1 Sozialwissenschaft als Geschichtenerzählen
1988 von Neil Postman
Ich stelle diesen Essay an den Anfang, denn seine Absicht ist es, dem Leser zu verdeutlichen, in welchem Rahmen ich meine Einsprüche formuliere. Ich verstehe mich als Geschichtenerzähler (Abteilung Tatsachenberichte und Sachbuch), erhebe nicht den Anspruch, Wissenschaftler zu sein, und fühle mich nicht beleidigt, wenn man meine Essays als »Polemiken« bezeichnet.
Der folgende Aufsatz versucht, deutlich zu machen, daß die vorherrschende Auffassung, Psychologen, Soziologen, Anthropologen und andere Geschichtenerzähler täten etwas anderes als Geschichten erzählen, auf einer kulturellen Selbsttäuschung beruht. Es wäre hilfreich, wenn die New York Times aufhörte, von der Arbeit dieser Leute auf ihrer Wissenschafts-Seite zu berichten. Noch hilfreicher wäre es, wenn sie eine Seite für Geschichtenerzähler einrichtete, an der sich »Sozialwissenschaftler« jeder Spielart (die Ökonomen eingeschlossen) mit ihren Beiträgen beteiligen könnten.
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Ohne sich etwas vorzumachen, darf man wohl behaupten, daß eine der vornehmsten Aufgaben der Universitäten darin besteht, für ihre jeweilige Gesellschaft zu definieren, was wertvolles Wissen ist. Am deutlichsten sichtbar werden solche Definitionen in den Vorlesungsverzeichnissen, wo man sorgfältig gegliederte Listen von Seminaren, Fächern und sogenannten Fachbereichen findet. Zusammengenommen ergibt sich aus ihnen eine Art Kanon, aus dem hervorgeht, worüber sich ein ernsthafter Student Gedanken machen sollte. Aus dem, was nicht aufgenommen wurde, kann man erschließen, worüber sich ein ernsthafter Student keine Gedanken machen sollte.
Diese Feststellung ist keineswegs als Kritik an den bestehenden Universitäten gemeint. Eine Universität kann gar nicht umhin, das Lernen und die Gelehrsamkeit auf eine gewisse Weise zu organisieren und damit den verschiedenen Kategorien von Wissen einen bestimmten Wert beizumessen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß Universitäten bisweilen an einer Erstarrung dieser Kategorien kranken. Sie tritt dann ein, wenn sich beglaubigte Wissenschaftler wider alle Vernunft entschließen, ihre herkömmliche Auffassung von Wissen gegen Übergriffe neuartiger Perspektiven abzuschirmen. Wie es dazu kommt, daß Wissenschaftler in eine solche Haltung verfallen, ist an sich schon eine faszinierende Fragestellung, die es verdiente, im akademischen Betrieb erörtert zu werden. Abraham Maslow hat einen Teil seiner Arbeiten der Untersuchung dieses Themas gewidmet, und in seinem Buch The Psychology of Science ist er zu dem Ergebnis gekommen, daß die exakte Naturwissenschaft [science] (und darüber hinaus Wissenschaft allgemein [scholarship]) zu
»einer Sicherheitsphilosophie, einem Abschottungssystem [werden kann], zu einem komplizierten Verfahren, beängstigenden und irritierenden Problemen aus dem Weg zu gehen [...] Sie kann — jedenfalls in den Händen mancher Leute — zu einer gesellschaftlichen Institution mit vorrangig defensiven, konservierenden Funktionen werden, die ordnet und stabilisiert, statt zu entdecken und zu erneuern.«
Ziemlich ausführlich schildert Maslow die Psychopathologie der Wissenschaft, die, wenn man ihr an einer Universität freien Lauf läßt, fast immer ein intellektuell extrem steriles Ambiente hervorbringt. Natürlich muß man hinzufügen, und Maslow hat dies getan, daß der konservierende Impuls der Wissenschaft, sofern er nicht psychopathisch wird, eine wichtige Rolle spielt, denn er schützt die intellektuelle Gemeinschaft davor, ihre Energien an triviale oder unsinnige Wissenskategorien, wie etwa die Redekunst oder die Astrologie, zu vergeuden.
Aber die Zeiten sind heute nicht günstig für die pedantische Bewachung einmal gezogener Fächergrenzen, und erfreulicherweise beschäftigen sich viele Universitäten intensiv damit, ihre Vorlesungsverzeichnisse umzuformulieren. Überall, besonders an unseren großen Universitäten, stößt man auf lebhafte Bemühungen, die Kategorien, Modelle und Theorien zu erweitern, mit einem Wort, neue Fächer zu entwickeln. Eines der hervorragenden unter diesen neuen Fächern ist die sogenannte Kommunikations- oder Medienwissenschaft oder (wie wir sie an meiner Universität nennen) die Medienökologie.
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Als ihre eigentümliche Aufgabe betrachtet diese Disziplin die Untersuchung der kulturellen Folgen des Medienwandels; sie befaßt sich also mit der Frage, wie sich die Medien auf unsere sozialen Organisationsformen, unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und unsere politischen Vorstellungen auswirken. Weil eine junge Disziplin, muß sich die Medienökologie mit einer Reihe fundamentaler Fragen herumplagen, etwa:
Wie soll man »Medien« definieren?
An welchen Stellen kann man den kulturellen Wandel sichtbar machen? Wie läßt sich ein Zusammenhang zwischen den Veränderungen in unserer Medienumwelt und den Veränderungen in unseren Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen herstellen? Aber solche Fragen beruhen auf einer anderen, erst recht grundsätzlichen Frage, die bis jetzt unbeantwortet geblieben ist: Was für ein Fach ist das eigentlich? Ist es eine exakte Wissenschaft? Ist es ein Zweig der Philosophie? Ist es eine Form von Gesellschaftskritik? Kurz, welchen Platz geben wir ihm im Vorlesungsverzeichnis?
Die übliche Antwort lautet, dieses Fach sei eine Sozialwissenschaft. Es ist das nicht nur die übliche, sondern, wie ich befürchte, auch die einzige Antwort, die man auf unsere Frage erhält. Deshalb ist es wichtig zu zeigen, daß sie falsch ist. Das möchte ich hier versuchen. Ich werde mich dazu mit zwei fundamentalen Fragen beschäftigen. Die erste lautet: Welche Arten von Forschung sind innerhalb der Sozialwissenschaften zulässig? Und die zweite: Welchen Zwecken dienen solche Forschungen?
Was die erste Frage angeht, so möchte ich vorweg klarstellen, daß ich die Implikationen des Ausdrucks »Sozialwissenschaft« ablehne. Mit anderen Worten, ich bin nicht der Ansicht, daß sich Psychologen, Soziologen, Anthropologen oder auch Medienökologen wissenschaftlich betätigen. Und ich bin davon überzeugt, daß sich an Hand von Michael Oakeshotts Unterscheidung zwischen Prozessen und Praktiken sehr genau erklären läßt, warum dies so ist. Als Prozesse bezeichnet er Ereignisse, die in der Natur stattfinden, etwa die Kreisbewegung von Planeten, das Schmelzen von Eis oder die Erzeugung von Chlorophyll in einem Blatt. Solche Prozesse haben mit menschlicher Intelligenz nichts zu tun, sie werden von unwandelbaren Gesetzen gelenkt und gleichsam durch die Struktur der Natur selbst determiniert. Wenn man will, könnte man solche Prozesse auch als Schöpfung Gottes bezeichnen.
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Unter Praktiken hingegen versteht Oakeshott etwas von den Menschen Geschaffenes, nämlich Ereignisse, die sich aus menschlichen Entscheidungen und Handlungen ergeben — zum Beispiel dieser Essay oder die Bildung einer neuen Regierung oder das, was geschieht, wenn wir uns beim Abendessen miteinander unterhalten oder wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben. Derlei Ereignisse sind das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen menschlicher Intelligenz und Umwelt, und obwohl das Dasein der Menschen zweifellos ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit aufweist, wird es doch nicht von unwandelbaren Gesetzen bestimmt.
Nun haben mir wohlmeinende Kollegen erklärt, diese letzte Feststellung, daß nämlich menschliches Handeln nicht durch unwandelbare, universelle Gesetze bestimmt werde, lasse sich nicht beweisen, und eine derartige Behauptung sei ihrem Wesen nach eine metaphysische Spekulation. Nun gut. Betrachten Sie es also als Teil meiner persönlichen Metaphysik, wenn ich an die Willensfreiheit glaube, wenn ich glaube, daß es zwischen menschlichen Wesen und kreisenden Planeten oder schmelzendem Eis fundamentale Unterschiede gibt, und wenn ich davon überzeugt bin, daß wir von unserer Umwelt offenkundig zwar tief beeinflußt werden, daß aber unser Denken und unser Verhalten nicht unwiderruflich von Naturgesetzen, ob unveränderlichen oder anderen, determiniert sind.
Mit anderen Worten, ich meine mit Oakeshott, daß es einen unwiderruflichen Unterschied zwischen einem Blinzeln und einem Zwinkern gibt. Das Blinzeln ist ein Ereignis, das wir als Prozeß klassifizieren können, es hat physiologische Ursachen, die sich im Kontext beweisbarer Postulate und Theorien begreifen und erklären lassen. Das Zwinkern dagegen müssen wir als eine Praktik klassifizieren, die von individuellen und bis zu einem gewissen Grad nicht zu ermittelnden Bedeutungen erfüllt ist und sich keinesfalls kausal erklären oder vorhersagen läßt.
So wie ich das Wort verstehe, ist Wissenschaft die Suche nach den unwandelbaren, universellen Gesetzen, von denen Prozesse gelenkt werden, wobei sie von der Annahme ausgeht, daß zwischen diesen Prozessen Beziehungen von Ursache und Wirkung bestehen. Mit dieser Definition stehe ich auf demselben Boden (wenn auch nicht auf gleicher Höhe) wie Newton und der letzte große Newtonianer, Albert Einstein.
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Nach meinem Verständnis läßt sich das Bestreben, menschliches Verhalten und Empfinden zu erschließen, nicht oder nur in einem äußerst trivialen Sinne als Wissenschaft bezeichnen. Aber gerade dieser triviale Sinn hat einige Leute dazu gebracht, sich den irreführenden Ausdruck »Sozialwissenschaftler« zu eigen zu machen. Bekanntlich haben die Naturwissenschaftler, gemäß dem Ausspruch Galileis, die Sprache der Natur sei die Mathematik, festgestellt, daß sie durch Quantifizierung der Natur deren Gesetzmäßigkeiten so nahe kommen, wie sie nur hoffen können. Diese Entdeckung hat nun allerdings der arroganten Wahnidee Vorschub geleistet, jeder, der irgend etwas zähle, treibe deshalb schon Wissenschaft. Wer so denkt, der müßte auch annehmen, daß ein Anstreicher und ein Kunstmaler schon deshalb das gleiche tun, weil sich beide der Farbe bedienen.
Der Wissenschaftler gebraucht die Mathematik als Hilfsmittel bei der Aufdeckung und Beschreibung des Aufbaus der Natur. Der Soziologe, um ein Beispiel zu nennen, benutzt die Mathematik allenfalls, um eine gewisse Genauigkeit in seine Gedanken zu bringen. Daran ist freilich nichts spezifisch Wissenschaftliches. Alle möglichen Leute zählen Dinge, um Genauigkeit zu erreichen, und behaupten dennoch nicht, sie seien Wissenschaftler. Kriminalkommissare und Kautionsbürgen zählen die Morde, die in einer bestimmten Stadt begangen werden; Richter zählen die Scheidungsprozesse in ihrem Amtsbereich; Geschäftsführer zählen nach, wieviel Geld sie in eine bestimmte Filiale gesteckt haben; und kleine Kinder lieben es, ihre Zehen und Finger zu zählen, weil sie es eben genau wissen wollen.
Informationen dieser Art können wertvoll sein, indem sie jemanden auf eine bestimmte Idee bringen oder, eher noch, indem sie eine Idee untermauern. Zahlen können sogar dazu dienen, Menschen so einzuschüchtern, daß sie eine Idee akzeptieren, die im übrigen ohne jeden Wert ist. Ich selbst habe mehrere solcher wertlosen Ideen gehegt, und eine von ihnen ist kürzlich mit einigen eindrucksvollen Zahlen untermauert worden, die es nicht nur mir gestatten, weiterhin an diesen Unsinn zu glauben, die vielmehr auch andere davon zu überzeugen vermögen. Ich beziehe mich hier auf meine Theorie, daß das Leben in Kalifornien, Florida und anderen warmen Klimaten tendenziell zu einer Schrumpfung des Gehirns führt und die Menschen im Durchschnitt dümmer macht als jene, die in einem kälteren Klima, zum Beispiel in New York, Pennsylvania, Illinois oder Iowa, leben.
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Weil es keine Idee gibt, und sei sie noch so töricht, für die ein Sozialwissenschaftler nicht Belege finden könnte, war ich nicht überrascht, als ich auf eine Studie zweier Doktoranden der Texas Technical University stieß, die herausgefunden haben, daß die zehn Bundesstaaten mit den besten Durchschnittsergebnissen beim Schulreifetest für Sekundärschulen allesamt kalte Winter haben. Wirklich, in jedem Bundesstaat mit einer durchschnittlichen Punktzahl von 510 oder mehr für die sprachlichen ebenso wie für die quantitativen Teile des Tests lag die durchschnittliche Außentemperatur im Januar unter 6 Grad Celsius. Dagegen waren fünf der zehn Bundesstaaten mit den schlechtesten Ergebnissen Staaten mit warmem Klima. Die Temperatur stand selbst dann in einer signifikanten Beziehung zu den Ergebnissen der Schultests, wenn die Forscher Faktoren wie beispielsweise den Kostenaufwand pro Schüler für die Schulbildung in Rechnung stellten. Dies alles beweist nur, daß es ein schwerer Fehler ist, eine Tätigkeit allein schon deshalb wissenschaftlich zu nennen, weil sie Zahlen verwendet, um etwas zu berechnen.
Und ebensowenig wie das Zählen macht das Beobachten den Wissenschaftler aus, was ich hier deshalb ausdrücklich erwähne, weil hin und wieder behauptet wird, wenn man empirisch vorgehe, so sei das wissenschaftlich. Empirisch vorgehen bedeutet, daß man sich die Dinge ansieht, bevor man Schlüsse zieht. Deshalb ist jeder Mensch ein Empiriker, vielleicht mit Ausnahme paranoider Schizophrener.
Empirisch vorgehen bedeutet auch, daß man Beweise vorlegt, die für andere ebenso einleuchtend sind wie für einen selbst. So könnten Sie beispielsweise zu dem Schluß gelangen, daß es mir Spaß macht, Essays zu schreiben, und als Beweis hierfür könnten Sie anführen, daß ich diesen hier geschrieben habe und daß dieses Buch noch mehrere andere enthält. Sie könnten als Beweis auch eine Tonbandaufnahme präsentieren, die ich Ihnen mit dem größten Vergnügen zur Verfügung stelle und auf der ich Ihnen mitteile, daß ich gerne Essays schreibe. Man kann solche Beweismittel empirisch und Ihre Schlußfolgerung empirisch fundiert nennen, aber deshalb betätigen Sie sich noch lange nicht als Wissenschaftler. Sie handeln wie ein vernünftiger Mensch, und darauf können mit Fug und Recht auch viele Leute Anspruch erheben, die keine Wissenschaftler sind.
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Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einer jungen Professorin für Kommunikationswissenschaft von der University of Wisconsin, die den Anspruch erhob, sie gehöre der Gemeinschaft der Sozialwissenschaftler an. Grundlage für ihren Anspruch war die Tatsache, daß sie eine sogenannte Korrelationsstudie über den Zusammenhang zwischen Fernsehen und aggressivem Verhalten bei Kindern durchgeführt hatte. Sie war zu dem Schluß gelangt, daß manche Kinder in Madison, Wisconsin, die häufig Sendungen sehen, in denen Gewalt eine große Rolle spielt, auch dazu neigen, sich aggressiver zu verhalten als Kinder, die selten solche Sendungen sehen.
Sie konnte nicht sagen — und hegte auch keinerlei Hoffnung, es jemals sagen zu können —, ob die Kinder aggressiv waren, weil sie häufig Gewalt im Fernsehen sahen, oder ob sie sich gewalttätige Sendungen im Fernsehen ansahen, weil sie aggressiv waren. Sie konnte auch nicht sagen — und hegte auch gar nicht den Wunsch, es zu tun —, warum sich manche Kinder, die häufig Gewaltsendungen sahen, nicht aggressiv verhielten, oder warum sich andere Kinder, die solche Sendungen nicht häufig sahen, durchaus aggressiv verhielten.
Sie erzählte mir auch, in den letzten fünf Jahren seien an amerikanischen Universitäten mehr als 2500 solcher Untersuchungen durchgeführt worden, mit dem Ergebnis, daß es wenig Übereinstimmung gibt, außer im Hinblick auf die Erkenntnis, daß häufiges Anschauen von Gewaltsendungen im Fernsehen ein Faktor ist, der möglicherweise dazu beiträgt, daß sich manche Kinder aggressiv verhalten; nicht völlig klar ist jedoch, worin die Ursache aggressiven Verhaltens besteht. Mit anderen Worten, nach 2500 Untersuchungen haben wir eine Feststellung, die etwas weniger aussagekräftig ist als meine Feststellung, daß Ronald Reagans telegener Charme möglicherweise seine Wahl in das Präsidentenamt begünstigt hat.
Angesichts einer derart dürren Auffassung von Wissenschaft stellte ich der Kollegin die Frage, wie sie Wissenschaft definiere. Sie erwiderte, in der Wissenschaft sei es erforderlich, empirisch vorzugehen, die Dinge zu messen, die eigenen Methoden und Schlußfolgerungen zu veröffentlichen und die eigenen Behauptungen zu prüfen. Weil diese Definition wissenschaftliches Tun nicht von dem unterscheidet, was normaler, gesunder Menschenverstand auch tut, hatte ich ihr bald das Eingeständnis abgewonnen, die von ihr genannten Tätigkeiten seien in der Wissenschaft zwar notwendig, aber sie seien kaum hinreichend, um ein Handeln als wissenschaftlich zu qualifizieren.
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Schließlich hatte ich sie so in die Enge getrieben, daß sie nur noch sagen konnte: »Na ja, kommt es denn überhaupt darauf an, wie man es nennt?« Gewiß, so sollte man mit einer jungen Professorin eigentlich nicht umgehen, aber ich tat es, weil ich es für wichtig erachte, Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft auseinanderzuhalten.
Dafür gibt es drei Gründe. Erstens lohnt es sich immer, darauf zu bestehen, daß die Menschen zur Beschreibung dessen, was sie tun, die richtigen Worte gebrauchen. Zweitens treiben viele Leute Mißbrauch mit dem Wort »Wissenschaft«, weil sie hoffen, ihre Arbeit auf diese Weise in den Abglanz des Prestiges der Wissenschaft zu rücken. Die Amerikaner leiden besonders stark unter Wissenschaftsgläubigkeit, deshalb müssen sie sich derartig abscheuliche Wörter wie Christian Science, Creation Science, Scientology, Politische Wissenschaft, Entscheidungswissenschaft, Verwaltungswissenschaft und schließlich Verhaltens- und Sozialwissenschaft gefallen lassen.
Und der dritte Grund besteht darin, daß es, wenn man die Untersuchung menschlichen Verhaltens als Wissenschaft klassifiziert, eine Tendenz gibt, den Modus der Fragen einzugrenzen, die überhaupt gestellt werden dürfen. Die Zähler und Empiriker — also die Pseudo-Wissenschaftler — neigen dazu, anderen das Recht zu bestreiten, alternative Wege einzuschlagen — indem sie ihnen beispielsweise Ämter und Posten verweigern. Das führt zwangsläufig zur Ausdörrung ihrer Disziplin und macht es den Leuten mit Ideen im Kopf schwer, sich Gehör zu verschaffen.
Bevor ich nun erläutere, was Soziologie, Psychologie, Medienökologie usw. meiner Ansicht nach in Wirklichkeit sind, möchte ich auf ein weiteres Beispiel sozialwissenschaftlicher Forschung hinweisen, um deutlich zu machen, warum sie in Wahrheit gar keine Wissenschaft ist. Ich wähle dazu eine Studie, die als sozialwissenschaftliche Arbeit vielleicht nicht unter ethischem, wohl aber unter technischem Blickwinkel große Bewunderung erregt hat. Ich meine das — sogenannte — Experiment, das Stanley Milgram geleitet und unter dem Titel Obedience to Authority dargestellt hat.
Es handelt sich hierbei um die bekannte Untersuchung, in deren Verlauf Milgram Menschen zu veranlassen suchte, unschuldige Opfer, die allerdings in das Experiment eingeweiht waren, mit Elektroschocks zu traktieren. In Wirklichkeit also wurden den Opfern diese Elektroschocks gar nicht verabreicht, aber die meisten Versuchspersonen glaubten es, und viele von ihnen lösten Schocks aus, die, wenn sie echt gewesen wären, das Opfer hätten töten können.
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Milgram gab sich erhebliche Mühe beim Entwurf der Umgebung, in der sich das alles abspielte, und sein Buch ist voll von Statistiken, die angeben, wie viele taten, was ihnen die Versuchsleiter sagten, und wie viele nicht. Wenn ich mich recht erinnere, zeigten sich etwa 65 Prozent der Versuchspersonen willfähriger, als es für das Wohlbefinden ihrer Opfer gut gewesen wäre. Milgram zieht aus seinem Experiment folgenden Schluß: Angesichts einer Instanz, die sie als rechtmäßige Autorität auffassen, tun die meisten Menschen das, was man ihnen sagt. Anders ausgedrückt: Der soziale Kontext, in dem die Menschen sich befinden, ist ein bestimmender Faktor dafür, wie sie sich verhalten.
Nun ist diese Schlußfolgerung durchaus eine Binsenweisheit, wie die Lebenserfahrung seit Maimonides bis zu meiner Tante Molly lehrt. Ausnehmen muß ich hier allerdings die amerikanischen Psychologen. Wie es scheint, hat Milgram, bevor er sein Experiment durchführte, einer großen Gruppe von Psychologen einen Fragebogen geschickt, in dem er sie um ihre Meinung darüber bat, wie viele Versuchspersonen unter solchen Umständen Elektroschocks auslösen würden. Die Psychologen glaubten, die Zahl werde sehr viel kleiner ausfallen, als sie dann in Wirklichkeit war, und gründeten diese Einschätzung auf ihre Kenntnis des menschlichen Verhaltens. Was für mich zufriedenstellend erklärt, warum ihre Schätzungen so falsch waren.
Wenn ich sage, daß Milgrams Schlußfolgerung eine Binsenweisheit ist, so bedeutet dies nicht, daß wirkliche Wissenschaftler nicht ebenfalls zuweilen Binsenweisheiten hervorbrächten, aber es kommt dies ziemlich selten vor und ist niemals Anlaß zur Begeisterung. Andererseits sind derartige Schlußfolgerungen immer ein typisches Kennzeichen der akademischen Pseudo-Wissenschaft.
Zweitens ist Milgrams Studie nicht im strengen Sinne empirisch, denn sie beruht nicht auf der Beobachtung von Menschen in, wenn man es so nennen will, natürlichen Situationen. Ich nehme an, daß sich niemand sonderlich dafür interessiert, wie sich Menschen in einem Laboratorium an der Yale University oder anderswo verhalten. Interessant wäre jedoch, wie sie sich in Situationen verhalten, in denen es für ihren eigenen Lebenszusammenhang auf ihr Verhalten ankommt.
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Und tatsächlich muß man alle Schlußfolgerungen, die man aus dieser Studie ziehen will, insofern einschränken, als sie nur für Menschen in Laboratorien und unter den von Milgram hergestellten Bedingungen gelten. Aber selbst wenn wir annehmen, daß es eine Entsprechung zwischen einem solchen Laboratoriumsverhalten und lebensähnlichen Situationen gibt, läßt sich nicht voraussagen, welche lebensähnlichen Situationen dies sein werden. Und genausowenig kann man ernsthaft behaupten, daß zwischen der Bereitschaft, eine rechtmäßige Autorität zu akzeptieren, und der Bereitschaft, ihre Gebote zu befolgen, ein Ursache-Wirkung-Verhältnis besteht. Milgram selbst zeigt uns, daß sie nicht besteht, denn immerhin sagten ihm 35 Prozent seiner Versuchspersonen, er solle mit dem Unfug aufhören. Übrigens hat Milgram nicht die leiseste Ahnung, warum ihm manche Leute sagten, er solle mit dem Unfug aufhören, und andere nicht. Außerdem bin ich ziemlich sicher, daß Milgrams Zahlen ganz anders ausgefallen wären, wenn er seine Versuchspersonen aufgefordert hätte, Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem zu lesen, bevor sie im Laboratorium erschienen.
Aber nehmen wir an, ich würde mich hierin irren, und nehmen wir weiter an, Milgram hätte herausbekommen, daß 100 Prozent seiner Versuchspersonen tun, was man ihnen sagt — mit oder ohne Hannah Arendt. Nehmen wir außerdem an, ich würde Ihnen eine Geschichte von einer Gruppe von Menschen erzählen, die sich in irgendeiner realen Situation weigern, die Gebote einer rechtmäßigen Autorität zu befolgen. Würden Sie mir dann sagen, das könne nicht sein, weil Milgrams Untersuchung etwas ganz anderes bewiesen habe? Oder würden Sie sagen, damit sei Milgrams Experiment widerlegt? Vermutlich würden Sie weder das eine noch das andere sagen, weil Milgrams Experiment nämlich irgendeine Theorie, die man als Gesetz der menschlichen Natur bezeichnen könnte, weder bestätigt noch falsifiziert. Seine Studie, die mir übrigens ebenso faszinierend wie erschreckend erscheint, ist keine Wissenschaft. Sie ist etwas ganz anderes.
Und nun möchte ich endlich sagen, mit was für einer Art von Arbeit er meiner Ansicht nach befaßt war — und mit was für einer Arbeit sich diejenigen befassen, die menschliches Verhalten und menschliche Situationen untersuchen. Ich möchte hier zunächst auf einen berühmten Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein hinweisen. Freud schickte gelegentlich eines seiner Bücher an Einstein und bat ihn gleichzeitig um sein Urteil.
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Einstein erwiderte, er halte das Buch für exemplarisch, sei aber nicht qualifiziert, seinen wissenschaftlichen Wert zu beurteilen. Worauf Freud ein wenig gereizt antwortete, wenn Einstein über den wissenschaftlichen Wert des Buches nicht befinden könne, dann sei ihm, Freud, nicht klar, wieso er das Buch für exemplarisch erachten könne. Entweder es sei Wissenschaft, oder es sei gar nichts. Nun, selbstverständlich war Freud im Unrecht. Sein Werk ist exemplarisch - sogar monumental -, aber außer einigen amerikanischen Psychologen meint heute niemand mehr, daß Freud Wissenschaft getrieben habe, genausowenig, wie gebildete Leute meinen, Marx habe Wissenschaft betrieben, oder Max Weber oder Lewis Mumford oder Bruno Bettelheim oder C. G. Jung oder Margaret Mead oder Arnold Toynbee. Diese Leute - und auch Stanley Milgram - haben etwas ganz anderes getan, sie haben Anekdoten über menschliches Verhalten erzählt. Ihre Arbeit ist eine Form von Geschichtenerzählen, nicht unähnlich der herkömmlichen Literatur, wenngleich in einigen wichtigen Belangen von ihr unterschieden.
Ich nenne die Forschungen dieser Leute Geschichtenerzählen, weil dieses Wort darauf hindeutet, daß der Verfasser einer solchen Geschichte einer Reihe von menschlichen Ereignissen eine unverwechselbare Deutung gegeben hat, daß er seine Deutung durch vielfältige Beispiele erhärtet hat und daß seine Deutung nicht bewiesen oder widerlegt werden kann, sondern ihren Reiz aus der Kraft ihrer Sprache schöpft, aus der Tiefendimension ihrer Erklärungen, aus der Triftigkeit ihrer Beispiele und der Glaubwürdigkeit ihres Stoffes. Und daß dies alles einem erkennbaren moralischen Zweck dient. Die Wörter »wahr« und »falsch« sind hier nicht in dem Sinne anwendbar, der ihnen in der Mathematik oder in der exakten Wissenschaft zukommt. Denn an diesen Deutungen gibt es nichts, was universal und unwiderruflich wahr oder falsch wäre. Es gibt keine Prüfverfahren, um sie zu bestätigen oder zu falsifizieren. Es gibt keine Postulate oder Voraussetzungen, in denen sie verankert sind. Sie sind an eine Zeit und eine Konstellation gebunden und vor allem an die kulturellen Vorurteile des Forschers. Ganz ähnlich wie in der Literatur.
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Ein Schriftsteller, zum Beispiel D.H. Lawrence, erzählt eine Geschichte über das Geschlechtsleben einer Frau, Lady Chatterley. Wir können daraus etwas über die Geheimnisse mancher Leute erfahren und dann fragen, ob die Geheimnisse der Lady Chatterley vielleicht doch alltäglicher sind, als wir vermutet haben. Lawrence erhob nicht den Anspruch, ein Wissenschaftler zu sein, aber er sah sich die Menschen, die er kannte, sehr genau und sehr gründlich an und gelangte zu dem Schluß, daß es im Himmel und auf Erden mehr Scheinheiligkeit gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.
Nun hat sich auch Alfred Kinsey für das Geschlechtsleben von Frauen interessiert, und deshalb haben er und seine Assistenten Tausende von ihnen interviewt, um herauszufinden, wie sie über ihr sexuelles Verhalten dachten. Jede Frau erzählte ihre Geschichte, obschon diese Geschichte durch Kinseys Fragen nachdrücklich strukturiert wurde. Manche von ihnen erzählten alles, was man sie erzählen ließ, manche nur wenig, und manche haben wahrscheinlich gelogen. Aber wenn man alles zusammennimmt, ergibt sich eine Kollektiverzählung, die einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort angehört. Sie ist zwar abstrakter als die Geschichte von D. H. Lawrence, überwiegend in der Sprache der Statistik erzählt, und natürlich ohne tiefere psychologische Einsicht. Aber es ist jedenfalls eine Geschichte. Man könnte sie eine Stammeserzählung über tausendundeine Nacht nennen, berichtet von tausendundeiner Frau, und ihr Stoff ist nicht sehr verschieden von dem in Lawrences Roman — hier wie dort geht es darum, daß das Geschlechtsleben mancher Frauen viel eigenartiger und aktiver ist, als uns einige andere Geschichten, vor allem die von Freud, glauben ließen.
Ich sage nicht, daß es zwischen Lawrence und Kinsey keinerlei Unterschied gebe. Lawrence entfaltet seine Geschichte in einer Sprachstruktur, die man narrativ nennen könnte; Kinseys Sprachstruktur hingegen könnte man als argumentative Darstellung bezeichnen. Diese Formen unterscheiden sich gewiß voneinander, wenn auch nicht so stark, wie man vielleicht annehmen mag. Ich erinnere hier an das, was man über die Brüder Henry und William James gesagt hat: Henry sei der Romancier, der wie ein Psychologe schreibt, und William der Psychologe, der wie ein Romancier schreibt. So wie ich das Wort »Geschichte« verstehe, ist die argumentative Darstellung ebensogut wie die narrative imstande, eine solche Geschichte zu entfalten. Natürlich wird die Geschichte von Lawrence durch die Grenzen seiner eigenen Phantasie bestimmt. Und er war nicht verpflichtet, andere soziale Tatsachen zu berücksichtigen als die, die er zu kennen wähnte.
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Seine Geschichte ist ganz und gar persönliche Wahrnehmung. Deshalb rechnen wir sie zur fiktiven Literatur. Kinseys Geschichte stammt aus dem Mund anderer Menschen, und er war durch das begrenzt, was sie ihm mitteilten, als er ihnen seine Fragen stellte. Seine Geschichte könnten wir einen Tatsachenroman nennen. Aber wie alle Geschichten ist auch sie von moralischen Vorurteilen und soziologischer Theorie eingefärbt. Kinsey war es, der die Fragen formulierte, der bestimmte, wer interviewt werden sollte und in welchem Rahmen, und wie die auf diese Weise zustande gekommenen Antworten zu interpretieren seien. Das verleiht seiner Geschichte ihre Form und Stichhaltigkeit. Wir dürfen sogar annehmen, daß Kinsey, ebenso wie Lawrence, von Anfang an wußte, welches Thema seine Geschichte haben würde. Sonst hätte er sich wahrscheinlich gar nicht die Mühe gemacht, sie zu erzählen.
Außerdem kann man feststellen, daß der Romancier ebenso wie der Sozialforscher beim Aufbau seiner Geschichten Archetypen und Metaphern verwendet. Cervantes zum Beispiel schenkte uns in Don Quijote den unvergänglichen Archetypus des unverbesserlichen Träumers und Idealisten. Der Sozialhistoriker Marx schuf den Archetypus des skrupellosen, anonymen Kapitalisten. Flaubert schuf in Emma Bovary den Typus der unterdrückten bürgerlichen Romantikerin. Und Margaret Mead haben wir das Bild der sorglos und ohne Schuldgefühle heranwachsenden jungen Samoaner zu verdanken. Kafka entwarf das Bild des entfremdeten, vom Ekel vor sich selbst geplagten Städters. Und Max Weber zeichnete die schwer arbeitenden Männer, die von jener Mythologie vorangetrieben wurden, die er protestantische Ethik nannte. Dostojewski entdeckte die Gestalt des Egozentrikers, der in Liebe und religiösem Eifer Erlösung findet, und B.F. Skinner schuf das Bild des Automatenmenschen, der seine Erlösung in einer wohltätigen Technik findet.
Man kann sagen, daß uns im 19. Jahrhundert die Romanschriftsteller die eindringlichsten Gleichnisse und Bilder für unsere Kultur geschenkt haben. Im 20. Jahrhundert jedoch wurden solche Bilder und Gleichnisse großenteils von Sozialhistorikern und Sozialforschern hervorgebracht.
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Denken wir an John Dewey, William James, Erik Erikson, Alfred Kinsey, Thorstein Veblen, Margaret Mead, Lewis Mumford, B. F. Skinner, Carl Rogers, Marshall McLuhan, Noam Chomsky und schließlich auch an Stanley Milgram, und es wird offensichtlich, daß unsere Vorstellungen davon, was wir sind und in was für einem Land wir leben, viel häufiger aus ihren Geschichten als aus denen unserer berühmten Literaten herrühren. Ich will damit übrigens nicht sagen, daß die Gleichnisse der Sozialforschung auf die gleiche Art und Weise zustande kommen wie die der Romane und Dramen.
Der Literat schafft Gleichnisse durch die beharrliche, mit konkreten Details arbeitende Schilderung der Handlungen und Gefühle besonderer Menschen; die Soziologie bildet nur den Hintergrund, im Zentrum steht die individuelle Psychologie. Der Sozialforscher verfährt anders. Für ihn steht ein größerer Wirklichkeitsausschnitt im Zentrum, und das individuelle Leben wird gleichsam lediglich als Silhouette, in Rückschlüssen und Andeutungen sichtbar. Außerdem gehen die Romanschriftsteller so vor, daß sie etwas zeigen.
Die Sozialforscher hingegen, die sich abstrakter sozialer Tatsachen bedienen, operieren mit Gründen, mit Logik, mit Argumenten. Deshalb ist die fiktive Literatur in aller Regel unterhaltsam. Während Oscar Wilde und Evelyn Waugh uns die faulen, dem Geltungskonsum huldigenden Reichen zeigen, erweckt Thorstein Veblen sie durch argumentative Darstellung zum Leben. In der Gestalt des Sammy Glick hat uns Budd Shulberg den Narzißten gezeigt, dessen Herkunft Christopher Lasch kürzlich durch soziologische Analyse zu erklären versuchte. Es gibt also Unterschiede zwischen diesen Geschichtenerzählern, und meistens macht es mehr Spaß, unsere Romanschriftsteller zu lesen. Aber die Geschichten unserer Sozialforscher sind zumindest genauso unwiderstehlich und heutzutage offenbar um einiges glaubwürdiger.
Worauf ich hinaus will, ist dies: Wenn wir uns erst einmal die falsche Vorstellung, wir seien Wissenschaftler, aus dem Kopf geschlagen und den Gedanken akzeptiert haben, daß wir zu den wichtigsten Erzählern psychologischer und sozialer Geschichten in unserer Kultur gehören, dann ist auch klar, wie die Antwort auf die beiden zu Beginn gestellten Fragen lauten muß. Die Frage nach den zulässigen Formen von Sozialforschung können wir beantworten, indem wir uns den denkbar größten Spielraum zugestehen. Historische Spekulation, philosophische Debatte, Literaturkritik, Fallgeschichten, Biographie, semantische und semiotische Analyse, Ethnographie — das alles und vieles mehr sollte als Form, in der unsere Geschichten erzählt werden können, zulässig sein.
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Und je weniger Sorgen man sich wegen der Methode macht, desto besser. Pedanterie in Methodenfragen bricht immer dann aus, wenn jemand keine Geschichte zu erzählen hat. Die besten Vertreter unseres Faches haben sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Methodenfragen kaum interessiert. Wie könnte man die Methode von Harold Innis kennzeichnen? Oder die von Susanne Langer, von Eric Havelock, von McLuhan, Mumford oder Jacques Ellul? Sie machten sich alle sozialen und historischen Theorien und Tatsachen zunutze, die ihnen bedeutsam erschienen; sie legten ihre Argumente vor und machten dabei Gebrauch von den Werkzeugen der Vernunft, der Logik, der Intuition und der Mutmaßung.
Sogar Erving Goffman, der auf Technik und Formalismus mehr Gewicht zu legen scheint als die meisten, hat keine wirkliche Methode; was er hat, ist ein Gleichnis: Das Leben ist eine Bühne, und wir alle spielen Theater auf ihr. Natürlich können wir auch Dinge zählen, und wenn wir unbedingt wollen, können wir auch Korrelationsstudien betreiben. Aber wir sollten uns dabei klar machen, welche Gesellschaftstheorie unserer Geschichte als Rahmen dient. George Gerbner führt solche Studien durch, aber nur, weil er die Geschichte eines Volkes erzählen will, das langsam und vielleicht unvermeidlich vom Gefühl eigener Machtlosigkeit überwältigt wird. Stanley Milgram unternahm solche Studien, weil er demonstrieren wollte, daß eine Binsenweisheit aus unser aller Lebenserfahrung erschreckender sein kann als irgend etwas, von dem wir noch nie gehört haben. Alfred Kinsey unternahm solche Studien, weil er vermutete, die offizielle Moral sei ein Blödsinn und sei es wahrscheinlich immer gewesen.
So lautet denn die Antwort auf die erste Frage, daß die Medienökologen, wenn sie den Lockungen der Pseudo-Wissenschaft widerstehen und ihre Rolle als Schöpfer und Erzähler sozialer Mythen ernst nehmen, unser Untersuchungsgebiet unermeßlich bereichern können. Natürlich geht so etwas nicht ohne Risiko ab. Mit anderen Worten, die meisten von uns werden ganze Berge von Abfall hervorbringen — fragwürdige Geschichten ohne glaubwürdige Belege, ohne einleuchtende Logik oder überzeugende Argumentation. Wie viele Forscher vom Rang eines Lewis Mumford oder Walter Ong, eines Lynn White oder Jacques Ellul gibt es denn?
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Aber andererseits: Wie viele Schriftsteller vom Range eines Kafka, eines Proust, eines Joyce gibt es? Dieses Risiko muß man in Kauf nehmen. Die Alternative bestünde darin, daß wir eine dürre Pseudo-Wissenschaft bleiben, die zu nichts nutze ist, außer zur Fließbandfabrikation von Doktortiteln.
Und was die zweite Frage angeht — welchem Zweck dient solche Forschung? —, so lautet die Antwort selbstverständlich nicht: um einen Beitrag zu unserem Fach zu leisten, sondern: um einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis der Menschen und zum zivilisierten Umgang miteinander zu leisten. Auch die Romanschriftsteller schreiben meist nicht, um die Romanliteratur zu bereichern. Die guten unter ihnen schreiben, weil sie zornig oder neugierig oder zynisch oder verzaubert sind. Der scharlachrote Buchstabe wurde nicht von einem Mann verfaßt, der die Kunst des Romans voranbringen wollte, sondern von einem, der die Kunst des Zusammenlebens voranbringen wollte.
Auch Bücher wie <Mythos der Maschine> von Mumford, <Die magischen Kanäle> von McLuhan, <The Technological Society> von Jacques Ellul, <Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft> von Joseph Weizenbaum, <Stigma> von Erving Goffman, <Public Opinion> von Walter Lippmann und — wenn Sie mir verzeihen, daß ich mich eigenmächtig in diese illustre Schar einreihe — <Wir amüsieren uns zu Tode> — wurden von Leuten verfaßt, denen es um die Verbesserung nicht der Wissenschaft, sondern des gesellschaftlichen Lebens ging. Der Zweck solcher Arbeiten ist also im wesentlichen ein didaktischer und moralischer.
Alle diese Leute erzählen ihre Geschichten aus dem gleichen Grund, aus dem Buddha, Konfuzius, Hillel und Jesus die ihren erzählten. Um es klar und deutlich zu sagen: Die sogenannten Sozialwissenschaften sind allesamt bloß Unterabteilungen der Moraltheologie. Es stimmt zwar, daß Sozialforscher ihre Ansprüche auf Wissen nur selten auf die Unanfechtbarkeit heiliger Texte gründen und noch seltener auf irgendeine Offenbarung. Aber man sollte sich von den methodischen Unterschieden zwischen Predigern und Gelehrten nicht blenden oder täuschen lassen. Ohne blasphemisch sein zu wollen, behaupte ich, daß Jesus ein ebenso scharfsinniger Soziologe war wie Veblen. Besser läßt sich nämlich Veblens Theorie der feinen Leute gar nicht zusammenfassen als durch Jesus' Bemerkung über die Reichen, das Kamel und das Nadelöhr. Als Sozialforscher unterschieden sich die beiden nur insofern, als Veblen zur Weitschweifigkeit neigte.
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So wie die Moraltheologie macht auch die Sozialforschung keine neuen Entdeckungen. Sie entdeckt nur wieder, was den Menschen früher schon gesagt worden ist und was ihnen immer wieder gesagt werden muß. Wenn der Preis für die Zivilisation wirklich in der Verdrängung der Sexualität besteht, dann hat nicht Freud diese Entdeckung gemacht. Wenn das Bewußtsein der Menschen durch ihr materielles Sein bestimmt wird, dann hat nicht Marx diese Entdeckung gemacht. Wenn das Medium die Botschaft ist, dann hat dies nicht McLuhan entdeckt.
So lautet also die Antwort auf die zweite Frage, daß die Sozialforschung dazu da ist, die Wahrheiten des gesellschaftlichen Lebens wiederzuentdecken, das moralische Verhalten der Menschen zu kommentieren und zu kritisieren, und schließlich dazu, Gleichnisse, Bilder, Ideen zu entwickeln, die den Menschen dabei helfen, ihr Leben mit einem gewissen Maß an gegenseitigem Verständnis und Würde zu führen.
Die Medienökologie speziell dient dem Zweck, Geschichten über die Folgeerscheinungen von Technologien zu erzählen; zu schildern, wie Medienumwelten neue Kontexte hervorbringen, die möglicherweise die Art und Weise verändern, wie wir denken und unser gesellschaftliches Handeln gestalten, und die uns besser oder schlechter, klüger oder dümmer, freier oder versklavter machen können.
Der Leser wird mir sicherlich eine gewisse Voreingenommenheit für mein Fach nachsehen, wenn ich abschließend sage, daß die Geschichten, die die Medienökologen zu erzählen haben und noch erzählen werden, um einiges wichtiger sind als die anderer akademischer Geschichtenerzähler — und zwar deshalb, weil die Macht, mit der die Kommunikationstechnologie das Dasein der Menschen zu formen vermag, von der Art ist, die sich den Menschen nicht so ohne weiteres zu Bewußtsein bringen läßt. Gleichzeitig leben wir ganz offenkundig in einer Zeit, in der unser Leben — ob uns das gefällt oder nicht — der rigorosen Vorherrschaft neuer Medien unterworfen wurde.
Und deshalb sind wir, im Interesse einer menschenwürdigen Zukunft, verpflichtet, Geschichten darüber zu erzählen, was für Paradiese wir dabei gewinnen und was für ein Paradies wir verlieren können.
Wir werden nicht die ersten sein, die solche Geschichten erzählen. Aber wenn unsere Geschichten nicht den Klang der Wahrheit haben, könnten wir die letzten sein.
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1988 von Neil Postman