung: 

Man hat behauptet, während der vergangenen 130 Jahre habe sich der Beginn der Pubertät bei Mädchen verschoben, und zwar in jedem Jahrzehnt um etwa vier Monate, so daß um 1900 das Durchschnittsalter, in dem die erste Menstruation eintrat, bei ungefähr 14 Jahren lag, während das Durchschnittsalter 1979 bei 12 Jahren lag.1) Mir gefällt diese Statistik, denn wenn sie stimmt, dann deutet sich in ihr an, daß die Abschaffung der Kindheit auch physiologisch kurz nach der Erfindung des Telegraphen einsetzte; es ließe sich also eine nahezu exakte zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Sinken des Pubertätsalters und der Umwälzung im Bereich der Kommunikation feststellen. Deshalb würde ich diese Tatsache gern als Beleg für meine Argumentation anführen; ich meine jedoch, daß es bessere Erklärungen für sie gibt, insbesondere jene, die sich auf Veränderungen in der Ernährungsweise beziehen.

Ein zweites Beispiel: Es ist nachgewiesen, daß der amerikanische Familienhaushalt schrumpft. Heute besteht ein Haushalt durchschnittlich aus 2,8 Personen, gegenüber 4,1 Personen im Jahre 1930. 1950 bestanden 10,9 Prozent der amerikanischen Haushalte aus einer Person, heute liegt diese Zahl bei 22 Prozent.

Die Amerikaner haben nicht nur weniger Kinder, sie verwenden offenbar auch weniger Zeit darauf, sie zu Hause großzuziehen. Ist dies eine Auswirkung unserer im Wandel begriffenen Kommunikationsumwelt? Ich vermute ja, aber es wäre unsinnig zu leugnen, daß auch andere Faktoren an dieser Entwicklung beteiligt sind, etwa der wachsende Wohlstand der Amerikaner, ihre ungeheure Mobilität, die Bewegung zur Befreiung der Frauen usw. Man muß also nicht nur, wie in diesem Beispiel, mit einer Vielfalt von Ursachen rechnen, es kann auch, wie im ersten Beispiel, andere Theorien geben, die die Fakten sehr gut erklären.

Wenn man Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation und überhaupt bestimmte Tendenzen einer Kultur zu erfassen sucht, dann kann man von einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten ausgehen.

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Marxisten und Freudianer z.B. könnten sicherlich ebenfalls mit Erklärungen dafür aufwarten, warum die Kindheit verschwindet, vorausgesetzt, sie akzeptieren angesichts der vorhandenen Indizien die Tatsache selbst. Auch Soziobiologen, Anthropologen und — wer weiß? — vielleicht sogar wissenschaftliche Vertreter des Kreationismus werden dieser Frage gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Ich habe die in diesem Buch entfaltete Erklärung gewählt, weil sie — sofern man überhaupt eine Einzelerklärung als stichhaltig bezeichnen kann — die Tatsachen am besten erhellt. 

Es scheint mir offenkundig, daß Kindheit eine Funktion der Kommunikationsbedürfnisse einer Gesellschaft und der Mittel ist, die ihr hierbei zur Verfügung stehen. Wirtschaft, Politik, Ideologie, Religion und andere Faktoren wirken sich auf den Entwicklungs­gang der Kindheit aus — verleihen ihr mehr oder weniger große Bedeutung —, aber sie können sie nicht erzeugen oder zum Erlöschen bringen. Dieses Vermögen hat nur die Literalität — durch ihre Existenz oder ihre Abwesenheit. 

Aber ich will diesen Gedanken hier nicht noch einmal ausführen. Ich möchte lediglich betonen, daß ich ihn für einleuchtend halte, daß die historischen Tatsachen zumindest bis zu einem gewissen Grad für ihn sprechen und daß ihn die gegenwärtig erkennbaren Tendenzen bestätigen. Der Zweck dieses Kapitels ist es, zu zeigen, daß die Kindheit tatsächlich im Begriff steht zu verschwinden. Nachdem der Leser die von mir genannten Indizien erwogen hat, mag er selbst entscheiden, ob meine Theorie brauchbar ist.

Zunächst fällt auf, daß die Kinder aus den Medien und besonders aus dem Fernsehen praktisch verschwunden sind. (Im Radio oder im Schallplatten­gewerbe findet sich absolut kein Anzeichen für ihr Dasein, aber ihr Verschwinden aus dem Fernsehen ist besonders aufschlußreich.) Ich will damit natürlich nicht sagen, daß man keine Menschen mehr sähe, die jung an Jahren sind. Aber wenn sie gezeigt werden, dann werden sie nach Art der Gemälde des 13. und 14. Jahrhunderts als kleine Erwachsene dargestellt.

Ein aufmerksamer Zuschauer wird feststellen, daß sich die in Familienserien, Seifenopern und anderen populären Fernsehsparten auftretenden Kinder in ihren Interessen, ihrer Sprache, ihrer Kleidung und ihrer Sexualität kaum von den Erwachsenen unter­scheiden, die in den gleichen Sendungen erscheinen.

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Man muß hier freilich berücksichtigen, daß populäre Kunstformen nur selten authentische Darstellungen von Kindern hervorgebracht haben. Wenn man an einige der bedeutenden Kinderfilmstars denkt, etwa an Shirley Temple, Jackie Coogan, Jackie Cooper. Margaret O'Brien oder die harmlosen Rabauken aus den Our-Gang-Komödien, dann wird einem sogleich klar, daß der Charakter und die Sensibilität junger Menschen im Kino durchaus nicht realistisch wiedergegeben worden sind. 

Aber gleichwohl findet man in solchen Produktionen eine Idee, eine Vorstellung von Kindheit. Die Kinder dort waren anders angezogen als Erwachsene, sie sprachen anders, betrachteten Probleme aus einem anderen Blickwinkel, nahmen einen anderen Status ein, waren verletzlicher. Noch in den frühen Tagen des Fernsehens, in Serien wie Leave It to Beaver und Father Knows Best (Vater ist der beste), traten Kinder auf, die zwar nicht realistisch porträtiert waren, die aber anders waren als Erwachsene. Davon ist heute wenig übriggeblieben.

Um zu begreifen, was hier geschehen ist, sollte man sich einmal vorstellen, wie die Shirley Temple Show aussehen würde, wenn man sie heute als Fernsehserie ausstrahlte, natürlich unter der Voraussetzung, daß Miss Temple so alt wäre wie zu der Zeit, als ihre denkwürdigen Filme gedreht wurden. (Sie begann ihre Karriere mit vier Jahren, die erfolgreichsten Filme entstanden zwischen ihrem sechsten und zehnten Lebensjahr.) Ist es denkbar, daß Shirley Temple heute »On the Good Ship Lollipop« als Titelmelodie singen würde, es sei denn in parodistischer Absicht? Wenn sie überhaupt sänge, dann wäre ihre Domäne wohl die Rock-Musik, also eine Musik, die sich an Kinder und Erwachsene gleichermaßen wendet. (Man denke an »Studio 54« und andere Erwachsenen-Discos.)

Im Fernsehen von heute gibt es so etwas wie Kinderlieder gar nicht. Sie sind ausgestorben, eine Tatsache, die für unseren Zusammenhang nicht weniger aufschlußreich ist als all die anderen Indizien. Jedenfalls würde eine zehnjährige Shirley Temple im Fernsehen vermutlich einen Freund benötigen, mit dem sie sich immer wieder auf simulierte Plänkeleien wie unter Verliebten einlassen müßte. Mit Sicherheit müßte sie auf ihre »Kleinmädchen«-Kleider und -Frisuren verzichten und sich an der Erwachsenenmode orientieren. Ihre Sprache bestünde aus einer Kette altkluger Bonmots, reichlich gewürzt mit sexuellen Anspielungen.

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Kurz, die Shirley Temple Show würde nicht — und könnte nicht — von einem Kind handeln. Zu viele Zuschauer — und vor allem die jungen unter ihnen — würden eine solche Vorstellung für unrealistisch halten oder gar nicht verstehen.

Am besten läßt sich das Verschwinden unserer traditionellen Vorstellung von Kindheit aus dem Fernsehen an den Werbespots beobachten. Ich habe schon auf den vielfachen Mißbrauch von elf- und zwölfjährigen Mädchen als erotische Objekte (das Brooke-Shields-Phänomen) hingewiesen, aber einen außerordentlichen Werbespot für Jordache-Jeans möchte ich doch nicht unerwähnt lassen. 

Er zeigt uns, wie Schulmädchen und Schuljungen — die meisten von ihnen noch nicht im Pubertätsalter — von den Launen ihrer ungezügelten Libido umgetrieben werden, die zusätzlich dadurch befeuert wird, daß sie Marken-Jeans tragen. Am Schluß dieses Werbefilms erkennt man, daß ihre Lehrerin die gleichen Jeans trägt. Was bedeutet dies anderes, als daß man weder in der Sexualität noch in den Mitteln, mit denen sie stimuliert wird, einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen zu machen pflegt?

 

Ebenso aufschlußreich ist es, daß Kinder, ob mit überaktiver Libido oder nicht, immer wieder schamlos als Schauspieler in Reklamedramen eingesetzt werden. An einem Abend habe ich neun verschiedene Produkte gezählt, die von Kindern angepriesen wurden, darunter Würstchen, Immobilien, Zahnpasta, eine Versicherung, ein Waschmittel und eine Restaurant-Kette.

Amerikanische Fernsehzuschauer finden es offenbar nicht ungewöhnlich oder anstößig, wenn Kinder sie über die Herrlichkeiten Amerikas aufklären — vielleicht weil ihnen als Kindern der Zugang zu immer mehr Bereichen des Erwachsenenlebens gewährt wird und es daher wie Willkür erscheinen würde, wenn man sie von einem der wichtigsten ausschlösse, dem Warenzauber. Jedenfalls bekommt hier die Weissagung: »Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder ...« einen ganz neuen Sinn.

Ähnlich wie das Fernsehen verwandelt auch der Film die Kinder zusehends in Erwachsene. In so unterschiedlichen Filmen wie Carrie - des Satans jüngste Tochter, Der Exorzist, Pretty Baby, Paper Moon, Das Omen, Die blaue Lagune, Kleine Biester, Endlose Liebe, oder Ich liebe dich - I love you - Je t'aime erscheint das Kind immer wieder als eine Person, die sich in ihrer sozialen Orientierung, ihrer Sprache und ihren Interessen vom Erwachsenen nicht unterscheidet.  

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Besonders deutlich wird diese Verschiebung in der filmischen Auffassung des Kindes, wenn man die Little-Rascals-Filme (Die kleinen Strolche) aus den dreißiger Jahren mit dem Film Bugsy Malone von 1976 vergleicht, einer Satire, in der Kinder die Rollen der Erwachsenen­gestalten aus Gangsterfilmen übernehmen. Ihren Witz bezogen die Little-Rascals-Filme vor allem aus dem Mißverhältnis zwischen den Kindern und dem von ihnen nachgeahmten Erwachsenenverhalten. Obwohl auch Bugsy Malone Kinder als metaphorische Vertreter von Erwachsenen einsetzt, hat man angesichts ihres Rollenspiels kaum noch den Eindruck, es bestehe hier ein Mißverhältnis. Was ist denn absurd daran, daß Zwölfjährige eine »erwachsene« Sprache sprechen, sich wie Erwachsene kleiden, das gleiche Interesse an Sex haben wie Erwachsene und Erwachsenenschlager singen? Die Little-Rascals-Filme waren offensichtlich Komödien, während Bugsy Malone schon fast ein Dokumentarfilm ist.

Die vieldiskutierten Veränderungen innerhalb der Kinderliteratur weisen zum größten Teil in die gleiche Richtung wie die in den modernen Medien. Die Bücher von Judy Blume sind von vielen Autoren nachgeahmt worden, die, wie Ms. Blume, begriffen haben, daß »Jugendliteratur« am besten »ankommt«, wenn sie in Thematik und Sprache die Erwachsenenliteratur simuliert, und besonders, wenn in ihr die handelnden Figuren als kleine Erwachsene dargestellt sind. 

 

Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, als gebe es in der gegenwärtigen Kinderliteratur (oder im Fernsehen und im Film) kein Beispiel von Kindern mehr, die entschieden anders wären als Erwachsene. Aber ich beharre darauf, daß das Bild des Kindes in unseren populären Kunstformen gegenwärtig einen raschen Wandel durchmacht.

Vergröbernd könnte man es auch so ausdrücken: In unserer Kultur ist nicht genug Raum für Judy Blume und Walt Disney; einer von beiden muß das Feld räumen, und wie die sinkenden Einnahmen des Disney-Imperiums zeigen, wird wohl Walt Disneys Vorstellung vom Kind und seinen Bedürfnissen verschwinden.3 Wir befinden uns mitten im Prozeß der Austreibung einer zweihundert Jahre alten Idee vom jungen Menschen als Kind und ihrer Ersetzung durch die Vorstellung vom jungen Menschen als Erwachsenen.

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Obwohl Ms. Blume, die modernen Filmemacher und die Fernsehautoren diesen Prozeß vorantreiben, kann man ihnen doch keine moralische oder gesellschaftliche »Schuld« zur Last legen. Was immer man unseren populären Kunstformen zum Vorwurf machen kann, Gleichgültigkeit gegenüber der sozialen Realität kann man ihnen jedenfalls nicht vorhalten. Der hinterhältige Schwarze, der habgierige Jude und (bis zu einem gewissen Grad) sogar die gehorsame, passive Ehefrau sind von der Bildfläche verschwunden, und zwar nicht, weil sie als »Material« nicht interessant genug wären, sondern weil sie für das Publikum nicht mehr akzeptabel sind. Ähnlich tritt Brooke Shields an die Stelle von Shirley Temple, weil das Publikum eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Bildwelt seiner populären Kunstformen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie es sie erlebt, verlangt.

Die Frage, in welchem Maße etwa das Fernsehen die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt, ist durchaus komplex, denn zu bestimmten Zeiten hinkt es hinter ihr her, zu anderen Zeiten ist es der Wirklichkeit voraus, und manchmal zieht es mit ihr genau gleich. Aber nie darf es sich vom inneren Entwicklungsstand der Wirklichkeit zu weit entfernen, oder es wäre keine populäre Kunstform mehr. In diesem Sinne könnte man das Fernsehen als unsere demokratischste Institution bezeichnen. Die Sendungen führen vor, was die Leute verstehen und was sie wollen, oder sie werden abgesetzt. Die meisten Menschen verstehen das traditionelle, idealisierte Bild des Kindes nicht mehr und wollen es nicht mehr, weil dieses Bild keine Stütze mehr in ihren Erfahrungen und ihrer Vorstellungskraft findet.

Dasselbe gilt für das traditionelle Bild des Erwachsenen. Wenn man sich die Sendungen des Fernsehens genau ansieht, erkennt man, daß sie nicht nur den Aufstieg des zum Erwachsenen gemodelten Kindes ziemlich genau dokumentieren, sondern auch den des zum Kind gemodelten Erwachsenen. Das Fernsehen äußert sich hierin ebenso unmißverständlich wie in anderen Belangen (obgleich sich die beste Darstellung des Kind-Erwachsenen in dem Film Being There [Willkommen, Mr. Chance] findet, der den von mir beschriebenen Vorgang direkt zum Thema macht). Aber auch Fernsehgestalten wie Laverne und Shirley, Archie, die »Crew vom Love Boat«, die »Company der Drei«, Fonzie, Barney Millers Detektive, Rockford, Kojak und die gesamte Bevölkerung von Fantasy Island wird man kaum als erwachsen bezeichnen können, auch nachdem man gewisse Zugeständnisse an die Traditionen der Fernsehsparten gemacht hat, in denen sie auftreten.

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Von wenigen Ausnahmen abgesehen, nehmen Erwachsene im Fernsehen ihre Arbeit nicht ernst (wenn sie überhaupt arbeiten), sie kümmern sich nicht um ihre Kinder und auch nicht um Politik, praktizieren keine Religion, repräsentieren keine Tradition, sind ohne Vorausblick und haben keine Pläne, führen keine ausgedehnten Gespräche miteinander und bringen unter gar keinen Umständen etwas zur Sprache, das einem Achtjährigen nicht vertraut wäre.

Obwohl mich einige meiner Studenten, die begeisterte Fernsehzuschauer sind, dringend gebeten haben, die folgende Feststellung zu modifizieren, kann ich nur eine einzige regelmäßig im kommerziellen Fernsehen auftretende fiktive Gestalt erkennen, die die Vorliebe eines Erwachsenen für ernste Musik bekundet und deren Sprache man anmerkt, daß sie einmal ein Buch gelesen hat. Ich meine Felix Unger in The Odd Couple (Männerwirtschaft).

Es ist bemerkenswert, daß die Mehrzahl der Erwachsenen in Fernseh­sendungen praktisch als Analphabeten dargestellt werden, nicht nur in dem Sinne, daß anscheinend nichts von dem, was man aus Büchern lernen kann, zu ihrem Wissensfundus gehört, sondern auch insofern, als sie nicht das mindeste Anzeichen einer zur Nachdenklichkeit befähigten Geistesverfassung erkennen lassen.

(The Odd Couple, eine Serie, die man jetzt nur noch als Wiederholung sehen kann, zeigt paradoxerweise mit Felix Unger nicht nur das Beispiel eines gebildeten Menschen, sondern in Gestalt seines Partners Oscar Madison gleichzeitig eine höchst ungewöhnliche Mißbildung — die Figur eines analphabetischen Berufsschriftstellers.)

 

Man hat viel über die Trivialität und geistige Ödnis der populären Fernsehsendungen geschrieben. Aber mir geht es hier nicht um eine solche Bewertung. Ich möchte vielmehr darauf aufmerksam machen, daß der Typus des Erwachsenen, der im Fernsehen am häufigsten erscheint, dem Typus des Kindes entspricht und daß sich dieses Muster in fast allen Fernsehsparten nachweisen läßt. In den Quizsendungen und Ratespielen z. B. werden die Bewerber mit großer Sorgfalt danach ausgesucht, ob ihre Bereitschaft. Demütigungen hinzunehmen (von seilen eines fingierten Erwachsenen, des »emcee«, des Zeremonien­meisters), praktisch unbegrenzt ist; ob ihre Gefühle jederzeit aufgeputscht werden können; und ob ihr Interesse an irgendwelchen Dingen den Dichtegrad einer verzehrenden Leidenschaft besitzt.

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Solche Quizsendungen sind eine Parodie auf das Klassenzimmer: kindliche Bewerber Werden für Gehorsam und Altklugheit gebührend belohnt, ansonsten jedoch sämtlichen Demütigungen unterworfen, die traditionell das Schulkind zu erdulden hat. In Seifenopern ist das Fehlen erwachsener Figuren so auffällig, daß man sich sogar auf eine Teenager-Seifenoper mit dem Titel Young Lives eingelassen hat, so als wolle man noch einmal ausdrücklich hervorheben, daß sich die Welt junger Menschen von der Erwachsenenwelt nicht unterscheidet. Hier geht das Fernsehen noch einen Schritt über den Film hinaus: Young Lives — das ist wie Bugsy Malone, freilich ohne jede Satire.

Zu alledem kommt es nicht nur aus den Gründen, die ich in den letzten drei Kapiteln angedeutet habe, sondern auch, weil das Fernsehen die vorherrschenden Werte und Stile widerzuspiegeln versucht. Und in der heutigen Situation tendieren die Werte und Stile der Kinder dazu, mit denen der Erwachsenen zu verschmelzen. Man braucht kein Familiensoziologe zu sein, um die folgenden Beobachtungen plausibel zu finden:

Die Kinderbekleidungsindustrie hat im vergangenen Jahrzehnt einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht, so daß jene Modeformen, die früher eindeutig als »Kinderkleider« erkennbar waren, heute praktisch verschwunden sind. Zwölfjährige Jungen tragen auf Geburtstagspartys Anzüge mit Weste, und sechzigjährige Männer tragen zum gleichen Anlaß Jeans. Elfjährige Mädchen laufen mit Stöckelabsätzen herum, und Turnschuhe, die früher ein eindeutiges Kennzeichen für die Zwanglosigkeit und die Vitalität der Jugend waren, bedeuten heute angeblich das gleiche für Erwachsene. 

Der Minirock, das peinlichste Beispiel für die Nachahmung einer Kindermode durch die Erwachsenen, ist im Augenblick zwar ein wenig in Verruf geraten, dafür beobachtet man auf den Straßen von New York und San Francisco erwachsene Frauen mit weißen Söckchen und imitierten Kinderlack­schuhen. Wir erleben gegenwärtig die Umkehrung jener Tendenz, die im 16. Jahrhundert einsetzte und dazu führte, daß man Kinder an ihrer Kleidung erkennen konnte. Wo die Vorstellung von Kindheit verblaßt, da verblassen auch deren symbolische Merkmale.

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Man kann diesen Vorgang nicht nur in der Mode beobachten, sondern auch, beispielsweise, in den Eßgewohnheiten. Schnellgerichte, die früher nur für den undifferenzierten Geschmack und die eisernen Mägen Jugendlicher geeignet schienen, sind heute für Erwachsene eine gebräuchliche Kost. Das läßt sich aus den Werbespots für McDonald's und Burger King erschließen, die sich unterschiedslos an alle Altersgruppen richten. Und es läßt sich auch direkt beobachten, indem man den Anteil der Kinder und Erwachsenen an der Kundschaft solcher Lokalitäten sich vergegenwärtigt. Es scheint, daß die Erwachsenen zumindest ebensoviel Schnellimbißkost verzehren wie Kinder.4

Diese Feststellung ist nicht unwichtig: offenbar haben viele vergessen, daß man von Erwachsenen früher annahm, sie legten in der Frage, ob etwas eßbar ist oder nicht, höhere Maßstäbe an als die Kinder. Und es war sogar ein Zeichen für den Übergang ins Erwachsenenalter, wenn die Jugendlichen anfingen, sich von den Genüssen des Schnellimbisses abzukehren. Ich glaube, man kann wohl sagen, daß dieses Signalement der Adoleszenz heute völlig unkenntlich geworden ist.

 

Es gibt kein eklatanteres Symptom für das Verschmelzen der Wertvorstellungen und Stile von Erwachsenen und Kindern als das Schicksal, das den Kinderspielen widerfährt: sie schwinden mehr und mehr. Ich habe zwar keine Untersuchungen gefunden, die den Niedergang selbstorganisierter Straßenspiele belegen, aber ihr Verschwinden ist auffällig genug und läßt sich durchaus aus dem erstaunlichen Aufschwung erschließen, den Einrichtungen wie der Pee Wee Football und der Little League Baseball genommen haben. Außer in den bevölkerungsreichen innerstädtischen Wohnbezirken, wo die Spiele immer noch unter der Kontrolle der Kinder und Jugendlichen selbst stehen, sind die Spiele der amerikanischen Jugend zusehends offiziell oder pseudo-professionell geworden und werden mit äußerstem Ernst betrieben. 

Der Little League Baseball Association zufolge, die ihr Hauptquartier in Williamsport, Pennsylvania, hat, ist der Little League Baseball das größte Jugendsportprogramm auf der ganzen Welt. Es gibt mehr als 1400 offizielle Vereine mit insgesamt zweieinhalb Millionen Mitgliedern zwischen sechs und achtzehn Jahren.

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Der Aufbau der Organisation entspricht dem der oberen Baseball-Ligen und der Charakter des Spiels selbst ganz dem des professionellen Baseball: da gibt es kein Herumtrödeln und keine Sonderregeln, die man spontan erfindet, wie es die Situation gerade erfordert, und es gibt auch keinen Schutz vor den kritischen Urteilen der Zuschauer.

Die Vorstellung, daß die Spiele der Kinder die Erwachsenen nichts angehen, ist von den Amerikanern offensichtlich verworfen worden. Heute besteht man darauf, daß Kinder schon mit sechs Jahren ohne Spontaneität spielen, unter sorgfältiger Anleitung durch Erwachsene und starkem Konkurrenzdruck.

Daß viele Erwachsene gar nicht erfassen, was eine solche Neubestimmung des Kinderspiels bedeutet, enthüllt ein Artikel, der am 17. Juli 1981 in der New York Times zu lesen war. Den Anlaß bildete ein Fußballturnier in Ontario, Kanada, an dem 4000 Kinder aus 10 Nationen teilnahmen. Während eines Spiels zwischen zwei aus zehnjährigen Knaben bestehenden Mannschaften — East Brunswick, New Jersey, gegen Burlington, Ontario — kam es zu einem Streit: »Nachdem sich einige Spieler Verwarnungen wegen Foulspiels und ungehöriger Äußerungen eingehandelt hatten, gerieten die Väter auf den Zuschauerrängen in ein Wortgefecht, und ein Mann aus Burlington machte eine anzügliche Geste.« Der Streit erreichte seinen Höhepunkt, als die Mütter zweier Spieler aneinandergerieten, wobei eine von ihnen der anderen einen Tritt versetzte.

So etwas kommt bei »offiziellen« Baseball- oder Footballspielen unter Erwachsenen natürlich ständig vor. (Ich selbst habe gelegentlich erlebt, wie mehrere vierzig Jahre alte Männer bei einem Baseballspiel einen elfjährigen Shortstop gnadenlos auspfiffen, weil er kurz nacheinander zwei Fehler gemacht hatte.) Besonders aufschlußreich allerdings war die Bemerkung, die eine der Mütter nach dem Zwischenfall machte. Bemüht, die Dinge ins richtige Verhältnis zu bringen, meinte sie: »Das [der Streit] waren ja nur 30 Sekunden in einem wunderbaren Turnier. Am nächsten Abend haben unsere Jungs verloren, aber es war ein schönes Spiel. Die Eltern haben beiden Mannschaften Beifall geklatscht. Alles in allem war es ein schönes Erlebnis.« Es stellt sich lediglich die Frage: Was haben die Eltern dort eigentlich verloren? Warum trommelt man 4000 Kinder zu einem Turnier zusammen? Warum spielt East Brunswick, New Jersey, gegen Burlington, Ontario? Wofür werden diese Kinder trainiert?

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Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Das Kinderspiel ist zu einer Hauptbeschäftigung der Erwachsenen geworden, es ist professionalisiert worden und bildet nicht mehr eine von der Sphäre der Erwachsenen getrennte Welt für sich.

In diesen Zusammenhang gehört auch das Vordringen von Kindern in den Bereich des Spitzensports. Das Tennisturnier in Wimbledon von 1979 etwa stand im Zeichen des aufsehenerregenden Auftritts von Tracy Austin, die damals noch keine sechzehn Jahre alt und damit die jüngste Spielerin in der Geschichte des Turniers war. 1980 erregte eine fünfzehnjährige Spielerin beträchtliches Aufsehen; 1981 ein vierzehnjähriges Kind. Voller Staunen meinte John Newcombe, ein alter Wimbledon-Meister, in naher Zukunft würden womöglich zwölfjährige Spieler den »center court« übernehmen. Doch in dieser Hinsicht ist Tennis hinter anderen Sportarten zurück.

Zwölfjährige Schwimmer, Eisläufer und Turnerinnen von Weltrang sind nichts Außergewöhnliches mehr. Und warum? Eine naheliegende Antwort besagt; daß bessere Schulung und bessere Trainingstechniken es den Kindern ermöglichen, das Leistungsniveau von Erwachsenen zu erreichen. Aber die Frage bleibt: Warum bestärken Erwachsene Kinder darin, diese Möglichkeit zu nutzen? Warum will man den Kindern ihre Freiheit, ihre Ungezwungenheit und die Freude am spontanen Spiel verwehren? Warum setzt man Kinder dem Training, dem Konzentrationszwang, der nervlichen Belastung und dem Medienrummel aus, der zum Profi-Sport gehört?

Wieder müssen wir die gleiche Antwort wie zuvor geben: Die traditionellen Vorstellungen von der Besonderheit kindlicher Existenz verkümmern sehr rasch. Offenbar setzt sich zunehmend die Auffassung durch, das Spiel werde nicht um seiner selbst willen gespielt, sondern im Hinblick auf äußere Zwecke: Ruhm, Geld, körperliche Ertüchtigung, sozialer Aufstieg, Nationalstolz. Für die Erwachsenen ist das Spiel eine ernste Sache. Zusammen mit der Kindheit verschwindet auch die kindliche Auffassung vom Spiel.

Die gleiche Tendenz zur Verschmelzung der Perspektiven von Erwachsenen und Kindern läßt sich an den Vorlieben für bestimmte Formen von Unterhaltung ablesen. Hierfür ein deutliches Beispiel: Wie der Nielsen-Fernsehreport für 1980 zeigt, nannten Erwachsene (definiert als Personen über achtzehn Jahren) auf die Frage nach den fünfzehn beliebtesten regionalen Fernsehsendungen unter anderem die folgenden: Family Feud, The Muppet Show, Hee Haw, M*A*S*H, Dance Fever, Happy Days Again und Sha Na Na.

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Diese Sendungen gehörten auch zu den fünfzehn beliebtesten Programmen, die von der Gruppe der Zwölf- bis Siebzehnjährigen genannt wurden. Und sie gehörten ebenso zu den Lieblingssendungen der Zwei- bis Elfjährigen! Bei den (zu dieser Zeit) gängigen überregional ausgestrahlten Shows nannten die männlichen Erwachsenen als beliebteste: Taxi, Mark & Mindy, M*A*S*H, Three's Company, ABC Sunday Night Mo-vie und The Dukes of Hazzard. Von der Gruppe der Zwölf- bis Siebzehnjährigen wurden sie ebenfalls genannt.5

Im Nielsen-Report für 1981 nannten die männlichen Erwachsenen sechs regional ausgestrahlte Fernsehsendungen (von zehn), die sich bei den Zwölf- bis Siebzehnjährigen ebenfalls der größten Beliebtheit erfreuten, und vier (von zehn), die auch von den Zwei- bis Elfjährigen am liebsten gesehen wurden.6

Solche Zahlen mögen einen traurig stimmen, aber sie passen zu der Beobachtung, daß das, was heutzutage den Kindern gefällt, auch den Erwachsenen zusagt. Während ich dies schreibe, locken Filme wie Superman II, James Bond 007 - In tödlicher Mission, Jäger des verlorenen Schatzes und Tarzan - Herr des Urwalds Besucher aller Altersstufen in nie dagewesener Zahl in die Kinos. Vor 25 Jahren hätte man solche Filme — im Grunde bewegte Comic Strips — als Unterhaltung für Kinder angesehen; nicht so bezaubernd, unschuldig oder kreativ wie Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge, aber dennoch eindeutig auf ein jugendliches Publikum »zugeschnitten«. Heute braucht man solche Unterschiede nicht mehr zu machen. 

Und genausowenig braucht man zwischen dem musikalischen Geschmack von Erwachsenen und dem von Jugendlichen zu unterscheiden, wie jeder bezeugen kann, der einmal in einer Erwachsenendiskothek gewesen ist. Wahrscheinlich kennt sich die Gruppe der Zehn- bis Siebzehnjährigen nach wie vor besser mit den Namen und Stilen der verschiedenen Rock-Gruppen aus als diejenigen, die über fünfundzwanzig sind; doch die rückläufigen Umsätze sowohl bei klassischer als auch bei populärer »Erwachsenenmusik« lassen erkennen, daß Erwachsene nicht länger behaupten können, ihr musikalischer Geschmack sei dem Niveau der Teenager-Musik überlegen.7

Wie in Kleidung, Eßgewohnheiten, Spiel und Unterhaltung kommt es auch auf dem Gebiet der Sprache zu einer Homogenisierung der Stile.

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Dieser Wandel läßt sich nur sehr schwer dokumentieren. es sei denn. man nimmt Zuflucht bei Anekdoten oder appelliert an die eigenen Erfahrungen des Lesers. Bekannt ist immerhin, daß die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, im Lesen und Schreiben »Grundschulniveau« zu erreichen, abnimmt.8 Und wir wissen, daß ihre Befähigung, vernünftig zu argumentieren und logische Schlüsse zu ziehen, ebenfalls zurückgeht.9 

Solche Indizien werden zumeist als Beleg für den allgemeinen Bildungsverfall bei jungen Menschen angeführt. Sie könnten aber durchaus auch auf ein rückläufiges Interesse der Erwachsenen an Sprache hindeuten. Mit anderen Worten, wenn man die Bedeutung der Medien für die Reduktion der Sprachkompetenz von jungen Menschen erörtert, dann schließt dies nicht aus, auch die Gleichgültigkeit der Eltern. Lehrer und anderer einflußreicher Erwachsener gegenüber der Sprache zu bedenken. 

Vielleicht ist sogar die Annahme zulässig, daß die Sprachbeherrschung der Erwachsenen die der Kinder in den meisten Fällen nicht erheblich übertrifft. Im Fernsehen, im Radio, in Filmen, bei geschäftlichen Transaktionen, auf der Straße und selbst im Klassenzimmer zeigt sich jedenfalls nicht, daß die Erwachsenen eine abwechslungsreichere. überlegtere, präzisere Sprache sprächen als die Kinder. Ein Indiz hierfür ist, daß sich inzwischen in Form von Büchern und Ratgeberspalten in Zeitungen eine kleine Industrie entwickelt hat. die Erwachsene darin unterweist, wie man als Erwachsener spricht.

Man könnte sogar noch weiter gehen und die Vermutung anstellen, daß die Sprache der Jugendlichen die der Erwachsenen stärker beeinflußt, als dies umgekehrt geschieht. Wenngleich die Neigung, nach jeweils vier Worten das Wörtchen like einzuschieben, nach wie vor ein Kennzeichen der Sprache von Jugendlichen ist, erschien die Teenager-Sprache den Erwachsenen in vielen anderen Fällen doch so attraktiv, daß sie bestimmte Elemente daraus ihrer eigenen Sprache einverleibt haben. 

Ich habe zahlreiche Beispiele dafür aufgezeichnet, daß Leute, die über fünfunddreißig waren und aus allen sozialen Schichten kamen, ohne jede Ironie Sätze wie diese von sich gaben: I am into jogging, Where are you coming from? [wörtlich: Wo kommst du her? In der Bedeutung: Welches ist dein Standpunkt?], Get off may Case [wörtlich: Geh aus meiner Kiste raus] und andere Teenager-Redensarten mehr.

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Ich muß es dem Leser überlassen, zu entscheiden, ob er diese Tendenz aufgrund eigener Erfahrungen bestätigen kann. Eines können wir jedoch, wie ich meine, mit Sicherheit sagen: Jene sprachlichen Erwachsenengeheimnisse, die wir als »schmutzige Wörter« bezeichnen, sind den Kindern und Jugendlichen heute nicht lediglich vertraut (was vielleicht immer der Fall war), sie werden von ihnen auch genauso freimütig verwendet wie von Erwachsenen. Nicht nur auf dem Fußballplatz in Ontario, sondern an allen öffentlichen Plätzen — auf Baseballfeldern, in Kinos, auf Schulhöfen, in Klassenzimmern, Kaulhäusern und Restaurants — kann man hören, wie schon Sechsjährige diese Wörter ebenso lässig wie ausgiebig verwenden. Bedeutsam ist dies, weil es ein weiteres Beispiel für den Abbau der traditionellen Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen darstellt. Und bedeutsam ist es. weil es zu erkennen gibt, daß die Idee der Gesittung und der Höflichkeit zusehends verfällt.

Tatsächlich entspricht der wachsenden Homogenisierung von Sprache, Kleidung, Eßgewohnheiten usw. ein Verfall der civilité, die ja in einem Konzept gesellschaftlicher Rangordnung wurzelt.10 In der Welt von heute hat das Erwachsenenalter viel von seiner Autorität und seiner Aura verloren, und die Idee des Respekts gegenüber Älteren wirkt schon fast lächerlich. Daß ein solcher Verfallsprozeß im Gang ist, kann man auch aus der allgemeinen Mißachtung der für Zusammenkünfte im öffentlichen Raum geltenden Regeln und Rituale ersehen — man denke an die Zunahme der sogenannten »Disziplinschwierigkeiten« in der Schule, an die Notwendigkeit verstärkter Sicherheitsvorkehrungen bei öffentlichen Veranstaltungen, an das Eindringen lautester Radiomusik in den öffentlichen Raum und daran, wie selten man konventionellen Höflichkeitsbezeugungen, etwa »Danke« und »Bitte«, begegnet.

 

Alle bisher angeführten Beobachtungen und Schlußfolgerungen sind meiner Ansicht nach Indizien für den Verfall der Kindheit und gleichzeitig für die damit einhergehende Verkümmerung der Bedeutung von Erwachsenheit. Aber es stehen auch harte Fakten zur Verfügung, die in dieselbe Richtung deuten. So wurden im Jahre 1950 in den Vereinigten Staaten insgesamt nur 170 Personen unter fünfzehn Jahren wegen Straftaten verhaftet, die das FBI als schwere Verbrechen einstuft, also Mord, Vergewaltigung, Raub und Körperverletzung.

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Diese Zahl entspricht einem Anteil von 0,0004 Prozent der amerikanischen Bevölkerung unter fünfzehn Jahren. Im selben Jahr wurden 94.784 Personen im Alter von fünfzehn Jahren und darüber wegen schwerer Delikte verhaftet, d.h. 0,0860 Prozent der Bevölkerung von fünfzehn und mehr Jahren. Im Jahre 1950 überstieg also die Zahl der von Erwachsenen (hier definiert als Personen im Alter von fünfzehn Jahren und darüber) begangenen schweren Verbrechen die Zahl der von Kindern begangenen um das 215fache. 1960 lag die Zahl der von Erwachsenen verübten schweren Verbrechen nur noch um das 8fache über der Zahl der von Kindern begangenen, und 1979 um das 5,5fache. 

Läßt sich daraus schließen, daß die Erwachsenenkriminalität sinkt? Keineswegs. In Wirklichkeit steigt die Erwachsenen­kriminalität an — 1979 wurden 400.000 Erwachsene, d.h. 0,2430 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, wegen schwerer Verbrechen verhaftet. Daß sich die Kluft zwischen der Kriminalitätsrate der Erwachsenen und der der Kinder so rasch schließt, ist fast ganz auf ein bestürzendes Ansteigen der Kinderkriminalität zurückzuführen. Zwischen 1950 und 1979 wuchs die Zahl der von Kindern verübten schweren Delikte um 11.000 Prozent! Die Zahl der von Kindern begangenen weniger schweren Verbrechen (d.h. Einbruch, Diebstahl, Autodiebstahl) stieg um 8300 Prozent.11

Wenn man sagen kann, daß Amerika unter einer Flutwelle von Verbrechen versinkt, dann ist diese Welle insbesondere von unseren Kindern ausgelöst worden. Wie vieles andere ist auch das Verbrechen nicht mehr den Erwachsenen vorbehalten, und Zeitungsleser benötigen keine Statistiken, um dies zu bestätigen. Fast täglich berichtet die Presse über die Verhaftung von Kindern, deren Alter — genau wie das der Tennisspieler von Wimbledon — immer weiter sinkt. In New York City versuchte ein neunjähriger Junge, eine Bank auszurauben. Im Juli 1981 beschuldigte die Polizei von Westchester County im Bundesstaat New York vier Jungen, ein siebenjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben — von den angeblichen Mädchenschändern war einer dreizehn Jahre alt, zwei waren elf und einer war neun Jahre alt und damit die jüngste Person, die in Westchester County jemals einer Vergewaltigung angeklagt worden ist.12

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Zehn- bis Dreizehnjährige sind in einem nie dagewesenen Ausmaß an Erwachsenenverbrechen beteiligt. Die Häufigkeit schwerer Kinderkriminalität hat inzwischen sogar das Jugendstrafrecht an die Grenzen seiner Kapazität getrieben.

Das erste amerikanische Jugendgericht wurde 1899 in Illinois errichtet. Der ihm zugrunde liegende Gedanke könnte noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts völlig verblaßt sein, denn überall im Land beeilen sich die Gesetzgeber, das Strafrecht zu revidieren und die Möglichkeit zu schaffen, daß jugendliche Straftäter wie Erwachsene behandelt werden. In Kalifornien hat eine vom Attorney General, dem höchsten Justizbeamten dieses Bundesstaates, einberufene Studiengruppe die Empfehlung ausgesprochen, wegen Mordes verurteilte Jugendliche nicht der kalifornischen Jugendbehörde zu übergeben, sondern sie ins Gefängnis zu schicken. Sie hat ferner empfohlen, es in das Ermessen des Gerichts zu stellen, gegen jugendliche Gewaltverbrecher von sechzehn Jahren und darunter wie gegen Erwachsene zu verhandeln.13

In Vermont hat die Verhaftung zweier Jugendlicher im Zusammenhang mit der Vergewaltigung, Folterung und Ermordung eines zwölfjährigen Mädchens die Legislative des Bundesstaates dazu veranlaßt, eine Verschärfung des Jugendstrafrechts vorzuschlagen.14 In New York kann heute gegen dreizehn- bis fünfzehnjährige Kinder, denen schwere Verbrechen zur Last gelegt werden, vor einem Erwachsenen­gericht verhandelt werden, und falls sie verurteilt werden, müssen sie mit langen Gefängnisstrafen rechnen. In Florida, Louisiana, New Jersey, South Carolina und Tennessee hat man durch Gesetzesänderungen die Möglichkeit geschaffen, Kinder zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren vor ein Erwachsenengericht zu bringen, falls das ihnen zur Last gelegte Delikt dies erheischt. In Illinois, New Mexico, Oregon und Utah wurde der Grundsatz, daß gegen Jugendliche im allgemeinen unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt wird, aufgehoben: Zeitungsreporter können den Prozessen jetzt regelmäßig beiwohnen.15

Für diese beispiellosen Veränderungen sowohl in der Häufigkeit als auch in der Brutalität der Kinder­kriminalität und in der Reaktion des Gesetzgebers lassen sich gewiß mehrere Gründe anführen, doch keiner scheint mir überzeugender zu sein als der, daß uns die Idee von Kindheit rasch abhanden kommt. Unsere Kinder leben in einer Gesellschaft, deren psychologischer, kultureller und politischer Kontext die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern nicht betont. Wenn sich die Erwachsenenwelt den Kindern in jeder Hinsicht öffnet, dann fangen sie unweigerlich auch an, das kriminelle Handeln der Erwachsenen nachzuahmen.

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Aber nicht nur als Täter sind sie an kriminellem Handeln beteiligt, sondern auch als Opfer. Dem Angriff der Kinder auf die soziale Ordnung entspricht der Angriff der Erwachsenen gegen die Kinder. Laut einem Bericht des National Center on Child Abuse and Neglect, einer Bundesbehörde, die sich mit Problemen des Kinder- und Jugendschutzes befaßt, wurden im Jahre 1979  711.142 Fälle von Kindesmißhandlung registriert. Angesichts der hohen Dunkelziffer darf man die Gesamtzahl der Fälle von Kindesmißhandlung für dieses Jahr auf mehr als 2 Millionen schätzen. Was kann dies anderes bedeuten, als daß das vorherrschende Bild des Kindes, seine besondere Stellung und seine Aura einem drastischen Verfall ausgesetzt sind? 

Daß die Kinder geschlagen werden, weil sie klein sind, ist nur die halbe Erklärung. Die andere Hälfte ist, daß sie geschlagen werden, weil man sie nicht als Kinder wahrnimmt. Normale Erwachsene, die die Kinder als unfertig, verletzlich und nicht im Besitz einer vollentwickelten intellektuellen und emotionalen Selbst­beherrschung wahrnehmen, verfallen nicht aufs Prügeln, wenn es zu einem Konflikt kommt. Wenn wir nicht unterstellen, daß es sich bei all diesen erwachsenen Angreifern um Psychopathen handelt, gelangen wir zu der Schlußfolgerung, daß zumindest eine Teilerklärung für diese Übergriffe lauten muß: bei vielen Erwachsenen hat sich die Auffassung von der Persönlichkeit des Kindes gewandelt und ist heute der im 14. Jahrhundert vorherrschenden Auffassung nicht unähnlich, nämlich daß Kinder kleine Erwachsene sind.

Die Wahrnehmung der Kinder als kleiner Erwachsener wird außer durch ihre kriminelle Aktivität noch durch andere Tendenzen bestärkt. So ist etwa die Zunahme der sexuellen Aktivität bei Kindern gut dokumentiert. Die von Catherine Chilman vorgelegten Daten offenbaren, daß dieser Anstieg seit den späten sechziger Jahren bei weißen Mädchen ganz besonders stark gewesen ist.16

Untersuchungen von Melvin Zelnick und John Kantner von der Johns Hopkins University gelangen zu dem Ergebnis, daß die sexuelle Aktivität bei unverheirateten Frauen zwischen dreizehn und neunzehn Jahren in der Zeit zwischen 1971 und 1976 um 30 Prozent zugenommen hat, so daß 55 Prozent von ihnen mit neunzehn Jahren bereits Geschlechtsverkehr gehabt haben.17

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Mit Sicherheit dürfen wir annehmen, daß die Medien ganz erheblich zum Abbau der Unterschiede zwischen Kinder- und Erwachsenen­sexualität beigetragen haben. Insbesondere das Fernsehen erzeugt in der gesamten Bevölkerung ständig ein hohes Maß an flanierender sexueller Energie und betont zudem einen spezifischen Egalitarismus der sexuellen Erfüllung; aus einem Erwachsenengeheimnis verwandelt es die Sexualität in eine Ware, die jedermann zur Verfügung steht — nicht viel anders als ein Mundwasser oder ein Deodorant.

Eine der Folgen dieser Entwicklung war der Anstieg der Schwangerschaften bei Jugendlichen. Im Jahre 1975 waren bei 19 Prozent aller Geburten in den Vereinigten Staaten die Mütter unter zwanzig Jahre alt; dies bedeutete eine Zunahme von 2 Prozent gegenüber der Zahl von 1966. Und wenn man sich speziell die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen ansieht, so zeigt sich, daß sie die einzige Altersgruppe bilden, in der die Geburtenrate während der letzten Jahre angestiegen ist, und zwar um 21,7 Prozent.18

Eine andere, schlimmere Konsequenz des erwachsenengemäßen Sexualverhaltens von Kindern war die stetige Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten bei Jugendlichen. Zwischen 1956 und 1979 ist der Prozentsatz der Zehn- bis Vierzehnjährigen, die an Gonorrhöe leiden, fast um das Dreifache gestiegen, von 17,7 auf 50,4 Fälle pro 100.000 Personen dieser Gruppe. Etwa die gleiche Zunahme ist für die Gruppe der Fünfzehn- bis Neunzehnjährigen zu verzeichnen (von 415,7 auf 1211,4 Fälle je 100.000).

Die traditionellen Beschränkungen jugendlicher Sexualaktivität können in einer Gesellschaft, die keinen verbindlichen Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsenheit macht, nicht sonderlich wirksam werden. Und das gleiche gilt für den Konsum von Drogen. So kommt das National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, das sich mit Ursachen des Alkoholmißbrauchs und des Alkoholismus beschäftigt, zu dem Ergebnis, daß eine große Zahl von Fünfzehnjährigen Alkohol in »erheblichen Mengen« zu sich nimmt.

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Einer Untersuchung der Trinkgewohnheiten von Schülern der Klassen zehn bis zwölf zufolge lag die Zahl der männlichen Jugendlichen, die nach eigenen Angaben »viel« tranken (d.h. zumindest einmal in der Woche und dann jeweils in großen Mengen), fast um das Dreifache über der Zahl derer, die nach eigenen Angaben »wenig« tranken (d.h. höchstens einmal im Monat und dann jeweils in geringen Mengen). Der Alkoholismus, den man früher ausschließlich als ein Problem der Erwachsenen betrachtete, droht heute auch für unsere neuen Klein-Erwachsenen eine Realität zu werden. Für andere Drogen, etwa Marihuana, Kokain und Heroin, sind die Daten ebenso eindeutig: amerikanische Jugendliche konsumieren davon ebensoviel wie die Erwachsenen.19

Solche Zahlen sind unmißverständliche Anzeichen für den Aufstieg des »Erwachsenen-Kindes«, aber daneben gibt es ähnliche Trends, in denen sich der Aufstieg des »Kind-Erwachsenen« andeutet. Die Tatsache z.B., daß »Altersheime« in Amerika zu einer wichtigen sozialen Institution geworden sind, spricht dafür, daß immer mehr junge Erwachsene nicht willens sind, die Verantwortung für ihre Eltern in vollem Umfang zu übernehmen. Die Aufgabe, für ältere Menschen zu sorgen und sie in das Familienleben zu integrieren, wird offensichtlich als unerträgliche Last empfunden, und die Ansicht, daß es Pflicht des Erwachsenen sei, sich dieser Aufgabe zu stellen, verliert rasch an Boden.

Vielleicht noch bedeutsamer ist der Umstand, daß die jungen Erwachsenen von heute sehr viel seltener heiraten und weniger Kinder haben als die Generation ihrer Eltern. Außerdem sind die geschlossenen Ehen minder dauerhaft als früher. Dem National Center for Health Statistics, dem amerikanischen Amt für Gesundheitsstatistik, zufolge lassen sich heute doppelt so viele Elternpaare scheiden wie vor zwanzig Jahren, und mehr Kinder als je zuvor sind von diesen Scheidungen betroffen: im Jahre 1979 waren es 1,18 Millionen, gegenüber 562.000 im Jahre 1963.

Obwohl diesem Trend vermutlich mehrere Ursachen zugrunde liegen, unter anderem auch das, was Christopher Lasch die »Karriere der narzißtischen Persönlichkeit« genannt hat, darf man doch behaupten, daß sich in ihm ein Verfall des Interesses der Eltern an der Kindererziehung abzeichnet. Das stärkste Argument gegen die Ehescheidung war stets ihre psychologische Wirkung auf die Kinder. Es ist offenkundig, daß heute mehr Erwachsene denn je dieses Argument für weniger ausschlaggebend halten als ihr eigenes Bedürfnis nach psychischem Wohlergehen.

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Vielleicht trifft sogar zu, daß immer mehr Amerikaner heute nicht mehr so sehr Eltern von Kindern als vielmehr selbst Kinder sein wollen. Jedenfalls haben die Kinder auf diese neue Gefühlslage unter anderem dadurch reagiert, daß sie in Scharen von zu Hause ausreißen. Nach Angaben des FBI wurden im Jahre 1979 165.000 Kinder in polizeiliche Obhut genommen; man nimmt an, daß die Dunkelziffer wenigstens dreimal höher liegt.

Angesichts all dessen sollte man erwarten, daß sich eine Art von »Philosophie« herausbildet, die den Verlust der Kindheit zu rechtfertigen sucht. Vielleicht gibt es im gesellschaftlichen Leben ein Prinzip, das die Menschen nötigt, nach Möglichkeiten zu suchen, das zu bekräftigen und zu bestätigen, was ohnehin unvermeidlich ist. Doch wie dem auch sei — eine solche Philosophie hat sich tatsächlich entwickelt, und wir dürfen sie als Indiz für die Realität dessen betrachten, womit sie sich beschäftigt.

Ich meine hier jene Tendenz, die man zuweilen die neue »Kinderrechtsbewegung« nennt — eine verwirrende Bezeichnung, denn unter ihrem Banner werden zwei einander im Grunde widersprechende Auffassungen von Kindheit vermengt. Die eine, die ich bei den folgenden Bemerkungen nicht im Auge habe, hält die Kindheit für etwas Wünschenswertes, hält sie zugleich aber für zerbrechlich und will die Kinder vor Vernachlässigung und Mißhandlung schützen. Sie plädiert z.B. für staatliche Eingriffe dort, wo die Verantwortung der Eltern versagt. Diese Vorstellung von Kindheit geht zurück auf das 19. Jahrhundert und markiert die Ausweitung jener Perspektive, die zum Verbot der Kinderarbeit, zur Entwicklung eines Jugendstrafrechts und anderen humanen Schutzmaßnahmen führte. Die New York Times hat die Verfechter dieser Idee einmal als »Kinderretter« tituliert.

Die andere Auffassung von den »Kinderrechten« lehnt die Überwachung und Kontrolle der Kinder durch die Erwachsenen ab und liefert eine »Philosophie«, die die Auflösung der Kindheit rechtfertigen soll. Sie vertritt die These, die soziale Kategorie »Kinder« sei in sich ein repressiver Gedanke, und es müsse alles getan werden, um Kinder und Jugendliche von den aus ihm erwachsenden Beschränkungen zu befreien.

Diese Anschauung ist sehr viel älter als die erste, denn ihre Ursprünge reichen zurück in die Zeit des Mittelalters, als es »Kinder« im modernen Sinne des Wortes nicht gab.

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Wie es in solchen Fragen häufig vorkommt, haben wir es hier mit einer »reaktionären« Position zu tun, deren Verfechter sich allerdings für »radikal« halten. Jedenfalls könnte man diese Leute als die »Kinder­befreier« bezeichnen. Einer der ersten von ihnen war der brillante Gesellschaftskritiker Ivan Illich, dessen einfluß­reiches Buch Entschulung der Gesellschaft (1972) gegen die Pflichtschule argumentierte, und zwar nicht nur, weil die Schulen nicht zu verbessern sind, sondern vor allem, weil die Pflichtschule die jungen Menschen daran hindert, vollen Anteil am Leben der Gemeinschaft zu nehmen, also daran, Erwachsene zu sein.

Illich lieferte eine Neubestimmung der Beziehung zwischen Kindern und Schule, indem er behauptete, daß die Schule, in der die meisten Menschen eine hilfreiche, der Erziehung dienende Einrichtung sehen, in Wirklichkeit einen ungerechtfertigten Eingriff in das Leben und Lernen eines bestimmten Teils der Bevölkerung bedeute. Die Stärke von Illichs Argumentation rührt daher, daß Informationen heute so allgemein verbreitet und in so vielfältiger, differenzierte Schriftbeherrschung nicht erfordernder Gestalt zugänglich sind, daß die Schule vieles von ihrer Rolle als Quelle aller Bildung verloren hat. Und wenn die Unterscheidung zwischen Kindheit und Erwachsenenalter immer undeutlicher wird, wenn die Kinder Erwachsenheit immer weniger erwerben müssen und es da kaum etwas gibt, das sie erst werden müssen, dann wirkt der Zwangscharakter der schulischen Erziehung zusehends willkürlicher.

Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß die Pädagogen nicht mehr recht wissen, was sie mit den Kindern in der Schule anfangen sollen. Dem Gedanken, man solle Bildung zur höheren Ehre Gottes oder der Nation erwerben oder gar, um die Russen zu schlagen, mangelt es sowohl an ernsthaften Argumenten wie auch an seriösen Verfechtern, und so sind viele Pädagogen bereit, sich mit einem Einfall zufrieden­zugeben, den Marx selbst entschieden abgelehnt hätte: die Schulerziehung diene der Vorbereitung auf den Eintritt ins Wirtschafts- und Konsumleben. 

In dieser Situation verliert die Kenntnis von Geschichte, Literatur und Kunst, die früher das Kennzeichen des gebildeten Erwachsenen war, viel von ihrer Bedeutung. Außerdem ist es keineswegs so ausgemacht, wie viele glauben, daß vor allem die Schulbildung ausschlaggebend für die späteren Verdienst­möglichkeiten sei.

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So ist das gesamte Gebäude unseres Erziehungswesens von gefährlichen Rissen durchzogen, und jene, die es am liebsten ganz abreißen würden, sind durchaus nicht falsch unterrichtet. Ja, in gewissem Sinne sind ihre Vorschläge sogar redundant. Wenn nämlich die Kindheit verschwindet, dann notwendigerweise auch die Schulen. Illich braucht darüber kein Buch zu schreiben, er braucht bloß abzuwarten.

Dies alles ist das Thema von John Holts Buch Zum Teufel mit der Kindheit. In ihm wie in anderen Büchern plädiert Holt für die Befreiung des Kindes aus den Fesseln einer dreihundertjährigen Leibeigenschaft. In seiner außerordentlichen Schrift Menschenrechte für Kinder (dt. 1975) hat Richard Farson die Argumentation Holts bis in ihre letzten Konsequenzen vorangetrieben. Farson plädiert dafür, dem Kind das Recht auf Information, auf die freie Entscheidung über seine Schulerziehung, auf sexuelle Freiheit, auf ökonomischen und politischen Einfluß und sogar auf die Wahl seiner Wohnumwelt sofort zurückzugeben. »... wir sollten uns die Tatsache vor Augen halten, daß wir in unserer Gesellschaft ... bestimmt nicht fehlgehen können, wenn wir nach einem größeren Ausmaß an Freiheit streben.«20) 

Farson, dem die Geschichte der Kindheit nicht unbekannt ist, hält offenbar das 14. und das 15. Jahr­hundert für ein taugliches Modell zur Integration der Kinder und Jugendlichen in die Gesellschaft. Er erblickt das Haupthindernis für den Inzest in einem Schuldgefühl, das den Menschen unvernünftigerweise eingeflößt wird, und ist der Ansicht, das gesamte Sexualverhalten solle entkriminalisiert werden, auch sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern; außerdem sollten Vorkehrungen getroffen werden, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen — etwa in einem von ihnen selbst kontrollierten »Zuhause«; auch müsse den Kindern das Wahlrecht gewährt werden, »weil Erwachsene kaum Anteil an ihren Interessen nehmen und nichts zu ihrem Vorteil entscheiden«.21) 

Von einer solchen Kinderrechtsbewegung darf man wohl sagen, daß ihr die Idee zugrunde liegt, die Krankheit sei die Heilung. Neutraler formuliert: Wer in dieser Weise für die Interessen der Kinder ficht, der liefert, wie schon gesagt, im Grunde nur eine Rationalisierung für eine anscheinend unumkehrbare kulturelle Tendenz. Mit anderen Worten, nicht Farson ist der Gegner der Kindheit, sondern die amerikanische Kultur.

Aber sie ist ihr nicht offen feindlich gesonnen, so wie man etwa sagen könnte, daß Amerika gegen den Kommunismus ist. Die amerikanische Kultur ist nicht absichtlich gegen die Kindheit. Tatsächlich enthält die Sprache, in der wir von Kindern sprechen, immer noch viel von der Idee der Kindheit, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat. 

Aber ähnlich wie unsere Sprache eine Vorstellung vom Krieg bewahrt hat, die im 19. Jahrhundert entstanden ist und heute geradezu absurd erscheint, wird auch die Sprache, in der wir von Kindern sprechen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit von heute nicht mehr gerecht. 

Denn nach hundert Jahren der Umgestaltung unserer Kommunikationsmedien, der in ihnen mitgeteilten Botschaften und der Voraussetzungen, die wir mitbringen müssen, um an alledem Anteil nehmen zu können, sind wir an den Punkt gelangt, wo Kinder nicht mehr vonnöten sind und wo (auch wenn wir es nicht einzugestehen wagen) selbst die älteren Menschen nicht mehr vonnöten sind. 

Farsons Vorschläge sind deshalb so erschreckend, weil er uns ohne jede Ironie und Bedauern die Zukunft enthüllt.

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