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7  Die Nachrichten  

1988 von Neil Postman

 

 

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Das ganze Problem der Nachrichten im Fernsehen läßt sich so zusammenfassen: Sämtliche Wörter, die während einer einstündigen Nachrichten­sendung gesprochen werden, könnte man auf einer einzigen Zeitungsseite unterbringen. Aber auf einer Druckseite kann man die Welt nicht begreiflich machen. Natürlich, das Fernsehen bietet eine Entschädigung: Es bietet Bilder, und diese Bilder bewegen sich. Oft heißt es, laufende Bilder, ob im Film oder auf einem Videoband, seien selbst eine Art von Sprache — und daran ist viel Wahres. Aber diese Bildersprache unterscheidet sich radikal von gesprochener oder geschriebener Sprache, und auf diese Unterschiede kommt es an, wenn man die Fernsehnachrichten begreifen will.

Zunächst einmal eignet sich die Grammatik der Bilder nicht sonderlich gut, um zu vermitteln, daß etwas vergangen oder gegenwärtig ist. Wenn Terroristen der Welt beweisen wollen, daß ihre entführten Geiseln noch am Leben sind, photographieren sie sie zusammen mit der neuesten Ausgabe einer Zeitung. Die Datumszeile der Zeitung ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß das Photo nach diesem Datum aufgenommen wurde. Ohne die Hilfe der Sprache sind Film und Videoband außerstande, zeitliche Dimensionen auch nur annähernd genau bildlich wiederzugeben. 

Man stelle sich einen Filmstreifen vor, der einen Flugzeugträger auf hoher See zeigt. Vielleicht könnte man das Schiff als ein sowjetisches oder amerikanisches identifizieren, aber es wäre völlig unmöglich, zu sagen, wo in aller Welt sich der Flugzeugträger befindet, wohin er unterwegs ist und wann die Aufnahmen gemacht wurden. Nur durch Sprache — durch Wörter über Bilder — kann das Bild des Flugzeugträgers als Darstellung eines bestimmten Ereignisses Bedeutung gewinnen. Und dennoch kann man das Bild des Flugzeugträgers als solches genießen. Man kann die gewaltige Größe des Fahrzeugs interessant finden; sie signalisiert militärische Macht unterwegs. Es liegt eine gewisse Dramatik darin, verfolgen zu können, wie die Flugzeuge mit hoher Geschwindigkeit hereinkommen und auf dem Deck abgebremst werden. 

Hier stoßen wir auf einen zweiten wichtigen Punkt, der die Sprache der Bilder betrifft. Die Grammatik laufender Bilder bevorzugt Bilder, die sich verändern. Aus diesem Grund finden Gewalt und Zerstörung so häufig den Weg auf die Mattscheibe. Wenn etwas gewaltsam zerstört wird, dann verändert sich sein Zustand auf eine deutlich sichtbare Weise. Daher die überwältigende Wirkung von Feuer. Feuer verleiht den Vorstellungen von Vernichtung, Verschwinden, Tod eine anschauliche Form — der Gegenstand, der verbrennt, wird vom Feuer tatsächlich hinweggerafft. Aus diesem elementaren Sachverhalt wird verständlich, daß Brände ein gutes Thema für die Fernsehnachrichten sind. Zuerst war etwas da, jetzt ist es weg, und die Veränderung wird im Film festgehalten.

Erdbeben und Taifune sind ebenso eindrucksvoll: 

Vor den Augen des Zuschauers wird die Welt zerlegt. Wenn eine Zuschauerin Verwandte in Mexico City hat und es ereignet sich dort ein Erdbeben, dann gewinnen für sie die Bilder der Zerstörung als Bericht von einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit möglicherweise ein spezifisches Interesse. Das heißt, sie verfolgt die Fernsehnachrichten, um ihnen Informationen über ein bedeutsames Ereignis zu entnehmen. Aber der Film über ein Erdbeben bleibt auch dann interessant, wenn dem Zuschauer das Ereignis selbst gleichgültig ist. Mit anderen Worten, man kann den Nachrichten auch auf eine ganz andere Art beiwohnen — als Zuschauer, der unterhalten werden möchte. Mitzuerleben, wie Häuser einstürzen, ist aufregend, gleichgültig, wo diese Häuser stehen. Vor unseren Augen verwandelt sich die Welt in Staub.

Diejenigen, die in Amerika Fernsehnachrichten produzieren, wissen, daß ihr Medium Bilder bevorzugt, die sich bewegen. Deshalb verabscheuen sie »sprechende Köpfe«, also Leute, die vor die Kamera treten und etwas sagen.

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Wenn »sprechende Köpfe« im Fernsehen erscheinen, gibt es nichts zu zeigen oder zu dokumentieren, kein Bruch in einem Kontinuum gibt Gelegenheit zu guten Bildern. Im Kino ist die Situation anders. Auf der Leinwand können Nahaufnahmen von einem guten Schauspieler, der eine dramatische Rede hält, mitunter interessant sein. Wenn Clint Eastwood die Augen zusammenkneift und seinen Rivalen herausfordert, als erster zu schießen, dann sieht der Zuschauer, wie die kalte Wut des Mannes, den Eastwood verkörpert, sichtbare Gestalt annimmt, und das Zusammenkneifen der Augen hat etwas Dramatisches. Aber die Wirkung dieser unscheinbaren Bewegung beruht zum großen Teil auf der Größe der Leinwand und auf der Dunkelheit im Kinosaal, die einen Eastwood und jede seiner Handlungen »überlebensgroß« erscheinen lassen.

Der Fernsehbildschirm hingegen ist kleiner als das Leben. Er nimmt etwa 15 Prozent des Wahrnehmungs­feldes eines Zuschauers ein, während die Kinoleinwand etwa 70 Prozent beansprucht. Der Bildschirm befindet sich auch nicht in einem abgedunkelten, der Welt entrückten Theater, er steht vielmehr in der alltäglichen Umgebung des Zuschauers. Deshalb müssen die visuellen Veränderungen drastischer und dramatischer ausfallen, wenn sie interessant sein sollen. Ein Zusammenkneifen der Augen genügt nicht. Ein Autozusammenstoß, ein Erdbeben, eine brennende Fabrik sind schon viel besser.

Betrachten wir unter Berücksichtigung dieser Überlegungen nun den Aufbau einer typischen Nachrichtensendung. 

In Amerika beginnt fast jede Nachrichtensendung mit Musik, deren Charakter andeutet, daß bedeutsame Ereignisse bevorstehen. (Beethovens Fünfte Symphonie wäre im Grunde gerade richtig.) Die Musik ist sehr wichtig, denn sie stellt die Nachrichten auf eine Ebene mit verschiedenen Formen von Theater und Ritual — man denke an eine Oper oder einen Hochzeitszug —, bei denen die musikalischen Themen die Bedeutung des Ereignisses unterstreichen. Musik trägt uns sofort in das Reich des Symbolischen, in eine Welt, die man nicht wörtlich nehmen darf. In der wirklichen Welt spielen sich die Ereignisse schließlich ohne musikalische Untermalung ab. Aber bei der Musik hört die Symbolik noch keineswegs auf. Im Studio vernimmt man nun das Geräusch von Fernschreibern — nicht etwa deshalb, weil sich dieser Lärm nicht ausblenden ließe, sondern weil er selbst eine Art von Musik ist.

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Er gibt uns zu verstehen, daß noch immer Meldungen aus allen Winkeln des Erdballs eintreffen — ein Eindruck, der durch die Weltkarte im Hintergrund verstärkt wird (in einigen Nachrichtensendungen auch durch eine Anzahl von Uhren, die die aktuelle Zeit auf den verschiedenen Kontinenten anzeigen).

Schon jetzt, bevor überhaupt eine einzige Meldung gebracht worden ist, hat man uns eine Menge mitgeteilt. Wir wissen, daß wir es mit einem symbolischen Ereignis zu tun haben, einer Art Theater, auf dem die Ereignisse des Tages in Szene gesetzt werden sollen. Dieses Theater macht sich die ganze Welt zum Thema, auch wenn es die Welt nur aus der Perspektive einer einzigen Nation betrachtet. Eine gewisse Spannung liegt in der Luft, ähnlich der Atmosphäre in einem wirklichen Theater, kurz bevor der Vorhang hochgeht. Die Spannung wird durch die Musik vermittelt, durch das Stakkato der Fernschreiber und in vielen amerikanischen Nachrichtensendungen auch durch den Anblick von Nachrichtenredakteuren, die mit Tickermeldungen herumhasten oder Telephonanrufe entgegennehmen.

Technisch gesehen, wäre es kein Problem, die Kulissen so aufzubauen, daß die Mitarbeiter der Nachrichtenredaktion im Off bleiben, unsichtbar für den Fernsehzuschauer. Aber damit ginge ein wichtiger dramatischer Effekt verloren. Indem sie sich vor der Fernsehkamera zu schaffen machen, vermitteln auch diese Leute etwas von der Dringlichkeit der bevorstehenden Ereignisse, die sich allem Anschein nach so rasch verändern, daß eine fortwährende Überarbeitung der Meldungen vonnöten ist.

Die Anwesenheit des Redaktionsstabs im Hintergrund signalisiert zugleich die Bedeutung der Person im Mittelpunkt, des Moderators (oder der Moderatorin), der allem Anschein nach »das Kommando führt« — über den Mitarbeiterstab ebenso wie über die Nachrichten. Der Moderator spielt die Rolle des Gastgebers. Er heißt uns in der Sendung willkommen, indem er »Guten Abend« sagt, und er begrüßt uns auch, wenn wir von einem der Orte zurückkehren, die wir im Laufe der verschiedenen Filmbeiträge besuchen. Seine Stimme, seine äußere Erscheinung und sein Auftreten sind entscheidend für die Stimmung der Sendung. Es wäre undenkbar, als Moderator einen abgrundtief häßlichen Menschen auszuwählen oder einen nervösen Typ, der seine Sätze nicht zu Ende bringt.

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Die Zuschauer müssen glauben können, daß der Moderator über Autorität und Sachverstand verfügt, daß er bei einer Krise nicht in Panik geraten würde, daß man sich auf ihn verlassen kann.

Dieser Glaube beruht nicht etwa auf den journalistischen Leistungen des Moderators oder auf dem, was das Publikum eventuell über seinen Charakter weiß. Er erwächst daraus, wie sich der Moderator darstellt, während er auf Sendung ist. Sieht er aus wie ein Mann, dem man vertrauen kann? Spricht er mit fester, klarer Stimme? Kann er gutmütig lächeln? Geht von ihm etwas Vertrauenerweckendes aus, ohne daß er arrogant wirkt? Vor allem aber muß der Moderator den Eindruck vermitteln, daß er Herr der Situation ist. Er muß sich selbst, seine Stimme und seine Gefühlsregungen unter Kontrolle haben. Er muß wissen, was in der Sendung als nächstes kommt, er muß elegant und selbstsicher von einem Beitrag zum nächsten überleiten. Und wiederum wäre es undenkbar, wenn er über einer Story in Tränen ausbrechen oder vor der Kamera in ein unkontrolliertes Gelächter verfallen würde, gleichgültig, wie »menschlich« solche Reaktionen sein mögen.

Viele andere Bestandteile der Nachrichtensendung helfen dem Moderator, den Anschein zu erwecken, er sei Herr der Situation. In ihnen sieht man meist ein Zeichen für die Professionalität der Fernsehanstalten. Hierzu gehören etwa Graphiken, die dem Zuschauer sagen, was ihm gezeigt wird, oder Karten und Statistiken, die plötzlich auf dem Bildschirm erscheinen und auf ein Stichwort hin wieder verschwinden, oder der geordnete Fortgang von einer Story zur anderen, angefangen bei den wichtigsten Ereignissen des Tages. 

Dazu gehört auch, daß es während der Sendung keine Lücken oder »Totzeiten« gibt, und dazu gehört auch, daß die Nachrichten zu einem festen Zeitpunkt beginnen und enden. Man hält diese Merkmale der Fernsehnachrichten meist für rein technische Besonderheiten, die von einer professionellen Mannschaft wie selbstverständlich beachtet werden. Aber sie sind auch Symbole für eines der wichtigsten Themen der Fernsehnachrichten überhaupt: die Überlagerung des ungeordneten Stroms der Ereignisse durch eine geordnete Welt, genannt »die Nachrichten«.

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Während die Form der Nachrichtensendung Ordnung und Kontrolliertheit hervorhebt, ist ihr Inhalt eher chaotisch. Weil die Sendezeit so kostbar ist, weil das Medium seinem Wesen nach dynamische Bilder bevorzugt und weil der Druck der kommerziellen Struktur von den Nachrichten vor allem eines verlangt, nämlich die Zuschauer bei der Stange zu halten, wird nur selten der Versuch gemacht, Probleme gründlich zu erläutern oder Ereignisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Nervös springen die Nachrichten von einem Kaufhausbrand zu einer Gerichtsentscheidung, von einem Guerillakrieg zu einem Weltmeisterschaftsspiel, wobei die Qualität des Films häufig über die Länge des Beitrags entscheidet. Bestimmte Storys werden nur deshalb gezeigt, weil sie dramatische Bilder bieten. Einsturz einer Tribüne in Südamerika: Hunderte von Menschen unter den Trümmern begraben. Für das Fernsehen eine perfekte Nachrichtenstory, denn die Kameras können die Katastrophe in ihrem ganzen Schrecken im Bild festhalten. Zurück nach Washington: Ein neuer Haushaltsentwurf wurde vom Kongreß gebilligt. Da gibt es nun gar nichts zu photographieren, denn ein Haushaltsentwurf ist kein materielles Ereignis; er ist ein Dokument voller Buchstaben und Zahlen. Aus lauter Verzweiflung zeigen die Fernsehleute nun vielleicht ein Photo des Dokuments selbst, Großaufnahme des Umschlags, wo es heißt »Budget of the United States of America«.

Manchmal schicken sie ihre Kameras auch in die regierungseigene Druckerei, wo der Haushaltsentwurf in vielen Exemplaren gedruckt wird. An diesem Abend — während eine Stimme im Off den Inhalt des Entwurfs zusammenfaßt — beobachtet der Zuschauer, wie in der Regierungsdruckerei ganze Stapel von Dokumenten in Kisten verpackt werden. Dann werden einige der wichtigeren Punkte des Entwurfs auf einer Schrifttafel eingeblendet, aber dieses Verfahren — den Bildschirm als Druckseite zu verwenden — nimmt so viel Zeit in Anspruch, daß sich die Produzenten seiner so selten wie möglich bedienen. Kurz, der Haushaltsentwurf läßt sich im Fernsehen nicht »herüberbringen«, und deshalb muß man seinen Auftritt in den Nachrichten möglichst kurz halten. Der Tribüneneinsturz bekommt an diesem Abend mehr Sendeminuten.

Angesichts solcher Prioritäten ist es fast unmöglich, über wichtige Ereignisse angemessen zu berichten. Denn das belanglose Ereignis eignet sich oft viel besser für die Fernsehberichterstattung. Im Hinblick auf die Nachrichtensendungen im amerikanischen Fernsehen ist diese Feststellung so banal, daß niemand sich die Mühe macht, sie zurückzuweisen.

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Walter Cronkite, ein hochangesehener Mann beim Fernsehen und jahrelang Moderator der Abendnachrichten von CBS, hat mehrfach eingeräumt, man könne sich nicht darauf verlassen, daß das Fernsehen die Bürger einer demokratischen Nation angemessen informiere. Sofern sie nicht auch Zeitungen und Zeitschriften läsen, so hat Cronkite gesagt, seien Fernsehzuschauer außerstande, ihre Welt zu verstehen. Niemand bei CBS hat ihm je widersprochen, allenfalls heißt es: »Wir tun unser Bestes.«

Natürlich stößt man überall im Journalismus auf die Tendenz, sich an die Oberfläche der Ereignisse zu halten. Das gilt für die Tageszeitung genauso wie für die Fernsehnachrichten. Aber das Fernsehen weist mehrere Eigenheiten auf, die jeden Versuch eines Journalisten, die Welt begreiflich zu machen, untergraben. Eine dieser Eigenheiten rührt daher, daß eine Fernsehsendung aus einer Reihe von Ereignissen besteht, die nacheinander ablaufen, und diese Abfolge ist für alle Zuschauer die gleiche. Für eine Zeitungsseite, die viele Artikel gleichzeitig über- oder nebeneinander bringt, gilt dies nicht, denn sie überläßt dem Leser die Auswahl dessen, was er lesen will. Will sich der Zeitungsleser nur einen Überblick über das letzte Steuergesetz verschaffen, so kann er die Überschrift und den ersten Absatz des betreffenden Artikels überfliegen. Möchte er sich gründlicher informieren, so kann er weiterlesen. In gewissem Sinne liest deshalb jeder eine andere Zeitung, denn nie werden zwei Leser dieselben Artikel lesen (beziehungsweise auslassen).

Alle Fernsehzuschauer hingegen sehen dieselbe Sendung. Das Fernsehpublikum hat keine Wahl. Ein Filmbericht wird entweder gesendet oder nicht, und das heißt, Beiträge, die nur für einen bestimmten Zuschauerkreis interessant sind, werden wahrscheinlich nicht gesendet. Reuven Frank aus der Nachrichten­redaktion von CBS erläutert das so:

»Eine Zeitung zum Beispiel kann es sich ohne weiteres leisten, etwas abzudrucken, das vermutlich nur für einen Bruchteil ihrer Leser von Interesse ist. Eine Nachrichtensendung im Fernsehen muß dagegen so zusammengestellt werden, daß man annehmen kann, jedes Stück werde für jeden, der zuschaut, von einigem Interesse sein. Jedesmal, wenn eine Zeitung einen Beitrag aufnimmt, der eine spezifische Gruppe anzieht, kann sie davon ausgehen, daß sie ihre Verbreitung wenigstens ein bißchen ausdehnt. Wenn eine Nachrichtensendung im Fernsehen einen solchen Beitrag aufnimmt ... muß man davon ausgehen, daß die Zahl der Zuschauer zurückgeht.«

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Die Notwendigkeit, »jeden anzusprechen«, ein bezeichnendes Merkmal für das kommerzielle Fernsehen in all seinen Spielarten, hindert die Journalisten daran, ausführliche, komplexe Erläuterungen zu geben oder die Abfolge der Ereignisse nachzuzeichnen, die zu den Schlagzeilen des heutigen Tages geführt hat. Eine der Paradoxien im politischen Leben der Demokratien von heute besteht darin, daß viele Probleme, die das »Allgemeinwohl« betreffen, nur für spezialisierte Gruppen von Interesse sind. 

Die Rüstungskontrolle zum Beispiel ist ein Fragenkomplex, der wirklich jedermann auf der Erde angeht. Aber die Sprache der Rüstungskontrolle und die Kompliziertheit der Materie sind so entmutigend, daß nur eine Minderheit diese Probleme von Woche zu Woche und von Monat zu Monat verfolgen kann. Will eine Zeitung verantwortlich handeln, so kann sie zumindest mehr Informationen über die Rüstungskontrolle liefern, als die meisten Leute sich wünschen — das kommerzielle Fernsehen könnte sich so etwas nie und nimmer leisten.

Dies verdeutlicht einen wichtigen Aspekt in der Psychologie der Wirkung des Fernsehens.  

Viele Artikel in Zeitungen oder Zeitschriften werden von einer Mehrheit der Leser nicht im strengen Sinne verlangt. Sie stehen dort, weil sich einige Leser für sie interessieren könnten, oder weil die Redakteure meinen, ihre Leser sollten sich dafür interessieren. Im kommerziellen Fernsehen ist für ein solches »könnte« oder »sollte« kein Platz. Die Produzenten sind bestrebt, sicherzustellen, »daß jedes Stück für jeden, der zuschaut, von einigem Interesse ist«, wie es Reuven Frank formulierte. Dies bedeutet, daß Zeitungen und Zeitschriften ihr Publikum in einer Weise herausfordern können, wie es dem Fernsehen unmöglich ist. Die Print-Medien können sich den Luxus leisten, Interesse zu empfehlen oder zu wecken, während dem Fernsehen immer daran gelegen sein muß, sich den bereits vorhandenen Interessen anzupassen. In gewisser Weise geht das Fernsehen sehr viel genauer auf das ein, was sein großes Publikum verlangt. Einen Anspruch kann es allerdings nicht erfüllen: den Wunsch des Zuschauers, herausgefordert zu werden, den Wunsch, daß ihm gesagt wird: »es lohnt sich, das anzusehen«, den Wunsch, sich von dem, was man für uninteressant hielt, überraschen zu lassen.

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Eine andere nachhaltige Einschränkung des Fernsehens ist die Zeit. Es ist nicht genug davon da. Die Abendnachrichten von CBS, NBC und ABC dauern 30 Minuten, von 19 Uhr bis 19 Uhr 30. Acht Minuten davon werden von Werbespots geschluckt. Es bleiben für die Tagesnachrichten also 22 Minuten, die niemand für ausreichend hält. Seit Jahren haben Nachrichtenredakteure bei ABC, NBC und CBS vorgeschlagen, die Nachrichten auf eine Stunde auszudehnen. Aber traditionell gehört die halbe Stunde nach den Abendnachrichten (von 19 Uhr 30 bis 20 Uhr) den Hunderten von angeschlossenen Lokalsendern im ganzen Land, die diese Zeit so nutzen, wie sie es für richtig halten. Sie haben herausgefunden, daß es überaus profitabel ist, in dieser Zeit Spiel- und Quizsendungen oder halbstündige Fortsetzungsserien zu bringen, und sie weigern sich, auf die Einkünfte aus diesen Sendungen zu verzichten.

Die Abendnachrichten, die von den erwähnten drei großen amerikanischen Fernsehgesellschaften, den sogenannten networks, produziert werden, sind sowohl für diese Gesellschaften als auch für die lokalen Stationen profitabel. Diese Stationen bekommen von den networks eine Gebühr dafür, daß sie die Nachrichten der networks ausstrahlen. Sie erhalten die Gebühren und bekommen die von den großen Gesellschaften produzierten Nachrichten kostenlos. Wahrscheinlich würden die Lokalsender auch mit einer einstündigen Nachrichtensendung Geld verdienen, aber, wie sie meinen, nicht so viel wie mit den Ratespielen und den Serien, die sie jetzt in der Zeit zwischen halb acht und acht Uhr ansetzen. Eine solche Situation ist kennzeichnend für ein kommerzielles System. Fast alle stimmen darin überein, daß die Abendnachrichten eine Stunde dauern sollten, aber es bleibt bei einer halben Stunde, weil die Profitrate der Nachrichten nicht so hoch ist wie die, die man von einer Spielsendung mit einem Titel wie Family Feud (Familienfehde) erwartet.

Infolgedessen müssen die Abendnachrichten etwas versuchen, das ihnen freilich gar nicht gelingen kann: eine sinnvolle Bericht­erstattung über die Ereignisse des Tages in 22 Minuten. Was der Zuschauer statt dessen bekommt, ist eine Aneinander­reihung von Impressionen oft rein optischer Natur und meist ohne jede Beziehung zueinander oder zu irgendeiner Vorstellung von historischer Entwicklung. 

Im Grunde vermitteln sie das Bild einer Welt, die ganz und gar unregierbar ist, in der Geschehnisse nicht aus historischen Voraussetzungen erwachsen, sondern aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen — in einer Kette von Katastrophen, die den Eindruck eines permanenten Krisenzustandes erwecken. Es ist diese Krise — hoch visuell, ahistorisch und unlösbar —, welche uns die Fernsehnachrichten jeden Abend als Theater inszenieren.

Dem Publikum werden in dieser Veranstaltung zwei gegensätzliche Reaktionen angeboten. Einerseits wird es durch die glatte Nachrichtenpräsentation beruhigt, vor allem durch die sichere Stimme und den festen Blick des Moderators — eine Figur, der man vertrauen kann. Am Ende der Nachrichten­sendungen in Amerika steht eine human interest-Story, oft mit einer sentimentalen oder komischen Note. Beispiel: Ein kleines Mädchen aus Chicago schreibt an Gorbatschow einen Brief, und er schreibt ihr zurück, er und Präsident Reagan wollten versuchen, ihre Differenzen auszuräumen. 

Indem die Sendung so endet, wird den Zuschauern versichert: Alles ist in Ordnung, die Regierenden haben das Heft in der Hand, immerhin können wir noch miteinander sprechen und so weiter. Aber — und damit kommen wir zum Andererseits — die übrige Sendung hat eine ganz andere Geschichte erzählt. Sie hat den Zuschauern eine Welt gezeigt, die außer Kontrolle geraten und unvorstellbar ist, erfüllt von Gewalt, Katastrophen und Leid.

Soviel Autorität der Moderator durch sein selbstsicheres Auftreten auch ausstrahlen mag, sie wird untergraben durch den Schrecken, den die Nachrichten selbst einflößen. Nirgendwo ist das Fernsehen »radikaler« als an diesem Punkt — nicht weil es radikale Thesen verbreitete, sondern indem es das Bild einer unregierbaren Welt entwirft, die aus den Fugen ist. Und es entwirft dieses Bild nicht etwa deshalb, weil die Leute beim Fernsehen Anarchisten wären. Die Anarchie der TV-Nachrichten ist vielmehr ein direktes Resultat der kommerziellen Struktur unseres Fernsehsystems, die mit einer Kraft, wie keine Ideologie sie besitzt, alles, was in den Nachrichten gebracht wird, auf das eine überragende Ziel ausrichtet: die Menschen vor den Fernsehapparaten zu halten.

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