3. Namen für Raketen
1988 von Neil Postman
Den folgenden Text (und zwei andere in diesem Buch) nehme ich hier auf, wohl wissend, daß es heute immer schwieriger wird, Satiren oder Parodien zu schreiben. (Es gibt einen Unterschied zwischen beidem, aber worin er besteht, ist mir immer unklar geblieben.) Die Spätnachrichten im Fernsehen und die Titelseiten unserer Tageszeitungen wetteifern mit unserer Phantasie in dem Bestreben, Unausdenklichkeiten zu ersinnen. Die Wirklichkeit ist heute nicht nur seltsamer als alle Fiktion, sie ist auch von jeglichem Menschenverstand weit abgerückt.
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Es entspricht der grenzenlosen Hingabe unseres Landes an die Prinzipien der Demokratie, wenn am 10. Januar nächsten Jahres die Verantwortlichen zu zweiwöchigen öffentlichen Beratungen über die Namengebung bei Raketen auf Cape Canaveral zusammentreffen.
Unter der offiziellen Bezeichnung »Konferenz über demokratische Raketen-Nomenklatur« wird diese bislang beispiellose Zusammenkunft unterschiedlichen Gruppen aus dem ganzen Land Gelegenheit bieten, ihren Einfluß bei der Auswahl von Namen für die Raketen unserer Nation geltend zu machen.
In der offiziellen Ankündigung der Konferenz hieß es: »Es gilt zu berücksichtigen, daß jede Rakete, die wir herstellen, jedermann gehört, daß sie mit jedermanns Geld bezahlt und durch jedermanns Glauben an ihren friedlichen Zweck vorangetrieben wird. Deshalb sollten alle Bürger bei der Entscheidung, wie unsere Raketen heißen sollen, eine Stimme haben. Dies gehört zum Wesen der Demokratie, so wie wir hier am Cape sie verstehen.«
Der leitende Kopf hinter der Konferenz (er selbst sagt auf seine typische charmante Art »der gleitende Kopf«) ist Generalmajor Francis (»Rosey«) Logan, ein agiler, geselliger Texaner, der der Public-Relations-Abteilung von Cape Canaveral vorsteht. Ebenso langsam im Formulieren wie schnell im Erfassen von Problemen, verachtet General Logan sämtliche Formen von Totalitarismus mit einer selbst für das Personal von Cape Canaveral ungewöhnlichen Entschiedenheit.
»Das Komische ist«, so sagt er gern, »daß die meisten Leute glauben, Raketen kämen mit einem Namen auf die Welt, wie die kleinen Kinder. Aber das hat mit der Wahrheit natürlich überhaupt nichts zu tun. In Wirklichkeit kennt niemand den Namen einer Rakete, bevor jemand ihn ganz bewußt gewählt hat.«
Bis heute hatte die amerikanische Öffentlichkeit mit dieser Auswahl so gut wie nichts zu tun. Tatsächlich war während der letzten zehn Jahre ein Mann — und nur dieser eine — für die Benennung unserer Raketen verantwortlich. Es war der inzwischen verstorbene Michael Protopopolus, ein grimmiger, ehemaliger College-Professor mit einem eisernen Willen und einer ungezügelten Leidenschaft für alles Griechische, alles Klassische und alles Klassisch-Griechische. Infolgedessen tragen die meisten unserer wichtigen Raketen neben ihrer ehrfurchtgebietenden Nutz- bzw. Sprenglast auch noch ehrfurchtgebietende Namen wie Saturn, Atlas, Jupiter, Nike und Zeus.
Protopopolus, der im vergangenen Oktober bei einem Unfall auf dem Cape ums Leben kam, hatte nicht nur die Aufgabe, Namen für sämtliche neuen Raketen vorzuschlagen, er hatte auch die Macht, Namensvorschläge, die von anderen gemacht wurden, anzunehmen oder abzulehnen.
Augenscheinlich ließ er gelegentlich auch einmal einen nicht-hellenischen Namen zu (zum Beispiel Challenger), aber nur, wenn er das Gefühl hatte, die Rakete selbst sei mit Mängeln behaftet und ihre Produktion werde wahrscheinlich bald eingestellt.
Nach dem Tode von Protopopolus wurde sein Posten mit Dr. Feldstein besetzt, einem Atomphysiker (mit einer Leidenschaft für Semantik) von der Universität Chicago. Es zeigte sich sofort, daß Feldsteins Berufung ein Fehler war. Seine ersten vier Vorschläge — Talmud, Diaspora, Exodus und Mischna — lösten bei allen Mitarbeitern auf dem Cape Verlegenheit aus, besonders bei den deutschen Physikern und Ingenieuren, die trotz ihres vorgerückten Alters noch immer die Hauptverantwortung für den Entwurf der Raketen tragen.
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Zum Glück erhob man gegen Feldstein bald den Vorwurf, er sei latent homosexuell; daraufhin wurde er mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden und zurück nach Chicago verfrachtet.
»Alle diese unerfreulichen Dinge liegen jetzt hinter uns«, sagt Logan. »Mit Ausnahme der Mischna erwies sich keine der jüdischen Raketen als besonders gut, und wir haben ihre Produktion eingestellt. Die Mischna wird heute paradoxerweise ausschließlich in arabische Länder geliefert, wo sie natürlich nach Belieben umbenannt werden kann. Wir hoffen jedenfalls«, so fährt Logan fort, »daß die Konferenz künftig jedes Jahr stattfinden kann und uns auf diese Weise genügend Namen für das jährliche Raketenangebot zur Verfügung stehen werden.« Der Ablauf der Konferenz wird ganz einfach sein. Jede Gruppe von Bürgern, die einen oder mehrere Namen vorschlagen möchten, möge sich vor dem 1. April an folgende Adresse wenden:
Konferenz über demokratische Raketen-Nomenklatur
c/o Generalmajor Francis Logan
Public Relations Division
Cape Canaveral, FloridaJede Gruppe nominiert einen Sprecher, der fünfzehn Minuten lang vor der Versammlung reden kann. Während dieser Zeit muß er erklären, welche Gruppe er vertritt, welchen Namen oder welche Namen er vorschlägt und weshalb er glaubt, daß diese Namen unserem Land zur Ehre gereichen werden. Die letzten beiden Tage der Konferenz werden der Abstimmung über die verschiedenen Vorschläge vorbehalten sein, wobei jede Gruppe eine Stimme hat.
Nach Aussage von General Logan ist das Echo auf die Konferenz bereits jetzt zufriedenstellend. Innerhalb der ersten zwölf Stunden nach der Ankündigung hatten nicht weniger als sechzehn Gruppen Redezeit beantragt, darunter die Gewerkschaft der Hafenarbeiter, die Föderation der presbyterianischen Geistlichen der Ostküste, die Hillel-Vereinigung der Universität Tulsa und der Ortsverein Baton Rouge des White Citizens Council.
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Die vielleicht interessanteste und freimütigste Gruppe, die sich bisher gemeldet hat, ist die Vereinigung der Physiker und Ingenieure teutonischer naturwissenschaftlicher Institute. Der Sprecher der Gruppe, Dr. Erik Schreiber, ist ein glänzender, wiewohl exzentrischer Raketentreibstoff-Spezialist von 82 Jahren, der seit 1950 aus irgendwelchen seltsamen Gründen zweimal zum Osten übergelaufen und zweimal in den Westen zurückgekehrt ist. Als einer der angesehensten Raketeningenieure am Cape erklärt er in einwandfreiem Englisch: »Wenn man moralische, soziale und ethische Fragen einmal beiseite läßt, glaubt sich unsere Gruppe berechtigt, den einen oder anderen Namen vorzuschlagen, denn immerhin könnte man sagen, daß wir die Dinge fabrizieren, denen ihr Amerikaner Namen geben wollt.« Und mit einem raschen, ziemlich beunruhigenden Lächeln fügt er in einwandfreiem Russisch hinzu: »Immerhin könnte man doch sagen, daß es, wenn sich unsere Gruppe in den Osten absetzen würde, kein Raketenprogramm am Cape gäbe.«
So ist es in der Tat, und General Logan, der dies weiß, hat sich ganz offen auf die Seite Schreibers gestellt. Auf seine eher zögerliche Art erklärt er: »Sie wollen bloß einen einzigen Namen vorschlagen — Deutschland Über Alles —, mir kommt er zwar ein bißchen lang vor, aber man kann nicht sagen, daß er unvernünftig ist. Jedenfalls sind wir es diesen mutigen, einfallsreichen Männern schuldig, ihren Vorschlag sehr sorgfältig zu prüfen.«
Da der Hauptgrund für unser Raketenprogramm aus der Sicht vieler Menschen in der Verteidigung und im Fortbestand der Christenheit besteht, wird man zweifellos mit noch größerer Sorgfalt die Vorschläge verschiedener christlicher Organisationen prüfen. Am vernehmlichsten und lebhaftesten gebärden sich die Freunde von Kardinal O'Connor, eine militante Gruppe katholischer Armeeoffiziere, die der Ansicht ist, daß bis heute unser »Raketenprogramm, was die Namen angeht, atheistisch war«. Um diesem Zustand abzuhelfen, schlägt die Gruppe drei Namen vor — Apostel, Inquisition und Enzyklika.
Ihr Plan sieht vor, daß der Name Enzyklika ausschließlich für Raketen verwendet wird, deren Gefechtskopf aus einer Wasserstoffbombe besteht. Sehr überzeugend begründet ihr Sprecher, Col. Harvey Washburn, ein ehemaliger Benediktinermönch, der zeitweilig als militärischer Berater von Kardinal O'Connor tätig war, dies so: »Wenn eine Enzyklika gestartet wird, dann wissen wir, daß unsere atheistischen Feinde kapieren, was gemeint ist.« Worauf General Logan, der selbst Katholik ist, fortfährt: »Amen.«
Wie sich schon jetzt zeigt, werden verschiedene Sektierergruppen, die unsinnige oder anstößige Namen vorschlagen wollen, das größte Hindernis für einen Erfolg der Konferenz bilden. Eine Gruppe zum Beispiel, die sich als Exekutivausschuß der Jüdischen Professoren der Universität Chicago bezeichnet, hat als Namen für alle Interkontinentalraketen Matzen-Party vorgeschlagen. General Logan vermutet, daß es eine solche Gruppe in Wirklichkeit gar nicht gibt und daß diese Anregung von Dr. Marvin Feldstein ausgeht, der möglicherweise noch immer denjenigen grollt, die ihn vom Cape verdrängt haben.
Andere Gruppen von ebenso fragwürdiger Herkunft haben Namen wie Disfigurer (Verunstalter), Holocaust und Incinerator (Verbrennungsofen) vorgeschlagen. Unnötig zu sagen, daß derartige Respektlosigkeiten manch anderen zur Raserei bringen würden, General Logan indessen bleibt gelassen. Er meint: »Ich verstehe einfach nicht, wie jemand auch nur versuchen kann, sich über diese Dinge lustig zu machen.«
General Logan weigert sich standhaft, irgendwelche Voraussagen über die Ergebnisse der Konferenz zu machen. »Zweierlei weiß ich allerdings mit Sicherheit«, sagt er abschließend. »Erstens, daß die Raketen unseres Landes ihre Namen nun doch endlich auf angemessen demokratischem Wege erhalten. Und zweitens, daß die Konferenz meine Resolution einstimmig annehmen wird, die größte Rakete dieses Jahres The Great Communicator zu nennen.«
Dem haben wir nur eines hinzuzufügen, ein herzliches »Amen«.
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