Start    Weiter

5  Ein stilles Jubiläum

1988 von Neil Postman

 

Als ich im Jahre 1986 von einem Redakteur um einen Artikel anläßlich des 200. Geburtstags der Zeitschrift <The Columbian> gebeten wurde, nahm ich diese Gelegenheit wahr, mich einmal ausführlicher mit der Geschichte der Zeitschriften und Magazine zu beschäftigen. Wie man sehen wird, ist die Behauptung, der <Columbian> sei das erste Publikumsmagazin im modernen Stil gewesen, fragwürdig - und dies ist ein erster Grund dafür, daß ich diesen Aufsatz <Ein stilles Jubiläum> genannt habe. Ein zweiter Grund ergibt sich daraus, daß die Zukunftsaussichten von Magazinen dieser Art eher trüb sind; um also nicht den Eindruck eines blauäugigen Optimismus aufkommen zu lassen, tut man gut daran, ein solches Jubiläum in Ruhe und Würde zu begehen.

#

64-75

Morton Zuckerman, der Eigentümer von <The Atlantic>, wird von der Zeitung <New York Newsday> interviewt. George Steiner, der große Literatur­wissen­schaftler, hält die <Bowker Memorial Lecture>. Beides geschieht nicht zur gleichen Zeit, und den Aussagen der beiden Männer liegen ganz unterschiedliche Absichten zugrunde. Dennoch, wenn man nebeneinander hält, was sie zu sagen haben, so ergibt sich daraus für uns ein kurzer, aber provokanter Dialog über die Situation des Publikumsmagazins in Amerika und zugleich über die Situation der Lesekultur.

Nachdem Zuckerman eingeräumt hat, daß <The Atlantic>, anders, als er es vorausgesagt hatte, kein Geld einbringt, wird er gefragt: »Glauben Sie, daß es für den Atlantic und ähnliche literarisch anspruchsvolle Publikums­zeitschriften eine Zukunft gibt?«

Zuckerman erwidert: »Jawohl. Es gibt immer mehr gebildete Leute, die daran gewöhnt sind, Gedanken in gedruckter Form aufzunehmen. Das ist nicht unbedingt das größte Leserpublikum, aber zumindest doch ein äußerst aktives, gebildetes, engagiertes Publikum. Ich denke, ein solches Publikum wird es immer geben.«

Warum Zuckerman glaubt, daß es ein solches Publikum immer geben wird und daß es sogar noch im Wachsen begriffen ist, sagt er nicht. Auch die Geschäftsleute, die doch immerzu von dem reden, was unter dem Strich übrigbleibt, leben von schönen Hoffnungen, genauso wie wir anderen auch. Vielleicht — das sei fairerweise gesagt — verstand Zuckerman seine letzte Aussage eher als Frage und nicht als Behauptung. Jedenfalls hätte er sich wohl weniger zuversichtlich gegeben, wenn er Steiners Bowker-Vorlesung gekannt hätte.

Als wolle er auf Zuckermans unternehmerischen Optimismus antworten, stellt Steiner die Hypothese auf, wir hätten das Ende jener Epoche erreicht, in der es ausreichend viele ernsthafte Leser gab, um eine Publikation wie The Atlantic lebensfähig zu erhalten. Im 18. Jahrhundert, so erläutert er, habe eine Revolution der Lesekultur eingesetzt. Kennzeichnend für sie waren der Aufstieg des Buches zum Massenmedium, die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken und die Entstehung allgemeiner Publikumszeit­schriften. 

Infolgedessen kam es zu einer glücklichen Verbindung zwischen dem Besten, was zu jener Zeit gedacht und geschrieben wurde, und einem Massenpublikum, das bereit, ja geradezu begierig darauf war, dies alles zu lesen. Diese Verbindung zerbrach, wie er glaubt, in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und seither ist das Lesen in dem Sinne, wie Erasmus oder Balzac oder Jefferson oder auch Mark Twain es verstanden, keine Tätigkeit der Massen mehr

»Ich möchte annehmen«, so erklärt Steiner, »daß der Zeitraum, sagen wir von der Französischen Revolution bis zu den Katastrophen der beiden Weltkriege eine Oase markiert, eine Oase der Qualität, in der bedeutende Werke der fiktionalen wie der nicht-fiktionalen Literatur tatsächlich ein Massenpublikum erreichten.«

Steiner vermutet, daß wir diese Oase nun hinter uns gelassen haben und wieder in die Wüste geraten sind, mit dem Ergebnis, daß uns drei Arten des Lesens geblieben sind. 

Zunächst das Lesen als Zerstreuung — jene Art von Lektüre, die die Flughafen-Buchhandlungen so populär macht.

Zweitens das Lesen zum Zweck der Information — jene Art von Lesen, an die man angesichts von Ausdrücken wie »Datenbank«, »Computer-Ausdruck«, »Mikroschaltung« oder »Videotext« denkt. 

65


Die dritte Art von Lesen ist ein bloßes Überbleibsel aus dem großen Zeitalter der Lesekultur und rückt unter den Zwängen des Informationszeitalters immer mehr in den Hintergrund. Dieses Lesen verlangt Stille, Geduld, Neigung zum Nachdenken, eine gewisse Übung darin, sich von komplexen Zusammenhängen herausfordern zu lassen, und vor allem eine Bereitschaft, die Zerstreuungen der Welt hintanzustellen, so daß Leser und Text zu einer Einheit aus Zeit, Raum und Phantasie werden können.

Für unsere Zwecke könnten wir diese Art von Lesen als Zuckermans Hoffnung bezeichnen, denn die Zukunft des anspruchsvollen Publikumsmagazins hängt ganz und gar davon ab, wie viele Leute noch Leser in diesem dritten Sinne sein werden. Gegen Zuckermans Hoffnung steht Steiners Prophezeiung, die er mit einer nichts Gutes verheißenden Munterkeit so formuliert: »Wie steht es mit dem Lesen im alten, archaischen, privaten, geruhsamen Sinne? Vielleicht wird es wieder eine Fertigkeit und Tätigkeit für Spezialisten, so wie es das Lesen in den scriptoria und Bibliotheken der Mönchsklöster während des sogenannten finsteren Mittelalters auch war.«

Wenn man also darangeht, einen Essay aus Anlaß des 200. Geburtstags des ersten wirklichen Magazins in Amerika, des Columbian, zu schreiben, dann nicht ohne ein Gefühl wehmütiger Ungewißheit. Verfaßt man da etwa schon einen Nachruf auf die Zeitschriften? Das ist nicht meine Absicht. Ich komme, um zu rühmen, nicht, um zu beerdigen. Dennoch, das Gespenst des Al-terns und Veraltens läßt sich nicht verscheuchen. Dieses Jubiläum muß ein stilles sein.

Ungewißheit besteht übrigens nicht nur im Hinblick auf die Zukunft der Zeitschriften, Ungewißheit herrscht auch hinsichtlich ihrer Vergangenheit. Daß mit der Veröffentlichung des Columbian im Jahre 1786 das erste Magazin Amerikas in Erscheinung trat, darauf haben wir uns in derselben Weise geeinigt, wie wir übereingekommen sind, die Gutenberg-Bibel von 1456 als den Anfang des Buchdrucks anzusehen — nämlich aus Bequemlichkeit. Alles hängt natürlich davon ab, wie wir unsere Begriffe definieren. Das englische Wort magazine (Zeitschrift, Magazin) leitet sich von dem französischen magasin her, das (wie jeder Seemann weiß) soviel wie »Speicher«, »Lagerhaus« bedeutet.

66


Die frühesten Magazine in England und auf dem Kontinent waren Speicherplätze für Skizzen, Verse, Aufsätze und Mitteilungen vermischten Inhalts. Für die meisten Leser des 18. Jahrhunderts war das Wort Magazin gleichbedeutend mit »Vermischtes«, und es hatte durchaus nicht unbedingt einen positiven Klang. In einer Anmerkung zu seinem satirischen Epos The Dunciad nannte Alexander Pope die Magazine »parvenühafte Anhäufungen« von Langeweile und Torheit. Und bis auf den heutigen Tag schwingt in der Bedeutung dieses Wortes etwas von Unterhaltung oder Trivialität mit. Frank Luther Mott, der große Zeitschriftenhistoriker, hat darauf hingewiesen, daß ein Fachorgan für Psychologen den Namen The Psychiatrist's Magazine gewiß verschmähen und sich statt dessen The Psychiatrist's Journal oder Review nennen würde.

Dennoch, einige der hervorragenden Namen der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts sind mit dem verbunden, was wir in Ermangelung eines besseren Wortes als Magazin bezeichnen. Daniel Defoe zum Beispiel gab 1704, bevor er Robinson Crusoe und Moll Flanders schrieb, ein Blatt heraus, das allgemein als erstes britisches Magazin gilt: The Review, später bekannt unter dem Titel Defoe's Review. Richard Steele startete 1709 den Tatler und tat sich 1711 mit Joseph Addison zusammen, um die erste Nummer des berühmten Spectator herauszugeben. 

Sogar Alexander Pope stand nicht abseits, er schrieb für das Grub Street Journal und hat dieses Magazin, das von 1730 bis 1738 existierte, vielleicht sogar gegründet. Wer allerdings den Namen und die Sache ineins setzen will, dem muß man einräumen, daß die erste Publikation, die das Wort »Magazin« im Titel trug, 1731 von Edward Cave, einem Londoner Drucker und Buchhändler, verantwortet wurde. Er nannte sein Erzeugnis Gentleman's Magazine, und in der Einleitung zum ersten Band beschrieb er dessen Inhalt so: »... eine monatliche Sammlung, die, wie in einem Magazin, die bemerkenswertesten Stücke über die oberwähnten Themen oder zumindest unparteiische Zusammenfassungen davon horten soll«.

Der Hinweis auf die »Zusammenfassungen« ist wichtig, denn Cave ging es zunächst vor allem darum, die besten Artikel aus den damaligen Zeitungen in Auszügen oder Kurzfassungen vorzustellen (womit er den Reader's Digest um 200 Jahre vorwegnahm). Wenig später jedoch weitete Cave den Kreis seiner Themen aus.

67


Sie umfaßten nun Prosa und Verse, historische und biographische Skizzen, Nachrufe, Aufzählungen anderer Veröffentlichungen, Lieder (sowohl die Melodie als auch den Text, eine Tradition, die das Ladies Hörne Journal später fortsetzen sollte), Kupferstiche und Karten sowie Berichte über die Debatten im Parlament. Diese letzte Rubrik besorgte einer der Beiträger des Magazins, Dr. Samuel Johnson. An Hand flüchtiger Notizen und mit Hilfe seiner eigenen hochentwickelten Phantasie schrieb Johnson selbst die Reden, die er den englischen Staatsmännern seiner Zeit in den Mund legte, wodurch er sowohl die Qualität dieser Reden als auch das Ansehen der Redner erhöhte.

Im Jahre 1744 erreichte das Gentleman's Magazine etwa 10.000 Leser, von denen nicht wenige in Amerika lebten. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß die Amerikaner selbst im eigenen Land Zeitschriften gründeten und sich dabei das Gentleman's Magazine zum Vorbild nahmen. Es wird niemanden überraschen, daß der erste Plan für ein amerikanisches Magazin von Benjamin Franklin stammt. Bei der tatsächlichen Herausgabe des ersten Magazins in Amerika kam Franklin jedoch drei Tage zu spät. Andrew Bradford brachte sein American Magazine, or A Monthly View ofthe Political State of the British Colonies am 13. Februar 1741 heraus.

Franklins General Magazine and Historical Chronicie for all the British Plantations in America erschien am 16. Februar. Bradfords Magazin hielt sich drei, das von Franklin sechs Monate. Aber ein Anfang war gemacht und ein Modell entworfen. Zwischen 1741 und 1800 wurden in Amerika fünfundvierzig Magazine gegründet. Sechzig Prozent von ihnen wurden kein Jahr alt. Vier gingen schon nach einem Monat ein, und nur vier erreichten das Alter von drei Jahren. Aber unter ihnen gab es einige eindrucksvolle Ansätze, vor allem das American Magazine and Monthly Chronicie von William Bradford, das 1759 entstand und dreizehn Monate lang erschien.

Warum feiern wird dann den Columbian, der erst 1786 erschien, als unser erstes wirkliches Publikums­magazin? Dafür gibt es im wesentlichen vier Gründe. Erstens, der Columbian war das erste Magazin, das seiner äußeren Form nach für uns deutlich als Magazin erkennbar ist. Man muß wissen, daß sich ein Magazin über weite Strecken des 18. Jahrhunderts durch seinen Inhalt und nicht durch sein Format von anderen Publikationen abhob. Die Magazine vor dem Columbian sahen aus wie die damaligen Zeitungen und Pamphlete.

68


Das Papier bestand aus rauhem Hadernmaterial, die Umschläge aus einem feineren, gefärbten Material, die Schrifttype ähnelte der der Zeitungen. Der Columbian verkleinerte nicht nur seine Schrifttype, er präsentierte sich bei seinem Erscheinen im September 1786 auch in einem Format, das ungefähr an das des heutigen New Yorker erinnert. Kurz, der Columbian gab dem Magazin die Gestalt seiner Zukunft.

Zweitens, der Columbian wurde acht Jahre lang allmonatlich etwa zur gleichen Zeit herausgebracht, bis eine Änderung der Postgebühren eine weitere Auslieferung zu teuer machte; mit anderen Worten, er wurde mit einer ähnlichen Regelmäßigkeit verbreitet wie moderne Magazine.

Drittens, der Columbian hielt es im allgemeinen für unter seiner Würde, Zeitungsartikel, Auszüge aus Büchern oder Reden nachzudrucken. Statt dessen bemühte er sich um literarische und nichtliterarische Texte von einzelnen Autoren und bezahlte diese für ihre Beiträge, eine damals fast unbekannte Praxis. Die Autoren genossen ein hohes Ansehen, und in der Regel wurde von ihnen nicht verlangt, in Inhalt oder Form nach den Wünschen des Redakteurs zu verfahren. Im heutigen Sprachgebrauch könnte man den Columbian die erste »Autorenzeitschrift« Amerikas nennen.

Und schließlich läßt sich zeigen, daß der Redakteur, Mathew Carey, viele der Traditionen begründete, die bis auf den heutigen Tag für die Tätigkeit von Zeitschriftenredakteuren bestimmend geblieben sind. Carey war aus Irland ins amerikanische Exil gegangen; wegen seiner Artikel, in denen er die Macht der Kirche von England angriff, hatte er eine Zeitlang im Gefängnis gesessen. Nach seiner Ankunft in Amerika arbeitete er kurze Zeit für Benjamin Franklin und edierte dann, bis er bei einem Duell schwer verwundet wurde, eine Zeitung mit dem Namen The Pennsylvania Herald.  

1786 tat er sich mit William Spotswood und James Trenchard zusammen und brachte den Columbian heraus. Dessen Absicht war es, »den neuen Geist des neuen Amerika« zu erfassen — ein hinreichend vages Programm, das Carey genügend Spielraum ließ, seine Vorstellungen von der Tätigkeit eines Redakteurs zu entfalten. Zum Beispiel betrachtete Carey, der ein glühender Anti-Föderalist war, den Columbian nicht als Sprachrohr anti-föderalistischer Anschauungen. Von Anfang an veröffentlichte der Columbian eine Anzahl hervorragender föderalistischer Schriften.

69


Ganz anders dagegen eine der bedeutendsten Konkurrenzunternehmungen, Noah Websters American Magazine, das in seiner Redlichkeit nur Artikel zugunsten des Föderalismus druckte. In gewissem Sinne befreite Carey das Magazin von den Fesseln der politischen Ideologie. Er war übrigens auch (genau wie Noah Webster) ein Verfechter der Idee, daß die Autoren ein Eigentumsrecht an ihren Arbeiten haben. Und anders als die meisten Redakteure seiner Zeit (anders auch als Noah Webster) schrieb er nicht selbst. Er vermittelte seine Sicht der Dinge durch seine Auswahl aus einem Material, das andere produzierten. Man sollte hier auch erwähnen, daß Carey Ende 1787, als er Verleger des American Museum wurde, nicht nur Francis Hopkins als bezahlten Redakteur einstellte, sondern auch — als den ersten festangestellten Autor in der Geschichte des amerikanischen Magazins — den Essayisten Jeremy Belknap.

Deshalb feiern wir — obwohl sich gegenteilige Behauptungen nicht von der Hand weisen lassen — mit dem 200. Geburtstag des Columbian auch die Anfänge einer äußerst fruchtbaren literarischen Tradition. Schon ein knapper Überblick über diese Tradition zeigt, daß die amerikanische Literatur im 19. Jahrhundert über weite Strecken Magazin-Literatur war. Man betrachte nur die Liste derer, die für die 1821 gegründete Saturday Evening Post schrieben. Unter ihnen findet man William Cullen Bryant, Harriet Beecher Stowe, James Fenimore Cooper, Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne und Edgar Allan Poe.

Die meisten dieser Schriftsteller stehen inzwischen auf den Literaturlisten für das erste Semester, es sind Klassiker der amerikanischen Literatur. Emerson, Thoreau und Margaret Fuller arbeiteten in der Redaktion des literarischen Magazins The Dial mit, das von 1840 bis 1844 bestanden hat. John Greenleaf Whittier redigierte National Era, wo 1852 Onkel Toms Hütte vollständig abgedruckt wurde. James Russell Lowell wurde 1857 der erste Redakteur des Atlantic Monthly. Harper's (das mehrmals verschied und mehrmals wiederauferstand) wurde 1850 gegründet, The Nation im Jahre 1865.

Insgesamt bildeten diese Zeitschriften ein Forum für jeden bedeutenderen Schriftsteller in Amerika. Sogar die Frauenmagazine, die in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine erste Blüte erlebten — McCall's, Ladies Home Journal, Good Housekeeping, Cosmopolitan und Collier's , stellten bedeutende Gestalten der Literatur vor.

70


The Delineator, ein gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegründetes Frauenmagazin, wurde von Theodore Dreiser redigiert. Und man darf Sara Josepha Hale nicht vergessen, die schon 1832 das Ladies Magazine gründete und mit ihrem Gedicht <Mary had a little lamb ...> einen bleibenden Beitrag zur amerikanischen Literatur geleistet hat.

Das Magazin des 19. Jahrhunderts verschaffte also der sich entwickelnden amerikanischen Literatur eine Form und ein Forum- aber es leistete außerdem noch einen weiteren wichtigen Beitrag zur amerikanischen Kultur, einen Beitrag, von dem wir uns bis heute nicht erholt haben und vielleicht nie erholen werden: Die Magazine brachten die Werbebranche hervor. Obwohl Reklame in Magazinen auch vor den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht unbekannt gewesen war, änderte sich die Situation drastisch, als der Kongreß das Postgesetz vom 3. März 1879 verabschiedete, das den Magazinen durch besonders günstige Portosätze eine Vorzugsstellung einräumte.

Infolgedessen wurden die Magazine zu den günstigsten Instrumenten für die Verbreitung von Anzeigen, die die ganze Nation erreichen sollten. Hier ein Beispiel dafür, wie schnell die Magazine und die Kaufleute ihre Chancen erkannten: In seiner Ausgabe vom 12. November 1885 brachte der Independent Anzeigen für folgende Produkte und Dienstleistungen: Erbsen, Backpulver, Fahrräder, Klebstoff, das Warenhaus R. H. Macy's & Co., eine Lebensversicherung, Klaviere, Eisenbahnreisen, Stiefel, Lattenzäune, doppelseitig tragbare Kragen, Manschetten, ein Mittel gegen Schwerhörigkeit und eine Anzeige des Grand Union Hotel in Saratoga Springs.

Solche Anzeigen machten nicht nur die Namen bestimmter Firmen bekannt, sie veränderten auch die Fabrikations- und die Vertriebsformen. Die Verbraucher kehrten den hausgemachten, lokalen Produkten den Rücken und wandten sich den in Massenproduktion gefertigten nationalen Markenartikeln zu, die es auf eine größtmögliche Verbreitung abgesehen hatten. Als George Eastman 1888 die tragbare Photokamera erfand, gab er 25000 Dollar aus, um in Magazinen dafür Reklame zu machen. 1895 war der Name »Kodak« gleichbedeutend mit Kamera -und ist es in einem gewissen Maße bis heute geblieben. Firmen wie Royal Baking Powder, Baker's Chocolate, Ivory Soap und Gillette verschafften sich Zugang zu einem nationalen Markt, indem sie ihre Erzeugnisse in Magazinen anzeigten.

71


Sogar Zeitschriften erschlossen sich den Inlandsmarkt, indem sie in anderen Zeitschriften Inserate schalteten das spektakulärste Beispiel war das Ladies Home Journal. Sein Verleger Cyrus H. K. Curtis gab zwischen 1883 und 1888 eine halbe Million Dollar für Anzeigen aus, mit denen er in anderen Blättern für sein Magazin warb. Im Jahre 1909 erreichte das Ladies Home Journal mehr als eine Million Leser.

Ungeachtet der Begeisterung von Curtis für die Reklame war die bedeutendste Figur für die Verquickung von Reklame und Magazin und deshalb auch für das Erscheinungsbild des Magazins im 20. Jahrhunderts Frank Munsey, bei dessen Tod im Jahre 1925 William Allen White in einem Nachruf die folgenden Worte fand:

»Frank Munsey steuerte zum Journalismus seiner Zeit das Talent eines Fleischwarenfabrikanten, die Moral eines Geldwechslers und die Manieren eines Bestattungsunternehmers bei. Ihm und seinesgleichen ist es gelungen, einen einst ehrwürdigen Beruf in eine Acht-Prozent-Aktie zu verwandeln. Er ruhe in Frieden.«

Was hatte Munsey Böses getan? Er hatte zwei Entdeckungen gemacht. Erstens, ein Magazin konnte eine große Verbreitung erreichen, wenn man das einzelne Heft zu einem Preis verkaufte, der weit unter den Kosten für seine Herstellung lag; zweitens, große Gewinne ließen sich aus dem hohen Aufkommen an Anzeigen erzielen, die von einer hohen Auflage angelockt werden würden. Im Oktober 1893 ließ Munsey in der New York Sun eine Anzeige drucken, in der er ankündigte, Munsey's Magazine werde seinen Preis von 25 Cent auf 10 Cent und das Jahresabonnement von 3 Dollar auf 1 Dollar senken. Die erste 10-Cent-Ausgabe soll eine Auflage von 40.000 Exemplaren gehabt haben. Innerhalb von vier Monaten stieg die Auflage auf 200.000; wieder zwei Monate später lag sie bei 500.000. Munsey's Magazine war zwar mit minderwertigem Geschreibsel gefüllt, aber seine Entdeckungen zur Ökonomie des Zeitschriftengeschäfts wurden zum Vorbild für alle Magazine. Im Jahre 1900 enthielt Harper's mehr Anzeigen, als es in den voraufgegangenen zweiundzwanzig Jahren verbreitet hatte.

Gestützt auf eine die gesamte Nation anvisierende Werbung als wirtschaftliche Basis, gestützt auf die Tradition, das Beste zu veröffentlichen, was gedacht und geschrieben wird, und auf eine große, aufnahmebereite Leserschaft, schwang sich das Magazin in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts zu neuen Gipfeln empor.

72


Auf den Seiten von The Smart Set, American Mercury, The New Yorker, The Saturday Review of Literature, Harper's, The Atlantic Monthly, Vanity Fair, The Nation und The New Republic ertönte — im literarischen wie im nicht-literarischen Bereich — die amerikanische Prosa in einer Klangfülle und Intensität wie nie zuvor. Wer hätte damals zu sagen gewagt, dies sei der Nachtigallengesang, der am schönsten und lieblichsten klingt, wenn dem Sänger der Augenblick des Todes naht? Selbst heute scheut man sich noch, so etwas zu behaupten. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß hinter dieser Melodie neue Töne hörbar wurden, eine neue Melodie, die das Ende vielleicht nicht des Publikumsmagazins, wohl aber das seiner glorreichen Tage ankündigte.

Es kam die Steckdose, an die sehr verschiedenartige und verlockende Medien angeschlossen werden konnten, die allesamt das Ansehen, die Ökonomie und das Monopol des literarisch anspruchsvollen Publikumsmagazins angriffen. Ich denke hier vor allem an Radio, Kino und Fernsehen. Gemeinsam attackierten diese »Medien«, wie man sie genannt hat, die Magazine aus mehreren Richtungen. Sie untergruben, erstens, die ökonomische Grundlage der Magazine, indem sie sie ihrer Werbeeinnahmen beraubten. Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts waren die Magazine beim Gewinnen von Anzeigenkunden allen anderen Konkurrenten überlegen.

Im Jahre 1950 zum Beispiel wurden 515 Millionen Dollar für Anzeigen in Magazinen ausgegeben, das waren 9 Prozent aller Ausgaben für Werbung. Im selben Jahr flossen nur 171 Millionen Dollar, oder 3 Prozent des gesamten Werbeaufkommens, an das Fernsehen. 1966 wurden 1,295 Milliarden für Magazinwerbung ausgegeben (7,8 Prozent), aber2,765 Milliarden (16,7 Prozent) für die Fernsehwerbung. Dieser Trend hält unverändert an. Auch das Radio trug dazu bei, die Einnahmen der Magazine zu schmälern, ebenso wie das Kino. Das Kino konkurrierte natürlich nicht direkt um das Geld aus der Werbung, aber es schluckte einen Teil des Geldes, das die Leute für ihre Freizeitaktivitäten ausgaben.

In einem Zusammenhang mit diesem letzten Punkt steht, zweitens, die Tatsache, daß die Medien die Struktur der Freizeit­aktivitäten veränderten. Mit dem Radio zum Beispiel wurde es für die Menschen überflüssig, einander vorzulesen oder überhaupt etwas zu lesen. Das Kino lockte sie ganz von zu Hause fort. Das Fernsehen holte sie wieder zurück, aber nicht zum Lesen. Gegenwärtig sehen allabendlich rund 90 Millionen Amerikaner zur Hauptsendezeit fern.

73/74


Dabei ist »fernsehen« etwas ganz anderes als »eine Fernsehsendung sehen«. Das letztere setzt Auswahl voraus, ersteres geschieht zwanghaft. Es ist wichtig, hierauf hinzuweisen, weil sich das Publikumsmagazin in einem gewissen Sinne an ein Publikum zwanghafter Leser richtete, an dessen Stelle nun die zwanghaften Fernsehzuschauer getreten sind. Außerdem veränderte die allgemeine Verfügbarkeit der verschiedensten Medien (zu ihnen gehören auch die Stereoanlage und das vielfach unterschätzte Telephon) sowohl den Geräuschpegel als auch das Zerstreuungsniveau im durchschnittlichen Haushalt, so daß sich die Bedingungen für ernsthaftes Lesen auch hierdurch verschlechterten.

Drittens trugen Kino und Fernsehen, unterstützt von der Entwicklung der Photographie, zur Entstehung dessen bei, was wir heute als visuelle Kultur bezeichnen. In Amerika ist das Wort als zentraler Modus öffentlicher Diskurse in erheblichem Maße durch das Bild verdrängt worden. Politiker, Geistliche, Journalisten und Richter sind uns heute durch ihre Gesichter bekannt und nicht durch das, was sie sagen. Noch schlimmer ist, daß sich das Publikum mehr und mehr daran gewöhnt, Informationen in Form von Bildern — und zwar rasch sich bewegenden Bildern — aufzunehmen, und nicht mehr die Geduld und möglicherweise auch nicht mehr die Fähigkeit hat, das langsame, lineare, abstrakte Wort zu verarbeiten. Überdies haben die lichtgeschwinden Medien mit ihrer Augenblicksbezogenheit das gedruckte Wort in eine Aura von Rückständigkeit gehüllt. Nicht nur die Zeitung von gestern ist ein alter Hut, sondern auch die von heute.

Und schließlich haben die Medien einen großen Teil des Talents an sich gezogen, das sich früher der schriftstellerischen Arbeit für die Magazine gewidmet hätte. Drehbücher für den Film oder Fortsetzungsserien für das Fernsehen zu schreiben birgt die Aussicht auf Ruhm und Reichtümer, wie sie sich jemand, der für ein Magazin schreibt, einfach nicht erhoffen kann. So wie die Leser dieser Form den Rücken kehren, weil sie zu komplex oder zu langsam oder veraltet ist, kehren ihr auch die Autoren den Rücken, weil das Honorar zu niedrig und die Verbreitung zu gering ist.

Wohin führt uns der Weg?

Nachrufe, so wollen wir hoffen, sind verfrüht. Zum einen haben manche Magazine ihre Form verändert und sich damit der veränderten Bedeutung des Lesens im Leben der Menschen angepaßt.

Harper's zum Beispiel hat die Länge seiner Storys und Artikel verringert, um der verminderten Konzentrations­fähigkeit seiner Leser entgegenzukommen. Zum anderen mehren sich die Hinweise darauf, daß bei vielen Produkten die Werbung in Druckerzeugnissen wirkungsvoller ist als die Fernsehwerbung. Die Wirtschaft mag dies noch nicht recht glauben, aber wenn sie sich hiervon überzeugen sollte, würde das die ökonomische Basis der Magazine erheblich stärken. 

Zum dritten sind die Ausmaße der allgemeinen Leseschwäche und Leseunlust nun endlich doch als nationales Problem, vielleicht sogar als Krise, erkannt worden. Pädagogen und Parlamentarier haben begonnen, Lösungen anzubieten, die vielleicht auf lange Sicht geeignet sind, Zuckermans Hoffnung zu nähren. George Steiner seinerseits hat vorgeschlagen, alle Colleges für nicht-graduierte Studenten in Leseschulen zu verwandeln. Es gibt sogar eine Gruppe von Pädagogen (zu denen auch ich mich rechne), die Steiners Vorschlag auf die Hochschulen ausdehnen möchten. Dem liegt die Idee zugrunde, daß Veränderungen in der Struktur des Bildungswesens viel dazu beitragen könnten, dem gedruckten Wort seine alte Bedeutung zurückzugeben. Dieser Gedanke ist durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Schließlich waren es ebenfalls Veränderungen im Bildungswesen, die im 17. und 18. Jahrhundert dem gedruckten Wort zu seinem großen Ansehen und seiner Macht verhalfen.

Ein wenig optimistisch mag schließlich auch die Tatsache stimmen, daß keine Auswirkung des Medienwandels so unausweichlich ist, daß wir die Zukunft mit Sicherheit voraussagen könnten. Wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt, hält die Geschichte der Medien immer wieder Überraschungen bereit. Das heißt, es kann sich herausstellen, daß jene, die — sei es aus Übermut, sei es aus Schwermut — Voraussagen über den Verfall aller ernsthaften Formen von Literatur machen, am Ende doch unrecht behalten. Hier steht die Ungewißheit auf unserer Seite. So wollen wir denn, wohl wissend, daß das Publikumsmagazin heute in einem schweren Kampf steht, ihm zu Ehren unsere Fahne hissen — indem wir seinen zweihundertsten Geburtstag in Amerika feiern und unseren jungen Leuten von seiner robusten Geschichte erzählen. Und natürlich, indem wir nicht vergessen, unsere Abonnements zu verlängern.

74-75

 

 

 www.detopia.de      ^^^^