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4  Meine deutsche Frage 

 

1988 von Neil Postman

 

Im Sommer 1985 machte mir die große deutsche Illustrierte Stern ein überraschendes Angebot. Ich sollte in aller Ruhe eine Reise durch Deutschland machen (sämtliche Kosten übernahm die Zeitschrift), sollte Augen und Ohren offenhalten und dann meine Eindrücke beschreiben. Das gleiche Angebot wurde ungefähr zehn anderen Autoren gemacht, unter ihnen Anthony Burgess und Alberto Moravia. 

Die Autoren sind einander nicht begegnet, sie unternahmen ihre Reisen nicht zur gleichen Zeit und äußerten sich natürlich zu ganz unterschiedlichen Aspekten der deutschen Kultur. Mein Beitrag wurde im Oktober 1985 vom Stern abgedruckt.

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Der große deutsche Physiker Werner Heisenberg hat einmal gesagt, daß die Natur sich nicht so offenbart, wie sie ist, sondern nur durch die Fragen, die wir ihr stellen. Wenn dies schon für Begegnungen mit der Natur gilt, dann sicherlich erst recht für Begegnungen mit einem Volk. Besonders, wenn dieses Volk das deutsche ist und der Fragende ein Ausländer, der als Kind schon beim bloßen Klang deutscher Worte zitterte und dazu erzogen wurde, von Deutschland zu halten, was Luther vom Papsttum hielt: daß es ein Greuel sei vor dem Herrn.

Doch nicht nur ein Greuel. So sehr man es mir bei meiner Erziehung zu verheimlichen versuchte — es blieb mir doch nicht verborgen, daß aus Deutschland die schönste Musik der Welt kam, die strengste Wissenschaft, manche der tiefsten Philosophien und die zarteste und eindringlichste Literatur. Schon damals, als die Nazis ihre »Lösung der Judenfrage« in Angriff nahmen, bildete sich daher in meinem kindlichen Verstand unbestimmt eine Frage heraus, die ich später die Frage der deutschen Schizophrenie nennen sollte.

Einerseits ist etwa die Hälfte der klassisch-abendländischen Bildungsgüter deutscher Herkunft. Andererseits gibt es bei den Deutschen einen uralten mystischen Hang zur Barbarei, der die Weltzivilisation teuer zu stehen kam und seinen jüngsten und abscheulichsten Ausdruck in Auschwitz gefunden hat, in den Wahnsinnigen, die es ersannen, und in dem Volk, das diese Leute hervorbrachte. Ist das nicht eine Art kultureller Schizophrenie? Könnte der große Goethe nicht dies gemeint haben, als er schrieb: »Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist«?

Hat schon einmal jemand darauf hingewiesen, daß die drei Männer, denen Deutschland sein nationales Gepräge in Sprache und Religion (Luther), Musik (Wagner) und Philosophie (Nietzsche) verdankt, der Schizophrenie im klinischen Sinne nahekamen? Wo wäre eine andere Kultur mit so vielen Genies, deren humanes Schöpfertum von dunklen, unheimlichen Trieben umwölkt war? (Zu diesen Genies zähle ich, unter anderen, auch Friedrich den Großen, Hegel, Schopenhauer und Marx.) Ist es nur ein historischer Zufall, daß Deutschland heute in zwei Hälften gespalten ist, oder ist dies ein prägnanter Ausdruck des deutschen Bewußtseins?

Natürlich hatte ich als Kind nicht die Worte, um diese »deutsche Frage« klar zu formulieren. Heute ist das anders. Ich kam nicht unvorbereitet nach Deutschland. Ich hoffte, ich könnte Deutschland dazu bringen, über sich Auskunft zu geben, indem ich Fragen stellte wie die folgenden: Ist die deutsche kulturelle Schizophrenie nur eine Wahnidee von mir? Wenn nicht, ist sie dann ein Merkmal des deutschen Charakters? Und wie zeigt sich dies im Alltag? Macht es aus den Deutschen ein besonders gefährliches Volk? Oder ein besonders schöpferisches? Oder beides?

Solche Fragen sind leicht zu stellen. Aber zu wissen, wo und wie die Antworten zu suchen sind, ist schwierig. Wie sich zeigte (und wie es einem Entdeckungsreisenden oft ergeht), fand ich nicht Antwort auf eben die Fragen, die ich gestellt hatte, sondern auf andere, an die ich zuerst überhaupt nicht gedacht hatte.

Meine Odyssee begann in München, führte mich nach Frankfurt und über mehrere Zwischenstationen zuletzt nach Hamburg. In München erlebte ich ein, wie mir schien, typisches Beispiel für die Charakterbrüchigkeit, nach der ich suchte.

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Ich hatte das Glück, an einer Tagung von Pädagogen und Unternehmern teilzunehmen, die sich mit den Folgen der Technologie für die deutsche Kultur beschäftigten.

Vor Beginn der Vorträge gab es im Foyer freundschaftliche Begrüßungen unter den Teilnehmern. Es kam zu lebhaften Gesprächen, mit viel Humor und anregendem Gedankenaustausch. Kurz, man erlebte intelligente Menschen, die der Begeisterung für ihr Fach und füreinander Ausdruck gaben. Und dann versammelten sie sich zu den Vorträgen, insgesamt acht, jeder von halbstündiger Dauer. Als sie über die Schwelle des Auditoriums traten, wo die Vorträge gehalten werden sollten, verwandelte sich ihr Gebaren von Grund auf. Jeder schien seine Persönlichkeit im Foyer zurückzulassen, so wie man Hut und Mantel dort abgibt. 

Natürlich ist das bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich, wenn aus Individuen eine Gruppe wird. Aber hier, fand ich, war es noch etwas anderes. Die Gesichter der Zuhörer wurden ausdruckslos und die Körper steif. In diesem Zustand verharrten sie, solange die Redner sprachen. Keine Zeit war eingeräumt für Fragen nach den einzelnen Vorträgen, und man hatte das Gefühl, es wären ohnehin keine gestellt worden. Niemand verließ zwischendurch einmal den Saal. Ist das denn die Möglichkeit, so staunte ich, daß in vier Stunden kein einziger auf die Toilette gehen muß? Oder haben sie so viel Geduld, daß die Langeweile sie nicht aus dem Saal treibt? Möchte niemand eine Zigarette rauchen? Oder telefonieren? Hält es niemand für nötig, wenigstens durch Stirnrunzeln oder Grimassen ein Mißfallen oder Ablehnung zu bekunden?

Für einen Amerikaner war die Szene erstaunlich, vor allem deshalb, weil von den Deutschen niemand etwas Besonderes daran zu finden schien. Ist das nun der legendäre deutsche Gehorsam und der Hang zur Förmlichkeit, von dem man ja schon so viel gehört hat? War mir hier schon der Wesenskern des deutschen Charakters vor Augen gekommen, gleich zu Beginn meiner Reise?

Die Antwort, wie sich herausstellen sollte, war Nein. Es wurde mir nicht sofort klar, aber dieser Nachmittag in einem Münchner Hörsaal war das letzte Mal, daß mir die Frage nach dem deutschen Charakter bedeutsam erschien. Als ich durch Deutschland reiste und mit allen Leuten redete, die mit mir reden wollten, darunter auch dem sogenannten Mann auf der Straße, begann die Frage nach dem »Charakter« in den Hintergrund zu treten.

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Am Ende war sie verschwunden und ersetzt worden durch die Frage nach der deutschen »Situation«. Allmählich fing ich an, meine »Schizophrenie«-Metapher ernster zu nehmen: Auch klinisch betrachtet ist ja die Persönlichkeitsspaltung nicht Sache eines Charakterdefekts. Sie ist eine Reaktion darauf, daß man außerstande ist, eine unerträglich paradoxe Situation aufzulösen. Wenn ich, so wurde mir klar, Anzeichen einer kulturellen Schizophrenie finden wollte, würde ich sie in der Situation suchen müssen, nicht im Charakter.

Am Tag nach den Münchner Vorträgen begann ich zu sehen, worauf es mir ankam. Ich besuchte (sofern dies das richtige Wort ist) Dachau, wo ein Onkel und eine Tante von mir umgekommen sind. Dort ging mir auf, daß die Dachauer Gedenkstätte an sich schon eine unerträgliche Paradoxie ist. Sie versucht, von dem zu sprechen, was sich nicht sagen läßt. Aber was dabei herauskommt, ist ein unmenschlich widerwärtiges Gejammer. Ich habe gehört, wie ein Führer vor einer Gruppe ausländischer Oberschüler erzählte, manche Deutsche hätten nichts von dem gewußt, was in Dachau geschehen sei. Er versicherte, seine Eltern hätten von dem Lager erst durch einen Zeitungsausschnitt aus dem Manchester Guardian erfahren, der ihnen nach dem Krieg von Verwandten aus England geschickt wurde. Soviel Unschuldswahn verblüffte mich. Aber was hatte ich von dem Mann erwartet? Hätte er sagen sollen, daß alle Bescheid gewußt haben? Daß Deutschland wahrhaftig von einer Horde Irrer bevölkert gewesen sei?

Ich fragte mich, was ich an seiner Stelle gesagt hätte. Ich fragte mich auch, was ich getan hätte, wäre ich ein »guter« Deutscher gewesen und aufgefordert worden, eine solche Gedenkstätte zu entwerfen. Irgendwie, fand ich, hätte ich es nicht so gemacht. Denn die Stätte sieht nett aus, sauber, ordentlich und überhaupt nicht beängstigend. Die Baracken stehen nicht mehr; zu den Todeshäusern gelangt man durch einen kühlen, grünen Laubengang. Das ist doch alles entsetzlich verkehrt, dachte ich. Aber warum? Was hatte ich erwartet? Ein paar Gerippe auf dem Hof? Elektronisch erzeugte Schmerzensschreie aus raffiniert angebrachten Stereo-Lautsprechern? Schwer zu sagen, und die Frage geht mir immer noch nach. Als ich Dachau verließ, hatte ich nur das Gefühl, daß hier die Geschichte mit sich selber Versteck spielt. Es ist eine Situation, für die es keine Auflösung gibt.

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Später am selben Tag aß ich zu Mittag mit drei jungen Deutschen, unter ihnen eine sechsundzwanzigjährige Frau. Ich erwähnte, daß ich in Dachau gewesen war, und das gab der jungen Frau das Stichwort für ein ehrlich gemeintes Klagelied darüber, was der Mensch dem Menschen für ein Unmensch sei. Sie redete davon, wie die Engländer die Iren unterdrückten und die amerikanischen Kolonisten die Indianer. Sie redete auch von dem türkischen Massaker an den Armeniern. Und als mir klar wurde, daß es jetzt so weitergehen würde bis zurück zu Dschingis Khan, fiel ich ihr ins Wort.

Ich sagte ihr, meine Sensibilität für die Unmenschlichkeit von Menschen gegen Menschen bedürfe keiner weiteren Schärfung. Aber sie schien entschlossen, sich von ihrem Vortrag nicht abbringen zu lassen, und erst zehn Minuten später schloß sie mit der Bemerkung, daß Hunger und Verzweiflung immer wieder Greuel hervorriefen. Ich antwortete ihr: »Was in Dachau geschehen ist, erfordert eine andere Erklärung als die Beispiele, die Sie genannt haben.« Eine Pause entstand, und dann begann sie zu weinen, zuerst leise, dann nachdrücklicher. Ich entschuldigte mich. »Das war eine Herausforderung am falschen Ort und zur falschen Zeit«, sagte ich. »Außerdem, Sie sind 1959 geboren. Was hat Dachau mit Ihnen zu tun?« — »Sie unterschätzen uns«, antwortete sie. »Es hat allerhand mit uns zu tun. Und Sie haben recht gehabt mit dem, was Sie sagten. Wir Deutschen wollen unserer Vergangenheit nicht ins Auge sehen. Irgendwann macht sie uns noch verrückt.«

Zwei Tage später wies mich die Redakteurin einer Computer-Zeitschrift auf die Schriften von Alexander Mitscherlich hin, die ich bis dahin nicht kannte. Sie empfahl mir, genau nachzulesen, was er über »Trauerarbeit« geschrieben hat. Das habe ich dann getan. Anscheinend muß eine Kultur, ebenso wie ein Mensch, nach einem tragischen Verlust eine Periode der Trauer durchmachen. Wenn sie das nicht tut, kann dies zu Orientierungslosigkeit, Selbsthaß oder sogar Gewalttätigkeit führen. Die junge Frau, die geweint hatte, wollte damit sagen, Deutschland habe seine Trauerarbeit noch nicht geleistet, und ihre ausführliche Darlegung menschlicher Unmenschlichkeiten lag auf der Linie einer typischen Verdrängungsstrategie.

Mitscherlich wurde mir auf meiner Reise mehrmals genannt, besonders in Gesprächen mit Hochschullehrern, Psychologen, Soziologen und Journalisten. Zwei andere Namen wurden noch sehr viel öfter genannt (oder gemeint).

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Beide zusammen verhalfen mir schließlich zu einem Verständnis der deutschen Situation und zeigten mir, weshalb das Faszinierende und zugleich Gefährliche in dieser Situation liegt und nicht im »deutschen Charakter«.

Die beiden Namen, von denen ich spreche, sind Namen von Ideen. Die eine heißt »Amerika«. Die andere könnte man die »unbrauchbare Vergangenheit« nennen. Obwohl beide in meinen Gesprächen mit Intellektuellen auf vielerlei Weise zum Ausdruck kamen, stellten sie sich in der klarsten Form an einer Straßenecke in Hamburg dar. Eine Frau, die für ein Schiller-Institut* zu sprechen behauptete und augenscheinlich eine politische Propagandistin war, gab sich die größte Mühe, mich und andere Passanten zu überzeugen, daß Deutschland das Star Wars-Projekt und andere militärische Vorhaben der Amerikaner unterstützen müsse, um »den Westen gegen die Russen zu stärken, die darauf aus sind, Europa unter ihre Herrschaft zu bringen«.

Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren kam vorbei und beteiligte sich am Gespräch. Er stellte sich als Emigrant aus Rußland vor, zur Zeit Schüler in Paris. Obwohl er auf seinen russischen Paß zugunsten eines französischen verzichtet hatte, kritisierte er die Frau wegen ihrer anti-russischen Propaganda und stellte seine eigene Propaganda dagegen. Die Russen seien nicht das Problem, sagte er. Die wahren Feinde des Friedens seien die Amerikaner mit ihrem kriegerischen Imperialismus. Ich hörte nur mit einem Ohr hin — das Äußerste an Gefälligkeit, was man für Ideologen aufbringen sollte.

Mir kam der Gedanke, daß ich besser daran täte, mir irgendwo das vorzügliche hamburgische Essen schmecken zu lassen, als mir dies hier anzuhören. Die ganze Zeit sah ich einen angespannt wirkenden, etwa sechzigjährigen Mann mit gerötetem Gesicht, offenbar im Begriff, sich in das Gespräch einzumischen. Unschwer war ihm anzumerken, wie seine Wut zunahm, zuerst bei der pro-amerikanischen und dann bei der pro-russischen Propaganda. Dann platzte er mit einer Meinung heraus, von der man sagen könnte, daß sie »pro-deutsch« war. Die Russen, so sagte er, sind noch schlimmer als Hitler. Aber die Amerikaner sind nicht viel besser. Sie sind ordinär und raffgierig, ohne Sinn für Geschichte .Die Russen wollen Deutschland, die Amerikaner haben es. Zum Teufel mit allen beiden!

 

* OD: LaRouche-Ideologie, "BüSo"

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Aber als ich ihn bat, zu erklären, was denn der pro-deutsche Standpunkt genaugenommen bedeute, wurde er vag und wirr. Er konnte nicht sagen, wie Deutschlands Zukunft aussehen sollte — weder politisch noch kulturell oder gesellschaftlich. Was er »pro-deutsch«-Sein nannte, war etwas gänzlich Inhaltsloses. Sein Standpunkt war nur ein Schlagwort, das sich auf nichts bezog. Er fing an zu stottern und mit den Armen zu fuchteln, ein Zeichen extremer Hilflosigkeit.

Hier wurde mir klar, wie Deutschlands Situation heute aussieht. Alles, was man mir gesagt und was ich gesehen hatte, ergab nun ein scharfes Bild. Gibt es eine deutsche Schizophrenie? Ja, fand ich. Und ich glaubte zu verstehen, weshalb. Aber - und dies muß ich deutlich aussprechen - über die historischen Wurzeln meiner »deutschen Frage« wußte ich nichts. Auf meiner Reise erfuhr ich nicht viel darüber, weshalb Deutschland seit fünfhundert Jahren zwei Gesichter hat, weshalb dasselbe Volk Goethe und Goebbels hervorbringen konnte. Dies hatte ich nicht verstanden, und ich verstehe es bis heute nicht und vielleicht niemals. Aber ich habe begriffen, woran dieses Volk krankt, heute, in Westdeutschland, und warum das gefährlich ist.

Die Bundesrepublik Deutschland ist tatsächlich das jüngste Land der westlichen Welt. Es entstand 1949 und (welche Ironie!) fast gleichzeitig mit Israel. Anders als Israel aber hat Deutschland keine brauchbare Vergangenheit. Es ist nicht bloß ein junges Land, es ist historisches Ödland. Deutschlands große Kirchen und Universitäten, seine Musik und seine Literatur sind reine Artefakte, lohnende Forschungsobjekte für Archäologen. Die Deutschen von heute können mit all dem nichts anfangen. Denn wollte man etwas damit anfangen, darauf verweisen oder es bewundern, so müßte man sich fragen: Wohin hat es geführt? Welche geistigen Anregungen, welche Lehren gingen davon aus?

Und die Antworten wären verheerend, denn dies alles hat in unserem Jahrhundert zu einer zweimaligen Zertrümmerung der Kultur geführt, in der Menschen aufwuchsen, die an Bach ebenso wie an Buchenwald ästhetischen Genuß fanden. Die Deutschen wissen das selbst besser als irgendwer sonst. Es ist letztlich nicht so, daß sie ihre Vergangenheit vor sich selber versteckt hielten, und auch nicht so, daß sie es versäumten, ihre Trauerarbeit zu leisten. Die Deutschen kennen ihre Vergangenheit — und zwar vollständig — und sind stillschweigend zu dem vernünftigen Ergebnis gekommen, daß sie als Wegweiser für die Zukunft nicht taugt. Jedenfalls heute nicht und vielleicht auch nicht für das nächste Jahrhundert.

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Also, Deutschland hat Angst vor sich selber. Wer hätte das nicht, wenn er dem nicht mehr trauen kann, was da gescharfen wurde! Ein Journalist in Frankfurt sagte mir, daß sogar der stärkste Kulturträger der Vergangenheit, die deutsche Sprache, suspekt geworden sei. Statt »Jude« sagt man heute »Israeli«; Worte wie »Volkstum«, »Arier« und sogar »Vaterland« könnten nicht mehr ernsthaft gebraucht werden. Nicht nur Stil und Vokabular des Dritten Reiches erscheinen in vieler Hinsicht als zu beängstigend für den ernsthaften öffentlichen Sprachgebrauch, auch der traditionell dunkle Stil des deutschen philosophischen Denkens gilt als suspekt.

Ein Pädagogik-Dozent der Universität Gießen sagte mir, daß die traditionelle deutsche »humanistische« Bildung in Verruf geraten sei. Und als ich einen Soziologen fragte, was er dazu meine, sagte er: »Schließlich hatte ja Goebbels einen Dr. phil. von der Universität Heidelberg. Wohin führt diese Art von Bildung?« Ich war erstaunt, als bei einer Predigt in der Frankfurter Katharinen­kirche der Geistliche sagte, nach Auschwitz hätten die Christen kein Recht mehr, einen Juden (oder wen auch immer) darüber zu belehren, wie man die Bibel auslegen müsse. Vielleicht leistete der Mann hier einfach ein Stück Trauerarbeit, aber aus seinen Bemerkungen war klar herauszuhören, daß die Religion, von der die deutsche Kultur fast fünfhundert Jahre lang gespeist wurde, nun selbst in Verdacht geraten ist.

Ein Psychiater in Frankfurt erzählte mir, daß bei seiner Arbeit mit deutschen Patienten der Größenwahn die häufigste Art von Geisteskrankheit ist. Bezeichnenderweise glauben aber nur sehr wenige Patienten, Hitler, Kaiser Wilhelm, Friedrich der Große oder überhaupt ein Deutscher zu sein. Was soll man davon halten? In Frankreich herrscht in den Irrenanstalten kein Mangel an Napoleons; in England findet man das Reich der Gestörten vielfach von Heinrich VIII. oder Churchill regiert; und in Amerika spezialisieren sich unsere Irren auf Jesus Christus (von dem wir Amerikaner gern glauben, daß er fließend englisch sprach und Amerikaner geworden wäre, wenn er nur die geringste Chance dazu gehabt hätte). Dagegen finden in Deutschland sogar die Irren ihre Vergangenheit unbrauchbar.

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Aber was in Deutschland eine schizophrene Situation schafft, ist nicht allein die Unbrauchbarkeit seiner Vergangenheit. Zu einer pathologischen Paradoxie gehören zwei unerträgliche Zustände. Und für den zweiten sorgt Amerika. Um es auf eine Formel zu bringen: Mangels einer eigenen Vergangenheit hat Deutschland versucht, sich durch Anlehnung an die amerikanische Gegenwart eine Zukunft zu schaffen. Es ist nicht wichtig, daß Deutschland nach dem Krieg dazu gezwungen wurde und daß ihm keine andere Wahl blieb. Unabhängig davon, welches die anfänglichen Bedingungen waren, ist heute klar, daß sich Deutschland nur durch die Widerspiegelung der amerikanischen Kultur seiner selbst bewußt ist und, aus Verzweiflung, auch nicht anders bewußt sein will.

Ich spreche hier nicht von den amerikanischen Soldaten, die heute ebenso zur deutschen Landschaft gehören wie der Schwarzwald (und sich wahrscheinlich, wenn man das Ausmaß der Luftverschmutzung bedenkt, länger dort halten werden). Auch nicht von den amerikanischen Flugzeug- und Raketenbasen. Dies sind nur Versatzstücke eines militärischen Bündnisses. Ich spreche von den lebendigen Symbolen geistiger Abhängigkeit: vom massiven Eindringen der amerikanischen Sprache, amerikanischer Filme, Moden, Nahrungsmittel, Kreditkarten, Produkte und Industrieformen, des Amerikanischen in Musik, Kunst, Lebensstil, Werbung und Fernsehen. Dies alles ist einfach geschluckt worden, als Gegengift gegen eine Kultur, die ihre eigene Identität eingebüßt hat. Um es in Anlehnung an den legendären Wiener Gesellschaftskritiker Karl Kraus zu sagen: Alles dies erweist sich als jene Krankheit, für deren Therapie es sich hält. Denn es ist zwar unerträglich, ohne Orientierung an der eigenen Geschichte zu existieren, aber ebenso unerträglich ist es, so zu werden wie Omaha, Nebraska.

Ein junger Taxifahrer in München antwortet auf ein Lob für sein gutes Englisch mit der Bemerkung, er habe vieles davon beim Anhören amerikanischer Rock-Bands gelernt. »Rock kann man nicht auf deutsch machen«, sagt er. »Also entweder englisch oder gar nicht.« Obwohl klar ist, daß er auf Rock nicht verzichten kann, wirkt er ratlos und verärgert.

Ein Psychiater in Karlsruhe sagt, die deutsche Psychiatrie beziehe alle ihre psychopathologischen Kategorien von der amerikanischen Psychiatrie. »Was wir machen, ist meistenteils dasselbe, was die machen.« Und er fügt hinzu, warum das so sei, wisse er nicht, aber eine solche Situation sei unerträglich.

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Ein Verleger in Frankfurt klagt, viele amerikanische Bücher würden ins Deutsche übersetzt, aber nur wenige deutsche ins Englische. »Wir sind mehr daran interessiert, was die Amerikaner denken, als sie daran, was wir denken.« Und: »Sind sie überhaupt daran interessiert, was irgendwer denkt?«

Ein Journalist in München, der viele Jahre in Japan gelebt und gearbeitet hat, redet lange über die »McDonald's-Zivilisation«, wie er das nennt. »Die Japaner«, sagt er, »können Amerika assimilieren. Sie kaufen sich einen amerikanischen Hamburger, nehmen ihn mit nach Hause und essen ihn dort nach alter Sitte mit Stäbchen. Sie sind ein praktisches, geschmeidiges Volk. Wir nicht. Bei uns muß alles entweder das eine oder das andere sein. Wenn es nicht der deutsche Stil ist, dann eben der amerikanische. Eins oder das andere.«

Eine Kellnerin in Hamburg erzählt, noch nie habe sie eine Folge von Denver versäumt. Aber dann sagt sie: »Es ist Schund.«

Sogar in einem traditionellen bayerischen Biergarten spürt man, daß Amerika nicht weit ist, zugleich aber verachtet wird. Gewiß, die Kellnerinnen tragen noch immer drei Maßkrüge in einer Hand, und die Brezeln sind riesig. Trotzdem, die Gespräche, die Zigaretten, die Kleidung, dies alles hat deutlich eine amerikanische Note. Die Leute aus Omaha würden sich hier ganz wie zu Hause fühlen. Als ich das zu einem älteren Herrn sage, antwortet er, früher sei das anders gewesen, und dann sagt er nichts mehr.

Aber mit der McDonald's-Zivilisation und ihrer zwiespältigen Aufnahme in Deutschland hat es noch etwas Dunkleres, Bedrohlicheres auf sich. Bei Intellektuellen hatte ich davon reden gehört, oder glaubte, es gehört zu haben. Und bei den weniger Artikulationsfähigen wurde darauf angespielt, allerdings auf Umwegen und nicht sehr deutlich. Aber erst als ich Deutschland zu einem Besuch in Schweden verlassen hatte, wurde mir das klar. In Schweden lernte ich einen angesehenen Publizisten, Arne Ruth, kennen, der mir, ohne von meinem Auftrag in Deutschland zu wissen, ein Buch schenkte, das er zusammen mit Ingemar Karlsson geschrieben hat. Das Buch, von dem es eine deutsche (aber keine englische) Übersetzung gibt, heißt Gesellschaft als Theater: Ästhetik und Politik im Dritten Reich. Die Verfasser erklären, das Hauptmerkmal des Dritten Reiches sei eine Politik ohne Inhalt gewesen — das extreme Beispiel für eine Politik als reines Spektakel.

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Diese These hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit meiner eigenen in meinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Denn dort behaupte ich, daß durch die elektronischen Medien der öffentliche Diskurs in Amerika von seriöser Darstellung in eine Art Unterhaltung verwandelt worden ist. Ich stimme überein mit Aldous Huxley, der es für gut möglich hält, daß man in Zukunft die Menschen dadurch beherrschen wird, daß man ihnen Vergnügen zufügt — und nicht Schmerz. Ich zitiere auch Ronald Reagan, der gesagt hat: »politics is show business«.

»Gesellschaft als Theater« — so hätte ich gut und gern auch mein eigenes Buch nennen können. Hätte ich es getan, so gäbe es jetzt zwei Bücher mit diesem Titel: eines über Deutschland in den dreißiger Jahren und eines über Amerika in den achtziger Jahren.

Diese Koinzidenz der Themen ermöglichte es mir, das deutsche Dilemma tiefer zu durchschauen als vorher. Auf der Flucht vor dem ersten Schreckbild — Kultur ohne Vergangenheit — stoßen die Deutschen auf ein zweites und scheuen davor zurück: eine amerikanische Kultur mit schattenhaften Andeutungen dessen, was die Deutschen ruiniert hat. Ich sage nicht, daß Amerika heute unter den meisten Gesichtspunkten so ist wie Deutschland in den dreißiger Jahren. Und schon gar nicht glaube ich, daß Amerika ein Auschwitz hervorbringen kann. Worauf es aber ankommt, ist, daß die Deutschen davon nichts wissen. In Deutschland spürt man, daß man eine Kultur importiert hat, die wenig geistigen Zusammenhang besitzt, die an ihren eigenen Traditionen uninteressiert ist und darin aufgeht, Spektakel zu veranstalten.

Sogar Ronald Reagans Bewunderer (und so gut wie jeder Mann auf der Straße, den ich fragte, mit wenigen Ausnahmen, bewunderte ihn) wissen, daß Reagan unfähig ist, fünf logische und politisch gehaltvolle Sätze nacheinander zu sprechen. Er ist eine gute Reklame für sein Land, sagte man mir. Er hat keine Angst vor den Russen und haßt die Kommunisten. Er weckt Optimismus und Selbstvertrauen. An wen erinnert Sie das? Und an was erinnert es Sie? Ich bin sicher, die Deutschen wissen die Antworten (auch wenn die Amerikaner sie nicht wissen), und davor graut ihnen.

Macht diese Situation Deutschland gefährlich? Ich meine, ja. Eine Kultur, die sich vor ihrer Vergangenheit fürchtet, aber auch die einzige Zukunft, die vor ihr zu liegen scheint, verachtet, muß als gefährlich eingeschätzt werden. Wann, wo und für wen gefährlich, das weiß ich nicht. Aber soviel läßt sich sagen: Mit Besuchen in Bitburg und mit Cheeseburgern von McDonald's ist nichts getan. Die Vergangenheit kann nicht zu Grabe getragen werden, eine schöpferische Zukunft kann nicht in Aussicht genommen werden, innerer Friede kann nicht gefunden werden, solange über Deutschland die doppelte Nemesis von Angst und Abscheu hängt.

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