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10   Megatonnen für Anthromegas 

 

1988 von Neil Postman

 

110-113

Wir wissen inzwischen, wie sehr die Träume unserer Kinder von der Angst vor einem atomaren Holocaust geplagt werden, und es ist deshalb an der Zeit, daß die Erwachsenen etwas dagegen unternehmen. Da es ein Zeichen mangelnder Reife, um nicht zu sagen: mangelnden Verantwortungsbewußtseins wäre, die Atomwaffen selbst abzuschaffen, brauchen wir vor allem einen neuen Wortschatz für den Atomkrieg, einen Wortschatz, der von jenen Assoziationen entlastet ist, die so viel Angst und Verstörung hervorrufen. Damit habe ich begonnen. Ich hoffe, daß mein Lexikon, sobald es vervollständigt ist, die Grundlage für eine Beruhigungsrhetorik bilden wird, die die Träume unserer Kinder besänftigen und uns anderen dabei helfen wird, der Realität des Atomkriegs beherzt und würdevoll ins Auge zu sehen. Im folgenden habe ich links einige heute geläufige Ausdrücke eingetragen. Ihnen gegenüber steht jeweils der Ausdruck, den ich statt dessen vorschlage. Die beigefügten Bemerkungen sollen kurz erläutern, inwiefern mein Ausdruck dem, den er ersetzen soll, überlegen ist.

    Eine Million Menschen — Ein Anthromega  

Es ist beunruhigend und unnötig emotional, wenn man von Millionen von Menschen spricht, vor allem dann, wenn es um ihren Tod geht. Was könnte objektiver, neutraler und gleichzeitig beruhigender sein als die Feststellung: »Zehn Megatonnen töten zwanzig Anthromegas«? Fragen Sie irgend jemanden, ob er bereit sei, den Verlust von 65 Anthromegas hinzunehmen, wenn er auf diese Weise die Russen schlagen kann, und er wird sofort mit einem »Ja« antworten. Wenn Sie ihn dagegen fragen, ob er den Verlust von 65 Millionen Menschen hinzunehmen bereit ist, wird er nur irritiert und deprimiert reagieren.

  Atomangriff — Luftvisitation  

Wenn die Russen uns angreifen, dann nicht mit Schneebällen. Das Wort »Angriff« als solches bedeutet doch nichts anderes als »Atomangriff«. Warum also dieser Pleonasmus, vor allem, da er solche Ängste hervorruft? Der Ausdruck »Luftvisitation« wird dazu beitragen, realitätsferne Zukunftsängste abzubauen, und uns bestärken, weiterhin mit Begeisterung vorauszuplanen. Wer würde sich schon über ein Schild aufregen, auf dem steht: »Im Falle einer Luftvisitation auf dieser Brücke nicht halten. Bitte weiterfahren«. Und wenn Sie jemandem mitteilen, daß sein Kind im Falle einer Luftvisitation in der Schule zurückgehalten wird, dann wird er bloß fragen: »Und wann kann ich es wieder abholen?«

  Tötung durch Atomwaffen — Thermozid   

Die Menschen haben eine großartige Liste von Fachausdrücken entwickelt, um die verschiedenen Tötungsarten präzise und objektiv zu beschreiben. »Thermozid« erweitert diese Liste um eine emotionslose, wissenschaftliche Bezeichnung für eine völlig natürliche, obschon unerfreuliche menschliche Aktivität. Außerdem verbinden sich mit dem Wort »Genozid« allzu viele abscheuerregende Assoziationen.

Tod durch Atomwaffen — Kulminationserfahrung

»Kulminieren« bedeutet »den höchsten Punkt erreichen« und wenn man mit einer Atombombe hochgeht, tut man das fast mit Sicherheit. »Erfahrung« bedeutet aktives Erleben auch dies eine Gewißheit, wenn man sich im Strahlenkranz einer Atomexplosion aufhält. »Kulminationserfahrung« ist deshalb eine außerordentlich präzise Beschreibung des Vorgangs.

Strahlung — Filterbestrahlung  

Der Unterschied zwischen diesen Wörtern scheint nicht groß zu sein aber wer würde nicht lieber bestrahlt als verstrahlt werden, auch wenn die Wirkung die gleiche ist? Vor allem eines deutet der neue Begriff an: Wo Strahlung ist, da sind auch Filter, und wo keine Filter sind, da ist auch keine Strahlung. Das Wort »Filter« läßt außerdem erkennen, daß der Vorgang eine Reinigung oder Läuterung mit sich bringt eine sehr treffende Nebenbedeutung. Denn werden wir durch Leiden etwa nicht geläutert?

    Atombunker — Protektivresidenz  

Obwohl man in letzter Zeit nicht mehr viel davon gehört hat, macht sich in der Regel eine ziemliche Hysterie bemerkbar, sobald die Atombunker zur Sprache kommen. Das ist auch nicht anders zu erwarten. Wer möchte schon in einem »Bunker« wohnen, und sei es nur für einen Tag. Das Wort birgt etwas Unheilvolles in sich. Es verweist auf Entfremdung und äußerste Isolation. Bei einer »Protektivresidenz« ist das ganz anders. Dieser Ausdruck deutet auf eine Erweiterung des häuslichen Lebensbereichs hin, bequem, warm, vertraut, gemütlich. Auch die moralische Frage, ob man verpflichtet sei, anderen Personen den Zutritt zu gewähren oder nicht, ist damit geklärt. Ein »Bunker« ist ein öffentlicher Raum, die Protektivresidenz hingegen gehört ganz eindeutig zur Intimsphäre. Na, also, wer sagt's denn?

     Überlebende — Unkulminierte   

Gibt es in unserer Sprache ein Wort, das hoffnungsloser klingt als »Überlebende«? Es beschwört Bilder von verstörten Menschen herauf, die verzweifelt durch das Chaos irren, das sie umgibt. »Unkulminierte« ergibt sich logisch aus dem Wort »Kulminationserfahrung« und verweist zugleich auf unerfüllte Bestrebungen, auf unbefriedigte Wünsche, kurzum auf die Fortführung des Lebens.

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Die oben genannten Ausdrücke sind natürlich nur ein Anfang, sozusagen der Grundwortschatz. Doch schon mit diesem begrenzten Vokabular vermag ich anzudeuten, wie die neue Beruhigungsrhetorik klingen würde. Im folgenden Abschnitt habe ich in unaufdringlicher Sprache die Realität eines thermonuklearen Krieges beschrieben:

Amerikanische Wissenschaftler versichern uns, daß unsere Thermozid-Kapazitäten die größten in der ganzen Welt sind. Diese Tatsache wird unsere Feinde davon abhalten, einen Thermozid bei uns zu versuchen. Sollten sie sich gleichwohl zu Luftvisitationen entschließen, so werden wir ausharren. Wenn sich jede Familie eine Protektivresidenz errichtet hat, wird die Filterbestrahlung stark verringert. Und selbst wenn unsere Feinde eine 300 Megatonnen-Luftvisitation starten sollten, werden wahrscheinlich nicht mehr als 50 oder 60 Anthromegas eine Kulminationserfahrung machen. Die Unkulminierten können in ihren Protektivresidenzen verbleiben, bis die Thermozidgefahr vorüber ist. 

Und nun schlaft in Frieden, meine Kinder.

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