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12  Erinnerungen an das Goldene Zeitalter 

 

1988 von Neil Postman

 

 

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Jahrelang habe ich einen großen Teil meiner Zeit damit verbracht, dem Fernsehen viele der deutlich sichtbaren Fehlent­wicklungen zur Last zu legen, an denen die westliche Kultur — und vor allem Amerika — heute krankt. Man hat mir deshalb gesagt, ich sei von Grund auf negativ eingestellt, immer bereit, das Falsche zu verurteilen, aber nie willens, das Richtige zu loben.  

Einige meiner Studenten haben sogar behauptet, wenn ich in der Ära der sogenannten »Inkunabeln« — also während der ersten fünfzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks — gelebt hätte, dann wäre ich gewiß jedermann mit einer langen Liste deprimierender Prophezeiungen über die Gefahren des maschinell hergestellten Buches und der allgemeinen Ausbreitung von Lesen und Schreiben lästig gefallen.

Damit haben meine Studenten aber nur halb recht. Einmal angenommen, ich hätte damals genug Verstand besessen, um voraus­zusehen, was im Jahre 1500 geschehen würde, so hätte ich die heilige Kirche sicherlich davor gewarnt, daß die Drucker­presse das Wort Gottes auf den Küchentisch eines jeden Christenmenschen bringen werde und daß infolgedessen die Autorität der kirchlichen Hierarchie in Gefahr gerate. Wäre mir die Ehre einer päpstlichen Audienz zuteil geworden, so hätte ich dem Papst gesagt, daß Martin Luther, bewaffnet mit einer Druckerpresse, mehr sei als nur ein unzufriedener, unter Verstopfung leidender Mönch. Das gedruckte Wort mache ihn zu einem ernstzunehmenden Revolutionär.

Ich hätte überdies die kleineren Fürsten darauf aufmerksam gemacht, daß ihre Tage gezählt seien, daß der Buchdruck einer neuen Vorstellung von Nation Gestalt verleihen werde, in der für Potentaten ihres Schlages kein Platz mehr sei. Und wenn mir die Bruderschaft der Alchemisten gestattet hätte, auf ihrer Jahres­versammlung eine programmatische Rede zu halten, dann hätte ich ihnen empfohlen, sich einen anderen Beruf zu suchen, denn der Buchdruck werde der induktiven Wissenschaft mächtigen Auftrieb geben, und vor dem Glanz öffentlich geteilter (und mitgeteilter) wissenschaftlicher Erkenntnis könne die Alchemie nicht bestehen. Jedem fahrenden Sänger, der mir über den Weg gelaufen wäre, hätte ich gesagt, daß es in hundert Jahren mit seinem Gewerbe vorbei sei, daß Bardengesang und epische Dichtung untergehen würden und daß er gut beraten sei, seinen Praktikanten einzuschärfen, sie sollten ihr Talent lieber dem Verfassen von Essays und Romanen widmen.

Sie haben gewiß bemerkt, daß nicht jede meiner Prophezeiungen etwas Schlechtes prognostizierte. Deshalb habe ich vorhin gesagt, meine Studenten hätten nur halb recht. Ob eine Prophezeiung negativ ist oder nicht, hängt nämlich von dem Blickwinkel ab, aus dem man sie macht. Ein Beispiel: Da die meisten von Ihnen Lutheraner sind, hätten Sie das Zerbrechen des Heiligen Römischen Reiches damals wahrscheinlich bejubelt. Die Katholiken jener Zeit hätten seinen Untergang sicherlich beklagt. Und mich als Juden hätte die ganze Sache, ob so oder so, wohl ziemlich kalt gelassen. Es ist doch unerheblich, ob ein Pogrom von Martin Luther oder von Papst Leo X. angestiftet wird.

Was ich damit sagen will, ist dies: 

Veränderungen, die durch neue Medien bewirkt werden, sind für einige von Vorteil, anderen schaden sie, und für wieder andere bleiben sie folgenlos. Das gilt für das Fernsehen genauso wie für die Druckerpresse oder irgendein anderes wichtiges Medium, wobei ich allerdings sofort hinzufügen möchte, daß es im Falle des Fernsehens nur wenige Menschen gibt, die nicht auf die eine oder andere Weise betroffen sind. Den meisten von Ihnen hier wird das Fernsehen eine höchst befriedigende Karriere eröffnen. Auf der anderen Seite könnte das Fernsehen — auf lange Sicht — der Karriere der Lehrer an den Schulen ein Ende bereiten, denn die Schule selbst ist eine Erfindung der Druckerpresse, und sie steht und fällt damit, wieviel Gewicht dem gedruckten Wort in Zukunft beigemessen wird.

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Harold Innis drückte das so aus: Neue Medien brechen alte Wissensmonopole auf; sie bringen sogar ganz neue Wissenskonzeptionen hervor. Und auch neue Konzeptionen von Politik. Ronald Reagan zum Beispiel wäre nicht Präsident der Vereinigten Staaten, wenn es das Fernsehen nicht gäbe, das für ihn und die Interessen, die er vertritt, gut ist. Weniger gut ist es allerdings für die Armen und sozial Schwachen.

Wie dem auch sei, ich bin nicht hier, um über die nachteiligen Auswirkungen des Fernsehens zu sprechen. Es ist mir sogar ausdrücklich untersagt worden. Man hat mich zum positiven Denken verurteilt, und so bleibt mir gar nichts anderes übrig, als darüber zu sprechen, wie das Fernsehen für die Schweden von Nutzen sein könnte. Dabei möchte ich vor allem erörtern, wie Sie das Fernsehen bei der Schaffung eines wirklichen Theaters für die Massen einsetzen können. Und wenn ich geendet habe, dann werden Sie hoffentlich den anderen Leuten mitteilen, daß ich kein Mensch bin, der von Natur aus stets verneint.

Mein gedämpfter Optimismus in dieser Frage rührt daher, daß es ein echtes Fernsehtheater für die Massen tatsächlich einmal gegeben hat, und zwar in Amerika. Nirgendwo sonst hat so etwas jemals existiert. Ich möchte Ihnen davon berichten, weil die Bedingungen, die es hervorbrachten, auch im heutigen Schweden gegeben sind. Die Bedingungen, die es in Amerika dann zugrunde richteten, sind hierzulande zwar ebenfalls vorhanden, aber darüber darf ich nicht sprechen. Es folgt hier also ein Stück amerikanischer Fernseh­geschichte, wobei manches Sie vielleicht überraschen wird.

So wurden zwischen 1948 und 1958 im amerikanischen Fernsehen annähernd 1500 zweiundfünfzig Minuten lange Stücke »live« aufgeführt, das heißt, sie wurden genau in dem Augenblick gespielt, in dem das Fernsehpublikum sie sah — ein Verfahren, das mit dem Aufkommen des Video-Tapes und der zunehmenden Verwendung von Filmen immer seltener geworden ist; »zweiund­fünfzig Minuten« bezeichnet die genaue Laufzeit des Stücks; acht Minuten von der vollen Stunde wurden für kommerzielle Botschaften, Vor- und Abspann sowie Hinweise auf das Stück der nächsten Woche abgezweigt.

Es besteht kein Zweifel, daß die schönsten dramatischen Augenblicke im amerikanischen Fernsehen in diese Stunden von zweiundfünfzig Minuten Länge fielen. Das galt vor allem für wöchentliche Serien wie The Kraft Television Theater (1947-1958), The Philco-Goodyear Playhouse (1948-1950) und Studio One (1948-1957).

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Anfangs brachten diese Sendungen Bearbeitungen der klassischen Literatur und bekannter zeitgenössischer Romane, aber etwa im Jahre 1950 verlagerten sie ihren Schwerpunkt von den Bearbeitungen auf »Original­stücke«. Zu dieser Zeit hatten Produzenten und Regisseure wie Worthington Miner, Fred Coe, Delbert Mann, Arthur Penn und John Frankenheimer eine Anzahl begabter junger Schriftsteller um sich versammelt, die bereit waren, ihr Talent einer gründlichen Erkundung der künstlerischen Möglich­keiten des Fernsehens zu widmen. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderen Reginald Rose, Tad Mosel, Robert Alan Aurthur, Horton Foote, Rod Serling, J. P. Miller und Gore Vidal. Keiner jedoch konnte sich mit dem, was er schrieb, besser auf das Fernsehen einstellen als Paddy Chayefsky, dessen Name zusammen mit dem von Edward R. Murrow das »Goldene Zeitalter des Fernsehens«, wie es einige Romantiker nennen, symbolisiert.

Chayefsky bedeutete für das »Original«-Fernsehspiel das, was Ibsen für das »Gesellschaftsstück« bedeutete — er war einer der ersten, die solche Stücke schrieben, und gewiß der ausgezeichnetste unter ihnen. Wie Ibsen erreichte er eine fast vollkommene Einheit von Form und Inhalt. Literaturwissenschaftler haben darauf hingewiesen, daß die Wirkungen, die Ibsen in Nora oder Ein Puppenheim und Gespenster erzielte, sich nicht allein seinen Stoffen verdankten, die dem Publikum der Jahre 1879 und 1881 sicherlich vertraut waren, daß sie vielmehr auch das Ergebnis der kargen, sparsamen Form waren, in der er seine Stoffe auf der Bühne formulierte. Gesellschaftsstücke sind auch schon vor Ibsen geschrieben worden, ihm aber blieb es vorbehalten, die eigentliche Form für die dramatische Gestaltung gesellschaftlicher Probleme zu entdecken.

Chayefsky schrieb natürlich nicht für eine Theaterbühne, die man, in einem abgedunkelten Saal sitzend, aus der Entfernung betrachtet. Er schrieb für einen 35-Zentimeter-Bildschirm, der im Wohnzimmer stand und dessen einzige Farben verschiedene Abstufungen von Grau waren. Auch mußte er seine Geschichte von Anfang bis Ende in zweiundfünfzig Minuten erzählen und konnte mit absoluter Sicherheit von zwei Annahmen ausgehen: erstens, daß sein Stück wenigstens zweimal durch Reklame­botschaften unterbrochen werden würde, und zweitens, daß er seine Zuschauer augenblicklich fesseln mußte, wenn er nicht viele von ihnen an andere Kanäle verlieren wollte.

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Er wußte auch, genau wie sein Regisseur, Delbert Mann, daß das Bild auf dem Fernsehschirm erheblich weniger optische Schärfe besitzt als das Bild auf der Kinoleinwand. Chayefsky schrieb seine Stücke daher im Blick auf ein Publikum, das die Schauspieler fast unablässig in Nahaufnahmen zu sehen bekam.

Chayefsky wußte, daß manche dieser technisch-ästhetischen Bedingungen geeignet waren, besser als in jedem anderen Medium den Eindruck äußerster, absoluter Realität hervorzubringen — die Illusion, was die Zuschauer sähen, sei kein Spiel, sondern das Leben selbst, beobachtet durch ein nahezu quadratisches Loch von fünfunddreißig Zentimetern Durchmesser. Ausgehend von seinem ersten Stück Holiday Song, das davon handelt, wie das Gottvertrauen eines Rabbi noch einmal auf die Probe gestellt wird, schuf Chayefsky eine Reihe von Fernsehspielen, die man oft als »kleine« Meisterwerke bezeichnet hat und manchmal auch als »Küchendramen«, da sich ein großer Teil der Handlung in der häuslichen Küche abzuspielen schien.

Jedenfalls waren es Stücke über ganz gewöhnliche Menschen, die zweiundfünfzig Minuten lang in ganz gewöhn­lichen Situationen existierten. Die Handlung war klar gegliedert und stark verdichtet und hatte nichts Gewagtes: wenig überraschende Wendungen, wenig Aktion, keine Intrigen, nichts Anstößiges und keine (im herkömmlichen Sinne) heroischen Gesten. Chayefskys Geschichten waren in demselben Sinne »klein«, wie die Storys von Sherwood Anderson klein sind. Der Ort der Handlung war zwar New York und nicht das kleinstädtische Ohio, doch genau wie Anderson erkundete auch Chayefsky mit sparsamen, freilich genau treffenden Details die quälenden Probleme kleiner Leute. Dadurch verlieh er diesen Problemen sowie den Menschen, die unter ihnen zu leiden hatten, einen höheren Rang. Chayefsky hat einmal gesagt: »Die eigene Mutter, die Schwester, die Brüder, die Vettern und Cousinen, die Freunde — alle diese Gestalten eignen sich für das Drama viel besser als ein Jago.« Dabei sprach er natürlich vom Fernsehdrama.

Chayefskys bekanntestes Stück, Marty, erzählt die Geschichte eines unverheirateten, im Umgang mit Menschen höchst unbeholfenen Metzgers, der sich von einer feinfühligen, aber unansehnlichen Frau angezogen fühlt. Martys Freunde versuchen, ihn davon abzubringen, sich mit dieser Frau zu treffen, weil sie, wie sie es ausdrücken, ein »Knochen« sei.

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Martys Mutter, die fürchtet, ihr Sohn könnte sie verlassen, verabscheut die andere Frau. Vor dem Hintergrund solcher elementaren Motive — dem Bedürfnis des Menschen, zu lieben und geliebt zu werden, seiner Angst vor dem Alleinsein und seinem Bedürfnis, sich auszusprechen — trieb Chayefsky seine »kleine« Geschichte mit beharrlicher Nüchternheit voran und schloß sie mit einer ebenso »kleinen« Krise ab, in der sich Marty, gegen den Protest seiner Freunde und seiner Angehörigen, entschließt, die Frau anzurufen und sie um ein Rendezvous zu bitten. Auf der Bühne oder als Roman wäre diese Handlung zu dünn, sie besäße zu wenig dramatisches Gewicht. Als das Stück für den Film bearbeitet wurde, war mehr »Bewegung« oder action vonnöten, und es mußte ein weiterer Handlungs­strang hinzugefügt werden. Im Fernsehen aber war das Stück ein künstlerischer Triumph und erzeugte eine Illusion von intimer Nähe, die verstörend und erbaulich zugleich war. Vielleicht ist kein Medium für den »Ausschnitt« aus dem Alltag besser geeignet als das Fernsehen — Ingmar Bergman jedenfalls scheint das sehr genau zu wissen.

Chayefsky war nicht der einzige, der die unverwechselbaren Qualitäten des Bildschirms erkundete, aber einige andere Autoren gaben der realistischen Veranschaulichung der Probleme einfacher Leute nicht solches Gewicht wie er. Reginald Rose zum Beispiel bevorzugte Fernsehspiele mit einer »Botschaft«, etwa Twelve Angry Men und Tragedy in a Temporary Town, in denen er einige besonders verächtliche Vorurteile seines Publikums bloßstellte.

Gore Vidal schrieb die literarisch anspruchsvollste Satire, Visit to a Small Planet, in der er, den Stil Shaws simulierend, das beharrlichste Talent des Menschen, das Talent zum Kriegführen, verurteilte. Rod Serling untersuchte in seinem äußerst erfolgreichen Stück Patterns die Motivationen und Zwänge im »Big Business«. Und Alvin Sapinsley experimentierte mit poetischen Fernsehspielen, von denen eines, Lee at Gettysburg, in seinem Rhythmus und seiner Dichte an die poetischen Hörspiele im Radio erinnerte.

Bei allen Unterschieden zwischen diesen Autoren läßt sich der Erfolg jedes einzelnen darauf zurückführen, daß sie einige wesentliche Einsichten in das Medium, sein Publikum sowie die Umgebung, in der dieses Publikum die Stücke normalerweise sah, in ihrer Arbeit berücksichtigten.

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So scheint das Fernsehspiel dann besonders wirkungsvoll zu sein, wenn es Menschen und nicht Handlungen oder Schauplätze oder gar Ideen in den Mittelpunkt stellt. Wie schon gesagt, die »Normal­einstellung«, in der man die Schauspieler auf dem Bildschirm sieht, ist die Nahaufnahme. Infolgedessen gewinnt das menschliche Gesicht eine unausgesetzte, ein dringliche Präsenz, so daß es zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Fernsehspiels wird, gleichgültig, ob der Autor dies beabsichtigt oder nicht. Einstürzende Brücken oder Flugzeuge, die steil nach oben ziehen, mögen im Filmbild oder in einer Romanschilderung sehr aufregend wirken.

In Live-Sendungen des Fernsehens sind solche Aktionen schon wegen der räumlichen Grenzen des Studios ausgeschlossen. Aber auch wenn sie als Filmsequenzen im Fernsehen übertragen werden, wirken sie in ihrer Dramatik nicht sehr überzeugend, weil der Bildschirm so klein und das Fernsehbild relativ unscharf ist. Das Fernsehen, so formulierte es ein Regisseur einmal, ist das »psychoanalytische Medium«. Seine Stärke besteht darin, Gesichter zu zeigen und anzudeuten, was hinter ihnen liegt. Dazu schrieb Rod Serling: »Der Schlüssel zum Fernsehspiel ist die intime Nähe, und eine Gesichtsstudie gewinnt auf einem kleinen Bildschirm eine Bedeutungstiefe und Eindringlichkeit, die ihre Wirkung im Kinofilm weit übertrifft.«

Wie diese Autoren und Regisseure entdeckt haben, erlangt das Fernsehspiel dort seine größte Kraft, wo es sehr stark verdichtet. Es ist wenig Zeit für Nebenhandlungen oder auch nur für eine ausführliche Entfaltung des eigentlichen Handlungsfadens. Dem Fernsehspielautor, ebenso wie dem Kurzgeschichtenschreiber, bleibt gerade genug Zeit, eine knappe Geschichte mitzuteilen und eine Stimmung zu erzeugen. Anders als dem Kurzgeschichtenschreiber kommt ihm dabei die Kamera zu Hilfe. Und gelegentlich steht der Fernsehautor vor dem Problem, eine kurze Geschichte ausweiten zu müssen, in der Regel jedoch hat er es mit dem gegenteiligen Problem zu tun. »Das Fernsehen«, so schrieb Paddy Chayefsky, »kann mit einem dichten, verwickelten Handlungsgeflecht nichts anfangen. Es kann nur mit einfachen Bewegungslinien und folglich mit kleineren Krisenmomenten umgehen.«

Wir sollten uns auch daran erinnern, daß das Fernsehen Unterhaltung für die Familie liefert und zu Hause gesehen wird. Früher glaubten Produzenten und Fernsehautoren noch, daß sich hieraus für die Fernsehspiele gewisse Beschränkungen sowohl ihrer Sprache als auch ihren Themen nach ergäben.

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Mit Nymphomanie, Homosexualität oder Inzest sollten sich Erwachsene im Theater oder in anderen literarischen Formen getrost beschäftigen, im Fernsehen aber (so meinten sie) wirkten solche Themen besonders schockierend, nicht nur, weil das Fernsehen unterschiedslos alle Zuschauer anspricht, sondern auch wegen der fast schmerzhaften Direktheit dieses Mediums. Wahrscheinlich trifft es noch immer zu, daß man gewisse Worte, die dem Romanleser oder Theaterbesucher gar nicht weiter auffallen würden, kaum mehr vergessen kann, wenn sie ins Wohnzimmer vordringen.

Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das, was sich am 19. Februar 1956 zutrug, als in der Sendereihe The Alcoa Hour Reginald Roses Tragedy in a Temporary Town gesendet wurde. Einer der Schauspieler, Lloyd Bridges, wurde von der Erregung in einer bestimmten Szene mitgerissen und stieß einen Kraftausdruck aus, der nicht im Skript stand, aber durchaus dort hätte stehen können, wäre das Stück im Theater aufgeführt worden. In einem Roman von Norman Mailer oder Nelson Algren wäre dieses Wort überhaupt nicht aufgefallen. Im Fernsehen jedoch wurde der Vorfall zu einer cause celebre.

Jahrelang arbeiteten die Fernsehautoren unter solchen Einschränkungen und schufen einen umfangreichen Bestand an seriösen Fernsehspielen. Aber seit etwa 1960 verschwand diese Form von Fernsehliteratur allmählich. Bevor ich erläutere, woran das lag, möchte ich Ihnen sagen, wie es kam, daß in dieser Phase der amerikanischen Fernsehgeschichte etwas hervorgebracht wurde, das ich ein wirkliches Theater der Massen nennen würde. Erstens lag der Schwerpunkt bei Originalstücken, die von jungen, weitgehend unbekannten Autoren geschrieben wurden. Diese Autoren hatten kaum Theatererfahrung und gingen unbelastet von der Tradition des Theaters ans Werk. Ebenso wie ihre ebenfalls jungen Regisseure hatten diese Autoren die Freiheit, den Möglichkeiten dieses neuen, einzigartigen Mediums nachzuspüren. Sie schrieben Fernsehstücke und keine Bühnenstücke oder Filmdrehbücher. Zweitens: An einer Bearbeitung Shakespeares oder des übrigen klassischen Kanons für das Fernsehen waren sie nicht interessiert. Sie wollten in der Sprache ihrer Zeit und über die Ängste und Probleme, von denen ihre Zuschauer betroffen waren, schreiben.

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Zudem waren die jungen Schauspieler, die sie einsetzten, nicht im klassischen Repertoire ausgebildet und hätten in Stücken von Shakespeare, Moliere, Ibsen, Rostand, Shaw oder auch Strindberg wohl keine sonderlich gute Figur gemacht. Aber sie waren gerade richtig, so zu sprechen, wie Amerikaner eben sprechen — der Metzger aus der Bronx oder der Frömmler aus Mississippi oder der Baseballspieler aus Indiana. Zu den Schauspielern, deren Karriere bei den Zweiundfünfzig-Minuten-Stücken begann, gehören James Dean, Grace Kelly, Dustin Hoffman, Paul Newman, Eva Marie Saint, Joanne Woodward, Robert Redford und Rod Steiger.

Drittens: Weil so viele Stücke gebraucht wurden, um Woche für Woche den Bildschirm zu füllen, sammelten die Fernseh­gesellschaften eine Gruppe von Autoren um sich — ein literarisches Ensemble sozusagen. Mit anderen Worten, es gab Arbeit für Schriftsteller, und zwar jede Menge — was dazu führte, daß begabte Leute aus dem ganzen Land mit ihren Skripten und der begründeten Aussicht, daß ihre Stücke auch produziert würden, nach New York kamen.

Moss Hart, selbst ein bekannter amerikanischer Bühnenautor, empfahl Schriftstellern dringend, ihre Aufmerksamkeit dem Fernsehen zuzuwenden, und begründete dies so: »Bedenken Sie — wir schreiben ein Stück [für die Bühne], es dauert Monate, bis es herauskommt, und dann spielen wir es, wenn es ein Erfolg ist, achtmal in der Woche, zwei Stunden pro Aufführung. Wenn wir ausverkaufen, erreichen wir in der Woche ein Publikum von vielleicht neuntausend Leuten — wenn wir ausverkaufen!« Er fügte hinzu, ein Fernsehspiel lasse sich in ein paar Wochen produzieren, und wenn es gezeigt werde, sähen es sofort Millionen von Menschen. Natürlich waren viele der damals produzierten Stücke ganz schlecht und bald vergessen. Aber das war beim elisabethanischen Drama nicht anders. Wir beurteilen eine Epoche nach ihren Erfolgen, nicht nach ihren Mißerfolgen.

Und da wir gerade über Mißerfolg sprechen — das wichtigste Merkmal dieser Ära bestand vielleicht darin, daß sie kaum Angst vor Mißerfolg hatte. Die Stücke zu produzieren, war nicht übermäßig teuer. Ein Fehlschlag war also keine finanzielle Katastrophe — anders als heute, anders auch als damals beim Theater oder beim Film. Außerdem wurden die Sendungen jeweils nur von einer Firma gesponsert, die oft von einem Unternehmer geleitet wurde, der selbst risikofreudig war und sich von einem Fehlschlag nicht schrecken ließ. Dasselbe galt für die Autoren und Regisseure, die mit jugendlicher Begeisterung und Selbstbewußtsein bei der Sache waren. Sie hatten etwas mitzuteilen, und sie scheuten sich nicht, es mitzuteilen.

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Und schließlich war da noch das Publikum. Dieses Publikum bestand aus Menschen, die vom Fernsehen nicht übersättigt waren. Damals lief das Fernsehen nicht 24 Stunden täglich, und der Bildschirm war nicht gänzlich von Sendungen erfüllt, die alle Sinne abstumpfen. Mit Spannung sahen die Menschen ihren allwöchentlich ausgestrahlten Fernsehspielen entgegen und erwarteten von ihnen Ernst und Nachdenklich­keit. Anders als heute dominierte die Werbung nicht, und sie war so beschaffen, daß sie zur Stimmung des Stücks paßte. In der Zeit, von der ich hier spreche, stand das Stück im Mittelpunkt, nicht die Reklame. Und dieses Stück handelte stets von den Erfahrungen und der Welt des Publikums. Die Figuren waren wiederzuerkennen, die Probleme relevant, die Sprache entwickelt und verständlich, die Themen realistisch und prägnant.

Wie gesagt, um das Jahr 1960 verschwanden das Zweiundfünfzig-Minuten-Stück und seine Abkömmlinge allmählich. Dafür gibt es viele Gründe. Erstens entdeckten die Autoren, daß mit Filmdrehbüchern mehr Geld zu verdienen war, und viele von ihnen wanderten nach Hollywood ab, unter ihnen übrigens auch Paddy Chayefsky. Manche gingen deshalb weg, weil sie die Beschränkungen, die ihnen das Fernsehen auferlegte — und dazu gehörten auch die Unterbrechungen durch Werbespots —, nicht mehr hinnehmen mochten und auf der Bühne oder beim Film größere künstlerische Freiheit zu finden hofften.

Zweitens: Von besonderer Bedeutung waren das Aufkommen der Farbe, des Video-Tapes, verbesserte Schneidetechniken und andere technische Neuerungen, darunter die Verwendung von Film. Damals setzte eine Entwicklung ein, die heute noch nicht abgeschlossen ist — aus einem Autoren-Medium verwandelte sich das Fernsehen in ein Techniker-Medium. Alle Welt begeisterte sich für die phantastischen Möglichkeiten technischer Zaubertricks — das gleiche gilt übrigens für die amerikanischen Filmemacher von heute —, so daß es auf die Qualität der Skripts immer weniger ankam. Drittens besetzte das Fernsehen mit seinen Sendungen sämtliche Stunden des Tages. Für einen solch gefräßigen Verbraucher von Talent und Material gehaltvolle Stücke zu schreiben und zu produzieren wurde unmöglich.

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Und 24 Stunden täglich sendete man deshalb, weil Unternehmer und Geschäftsführer das Fernsehen als eine riesige, nimmermüde Geldmaschine entdeckt hatten, vorausgesetzt, man verwendet es dazu, die Zuschauer in einer fast psychopathischen Konsumentenhaltung stillzustellen. So hörte das amerikanische Fernsehen auf, seinem Publikum ernsthafte, provokative, originelle Stücke vorzustellen, und bot statt dessen Fortsetzungsserien, Seifenopern und Quizsendungen. Mit anderen Worten, die Funktion des Fernsehens veränderte sich. Es geriet in die Hände von Kaufleuten, die selbstverständlich ganz andere Prioritäten setzen als ernsthafte Künstler.

Welche Bedeutung hat dies alles nun für das schwedische Fernsehen? Ich kenne Ihre Situation nicht gut genug, um es mit Sicherheit sagen zu können. Aber einiges weiß ich doch, und ich glaube, die Anzeichen sind ermutigend. Ihr Publikum zum Beispiel ist vom Fernsehen noch nicht überwältigt; anders ausgedrückt, die Zuschauer sind weder zynisch noch abgestumpft. Die Kaufleute hierzulande haben das Fernsehen noch nicht unter ihre Kontrolle genommen, und es gibt bei Ihnen strenge gesetzliche Regelungen, die sie daran hindern. Es gibt hierzulande keine große, mächtige Filmindustrie und, wie ich hinzufügen möchte, auch keine Werbebranche, die dem Fernsehen die talentierten Regisseure, Autoren und Schauspieler abwerben könnte. Ihr ganzes Land liegt in einer einzigen Zeitzone, was die Ausstrahlung von Live-Sendungen sehr erleichtert.

Und bitte bedenken Sie, daß gerade die »Live«-Qualität den Fernsehsendungen jene Unmittelbarkeit und Spontaneität verleiht, die Film, Video-Tape und Bücher niemals haben werden. Dem Fernsehen diesen Vorzug zu rauben, das wäre, als würde man einen Film machen, ohne die Vorteile der Schnittechnik zu nutzen. Außerdem brauchen Sie sich nicht auf eine Zeit von zweiundfünfzig Minuten zu beschränken, wenngleich man hoffen sollte, daß nicht gerade Ingmar Bergmans Elf-Stunden-Experiment Szenen einer Ehe als Vorbild dienen wird. Bedenken Sie: Ein Fernsehspiel, das, geschnitten oder ungeschnitten, in einem Kino vorgeführt werden kann, hat wahrscheinlich nicht sehr viel mit einem Fernsehstück zu tun. Und weiter: Hierzulande wird Fernsehen nicht 24 Stunden täglich ausgestrahlt, es frißt also nicht jeden, der sich mit ihm einläßt, innerhalb von zwei Monaten auf.

Sie verfügen über eine vielseitige Kultur, die in der Weltpolitik eine immer wichtigere Rolle spielt, namentlich bei den Bemühungen, die internationale Paranoia und den Atomwaffenwahnsinn einzudämmen. Den Autoren hierzulande stellen sich also wichtige Themen, und sie haben die politische Freiheit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Gleichzeitig erzeugt Ihre Kultur für die Menschen irritierende Probleme, die Anlaß zur Formulierung interessanter, ernster Einsprüche geben. Bedenken Sie auch, daß, wie Ibsen und Strindberg uns gezeigt haben, Einsprüche immer guten Stoff für wichtige Dramen liefern. Und schließlich gibt es bei Ihnen, wie ich annehme, eine große Zahl junger Autoren und Regisseure, die wissen, was sie wollen, die nicht der technischen Hexerei verfallen sind, sondern im Gegenteil eine Leidenschaft für die geheimnisvollen Möglichkeiten des dramatisierten Wortes entwickeln. Die Voraussetzungen für ein Fernseh-Theater, das zu einem nationalen Publikum und für dieses Publikum sprechen wird und das umgekehrt von diesem Publikum voller Stolz unterstützt wird, sind hierzulande also vorhanden.

Falls ich mich mit dieser Einschätzung der Lage des schwedischen Fernsehens irren sollte, so hoffe ich, daß Sie mich in der nachfolgenden Diskussion behutsam und vorsichtig korrigieren. Ich tue mein Bestes, die Dinge positiv zu sehen, und allzuviel schlechte Nachrichten schaden meiner Gesundheit.

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