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6  Das Gleichnis vom Kragenrand   

1988 von Neil Postman

Die beiden folgenden Essays beschäftigen sich wie noch einige andere in diesem Buch mit dem Fernsehen. Obwohl sich beide Texte in ihrem Stil unterscheiden, ist ihr Zweck der gleiche: Sie wollen die Beziehung zwischen der Form bestimmter Arten von Sendungen und deren gesellschaftlichen Folgewirkungen beleuchten. Man muß hier erwähnen, daß sich Amerikaner und Europäer in ihrer Einstellung zum Fernsehen unter anderem dadurch voneinander unterscheiden, daß die Europäer das Fernsehen ernst nehmen. Sie scheinen zu begreifen, daß der Medienwandel kein additiver Prozeß, sondern eine ökologische Umwälzung ist.

Das heißt, wenn ein starkes neues Medium wie das Fernsehen Eingang in eine Kultur findet, dann ist das Ergebnis nicht die alte Kultur plus dem neuen Medium. Das Ergebnis ist vielmehr eine durch und durch neue Kultur. Die Wirkung läßt sich mit der vergleichen, die sich ergibt, wenn man einen Tropfen roten Farbstoffs in einen Becher mit klarem Wasser fallen läßt. Am Ende hat das Wasser bis in jedes Atom eine neue Farbe angenommen. Aus diesem Grund ist das Fernsehen für mich fast zu einer fixen Idee geworden, denn ich habe nicht den Eindruck, daß meine Landsleute seine Bedeutung wirklich ermessen. Wir sprechen über Amerika, als sei das Fernsehen bloß hinzugekommen, als hätte sich sonst kaum etwas geändert. Die Amerikaner sehen fern. Aber so weit sind wir noch nicht, daß wir uns fernsehen sähen.

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Werbespots im Fernsehen sind eine Form von religiöser Literatur. Wenn man sich ernsthaft mit ihnen beschäftigt, gerät man auf das Feld der Hermeneutik, jenes Zweigs der Theologie, der sich mit der Auslegung und Erklärung der Heiligen Schrift befaßt. Genau dies gedenke auch ich hier zu tun. Mögen sich Heiden, Ketzer und Ungläubige anderen Dingen zuwenden.

Zunächst einmal: 

Ich behaupte nicht, daß jeder Fernsehwerbespot einen religiösen Inhalt besitze. So wie der Pfarrer in der Kirche die Aufmerksamkeit seiner Gemeinde zuweilen auch auf außerkirchliche Belange lenkt, so gibt es Reklamespots, die rein weltlicher Natur sind. Jemand hat etwas zu verkaufen; man erfährt, worum es sich handelt, wo man es bekommen kann und was es kostet. Eine solche Werbung mag zwar schreierisch und aggressiv sein, aber sie propagiert keine Doktrin und beschwört keine Theologie.

Die Mehrzahl der wichtigen Werbespots im Fernsehen nimmt jedoch die Gestalt eines religiösen, auf einer kohärenten Theologie errichteten Gleichnisses an. Wie alle religiösen Gleichnisse entfalten sie eine Vorstellung von Sünde, geben Hinweise auf den Weg zur Erlösung und eröffnen einen Ausblick auf das Himmelreich. Außerdem deuten sie an, wo die Würzein allen Übels liegen und worin die Pflichten der Gottgefälligen bestehen.

Betrachten wir zum Beispiel das Gleichnis vom Kragenrand

Innerhalb der Fernsehtheologie nimmt es etwa die Stelle ein, die dem Gleichnis vom verlorenen Sohn in der Bibel zukommt, nämlich die eines Archetyps, der die meisten formalen und inhaltlichen Elemente umfaßt, die für seine Gattung typisch sind. Das Gleichnis vom Kragenrand ist kurz, es fordert vom Zuschauer nicht mehr als 30 Sekunden Zeit und Aufmerksamkeit. Hierfür gibt es drei Gründe. Erstens, es ist kostspielig, im Fernsehen zu predigen. Zweitens, die Aufmerk­sam­keits­spanne der Gemeinde ist kurz und die Gemeinde anfällig für anderweitige Zerstreuungen. Und drittens, ein Gleichnis braucht nicht ausführlich zu sein; die Tradition schreibt vor, daß seine Erzählstruktur komprimiert, seine Symbole unzweideutig und seine Erklärung bündig sein sollen.

Tatsächlich folgt die Erzählstruktur des Gleichnisses vom Kragenrand den vertrauten Bahnen der Tradition. Die Geschichte hat einen Anfang, ein Mittelstück und ein Ende. Hier eine kurze Beschreibung für die, die sie nicht kennen.

Wir sehen ein Ehepaar in entspannter Atmosphäre — in einem Restaurant. Die beiden sind offenkundig gern zusammen und fühlen sich sichtlich wohl. Eine Kellnerin nähert sich dem Tisch und bemerkt, daß der Mann einen schmutzigen Kragenrand hat; unverwandt blickt sie nach dem Kragen und verkündet dann mit einem höhnischen Grinsen allen in Hörweite Sitzenden, worin das Vergehen des Mannes besteht.

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Der ist gedemütigt und wirft seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu (denn sie ist die Ursache seiner Beschämung). Sie blickt drein, als ekelte sie sich vor sich selbst, eine Miene, in die sich noch ein Anflug von Selbstmitleid mischt. Das ist der Anfang des Gleichnisses: die Entstehung eines Problems.

Im weiteren Verlauf sieht man, wie die Frau zu Hause ein Waschmittel benutzt, das den Schmutz an jedem Männerhemdkragen unfehlbar beseitigt. Stolz zeigt sie ihrem Mann, was sie gerade tut, und er verzeiht ihr mit einem bewundernden Lächeln. Dies ist das Mittelstück des Gleichnisses: die Lösung des Problems. Schließlich sehen wir das Paar noch einmal in einem Restaurant, diesmal jedoch kann ihnen der prüfende, forschende Blick der Kellnerin nichts anhaben. Hier endet das Gleichnis: mit der Moral, der Erklärung, der Exegese. Wir brauchen daraus nur noch die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Wie bei allen Gleichnissen liegen hinter der vordergründigen Schlichtheit tiefe Gedanken, die es zu erwägen gilt. Besonders hintergründig und wichtig ist die Vorstellung davon, wo und wie Probleme entstehen. Jedes System von Glaubensanschauungen umfaßt auch eine Annahme über die Hauptwurzel allen Übels, der die verschiedenen Formen der Sünde entspringen. Für die Naturwissenschaft zum Beispiel verkörpert sich das Böse im Aberglauben, in der Psychoanalyse finden wir es in den frühen, neurotischen Transaktionen mit unseren Eltern, für das Christentum ist es in der Vorstellung von der Erbsünde verankert.

Bei den Reklamegleichnissen des Fernsehens nun liegt die Hauptwurzel allen Übels in einer naiven, unwissenden Einstellung zur Technik, in der Ahnungs­losigkeit gegenüber den wohltätigen Errungenschaften des industriellen Fortschritts. Sie ist die Hauptquelle allen Leids, aller Beschämung, aller Zwietracht im Leben. Und wie das Gleichnis vom Kragenrand klar zu erkennen gibt, können einen die Folgen dieser Ahnungslosigkeit jederzeit ereilen, ohne Vorwarnung und mit der ganzen Kraft ihrer zerstörerischen Wirkung.

Diese unberechenbaren Auswirkungen technischer Ahnungslosigkeit und ihre Gewalt bilden ein wichtiges Element der Reklame­theologie des Fernsehens, denn sie gemahnen die Gemeinde ständig an die eigene Verletzbarkeit. Nie darf man sich der Selbstzufriedenheit oder gar dem Selbstlob überlassen. Der Versuch, ohne die Wohltaten der Technik zu leben, birgt Gefahren in sich, denn für den Wachsamen ist die in diesem Versuch sich bekundende Ahnungs­losigkeit jederzeit schmerzlich sichtbar. Dieser Wachsame kann in Gestalt einer Kellnerin, eines Freundes, einer Nachbarin auftreten oder gar als Gespenster­erscheinung, sozusagen als heiliger Geist, der wie aus dem Nichts plötzlich in der Küche steht und einem die eigene verbohrte Ahnungs­losigkeit aufdeckt.

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Die Idee der technischen Ahnungslosigkeit muß hier natürlich sehr weit gefaßt werden und bezieht sich nicht nur auf Waschmittel, Tabletten, Monatsbinden, Autos, Salben und Nahrungsmittel, sondern auch auf technische Einrichtungen wie Sparkassen oder Verkehrsmittel. So kann es z.B. geschehen, daß man im Urlaub zufällig den Nachbarn über den Weg läuft (in TV-Reklame­gleichnissen immer ein Zeichen von Gefahr) und erfährt, daß sie ihr Geld bei einer bestimmten Bank angelegt haben, deren Zinssätze man nicht kannte. Das ist natürlich eine moralische Katastrophe, man steht da wie ein Dummkopf, und der Urlaub ist verdorben.

Aber wie wir am Gleichnis vom Kragenrand schon gesehen haben, gibt es einen Weg der Erlösung. Wenn man ihn beschreitet, muß man allerdings zwei Hindernisse überwinden. Erstens muß man sich den Ratschlägen und der Kritik jener öffnen, denen bereits größere Erleuchtung zuteil geworden ist. Im Gleichnis vom Kragenrand kommt der Kellnerin diese Funktion des Ratgebers zu, obwohl sie sehr hart, ja fast unerbittlich auftritt. In anderen Gleichnissen ist der Ratgeber eher sarkastisch als streng. In den meisten aber, etwa in allen Werbespots für Binden, Mundwasser, Shampoo und Aspirin, wirken die Berater freundlich und sympathisch und sind sich ihrer eigenen Verwundbarkeit in anderen Angelegenheiten durchaus bewußt.

Vom Ahnungslosen wird nun nichts weiter verlangt, als daß er die Unterweisung in dem Geiste annimmt, in dem sie ihm gewährt wird. Damit wird der Gemeinde eine doppelte Lektion erteilt: Man soll die Ratschläge nicht nur bereitwillig akzeptieren, man soll sie auch ebenso bereitwillig austeilen. Das Ratgeben ist sozusagen die oberste Pflicht der Gottgefälligen. Und die ideale Religionsgemeinschaft könnte man sich als eine Gruppe von Leuten vorstellen, die fortwährend Ratschläge über die neuesten technischen Errungenschaften untereinander austauschen.

Das zweite Hindernis auf dem Weg zur Erlösung gründet in der Bereitschaft, dem empfangenen Rat entsprechend zu handeln.

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Wie in der traditionellen christlichen Theologie genügt es nicht, das Evangelium zu hören und es zu verkünden. Daß man die Botschaft verstanden hat, muß in guten Werken zum Ausdruck kommen, also in Handlungen. Im Gleichnis vom Kragenrand handelt die Ehefrau, die zuvor so jämmerlich dastand, sofort, und das Gleichnis schließt damit, daß es der Gemeinde die Wirkung ihres Tuns vorführt.

 

Im Gleichnis von der Person mit dem Mundgeruch, das in mehreren Versionen umläuft, sehen wir eine Frau, die von den technischen Möglichkeiten zur Behebung ihrer Reizlosigkeit nichts ahnt und nun von einer hilfreichen Zimmergenossin aufgeklärt wird. Die Frau nimmt den Rat unverzüglich an, mit dem Ergebnis, welches uns in den letzten fünf Sekunden gezeigt wird: Flitterwochen auf Hawaii. Im Gleichnis vom dummen Geldanleger wird uns ein Mann gezeigt, der nicht weiß, wie er sein Geld zum Geldverdienen veranlassen kann. Nachdem man ihn aufgeklärt hat, handelt er rasch und wird am Schluß des Gleichnisses mit einem Auto oder einem Trip nach Hawaii oder etwas anderem, das Seelenfrieden zu stiften vermag, belohnt.

Wegen der Kompaktheit der Reklamegleichnisse muß der Schluß, also die letzten fünf Sekunden, einen doppelten Zweck erfüllen. Zunächst einmal liefert er die Moral der Geschichte — wenn man in dieser Weise handelt, wird jenes die Belohnung sein. Und indem uns das Ergebnis gezeigt wird, führt man uns zugleich ein Bild des Himmels vor Augen. Gelegentlich dürfen wir auch einen Blick in die Hölle werfen, etwa in dem Gleichnis von den verlorenen Travellerschecks: technisch Ahnungslose, die auf ewig dazu verdammt sind, in der Fremde, fern der Heimat umherzuirren. Aber häufig wird uns ein Himmel gezeigt, zugänglich und voller Herrlichkeit, ein Himmel im Hier und Jetzt, auf Erden, in Amerika und nicht selten auf Hawaii.

Aber Hawaii ist nur ein zweckdienliches, immer wieder verwendetes Symbol. Der Himmel kann überall Gestalt annehmen und sich auftun. Im Gleichnis von dem Mann, der häufig mit dem Flugzeug unterwegs ist, gelangt der verwirrte Flugreisende in den Himmel, indem er an den Schalter eines Autoverleihs tritt, zu dem ihn ein engelsgleicher Bote geleitet. Der Ausdruck von Ekstase auf dem Gesicht des Mannes verrät, daß er der Transzendenz in diesem Augenblick so nahe ist, wie er es sich nur je erhoffen kann.

»Ekstase« ist hier die zentrale Idee, denn in den Reklamegleichnissen werden die verschiedenen Arten von Ekstase nicht minder detailliert geschildert als in der religiösen Literatur. Gegen Ende des Gleichnisses von den fleckigen Gläsern erscheint auf den Gesichtern des Ehemannes und seiner Frau ein ekstatischer Ausdruck, den man unschwer als himmlische Glückseligkeit entziffern kann. Selbst in dem Gleichnis vom Hemdkragen, wo wir es auf den ersten Blick mit einer weniger tiefen moralischen Krise als im Gleichnis von den fleckigen Gläsern zu tun haben, begegnet uns reine, ungetrübte Ekstase. Wo aber Ekstase ist, da ist auch der Himmel. Kurzum, der Himmel ist überall, wo wir unsere Seele mit Gott vereinen — und dieser Gott ist natürlich die Technik samt ihren Errungenschaften.

Wann genau die Amerikaner als religiöses Volk ihren traditionellen Gottesglauben durch den Glauben an die veredelnde Kraft der Technik ersetzt haben, läßt sich nicht leicht bestimmen. Die Werbespots im Fernsehen — das muß betont werden — haben diesen Wandel nicht herbeigeführt, doch es ist unverkennbar, daß sie ihn widerspiegeln, dokumentieren und intensivieren. Sie bilden die reichhaltigste Literatur über unser neues spirituelles Engagement.

Deshalb haben wir auch die heilige Pflicht, die TV-Werbespots der ständigen, sorgfältigen Prüfung durch die Hermeneutik zu unterziehen.

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