Start    Weiter

 8  Der Pädagoge als Schmerzkiller 

 

1988 von Neil Postman

Dieser Essay richtet sich zunächst an Pädagogen, aber geschrieben habe ich ihn im Gedanken an die Laien, an jene Bürger nämlich, die sich schon einmal gefragt haben, warum es in unseren Schulen so viel Versagen gibt — Versagen von Lehrern wohlgemerkt, nicht von Schülern. Wie es bei mir immer wieder der Fall ist, komme ich zu dem Schluß, daß im Mittelpunkt einer wirklichen Reform die Spracherziehung steht, und insofern ergänzt dieser Essay das, was ich in <Das Unhaltbare aufhalten> zu diesem Thema gesagt habe. 

 

92-106

Zu den hartnäckigsten Vorurteilen, auf die sich viele Akademiker etwas zugute halten, gehört eine heftige Abneigung gegen das Thema Erziehung und vor allem gegen die Pädagogen, ein Wort, das sie oft mit unverhohlen verächtlichem Unterton aussprechen. 

Da ich mich selbst für einen Pädagogen halte, mußte auch ich dieses Vorurteil lange Jahre ertragen und habe mir deshalb Gedanken über seine Ursprünge gemacht. Dabei liegt es doch auf der Hand, wie seltsam dieses Vorurteil eigentlich ist. Denn viele hochangesehene Philosophen haben ausführlich über Bildung und Erziehung geschrieben und können sehr wohl als Pädagogen bezeichnet werden. 

Konfuzius und Platon waren sogar das, was wir heute Curriculum-Experten nennen würden. Cicero hat sich in seinen Schriften weniger direkt zur Erziehung geäußert als Konfuzius und Platon, aber auch er war ein Pädagoge — wenn wir mit diesem Wort denjenigen bezeichnen, dem ernstlich daran gelegen ist zu verstehen, wie Bildung zustande kommt oder Lernen vor sich geht und in welchem Maße Schule und Unterricht diese Vorgänge fördern oder hemmen. In diesem Sinne war auch Quintilian ein Pädagoge. Und Erasmus, John Locke, Rousseau und Thomas Jefferson nicht minder. Der große englische Dichter John Milton war von der Aussicht, einen Essay über die Erziehung zu schreiben, so ergriffen, daß er die Reform des Erziehungswesens für eines der »größten und edelsten Vorhaben, über das man nachdenken kann«, hielt.

Auch in neuerer Zeit findet man unter den Pädagogen herausragende Geister — William James zum Beispiel, dessen Talks to Teachers (dt. Psychologie und Erziehung — Ansprachen an Lehrer) zum Besten gehören, was je über Erziehung geschrieben wurde.

Zwei der bedeutendsten Philosophen dieses Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein und Karl Popper, waren Grundschullehrer und haben sich notwendigerweise sehr gründliche Gedanken über Erziehungsfragen gemacht. Wittgensteins Professor in Cambridge, Bertrand Russell, gründete eine Schule, und Russells Kollege Alfred North Whitehead schrieb das bestechende Buch The Aims of Education. Auch der größte systematische Philosoph Amerikas, John Dewey, war ein Pädagoge par excellence. Mit anderen Worten, die Geschichte der abendländischen Philosophie ist so eng mit dem Thema Erziehung verknüpft, daß sich beide Bereiche kaum voneinander trennen lassen. Man könnte fast sagen: So wie den Physiker seine tiefsten Einsichten wie selbstverständlich auf das Feld der Religion führen, so wendet sich der abgeklärte Philosoph irgendwann einmal den Problemen der Erziehung zu.

Woher also das beharrliche Vorurteil gegen dieses Fach und gegen diejenigen, die sich die Beschäftigung mit ihm zum Beruf gewählt haben ? Endgültige Antworten kann man wohl erst von einem aufwendigen, ausgedehnten Forschungsprojekt erwarten, zu dem Soziologen, Psychologen, Historiker und vielleicht sogar Anthropologen ihre jeweiligen Erkenntnisse beisteuern müßten. Die Anthropologen erwähne ich deshalb, weil ich vermute, daß die Intensität dieses Vorurteils von einer Kultur zur anderen schwankt. Es gibt Weltgegenden — China zum Beispiel —, wo das Vorurteil vielleicht gar nicht besteht. Soweit wir uns jedoch auf den Westen beschränken, werden wir mit einiger Sicherheit feststellen, daß es in Amerika ganz besonders aktiv ist.

93


Es gibt in Amerika große Universitäten - Yale beispielsweise -, an denen man Pädagogik nicht im Hauptfach studieren kann. Es gibt sogar Universitäten, an denen dieses Fach mit solcher Geringschätzigkeit bedacht wird, daß man dort alles mögliche, auch Betriebswirtschaftslehre, im Hauptfach studieren kann, nur Pädagogik nicht. Nun sind zwar ehemalige Studenten der Betriebs­wirtschaftslehre meist eher als ehemalige Pädagogik-Studenten in der Lage, ihrer früheren Universität erhebliche Summen zu stiften, aber dies allein kann die allgemeine Verbreitung des Vorurteils nicht erklären.

An vielen Universitäten, an denen die Pädagogik als Nebensache geduldet wird, wenn sie überhaupt geduldet wird, kann man Sozialarbeit oder Krankenpflege im Hauptfach studieren, also Fächer, die ihren Absolventen auch nicht gerade die Aussicht auf die nötigen Mittel bieten, der Alma Mater später größere Zuwendungen zukommen zu lassen. Nein, ich glaube nicht, daß die Ökonomie der Universitäten hier viel erklären kann. Meine eigenen Versuche, einer Beantwortung dieser Fragen näherzukommen, haben in eine andere Richtung geführt, und auf diesem Wege meine ich auch eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie sich das Vorurteil ganz und gar umkrempeln läßt — von Verachtung in Bewunderung. Mehr noch, ich glaube, aus meinen Nachforschungen ergibt sich sogar ein Weg zur Lösung eines noch schwierigeren Problems, nämlich, wie wir unsere Selbstachtung steigern können.

Der Grund, den Akademiker vom herkömmlichen Schlage normalerweise für ihre Abneigung gegen das Fach Pädagogik anführen, lautet, es sei trivial. Sie sagen das meist rein mechanisch, ohne darüber nachzudenken — so, als würden sie keine Widerlegung erwarten, könnten einer Widerlegung aber auch nichts entgegensetzen. Wenn dann die Widerlegung in Gestalt einiger gut gewählter Fragen kommt, etwa: »Ist es trivial, zu untersuchen, was mit Lernen und Bildung gemeint ist und in welcher Beziehung, wenn es denn eine gibt, das Lehren zum Lernen und zur Bildung steht?«, dann verlagern sie ihren Angriff auf ein anderes Gebiet. Nicht die Trivialität des Faches sei der eigentliche Grund, sagen sie, sondern die Oberflächlichkeit seiner Professoren, die oft keine tiefere Kenntnis der Werke Platons, Ciceros, Lockes, Rousseaus und anderer Philosophen von ähnlicher Bedeutung und Komplexität hätten. Dieser Vorwurf trifft wahrscheinlich zu, aber er läßt sich leicht parieren, da man auf den gleichen Mangel — und wahrscheinlich in nicht geringerem Maße — auch bei Professoren anderer Fachrichtungen stößt.

94


Wer wollte leugnen, daß es Professoren der Wirtschaftswissenschaft gibt, die Ricardo oder Marx und selbst Adam Smith nicht von Anfang bis Ende gelesen haben? Oder Professoren der Politischen Wissenschaft, die nur wenig von Machiavelli wissen, von Aristoteles und Platon ganz zu schweigen? Oder Psychologieprofessoren, die von den Werken Arthur Schnitzlers noch nie gehört haben, obwohl Freud ihn für seiner ebenbürtig hielt? Mit anderen Worten, man darf bezweifeln, daß Professoren der Pädagogik weniger wissen als Professoren anderer Fächer.

Dennoch, die Tatsache, daß die Unwissenheit an den verschiedenen Fakultäten einigermaßen gleichmäßig verteilt ist, wirft eine Frage auf, deren Beantwortung den Weg zu einer Lösung bahnt, die uns sowohl von dem Vorurteil gegen die Pädagogik als auch von einigen unserer eigenen Unzulänglichkeiten befreien kann. Diese Frage lautet: Ist Unwissenheit bei einem Professor der Pädagogik schlimmer als bei einem Professor der Wirtschaftswissenschaften, der Politischen Wissenschaft oder der Psychologie? Die Antwort lautet, wie ich glaube: »Ja«. Alle Professoren sind unwissend, aber nicht alles Unwissen ist von gleichem Gewicht. Und es gibt nichts Schlimmeres als Unwissenheit in der Pädagogik. Das liegt daran, daß dieses Fach eine Beherrschung des denkbar weitesten Gebietes erfordert. Es macht sich anheischig, uns nicht nur zu sagen, was Intelligenz ist, sondern auch, wie man sie fördert; nicht nur, was wertvolles Wissen ist, sondern auch, wie man es erlangt; nicht nur, wie das richtige Leben aussieht, sondern auch, wie man sich darauf vorbereitet.

Kein anderes Fach — auch die Philosophie selbst nicht — wirft ein so weites Netz aus, und kein anderes Fach verlangt deshalb von seinen Professoren so viel Genie und Weisheit. Ein Professor der Politischen Wissenschaft, dem es an tiefer Einsicht und funkelndem Geist fehlt, ist keineswegs verächtlich; wahrscheinlich fällt dieser Mangel gar nicht auf. Aber ein Pädagoge ohne tiefe Einsicht und ohne funkelnden Geist ist ein trauriger Anblick, armselig, tölpelhaft, unverblümt dumm, wie es in keinem anderen Fach mit solcher Deutlichkeit zutage treten würde. Sich die gleichen Fragen zu stellen wie Platon, Erasmus, Locke und Dewey, aber ohne deren intellektuelle Kraft, das erweckt den Eindruck von Vermessenheit und macht den gewöhnlichen Pädagogen, wie ich einer bin, zum Gegenstand von Mitleid und Spott.

95


Diejenigen unter uns, die, ob als Lehrer, als Verwaltungsleute oder als Professoren, für sich den Namen »Pädagoge« beanspruchen, haben es also mit einem Problem zu tun, das die Griechen »Hybris« nannten. Wie können wir es lösen? Die Lösung ist einfacher, als man annehmen sollte. Wenn das Gebiet der Pädagogik, wie ich behaupte, groß und tiefgründig ist und wir vor ihm unweigerlich klein und oberflächlich wirken, dann besteht die Lösung vielleicht darin, das Ausmaß unserer Beschränktheit einzudämmen, indem wir den Umfang dieses Gebietes verkleinern. Auf solche Weise können wir nicht nur unser Ansehen, sondern zugleich unsere Kompetenz und unsere Wirksamkeit vermehren. Man könnte es auch so sagen: Weniger ist hier mehr.

 

Ich möchte das am Problem der Intelligenz veranschaulichen. Es ist weder ratsam noch notwendig, daß Pädagogen behaupten, sie wüßten, was Intelligenz ist und wie man sie fördert. Der Anspruch ist gewaltig, aber die Intelligenz ist als Gegenstand zu groß und zu schwer faßbar. Es ist nicht Sache von uns Pädagogen, die unendlich vielen Spielarten von Intelligenz zu begreifen, und keiner läßt sich von uns zum Narren halten, wenn wir ein gigantisches Vokabular auftürmen, das den Anschein erweckt, wir hätten unser Thema im Griff. »Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.« Goethe dachte hier zwar nicht an das Vokabular der Pädagogen, aber der Aphorismus trifft dennoch. Um es klar und deutlich zu sagen: Wir verstehen so gut wie gar nichts von Intelligenz, genauso wie Ärzte so gut wie gar nichts von Gesundheit verstehen. Deshalb kümmern sich die Ärzte auch nicht um die Gesundheit, sondern richten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, uns von der Krankheit zu befreien. Ihre Definition von Gesundheit lautet nämlich: Abwesenheit von Krankheit. Dies ist eine höchst vernünftige Vorgehensweise, und sie erklärt zum Teil, warum die Ärzte, verglichen mit den Lehrern, so erfolgreich sind. Indem sie Gesundheit als die Abwesenheit von Krankheit definieren und sich auf die Beseitigung der Krankheit konzentrieren, sind sie in der Lage, ihre Ziele und ihre Verfahren mit einer Klarheit zu umreißen, die den Lehrern völlig unerreichbar ist.

Von Rechtsanwälten kann man etwas Ähnliches sagen. Wann hat man je gehört, daß jemand einen Rechtsanwalt konsultiert, um die Gerechtigkeit oder die Bürgertugenden zu fördern ? Gleichgültig, ob sie sich als Ankläger oder als Verteidiger betätigen, niemals

96


beschäftigen sich Anwälte mit der Gerechtigkeit oder mit der Pflege der Bürgertugenden, wovon sie gewiß nicht mehr verstehen als der Gemüsehändler um die Ecke. Sie beschäftigen sich vielmehr mit Ungerechtigkeit und Verstößen gegen die Bürger­tugenden, von denen sie mehr verstehen als jeder andere und die, wie sich herausstellt, obendrein ein höchst lukratives Fachgebiet sind. Mit anderen Worten, Ärzte und Anwälte sind Schmerzkiller. Sie werden von Leuten aufgesucht, die auf diese oder jene Weise in Schwierigkeiten geraten sind und ein Gegenmittel benötigen.

Dies also ist die Strategie, die ich auch den Pädagogen empfehlen möchte — geben wir unsere vagen, scheinbar arroganten und letztlich wirkungslosen Bemühungen auf, die Kinder klug zu machen, und konzentrieren wir uns darauf, sie gegen die Dummheit zu wappnen. Vielleicht meint man, dies sei Wortspielerei, ein semantischer Trick. Vielleicht. Aber es ist nicht »bloß« ein semantischer Trick. Denn indem wir über unsere Rolle als Lehrer anders sprechen als bisher, ziehen wir uns die für unsere Arbeit notwendigen Grenzen, und zugleich stecken wir uns realisierbare Ziele. Um auf den Vergleich mit der Medizin zurückzukommen: Der Arzt weiß viel über Krankheiten und kann sachkundigen Rat geben, wie sie sich vermeiden lassen: Rauchen Sie nicht, nehmen Sie nicht zuviel Salz oder Cholesterin zu sich, schlucken Sie zwei Aspirin-Tabletten, nehmen Sie alle vier Stunden Penicillin und so weiter. Ich schlage vor, für die theoretische und praktische Arbeit der Pädagogen genau dieses Paradigma zu übernehmen. Der Pädagoge würde so zu einem Experten für die Behebung von Dummheit und wäre imstande, bestimmte Verfahren zu verordnen, mit denen sie sich vermeiden läßt.

Ich gebe zu, daß die Dummheit, anders als Krankheit und Ungerechtigkeit kaum je systematisch untersucht worden ist. Deshalb darf man aber nicht glauben, das Studium der Dummheit habe keine Geschichte. In Wirklichkeit gibt es viele ehrwürdige Bücher, die sich dieser Materie angenommen und sich gewissenhaft mit ihr beschäftigt haben. Vermutlich hat jeder ein oder zwei Lieblingsbücher zu diesem Thema. Auf meiner eigenen Liste stehen die Erörterungen und Gespräche des Konfuzius und die frühen Dialoge Platons, die im Grunde nichts anderes als Meditationen über die Dummheit sind. Sokrates räumt ein, daß er nicht weiß, was Wahrheit ist, und verwendet seine Zeit dann darauf, die irrigen Anschauungen derer bloßzustellen, die glauben, sie wüßten es.

97


Eine große Schwäche habe ich auch für das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam, für Jonathan Swifts Gullivers Reisen und, was die neuere Literatur angeht, für Jacques Elluls A Critique of the New Commonplaces und für Stephen Jay Goulds Der falsch vermessene Mensch. Aber gleichgültig, wie viele Bücher man liest, man wird immer wieder auf drei Schlußfolgerungen stoßen, in denen alle Autoren, die sich zu diesem Thema geäußert haben, übereinstimmen. Diese Schlußfolgerungen verschaffen den Pädagogen ein Fundament, auf dem sich bauen läßt. Die erste von ihnen besagt, daß jeder Dummheit praktiziert, auch diejenigen, die über dieses Thema schreiben. Keiner von uns ist frei davon, und am gefährlichsten wird es dann, wenn wir glauben, wir seien es. Daß der Vorrat an Dummheit, unsere eigene eingeschlossen, so gut wie unerschöpflich ist, sollte die Pädagogen mit einer gewissen Bescheidenheit erfüllen; im übrigen gibt ihnen diese Tatsache ja auch die Gewißheit, daß sie niemals überflüssig sein werden.

Die zweite Schlußfolgerung besagt, daß Dummheit sich verringern läßt. Gegenwärtig vergeuden Pädagogen wertvolle Zeit mit gegenstandslosen Debatten darüber, ob die Intelligenz etwas Feststehendes sei oder nicht, ob sie hauptsächlich auf Vererbung oder auf Umwelteinflüssen beruhe, und ereifern sich sogar über der Frage, wieviel von ihr die verschiedenen Rassen besitzen. Solche Debatten sind gänzlich unnötig. Dummheit ist eine Form von Verhalten. Sie ist nichts, was wir besitzen. Sie ist etwas, das wir tun. Anders als Intelligenz ist Dummheit keine Metapher und auch kein hypothetisches Konstrukt, dessen Vorhandensein aus einer bestimmten Punktzahl bei einem Test erschlossen wird. Dummheit können wir sehen, und wir können sie hören. Deshalb ist es möglich, ihr Vorkommen durch ein verändertes Verhalten einzuschränken. Diese Tatsache — daß Dummheit sich verringern läßt — sollte den Pädagogen das Gefühl geben, daß sie etwas bewirken können.

Die dritte Schlußfolgerung lautet, daß Dummheit hauptsächlich mit Kehlkopf, Zunge, Lippen und Zähnen erzeugt wird. Anders ausgedrückt, Dummheit ist eine Form von Sprache. Es stimmt zwar, daß unser Sprechen dadurch geprägt wird, wie wir unseren Verstand gebrauchen, wobei allerdings niemand genau weiß, was »Verstand« eigentlich ist. Aber es steht fest, daß sich der Verstand vor allem in Sätzen ausdrückt.

98


Wenn wir denken, dann stellen wir in unserem Kopf vor allem Sätze zusammen. Und wenn wir dumm denken, stellen wir dumme Sätze zusammen. Auch wenn wir eine nicht-sprachliche Dummheit begehen, haben wir uns vorher eingeredet, daß das, was wir tun, vernünftig sei. Kurzum, Sprache bringt Handeln hervor. Diese Tatsache — daß Dummheit im wesentlichen eine Form von Sprache ist — eröffnet den Pädagogen einen bestimmten Gegenstandsbereich; sie haben es mit der Untersuchung jener Sprachformen zu tun, die zu überflüssigem Unheil, Versagen, Mißverständnis und Schmerz führen.

Ein Gefühl der Bescheidenheit, das Gefühl, etwas bewirken zu können, ein bestimmter Gegenstandsbereich — genau dies ist es, was Ärzte und Anwälte haben und was die Pädagogen gewinnen können, wenn sie bereit sind, sich die Metapher vom Pädagogen als Schmerzkiller zu eigen zu machen. Aber damit wären wir noch längst nicht am Ende angelangt. In Wirklichkeit stünden wir erst am Anfang. Zwei weitere Riesenschritte wären notwendig, um die Verwandlung vollständig zu machen. Zunächst müßten wir eine Anatomie der Dummheit entwerfen, die auch eine genaue Taxonomie umfaßt. So wie die Ärzte die verschiedenen Formen von Krankheit bestimmt, benannt und beschrieben haben, so müßten auch wir die verschiedenen Formen von Dummheit bestimmen, benennen und beschreiben. Und schließlich müßten wir zwei Arten von Lehrplänen entwerfen: einen Lehrplan für diejenigen, die künftige Lehrer in Pädagogik unterrichten, sowie eine Reihe von Lehrplänen, die für den Schulunterricht selbst, für die verschiedenen Fächer und für Kinder verschiedener Altersgruppen bestimmt sind.

Meine Vorkenntnisse sind nicht von der Art, daß ich mir anmaßen könnte zu sagen, wie dies alles zu bewerkstelligen ist. Aber eines möchte ich hervorheben. Gemäß der Analogie zu den Mitteln, die der Arzt verordnet, muß man sich auch diese Lehrpläne als Strategien vorstellen, die unsere Schüler von Schmerzen befreien sollen — von den Schmerzen, die entweder daher rühren, daß sie das dumme Sprechen selbst praktizieren, oder daher, daß sie ihm zum Opfer fallen. Die Dummheit gleicht auch darin der Krankheit, daß wir einiges von ihr selbst hervorbringen, wie ein Geschwür, während uns anderes von außen zugetragen wird, wie die Blattern; mit anderen Worten, unsere Schüler benötigen Schutz sowohl vor ihren eigenen Dummheiten wie auch vor denen anderer.

99


Gleichgültig, wie solche Lehrpläne aussehen werden, ihre Ausarbeitung ist jedenfalls eine Aufgabe für die Zukunft. Wir sind noch nicht so weit, daß wir genau angeben könnten, was wir eigentlich zu heilen versuchen — und wie überall kommt auch hier das Was vor dem Wie. Zu der Frage nach dem Was kann ich, wie ich meine, noch einiges beitragen.

In den letzten zwanzig Jahren habe ich mehrere Versuche unternommen, eine Anatomie der Dummheit zu entwerfen, wobei mir, wie ich hinzufügen möchte, meine eigenen Tendenzen in dieser Richtung sehr von Nutzen waren. Ich will nicht behaupten, daß ich dabei ganz und gar erfolgreich war, aber es ist mir gelungen, zweiunddreißig Spielarten von dummem Sprechen zu unterscheiden. Dazu gehören so auffällige Formen wie das Entweder-Oder-Denken, das allzu starke Verallgemeinern, die Unfähigkeit, zwischen Tatsachen und Schlußfolgerungen zu unterscheiden, und das, was man Verdinglichung nennen könnte, nämlich die beunruhigend weit verbreitete Neigung, Wörter und Sachen zu verwechseln.

 

Im folgenden möchte ich einige weitere Beispiele geben, um zu verdeutlichen, womit es die Pädagogen zu tun hätten, wenn sie sich als Experten für die Behebung von Dummheit verstünden — jedenfalls so, wie ich es sehe. Mir ist übrigens bewußt, daß manche Leute nicht damit einverstanden sind, daß ich zur Kennzeichnung dieser Sprachpraktiken das Wort »Dummheit« verwende. Sie finden offenbar, es sei allzu hart und abwertend und vertrage sich deshalb nicht mit der Würde eines pädagogischen Projekts. 

Mein Freund und Kollege Henry Perkinson, der ebenfalls versucht hat, eine Anatomie der Dummheit zu entwickeln, zieht das Wort error, »Irrtum«, vor, so zum Beispiel in seinem Buch The Possibilities of Error. Aber ein anderer Freund und Kollege von mir, Charles Weingartner, hat sich für das Wort bullshit, »Scheißdreck«, entschieden, nicht nur, weil diese Form des Sprechens eine strenge Verurteilung verdient hat, sondern auch, weil dieser Ausdruck (zum Beispiel in der Wendung to talk bullshit) daraufhinweist, daß Dummheit tatsächlich vorwiegend eine Form des Sprechens ist. Ich habe mir den Vorschlag von Professor Weingartner nicht zu eigen gemacht, obwohl ich gestehen muß, daß ich mir in diesem Zusammenhang nichts Erbaulicheres vorstellen kann als ein Vorlesungsverzeichnis, in dem Kurse unter dem Titel »Scheißdreck für Anfänger«, »für Fortgeschrittene« oder »nur für Doktoranden« angeboten werden.

100


Jedenfalls werde ich, sozusagen als Kompromiß zwischen Perkinsons Vornehmheit und Weingartners Drastik, das Wort »Quatsch« gebrauchen. Aber ob wir diese Sprachformen nun Dummheit, Irrtum, Fehler, Scheißdreck, Quatsch oder sonstwie nennen — in jedem Falle handelt es sich um Formen sprachlichen Verhaltens, die unnötige Verwirrung, Schmerz und Mißverständnis stiften. In manchen Fällen werden sie ganz bewußt als Trick eingesetzt, um andere zu täuschen; in anderen Fällen treten sie als nicht bewußte Gewohnheiten auf, mit denen wir uns selbst täuschen. In jedem Falle aber wird jemand geschädigt.

Es gibt so viele Spielarten von Quatsch, daß ich hier nur wenige erwähnen und noch wenigere eingehend darstellen kann. Ich werde deshalb nur solche auswählen, die eine transzendentale Bedeutung haben. Nun, dieser letzte Satz ist selbst schon ein ausgezeichnetes Beispiel für Quatsch, denn ich habe keine Ahnung, was die Wörter »transzendentale Bedeutung« heißen sollen — und Sie auch nicht. Ich brauchte etwas, um den Satz zu beenden, und da ich keinen klaren Maßstab für die Auswahl meiner Beispiele hatte, habe ich mir überlegt, dies sei der richtige Platz für ein paar große Worte. Dies also ist unsere erste Spielart von Quatsch — das, was manche Leute Schwülstigkeit nennen.

Schwülstigkeit ist der Triumph des Stils über die Substanz, übrigens meistens keine allzu schlimme Form von Quatsch. Ein bißchen Schwulst bei einer Abschlußfeier an der Universität ist wohl erträglich. Aber harmlos ist diese Form durchaus nicht. Tag für Tag werden viele Menschen zu Opfern der Schwülstigkeit, indem ihnen Minderwertigkeitsgefühle von anderen eingeflößt werden, die sich hochtrabender Worte, Phrasen und Sätze bedienen, um ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu bemänteln. Unter den Pädagogen gibt es viele, die sich fast ausschließlich im Reich der Schwülstigkeit aufhalten und die geradezu unfähig wären, ihres Amtes zu walten, wenn ihr Berufsstand dieser Form von Quatsch nicht zu einer gewissen Würde verholfen hätte.

Im allgemeinen ist Schwülstigkeit ein Gebrechen, an dem junge Menschen nur selten schwer erkranken, wenngleich sie sich von ihr leicht beeindrucken lassen. Es scheint ein Zusammenhang zwischen Schwülstigkeit und zunehmendem Alter zu bestehen, wie ich an mir selbst zu beobachten beginne. Junge Leute leiden dagegen stark unter einer verwandten Form von Quatsch, die man als Grobianismus bezeichnen könnte.

101


Der Grobianismus geht davon aus, daß man mit direkten, derben, nicht salonfähigen Wörtern der Wahrheit näher komme, als wenn man sich an den korrekten Sprachgebrauch hält. Der Grobianismus ist das Spiegelbild der Schwülstigkeit, denn wie diese baut er darauf, daß sich die Leute von einer bestimmten Weise zu sprechen so blenden lassen, daß ihnen die Leere des Gesagten nicht auffällt. Gefährlich wird der Grobianismus, wenn wir zu der Überzeugung gelangen, derbe Wörter seien die natürliche Form, um Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit oder Offenheit zum Ausdruck zu bringen.

Eine andere, beunruhigendere Form von Quatsch nennt man Euphemismus, und das Wort »Quatsch« selbst liefert ein Beispiel hierfür. Indem ich dieses harmlose Wörtchen verwende, mache ich mich eines Euphemismus schuldig. Aber meine Schuld wiegt nicht annähernd so schwer wie die einiger anderer, prominenterer Leute. Eines der besten Beispiele für einen Euphemismus lieferte der Pressechef von Präsident Nixon, Ronald Ziegler, als er statt des ebenso kurzen wie groben Wortes »Lügen« — etwa in dem Satz »Die früheren Aussagen des Präsidenten waren Lügen« — das ebenso lange wie vornehme Wort »unzutreffend« benutzte.

Präsident Nixon übertraf Ziegler noch, als er zu der Formulierung griff, die Schuld der Mitglieder seiner Wahlkampfmannschaft habe in einem Übermaß an Eifer bestanden. Meines Wissens wurde damit zum erstenmal das Wort »Eifer« als Euphemismus für Einbruch, Diebstahl, Erpressung und Meineid verwendet. Jedenfalls scheint der Euphemismus in unserem öffentlichen Leben eine zunehmend wichtige Rolle zu spielen. Wir haben uns Ausdrücke wie »Präventivhaft« und »Pazifizierungsprogramm« und meinen Lieblingseuphemismus »Desinformation« gefallen lassen müssen. Die derzeitige Regierung sagt, sie habe in bezug auf Libyen nicht gelogen; sie habe bloß Desinformationen verbreitet. Und da wir schon bei der derzeitigen Regierung sind, möchte ich einen der schöpferischsten Euphemismen in bezug auf Präsident Reagan nicht unerwähnt lassen, von dem man sagt, er bevorzuge einen »Führungsstil der Nichteinmischung«. Ich nehme an, der Leser begreift, was damit gemeint ist: Der Präsident weiß nicht, was zum Teufel eigentlich vor sich geht.

102


Der Euphemismus ist also eine Form von Quatsch, bei der wir mittels der Sprache das Wesen der Wirklichkeit zu verschleiern versuchen. Wie die Schwülstigkeit ist er nicht immer schädlich, denn es gibt viele Situationen, in denen schon der gute Geschmack oder der Anstand danach verlangen. Aber wenn der Euphemismus zur vorherrschenden Ausdrucksform in unserem institutionellen Leben wird, ist er gefährlich und sollte nicht hingenommen werden. Dasselbe gilt für die Wortmagie, die mit dem Euphemismus eng verwandt ist. Die Wortmagie bedient sich der Sprache, nicht um die Wirklichkeit zu verschleiern, sondern um sie zu ersetzen.

Die Wortmagie ist ein Gebrechen, das junge Menschen häufig befällt, aber keineswegs nur die jungen. Immerhin ist die Vorstellung, daß man etwas bloß zu sagen braucht, damit es wahr wird, auch die zentrale Strategie des größten amerikanischen Privatunternehmens — der Werbung

Die Werbebranche setzt auf eine Bevölkerung, die an die magische Kraft der Wörter glaubt, Wirklichkeiten zu schaffen, die gar nicht existieren. Viele Leute auf unseren Straßen scheinen zu glauben, daß sie durch den Gebrauch eines bestimmten Mundwassers ihr Liebesleben bereichern oder durch den reichlichen Gebrauch eines Weichspülers ihr Familienleben anreichern können. In Wahrheit reichern sie damit nur den Schadstoffgehalt unserer Flüsse an, und ich weiß nicht, wieviel von diesem Quatsch unsere Umwelt noch verkraften kann.

Die Wortmagie ist eine altehrwürdige Form von Quatsch und sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Aber es gibt noch eine andere Form, die ebenso altehrwürdig und vielleicht noch bösartiger ist. Ich meine das, was manche als Fanatismus bezeichnen. Es gibt eine Art von Fanatismus — man nennt sie meist Bigotterie —, die ich hier übergehen möchte, nicht nur, weil sie so primitiv und offenkundig ist, sondern auch, weil die Lehrer sich ihrer sehr bewußt sind und große Anstrengungen unternommen haben, um ihre Schüler dagegen zu wappnen.

Aber es gibt andere Formen von Fanatismus, die weniger offenkundig und daher gefährlicher sind. Eine von ihnen bezeichne ich als Eichmannismus, jenem Adolf Eichmann zu Ehren, der den Transport von rund einer Million Juden in die Gaskammern fachmännisch organisierte und bis an sein Lebensende nicht einsehen mochte, daß daran etwas falsch gewesen sein sollte. Als Eichmannismus bezeichne ich also jene Form von Quatsch, die offizielle Definitionen, Vorschriften und Regelungen als Ausgangs- und Endpunkt akzeptiert, ohne nach den Voraussetzungen und Hintergründen zu fragen.

103


Die Sprache des Eichmannismus ist die Stimme des Apparats, deshalb klingt sie meistens höflich, gedämpft, sogar freundlich — so freundlich, wie Plastik eben ist.

Ein Freund von mir hat von einem solchen Mini-Eichmann einmal einen Brief bekommen, der folgendermaßen begann: »Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß ihr Stipendium für das akademische Jahr 1981-82 gestrichen worden ist.« Mit anderen Worten, der Eichmannismus ist deshalb besonders gefährlich, weil er ganz und gar distanziert daherkommt. Das bedeutet unter anderem, daß sich die nettesten Leute, die meisten von uns eingeschlossen, am Ende als Mini-Eichmänner entpuppen können.

Der Eichmannismus ist also die kühle, gesetzte, zynische Sprache einer allen menschlichen Interessen entfremdeten büro­kratischen Mentalität. Paradoxerweise nun haben sich die Opfer solcher Entfremdung eine bestimmte Spielart dieser Sprache ihrerseits zu eigen gemacht. Ich spreche von jenen Menschen, die sich von den Institutionen und Apparaten überwältigt fühlen, so daß sie alle von Bürokraten erlassenen Regelungen und Vorschriften als unveränderlich hinnehmen. Diese Gefügigkeit drückt sich häufig in einem vergöttlichenden »sie« oder »die« aus, etwa in dem Satz: »Das werden sie nicht zulassen« oder »Mit denen ist nicht zu reden«.

Tatsache ist, daß jedes System, gleichgültig, wie anonym es erscheint, letzten Endes von Menschen kontrolliert wird und deshalb auch für Veränderungen zugänglich ist. Natürlich schadet es nichts, wenn man ein Wort wie »Establishment« gebraucht, solange man sich klar macht, daß es bloß eine Metapher für organisierte Macht ist. Aber wenn man anfängt zu glauben. Ausdrücke wie »Establishment« oder »Machtstruktur« bezeichneten eine nichtmenschliche Gewalt, welche die Bestrebungen der Individuen fortwährend durchkreuzt, dann ist das im Grunde so, als würde man sagen: »Nicht ich habe das getan, der Teufel hat mich dazu verleitet.« Eine der größten Leistungen des Eichmannismus besteht darin, daß die Sprache des Unterdrückers und die des Unterdrückten am Ende identisch werden. Beide sagen schließlich: »Ich kann einfach nicht anders.«

Es gibt noch zwei weitere Spielarten von Quatsch, die ein paar Worte der Erläuterung verlangen. Eine von ihnen ist das, was man meist als Aberglaube bezeichnet. Der Aberglaube ist Unwissenheit, die unter dem Deckmantel der Autorität daherkommt.

104/105


Eine abergläubische Vorstellung ist eine meist in sehr bestimmten Begriffen ausgedrückte Anschauung, für die es keine nachprüfbare, faktische Grundlage gibt, zum Beispiel, daß das Land, in dem man selbst lebt, alles in allem ein schönerer Ort ist als alle anderen Länder. Oder, daß einem die Religion, in die man hineingeboren wurde, eine ganz besondere Stellung im Kosmos verleiht, die anderen Menschen vorenthalten bleibt. 

Der Berufsstand der Lehrer hat, wie ich leider sagen muß, Dutzende solcher abergläubischen Vorstellungen in Umlauf gebracht, zum Beispiel die Ansicht, Leute mit einem College-Abschluß seien gebildet, oder Schüler, denen man Grammatikunterricht erteilt, würden danach besser schreiben, oder die Vorstellung, das Wissen über irgendeinen Gegenstand, das man besitzt, ließe sich objektiv messen. Für mich jedoch ist die gefährlichste unter all diesen abergläubischen Vorstellungen die oft auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebrachte Annahme, die Beschäftigung mit der Literatur oder anderen Geistesgütern würde aus dem Menschen ein anständiges, liberales, tolerantes, zivilisiertes Wesen machen. Immer wenn jemand auf diesen Quatsch zu sprechen kommt, versuche ich mich daran zu erinnern, daß in den letzten beiden Jahrzehnten Männer, die ihren Doktor in den Geistes- und Sozialwissenschaften gemacht hatten und von denen viele für das Pentagon arbeiteten, verantwortlich dafür waren, daß in jeder Woche mehr Menschen getötet wurden, als die Mafia in der ganzen Zeit ihres Bestehens umgebracht hat.

Zum Schluß möchte ich noch eine außerordentlich deprimierende Form von Quatsch erwähnen, die an Beliebtheit nie zu verlieren scheint, nämlich das Parolendreschen.

Es besteht im wesentlichen aus ritualisierten Verlautbarungen, die ein Gefühl der Solidarität verbreiten sollen. Die Parolen selbst können etwas ganz anderes besagen, als die Parolendrescher meinen — so etwa in der glücklicherweise außer Gebrauch gekommenen Parole »Alle Macht dem Volke«. In Wirklichkeit bedeutete »Alle Macht dem Volke« natürlich »Alle Macht unseren Leuten« — und dies ist eine völlig legitime Meinungs­äußerung, sofern man sich selbst und anderen klar macht, was man da eigentlich sagt. Das wirkliche Problem solcher Parolen, ob sie nun von einer Streikposten­kette oder in einem Versammlungsraum skandiert oder auf eine Stoßstange geklebt werden, besteht darin, daß sie als Denkersatz fungieren, daß sie das Denken geradezu zurückweisen.

Natürlich sind die jungen Leute von dieser Art Quatsch besonders stark betroffen, und es wäre schon einiges gewonnen, wenn wir sie dazu bringen könnten, sich damit auf die Gestaltung der Geräuschkulisse beim Fußballspiel zu beschränken. Aber solange Parolen, gleichgültig, in wessen Namen, dazu verwendet werden, Gedanken zu simulieren, haben wir es mit einem ernsten Problem zu tun, das einer Behandlung bedarf.

Ich bin mir darüber im klaren, daß die Art, wie ich hier über die verschiedenen Formen von Dummheit gesprochen habe, in mancher Hinsicht unzulänglich ist. Ich behaupte auch nicht, daß die genannten Formen unbedingt diejenigen sind, die uns intellektuell am nachhaltigsten lähmen. Und selbst wenn man dies von einigen behaupten könnte, so besäße ich, wie ich betonen möchte, doch nicht den Sachverstand, um Strategien zu ersinnen, wie wir uns und unsere Schüler vor ihnen bewahren können. Ich wollte lediglich Beispiele von Verhaltensweisen geben, die wir zum Gegenstand unserer Aktivitäten als Pädagogen machen können. Aber ich möchte gleich hinzufügen: Auch wenn meine Beispiele vielleicht nicht immer triftig sind, bin ich doch überzeugt, daß das Modell vom Pädagogen als Schmerzkiller allerdings triftig ist.

Ich hoffe, Sie halten es nicht für arrogant, wenn ich feststelle, daß die Pädagogik als Verstandesheil­kunst noch in den Kinderschuhen steckt. Damit möchte ich den pädagogischen Riesen der Vergangenheit, auf die ich eingangs hingewiesen habe, keineswegs meinen Respekt aufkündigen. Ich möchte nur daran erinnern, daß es seit mindestens 2500 Jahren Männer gegeben hat, die sich als Ärzte bezeichneten, viele von ihnen glänzende Köpfe und manche von ihnen nützlich. Und doch war bis zum Beginn dieses Jahrhunderts die gesamte Geschichte der Medizin nichts anderes als die Geschichte des Placebo-Effekts. Wirksame, systematische Heiler wurden die Ärzte erst vor ganz kurzer Zeit — es leben noch Leute, die sich an diese Zeit erinnern können. Vielleicht wird man in fünfzig Jahren von den Pädagogen dasselbe sagen können.

105-106

 

 

www.detopia.de      ^^^^