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11  Der konservative Blickwinkel 

 

1988 von Neil Postman

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Jedes Zeitalter hat seine besonderen Formen von Imperialismus. Und jeder Eroberer ebenfalls. Als die Briten im 18. und 19. Jahrhundert dieses Metier beherrschen lernten, bestand ihre Invasionsmethode darin, zuerst ihre Flotte zu entsenden, dann die Armee und die Verwaltungsleute und schließlich das Bildungssystem. Die Amerikaner verfahren heute anders. Wir entsenden unsere Fernsehsendungen.

Es spricht vieles für diese Methode. Da gibt es keine nächtlichen Zusammenstöße, weder von Flotten noch von Armeen; die Invasion geht ohne Verluste an Menschenleben vor sich und ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Die Arbeit ist angenehm und rasch getan. In wenigen Jahren werden wir uns rühmen können, daß die Sonne über der amerikanischen Fernseh-Show nie untergeht.

Die Russen haben noch nicht mitbekommen, was da vor sich geht.

Als Chruschtschow über den Westen (aber vor allem im Gedanken an Amerika) sagte: »Wir werden euch begraben«, da sprach er als Angehöriger des prä-elektronischen Zeitalters, der noch in den Kategorien der »Realpolitik« des 19. Jahrhunderts denkt. Hätte er seinen Marx genauer studiert, dann hätte er sich vielleicht darauf besonnen, daß sich das politische Bewußtsein auf den Flügeln der Technologie emporschwingt. Er hätte dann vielleicht auch begriffen, daß elektromagnetische Wellen tiefer eindringen als Armeen. Mag sein, daß Gorbatschow dies begriffen hat. Aber wenn sich die Russen noch lange auf die Formen eines Imperialismus verlassen, der dem 19. Jahrhundert angehört, und wenn sie weiterhin so schlechte Fernsehsendungen fabrizieren, dann werden sie womöglich eines Tages aufwachen und feststellen, daß sie sich in ein Land der Dritten Welt verwandelt haben.

Man sollte natürlich annehmen, daß die Europäer sehr genau sehen, was sich da abspielt, und viele tun das auch. Diejenigen, die es nicht sehen, lassen sich wahrscheinlich von der Tatsache täuschen, daß die Methode des amerikanischen Imperialismus tatsächlich subtiler ist, als es zunächst den Anschein hat. Ich habe eben gesagt, daß wir unsere Fernsehsendungen entsenden. Das stimmt nicht ganz. Was wir in Wirklichkeit senden, ist unsere Idee von Fernsehen. Um zu begreifen, was mit dieser Idee gemeint ist, muß man einen Unterschied zwischen Technik und Medium machen. Die Technik verhält sich zum Medium wie das Gehirn zum Denken. 

So wie das Gehirn ist auch die Technik ein physischer Apparat. Das Medium dagegen ist, wie das Denken, eine bestimmte Art und Weise, diesen Apparat zu verwenden. Das Fernsehen in Amerika und das Fernsehen in Europa beruhen im wesentlichen auf der gleichen Technik. Aber in vierzig Jahren haben sich daraus zwei ganz verschiedene Medien entwickelt, die auf unterschiedliche Weise, zu unterschiedlichen Zwecken und unter verschiedenen Voraussetzungen genutzt werden.

Die beiden folgenden Essays beschäftigen sich mit diesem Aspekt und den Fragen, die sich daraus ergeben. Der erste geht zurück auf einen Vortrag, den ich vor dem Wiener Club, einer Gruppe konservativer Geschäftsleute und Akademiker, gehalten habe. Der zweite beruht auf einem Vortrag, den ich in Stockholm vor einer Gruppe schwedischer Fernsehautoren und -produzenten gehalten habe, die zusammengekommen waren, um darüber nachzudenken, wie das Fernsehen in Schweden verbessert werden könne.

Bei dieser Gelegenheit hatte man mich ausdrücklich gebeten, auf negativistische Kritik zu verzichten und mich zu der Frage zu äußern: Wie läßt sich das Fernsehen bei der Schaffung eines wirklichen Theaters für die Massen einsetzen?

 

Als Besucher in Ihrem Land — der nicht einmal Ihre Sprache gut genug beherrscht, um sich ihrer bei diesem Anlaß zu bedienen — fühle ich mich verpflichtet, den Worten, mit denen man mich vorgestellt hat, eine Bemerkung hinzuzufügen. Sie haben ein Recht, von Anfang an zu wissen, aus welchen kulturellen und politischen Perspektiven ich die Welt betrachte, denn alles, was ich heute abend zu sagen haben werde, ist von diesen Perspektiven geprägt.

Man könnte mich als Konservativen bezeichnen. Dieses Wort ist natürlich vieldeutig, und es kann sein, daß Sie etwas anderes darunter verstehen als ich. Vielleicht verstehen wir einander besser, wenn ich Ihnen sage, daß Ronald Reagan aus meiner Sicht ein Radikaler ist. Es stimmt zwar, daß er ständig davon spricht, wie wichtig es sei, traditionelle Institutionen und Anschauungen, Familie, Kindheit, Arbeitsethik, Selbstverleugnung und Frömmigkeit zu bewahren. Aber in Wirklichkeit kümmert sich Präsident Reagan überhaupt nicht darum, ob irgend etwas von alledem bewahrt wird oder nicht. Ich sage nicht, daß er gegen die Bewahrung der Tradition sei; ich sage nur, daß hier nicht sein wirkliches Interesse liegt. 

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Es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß es ihm vor allem darum geht, die freie Marktwirtschaft zu erhalten, die Entwicklung des Neuen zu fördern und dafür zu sorgen, daß Amerika technologisch progressiv bleibt. Man könnte ihn einen Extremisten des freien Marktes nennen. Dies alles besagt, daß er sich dem Kapitalismus verschrieben hat. Ein Kapitalist kann sich die Genüsse des Konservativismus nicht leisten und erachtet die Tradition notgedrungen für ein Hindernis, das überwunden werden muß. Woher die Idee stammt, Kapitalisten seien konservativ, ist mir ein Rätsel. Vielleicht läßt es sich ja einfach damit erklären, daß Kapitalisten dunkle Anzüge und dazu passende Krawatten vorziehen.

Es ist jedenfalls ziemlich leicht nachweisbar, daß die Kapitalisten seit dem 18. Jahrhundert eine Triebkraft für radikale gesell­schaftliche Veränderungen gewesen sind, vor allem in Amerika. Das hat auch Alexis de Tocqueville bemerkt, als er zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Institutionen Amerikas untersuchte. »Der Amerikaner«, so schrieb er, »lebt in einem Land der Wunder; alles um ihn her ist in ständiger Bewegung, und jede Bewegung sieht aus wie ein Schritt nach vorn. Infolgedessen hat sich in seinem Denken die Idee der Neuheit sehr eng mit der der Besserung verknüpft. Nirgendwo sieht er eine Grenze, die die Natur dem Streben des Menschen gesetzt hätte; etwas, das es nicht gibt, ist in seinen Augen bloß etwas, das man noch nicht versucht hat.«

So lautet das Glaubensbekenntnis der Kapitalisten in der ganzen Welt, und es ist wie ich hinzufügen möchte eine der wichtigen Quellen für die Energie und den Erfindungsgeist, die fast zweihundert Jahre lang die amerikanische Kultur geprägt haben. Kein anderes Volk ist angesichts des Neuen und vor allem angesichts des technisch Neuen so in Verzückung geraten wie die Amerikaner. Deshalb waren unsere bedeutendsten Radikalen stets die Kapitalisten, insbesondere jene, die sich die Möglichkeiten der neuen Technologien zunutze machten. Dabei fallen einem Namen ein wie Samuel Morse, Alexander Graham Bell, Thomas Edison, Henry Ford, William Randolph Hearst, Samuel Goldwyn, Henry Luce, Alan Dumont, Walt Disney und viele andere. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß diese kapitalistischen Radikalen in ihrer flammenden Begeisterung für neue Technologien das 20. Jahrhundert hervorbrachten. Wenn Sie mit dem 20. Jahrhundert glücklich sind, so können Sie sich bei diesen Radikalen dafür bedanken.

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Aber wie wir alle wissen, lauert in allem Guten irgendwo etwas Böses. Ich glaube, daran dachte auch Tocqueville in dem oben zitierten Abschnitt. Er wollte unsere Strebsamkeit und unsere Rührigkeit rühmen, aber zugleich wollte er unsere Naivität und unsere unüberlegte Hast verurteilen. Und vor allem wollte er sagen, daß eine Kultur, die das Neue um seiner selbst willen anbetet, die der radikalen Tendenz, aus allem Neuen Kapital zu schlagen, Vorschub leistet und deshalb dem Altern des Überkommenen gleichgültig gegenübersteht — daß eine solche Kultur das Risiko eingeht, trivial und gefährlich zu werden, gefährlich nicht zuletzt für sich selbst.

Im ausgehenden 20. Jahrhundert geschieht in Amerika genau dies. Heute ist die Idee der Neuheit in Amerika mit der Idee der Besserung nicht nur verknüpft, sie liefert geradezu die Definition für das Bessere. Wenn jemand die Frage stellen sollte: Wodurch läßt sich die geistige Kraft des Menschen verbessern? oder die prosaischere Frage: Wodurch wird die Lebensqualität verbessert?, so werden Amerikaner wahrscheinlich mit einer einfachen Formel antworten: Das, was neu ist, ist besser, und das Neueste ist am besten.

Das Heilmittel gegen eine solche bornierte Philosophie ist der Konservativismus. Und zwar in meiner Version, nicht in der von Präsident Reagan. Ein Konservativer, wie ich einer bin, weiß, daß die Technik immer radikale gesellschaftliche Veränderungen fördert. Ein Konservativer weiß auch, daß es keinen Zweck hat, so zu tun, als würde sich die Technik gegenüber einer Kultur letztlich nicht doch durchsetzen. Aber ein Konservativer erkennt, daß es einen Unterschied zwischen Vergewaltigen und Verführen gibt. Dem Vergewaltiger ist sein Opfer gleichgültig. Der Verführer muß auf den Willen und das Temperament des Objekts seiner Wünsche eingehen. Er will gar kein Opfer, er will eine Mitverschworene. Ich will damit sagen: Die Technik kann eine Kultur vergewaltigen, sie kann aber auch dazu gebracht werden, diese Kultur zu verführen. Das Ziel des wirklichen Konservativen in einem technischen Zeitalter besteht darin, die Wut der Technik unter Kontrolle zu bringen, darauf zu bestehen, daß sie sich dem Willen und dem Temperament eines Volkes anpaßt. Seine größte Hoffnung ist es, durch seine Bemühungen der Vereinigung von Technik und Kultur wenigstens eine gewisse Anmut zu verleihen.

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Deshalb war es klug von Ihnen, einen amerikanischen Konservativen als Redner einzuladen. Jedenfalls einen Konservativen wie mich. Denn ich kann Ihnen einige ausgezeichnete Ratschläge geben. Immerhin ist Amerika die radikalste Gesellschaft auf der ganzen Welt. Es ist dabei, ein gewaltiges, unkontrolliertes Gesellschaftsexperiment durchzuführen, mit dem die Frage gestellt wird: Kann eine Gesellschaft ihre traditionellen Tugenden bewahren, wenn sie all ihre Institutionen der Oberherrschaft der Technik unterwirft? Wer in Amerika lebt und dazu neigt, diese Frage mit »Nein« zu beantworten, ist daher in einer günstigen Position, um unsere europäischen Vettern zu warnen, die gegenwärtig überlegen, ob sie sich an diesem Experiment beteiligen sollen oder nicht.

Um meine Ratschläge möglichst zu konzentrieren, werde ich mich auf die Fernsehtechnologie beschränken, von der im Augenblick die schwerste Bedrohung für die traditionellen Lebensformen in allen Industrieländern ausgeht. Und ich hoffe. Sie werden es mir verzeihen, wenn ich mit einem Zitat von Karl Marx beginne. Marx schrieb einmal: »Ein Gespenst geht um in Europa...« — und er dachte dabei an den Aufstand des Proletariats. Das Gespenst, an das ich denke, ist das kommerzielle Fernsehen. Wohin man auch blickt in Europa — ob nach Deutschland, Schweden, Frankreich, Holland, Dänemark oder in die Schweiz —, überall macht sich in schemenhaften Andeutungen das Kommerzfernsehen bemerkbar. Daß es die Grundlagen der europäischen Nationen bedroht,  sollte eigentlich klar sein, es steht aber zu befürchten, daß man diese Möglichkeit noch nicht ausreichend erwogen hat.

Allein in Paris gibt es sieben Fernsehstationen, die sich aus Werbeeinnahmen finanzieren, und soeben ist eine achte in drei Pariser Metro-Stationen eingerichtet worden. Sie besteht aus 150 Sendeeinheiten, die im Kurzschlußverfahren übertragen werden. Jede Einheit umfaßt ein Programm von dreißig Minuten Länge: vier Minuten Informationen über das Metro-System, sechzehn Minuten verschiedene Programme und zehn Minuten Werbung. Ein Werbespot von dreißig Sekunden Länge kostet in der Woche 7500 Dollar. Es war die Untertreibung des Jahres, als der Marketingdirektor der Pariser Verkehrsbetriebe erklärte: »Auf diese Weise läßt sich das Ambiente der Metro-Station verändern.« Dieser Mann hatte natürlich Ursache und Wirkung verwechselt. 

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Wenn es die Franzosen auf dem Weg von einem Ende der Stadt zum anderen nach Fernsehunterhaltung gelüstet, dann darf man wohl behaupten, daß sich nicht das Ambiente der Untergrundbahn, sondern das Ambiente, in dem die französische Kultur lebt, verändert hat. Und unter »Ambiente« dürfen wir hier wohl die psychischen Gewohnheiten der Menschen verstehen.

In England, wo es zwei kommerzielle Fernsehstationen gibt, sind schon längere Programme mit politischer Werbung gesendet worden. Eines von ihnen bestand aus einem witzigen, fünfzehnminütigen Auftritt von John Cleese, dem Star aus Monty Python's Flying Circus, dessen Zweck es war, um Unterstützung für eine neue politische Partei zu werben. Britische Werbeagenturen geben dieser Mischung aus Komik und Politik große Zukunftschancen. Um Unterstützung für eine Partei zu gewinnen, veranstaltet man eine Party.

In Dänemark, das sich dem kommerziellen Fernsehen bisher standhaft widersetzt hat, sind die Pläne für eine Zulassung von Werbesendungen im zweiten nationalen Fernsehprogramm inzwischen fertiggestellt, das 1988 den Sendebetrieb aufnehmen soll. So wie gegenwärtig in Österreich, wird Reklame für Tabak und Alkohol verboten sein. Ebenfalls vom Bildschirm verbannt ist Werbung für Arzneimittel, Banken, politische Parteien und religiöse Organisationen, sowie Werbespots, die sich speziell an junge Menschen richten. Im allgemeinen sind die Dänen ein realistisches, klar denkendes Volk.

Aber glaubt irgend jemand, daß sich das Gespenst des Kommerzfernsehens mit solchen Zugeständnissen zufriedengeben wird? Vielleicht. Vielleicht gibt es sich damit ja auch in Österreich zufrieden. Aber wenn nicht, dann können Sie sehr schnell sehr viel von dem verlieren, was Ihnen an Ihrem Land liebenswert und bewunderungswürdig erscheint. Deshalb möchte ich Ihnen ein wenig Angst machen, indem ich hier einige Weissagungen formuliere und Ihnen prophezeie, was geschehen wird, wenn Österreich seine Fernsehtechnologie zu einer auf dem freien Markt käuflichen Ware werden läßt. Diese Prophezeiungen beruhen im wesent­lichen auf den Erfahrungen in Amerika, das zur Zeit das einzige Land ist, in dem das Fernsehen vollständig von kommerziellen Interessen kontrolliert wird.

Zwei Bemerkungen möchte ich voranstellen. Zunächst: Ein Konservativer ist nicht verpflichtet, sich der staatlichen Kontrolle über Rundfunk und Fernsehen prinzipiell zu widersetzen.

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Einer der bekanntesten amerikanischen Konservativen dieses Jahrhunderts, Herbert Hoover, unser einunddreißigster Präsident, war tief erschrocken über die Aussicht, daß das Radio kommerziellen Interessen zugänglich gemacht werden könnte. Als Handelsminister brachte er 1923 in eindringlichen Worten seine Hoffnung zum Ausdruck, das Radio, in dem er ein Werkzeug der öffentlichen Erziehung erblickte, möge von den Einflüssen des Marktes und der Wirtschaft freigehalten werden. Wenn er das amerikanische Fernsehen von heute kennte, würde er gewiß sehr bedauern, daß man seinen Rat mißachtet hat. Ich will damit sagen: Zwar beobachten Konservative die staatliche Autorität und damit auch ein staatlich kontrolliertes Fernsehen zu Recht mit Argwohn, aber deshalb müssen sie doch nicht so dumm sein anzunehmen, der Staat sei der einzige und notwendigerweise der schlimmste Gegner der individuellen Entscheidungsfreiheit.

Damit komme ich zu meiner zweiten Vorbemerkung. Wenn man die Frage stellt: »Schränkt ein staatlich kontrolliertes Fernseh­system die Meinungs- und Entscheidungsfreiheit ein?«, so lautet die Antwort offensichtlich »Ja«. Aber es wäre äußerst naiv anzunehmen, daß ein am freien Markt orientiertes Fernsehen die Freiheit nicht ebenfalls einschränken würde. 

In Amerika, wo das Fernsehen ausschließlich durch die Einnahmen aus Werbung kontrolliert wird, besteht seine wichtigste Funktion naturgemäß darin, den Werbekunden ein Publikum zu liefern. Je populärer eine Sendung ist, desto mehr kann das Fernsehen seinen Werbekunden für einen Reklamespot in Rechnung stellen. Als die Bill Cosby Show im letzten Jahr anlief, lagen die Kosten für 30 Sekunden Reklame während dieser Sendung bei 50.000 Dollar. In diesem Jahr, da die Cosby Show bei den Einschaltquoten an die erste Stelle gerückt ist, kosten dreißig Sekunden Reklamezeit 300.000 Dollar. Mit anderen Worten, was populär ist, bringt Geld und hält sich deshalb. Was sich nicht auszahlt, verschwindet von der Bildfläche. 

Und das bedeutet allerdings, daß fast alles, was schwierig oder ernsthaft ist oder den landläufigen Meinungen entgegensteht, nicht zu sehen sein wird.

 

Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen möchte ich nun meine Voraussagen darüber machen, was geschehen wird, wenn sich das kommerzielle Fernsehen in Österreich wirklich etablieren sollte. Als kommerzielles Fernsehen bezeichne ich ein System, das sich weitgehend aus Werbeeinnahmen finanziert und in der Frage, was gesendet werden kann und wann, allenfalls einer minimalen staatlichen Kontrolle ausgesetzt ist. 

Wenn also ein solches Fernsehen in Österreich Einzug halten sollte, wird folgendes geschehen:

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Zunächst wird das kommerzielle Fernsehen immer stärker darauf drängen, die Zahl der Stunden pro Tag zu erhöhen, in denen Fernsehsendungen ausgestrahlt werden. Es geht um viel zuviel Geld, als daß man irgendeinen Teil des Tages ungenutzt verstreichen lassen dürfte. Wenn es einen gut funktionierenden kommerziellen Kanal gibt, dann wird ein Druck entstehen, der auf die Einrichtung weiterer Kanäle abzielt. Wenn es zwei oder mehr Kanäle gibt, dann werden sie miteinander um die Aufmerksamkeit des Publikums und das Geld aus der Werbung konkurrieren. Das bedeutet mehr Fernsehprogramme im amerikanischen Stil — mehr rasante, visuell dynamische Programme, die interessanten Bildern den Vorzug vor ernsthaften Inhalten geben. Das wiederum bedeutet mehr Komödie, mehr Autoverfolgungsjagd, mehr Gewalt und mehr Material mit sexueller Orientierung.

Um ihre Zuschauer nicht zu verlieren, werden die staatlich kontrollierten Kanäle genötigt sein, in ihrer eigenen Programm­gestaltung die Konkurrenz mit dem Kommerzfernsehen aufzunehmen, und sie werden sich auf diese Weise dem amerikanischen Fernsehen angleichen.

Genau dies ist der BBC in England und dem Public TV in Amerika widerfahren.

Wenn die Zuschauer dann vor allem rasante, visuell erregende Sendungen erwarten, werden sie anfangen, problemorientierte politische Sendungen und Nachrichtensendungen langweilig zu finden. Im Wettbewerb mit den Unterhaltungsprogrammen werden Nachrichten und politische Sendungen das Optische stärker betonen und sich deutlicher an Persönlichkeiten orientieren. Infolgedessen wird beim Publikum die Fähigkeit, Ereignisse und Probleme zu begreifen und ernsthaft zu diskutieren, in Verfall geraten.

Selbstverständlich wird die Fernsehwerbung den Zeitungen und Zeitschriften Anzeigenkunden wegnehmen. Deshalb wird eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften eingehen; andere werden ihr Format und ihren Stil ändern; um mit dem Fernsehen um die Gunst des Publikums konkurrieren zu können, werden sie sich dem durch das Fernsehen propagierten Denkstil anpassen. Sie werden sich fortan stärker an Bildern orientieren, sie werden dramatische Schlagzeilen bringen und Prominenten- oder Sensationsstorys in den Vordergrund stellen.

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Die Artikel werden an Substanz und Komplexität einbüßen. Wenn Sie einen Eindruck davon gewinnen wollen, was ich meine, empfehle ich Ihnen, einmal einen Blick in Amerikas neueste, erfolgreichste überregionale Tageszeitung, USA Today, zu werfen; ich möchte auch darauf hinweisen, daß eine der ältesten und angesehensten literarischen Zeitschriften Amerikas, Harper's, es für nötig befunden hat, die Länge ihrer Artikel und Beiträge erheblich zu verringern, um der verringerten Aufmerksamkeitskraft der Leser Rechnung zu tragen.

Auch der Umgang mit Büchern wird sich verändern. Ich vermute, der Begriff des gewöhnlichen Lesers, wie wir ihn noch kennen, wird schwinden; ich meine den Leser, der seine Informationen und seine literarischen Erfahrungen vorwiegend in der Ausein­andersetzung mit Sachbüchern und Romanen gewinnt.

Fast mit Sicherheit wird es zu einer Zunahme sowohl der Leseunfähigkeit als auch der Leseunwilligkeit kommen. Man schätzt, daß es in Amerika — der Führungsmacht der freien Welt — heute sechzig Millionen Menschen gibt, die nicht lesen können, und einem Report der Kongreßbibliothek in Washington zufolge gibt es möglicherweise noch einmal so viele Menschen, die faktisch nicht lesen.

In jedem Fall wird sich eine generelle Ungeduld im Umgang mit Büchern entwickeln, insbesondere mit solchen, die sich einer differenzierenden Sprache bedienen, um komplexe Gedanken zu vermitteln. Höchstwahrscheinlich wird es zu einem Verfall der analytischen und kritischen Fähigkeiten der Leser kommen. Nach den Ergebnissen standardisierter Tests, die an unseren Schulen durchgeführt wurden, ist dies während der letzten fünfundzwanzig Jahre in Amerika bereits geschehen. Ich nehme an, es wird auch zu einer Verringerung des Interesses an Geschichte kommen, an dessen Stelle dann ein engsinniges Interesse für die Gegenwart treten wird.

Die Auswirkungen auf das politische Leben werden verheerend sein. Probleme, Inhalte und Ideologien werden an Bedeutung verlieren; immer stärker wird es auf Image und Stil ankommen. Die Politiker werden sich um die Augenblicksschwankungen der öffentlichen Meinung mehr kümmern als um langfristige Strategien. Sofern der Einsatz des Fernsehens für politische Kampagnen nicht streng untersagt wird, könnte es geschehen, daß diejenige Partei die Wahlen für sich entscheidet, die am meisten für Fernsehen und Medienberater ausgegeben hat.

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Selbst wenn politische Werbung untersagt würde, werden die Politiker in Unterhaltungssendungen auftreten, wo man sie mit ziemlicher Sicherheit darum bitten wird, Produkte, die mit Politik nichts zu tun haben, etwa Autos, Bier oder Frühstücksnahrung, mit ihren Empfehlungen zu versehen. Die Grenze zwischen politischem Leben und Unterhaltung wird unscharf werden, und sehr wahrscheinlich wird man Filmstars als Kandidaten für politische Ämter ernsthaft in Erwägung ziehen.

Hat sich die Bevölkerung erst einmal daran gewöhnt, einen großen Teil ihrer Zeit mit Fernsehen zu verbringen — in einem amerikanischen Haushalt läuft der Fernseher durchschnittlich acht Stunden am Tag —, so wird es zu einer Abnahme der Aktivitäten außerhalb des Hauses kommen. Es wird weniger und kleinere Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit — in Parks, Bierkneipen, Konzertsälen usw. — geben. Während das Leben von den Straßen weicht, könnte die Straßenkriminalität durchaus zunehmen.

Junge Menschen werden immer weniger Gefallen an der Schule und am Lesen finden. Kinderspiele werden wahrscheinlich verschwinden.

Es wird sogar wichtig werden, die Kinder zum Fernsehen anzuhalten, denn sie werden sich zu einer wichtigen Konsumentengruppe entwickeln. In Amerika haben die Kinder im Schnitt schon 5.000 Stunden vor dem Fernseher gesessen, bevor sie das Kindergartenalter erreichen, und 16.000 Stunden, bevor sie die High School hinter sich haben. Das kommerzielle Fernsehen hat an sich nichts gegen Kinder; aber es kann sich eine Vorstellung von Kindheit einfach nicht leisten. Die Konsumenten haben in jedem Fall den Vortritt vor den Kindern.

Ebenso wird sich das Familienleben nachhaltig verändern. Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern werden abnehmen, vor allem Gespräche zwischen Eltern und Kindern. Und die Gespräche, die noch stattfinden, werden sich von denen, an die Sie heute gewöhnt sind, erheblich unterscheiden. Die Kinder werden über Dinge sprechen, die früher den Erwachsenen vorbehalten waren. Das kommerzielle Fernsehen ist ein Medium, das keinen Teil seines Publikums ausgrenzt, deshalb haben alle Segmente der Bevölkerung Anteil an derselben symbolischen Welt. Am Ende werden Sie möglicherweise feststellen, daß die Grenze zwischen Erwachsenheit und Kindheit ausgelöscht worden ist.

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Da Österreich schon eine begrenzte Fernsehwerbung hat, wissen Sie, wie die Werbespots die Werte der Jugendlichkeit hervorheben, wie sie den Konsum, die unmittelbare Wunscherfüllung, die Vorliebe für alles Neue und die Verachtung für das Alte betonen. Fernsehbildschirme, auf denen immerzu Werbespots flimmern, propagieren die ebenso abstruse wie kindische Vorstellung, für jedes Problem gebe es rasche, einfache und technische Lösungen. Sie müssen sich von der weit verbreiteten, aber durchaus naiven Vorstellung freimachen, Werbespots würden etwas über irgendwelche Produkte mitteilen. 

Über Produkte haben sie genausoviel zu sagen wie die Geschichte von Jonas über die Anatomie der Wale, nämlich nichts. Die Werbespots handeln vielmehr von Wertvorstellungen und Mythen und Phantasien. Ja, sie bilden geradezu ein Korpus religiöser Literatur, eine Montage aus einer gewaltigen Menge von visualisierten heiligen Texten, die den Menschen Bilder und Geschichten liefern, an denen sie ihr Leben orientieren sollen. 

Um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, mit welchen Größenordnungen man es hier zu tun hat, weise ich darauf hin, daß ein Amerikaner bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr durchschnittlich eine Million Werbespots gesehen hat, tausend in der Woche. Wenn er fünfundsechzig Jahre alt ist, hat der Amerikaner im Schnitt mehr als zwei Millionen Werbespots gesehen. Das kommerzielle Fernsehen fügt den zehn mosaischen noch einige höchst unfromme Gebote hinzu: Du sollst keine anderen Götter neben dem Konsum haben; du sollst verschmähen, was alt ist; du sollst danach streben, dich ständig zu amüsieren; du sollst alles Komplizierte meiden wie die Zehn Plagen, die Ägypten heimsuchten.

Vielleicht meinen Sie jetzt, ich hätte die sozialen und psychischen Veränderungen, die sich aus einer Kommerzialisierung des Fernsehens ergeben, übertrieben, und das, was in Amerika geschehen sei, könne sich in Österreich auf gar keinen Fall wiederholen. Wenn Sie dies annehmen, überschätzen Sie die Macht der Tradition, und zugleich unterschätzen Sie die Macht der Technologie. Um sich klar zu machen, welche Kräfte der technologische Wandel zu entfesseln vermag, brauchen Sie nur daran zu denken, welche Folgen das Auto für Österreich gehabt hat. Hat es Ihre Städte nicht von Grund auf verändert, die Vorstadtgürtel geschaffen. Ihre Luft und Ihre Wälder vergiftet und Ihre Ökonomie umgewälzt?

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Lassen Sie sich nicht durch das in die Irre führen, was Sie über die österreichische Kultur des Jahres 1987 wissen. Österreich lebt heute noch im Zeitalter Gutenbergs. Das kommerzielle Fernsehen greift solche Rückständigkeit mit erstaunlicher Heftigkeit an. Zur Zeit sitzen weniger als 20 Prozent der Österreicher während der Abendstunden vor dem Fernsehapparat. Für ein kommerzielles Fernsehsystem wäre das inakzeptabel. 

In Amerika sitzen 75 Prozent der erwachsenen Bevölkerung abends vor dem Fernseher, und selbst diese Zahl hält man noch für zu niedrig. Soweit Sie in Österreich Fernsehwerbung haben, tritt sie gebündelt auf, damit die Kontinuität der anderen Sendungen nicht gestört wird. Für ein kommerzielles System wäre das unerträglich. Die ganze Idee beruht doch darauf, die Kontinuität der Sendungen zu unterbrechen, damit die Gedanken von den Erwägungen, die sich aus Ihrem Konsumentendasein ergeben, nicht allzu weit abschweifen können. Das Ziel besteht gerade darin, die Unterscheidung zwischen Sendung und Werbespot aufzuheben.

In Österreich gibt es nicht viele Werbeagenturen, und die vorhandenen sind klein und ohne großen Einfluß. In Amerika sind die Werbeagenturen Weltfirmen, die zu den größten und mächtigsten Unternehmen im Land gehören. Der Zusammenschluß von Doyle, Däne und Bernbach mit BBD&O und Needham Harper verschafft der neuen Gesellschaft ein jährliches Budget von fünfeinhalb Milliarden Dollar, davon vielleicht fünfhundert Millionen Dollar jährlich allein für die großen amerikanischen Fernsehgesellschaften. Dieses Geld meint es ernst, und diese Radikalen meinen es ebenfalls ernst. Sie können es nicht zulassen, daß sich eine Kultur auf ihre alten Anschauungen über Arbeit, Religion, Politik oder Kindheit versteift. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie und ihresgleichen auch in Österreich auftauchen.

Wenn Sie sich also, so wie ich, einem originären Konservativismus verpflichtet fühlen, einem Konservativismus, der zu bewahren sucht, was den Geist zu stärken vermag, dann wäre es klug, wenn Sie allen Vorschlägen zu einem marktwirtschaftlich orientierten Fernsehsystem mit äußerster Zurückhaltung begegneten. Ich möchte sogar noch weiter gehen und damit dann schließen: Es ist entweder Scheinheiligkeit oder Unwissenheit, wenn man behauptet, die Verwandlung Österreichs oder irgendeines anderen Landes aus einer auf dem Buchdruck gegründeten Kultur in eine auf dem Fernsehen beruhende Kultur würde die Traditionen dieses, Landes unversehrt lassen. 

Die Konservativen wissen, daß dies Unsinn ist, und sie machen sich deshalb Sorgen. Die Radikalen wissen es ebenfalls. Aber ihnen ist es gleichgültig.

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