13 Kolumbusität
Postman 1988
Während meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer mußte ich mir immer wieder die Frage stellen: Wie kann ich Schülern helfen, einen Gedanken zu begreifen? Obwohl die Pädagogen und ihre Kritiker dieses Thema kaum jemals erörtern, ist es doch keineswegs so, daß »Begreifen« etwas Einfaches wäre, und die meisten Schüler leiden stärker an der Unfähigkeit, Gedanken zu entwickeln, als an jeder anderen Lernschwäche. Eine Methode, die hier zu helfen scheint, besteht darin, die Schüler aufzufordern, ihren Vorrat an Überzeugungen zu mustern, sodann eine Überzeugung auszuwählen, an der ihnen besonders viel gelegen ist, und anschließend mit Argumenten darzulegen, daß das Gegenteil richtig ist. Dies hat oft eine befreiende Wirkung, und es bestätigt die bekannte Tatsache, daß das Spielen mit Sprache ein wichtiges Mittel ist, um Entdeckungen zu machen. In dem folgenden Essay habe ich dieses Verfahren selbst angewendet.
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Mit dem Wort »Serendipität« (serendipity) bezeichnen wir den Fall, daß jemand, der etwas Bestimmtes sucht, bei dieser Suche etwas ganz anderes, viel Wertvolleres findet. Seltsamerweise besitzen wir kein Wort für einen nahen, aber unwillkommenen Verwandten der Serendipität — und das, obwohl uns dieser Verwandte sehr viel häufiger heimsucht. Ich meine die Situation, in der jemand nach etwas Bestimmtem sucht und dabei etwas anderes, Wertvolleres findet, aber ohne es zu bemerken.
Ich schlage hierfür das Wort »Kolumbusität« vor — zu Ehren von Christoph Kolumbus, der auf der Suche nach China die Neue Welt entdeckte und es doch nicht wahrhaben wollte.
Dann und wann sucht die Kolumbusität jeden von uns heim, und sie tritt dabei unter verschiedenen Masken auf. Kolumbus zum Beispiel litt an zuviel Selbstvertrauen und zuviel Vertrauen in die Abmessungen der Welt und bemerkte deshalb nicht, daß er mit seinem Scheitern einen großen Sieg errungen hatte. Seine Kolumbusität hatte die Form des Hochmuts. Sie kann auch die Form der Angst annehmen. Es kann beispielsweise geschehen, daß wir so sehr damit beschäftigt sind, uns gegen einen Angriff zu wappnen, daß wir gar nicht bemerken, wenn unser Feind unabsichtlich etwas tut, das unserer eigenen Sache nützt. Deshalb schärfte Napoleon seinen Generälen ein, sie sollten niemals einen Feind stören, der gerade im Begriff sei, Selbstmord zu begehen.
Dieser Rat Napoleons taugt vor allem für liberale Pädagogen, die sich durch Angriffe von rechts so aus der Fassung bringen lassen, daß sie einen Selbstmord, der sich vor ihren Augen ereignet, nicht als solchen erkennen. Betrachten wir unter mehreren verfügbaren Beispielen zwei. Der vielleicht schwerste Angriff auf die liberale Erziehung geht in Amerika von den Fundamentalisten aus, die wollen, daß die sogenannte »Schöpfungswissenschaft« (Creation Science) an den Schulen unterrichtet wird.
Ich möchte mich mit einer genauen Bestimmung dieser Schöpfungswissenschaft nicht weiter aufhalten, deshalb nur so viel: So wie die Evolutionstheorie macht sich die Schöpfungswissenschaft anheischig zu erklären, auf welche Weise die Welt und alles, was sich in ihr befindet, entstanden ist, und betrachtet dabei die Bibel als eine unfehlbare Darstellung der Weltgeschichte. Aus Gründen, die in ihrer Kompliziertheit mein Verständnis übersteigen, glaubt heutzutage eine wachsende Anzahl von Menschen an die Schöpfungswissenschaft, und zwangsläufig vertreten nicht wenige von ihnen den Standpunkt, ihre Anschauungen seien so respektabel, daß sie in den Lehrplan der Schulen Eingang finden sollten. Einer der Sprecher dieser Gruppe, George E. Hahn, hat dazu geschrieben:
»Warum wollen wir die Schöpfungswissenschaft an den öffentlichen Schulen sehen? Erstens, weil wir finden, daß die Schüler ein Recht auf Wissen haben. Gegenwärtig werden nur wenige Schüler mit den Schwächen der Evolutionstheorie konfrontiert, geschweige denn mit jenen Daten, die die Alternative der Schöpfungswissenschaft untermauern. Die Schöpfungswissenschaft im Sinne von mehr Ausgewogenheit einzubeziehen würde beide Positionen zu ihrem Recht kommen lassen.«
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Wenn sie Feinde wie Mr. Hahn haben, brauchen Liberale und andere Verehrer der Wissenschaft keine Freunde. Das Dumme dabei ist nur, daß sie dies anscheinend nicht wissen. Ohne die Folgerungen, die sich aus Mr. Hahns Herausforderung ergeben, zu bedenken, beeilen sie sich, die Evolutionstheorie zu verteidigen, indem sie die Schöpfungswissenschaft verdammen. Hierin gleichen sie jenen Gesetzgebern, die 1925 in Tennessee den Unterricht in Evolutionstheorie gesetzlich untersagten. In diesem Fall hatten die Anti-Evolutionisten Angst, eine wissenschaftliche Idee werde ihre religiöse Glaubensüberzeugung untergraben. Im gegenwärtigen Fall haben die Pro-Evolutionisten Angst, eine religiöse Idee werde ihre wissenschaftliche Glaubensüberzeugung untergraben. Den ersteren fehlte es an Vertrauen in die Religion; letzteren fehlt es an Vertrauen in die Wissenschaft.
Entscheidend ist allerdings, daß gute Wissenschaft von schlechter Wissenschaft nichts zu befürchten hat, und wenn wir beide nebeneinander stellen, dann ist das für die Bildung der jungen Menschen sogar äußerst vorteilhaft. Mr. Hahn schlägt nämlich nichts Geringeres vor, als daß sich die Schöpfungswissenschaft opfert, um die liberale Erziehung voranzubringen. Es ist ein großzügiges Opfer, und nur jene, die von Kolumbusität geplagt sind, werden das nicht erkennen. Ich schließe mich also dem Vorschlag von Mr. Hahn an, Evolutionstheorie und Schöpfungswissenschaft an den Schulen als alternative Theorien vorzustellen. Hier sind meine Gründe:
Erstens: Darwins Erklärung dafür, wie die Evolution vor sich ging, ist eine Theorie. Dies gilt auch für die aktualisierte Version von Darwin. Allein schon die »Tatsache«, daß es eine Evolution gegeben hat, beruht auf komplexen Schlüssen und Annahmen. Fossile Überreste zum Beispiel sind manchmal mehrdeutig und haben auch zu unterschiedlichen Deutungen Anlaß gegeben. In den Reihen fossiler Funde klaffen eigentümliche Lücken, die den Evolutionisten mancherlei Rätsel aufgeben, wenn sie sie nicht sogar in Verlegenheit bringen.
Zweitens: Auch die Geschichte, die die Schöpfungswissenschaftler erzählen, ist eine Theorie. Daß diese Theorie ihren Ursprung in einer religiösen Metapher oder Glaubensüberzeugung hat, ist dabei unerheblich. Nicht nur, daß Newton ein religiöser Mystiker war, auch seine Auffassung vom Universum als einer Art von mechanischer Uhr, die Gott konstruiert und in Bewegung gesetzt hat, ist ein ganz und gar religiöser Gedanke.
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Wichtiger ist die Frage, in welchem Maße eine Theorie wissenschaftlichen Kriterien genügt. Der Streit zwischen Evolutionisten und Schöpfungswissenschaftlern bietet Schulbuchautoren und Lehrern eine wunderbare Gelegenheit, den Schülern Einsichten in die Philosophie und die Methoden der Wissenschaft zu eröffnen. Die Schüler sollen ja letztlich nicht lernen, ob man nun dieser oder jener Theorie glauben soll, sie sollen vielmehr lernen, wie Wissenschaftler sich ein Urteil über den Wert einer Theorie bilden. Einmal angenommen, man würde Schüler mit den Maßstäben zur wissenschaftlichen Bewertung von Theorien vertraut machen und sie dann bitten, diese Maßstäbe auf die beiden fraglichen Theorien anzuwenden. Müßte man das nicht als vernünftigen wissenschaftlichen Unterricht bezeichnen?
Ein Beispiel: Grundsätzlich gilt, daß eine Theorie so formuliert werden muß, daß sie (zumindest prinzipiell) falsifiziert werden kann. Wenn es keine Möglichkeit gibt, sie zu widerlegen, dann fällt sie aus der Sphäre der Wissenschaft heraus. Die Wissenschaft hat an Theorien, die sich selbst bestätigen, kein Interesse. Genügt nun die Schöpfungswissenschaft diesem »Widerlegbarkeits-Kriterium«? Und genügt Darwins Theorie ihm?
Ein anderes Beispiel: Die meisten nützlichen Theorien berufen sich auf unsichtbare Kräfte, um beobachtbare Ereignisse zu erklären. Aber über diese unsichtbaren Kräfte (z.B. die Schwerkraft) sollten sich wenigstens einigermaßen verläßliche Voraussagen machen lassen. Genügt die Berufung auf Gott in der Schöpfungswissenschaft diesem Maßstab? Genügt die Theorie der natürlichen Zuchtwahl ihm?
Ich vermute, wenn man diese beiden Theorien nebeneinander stellen und den Schülern die Freiheit lassen würde, ihren jeweiligen wissenschaftlichen Wert zu beurteilen, dann würde die Schöpfungswissenschaft sehr schlecht abschneiden (wenngleich auch die Theorie der natürlichen Zuchtwahl keineswegs frei von Fehlem ist). Jedenfalls sollten wir unsere Chancen nutzen. Es ist nicht nur schlechte Wissenschaft, wenn man einen Theorienstreit außer acht läßt, es ist auch schlechte Erziehung. Auf diese These ist mir häufig erwidert worden, die Schulen hätten weder die Zeit noch die Verpflichtung, sich mit jeder in Vergessenheit oder in Verruf geratenen Theorie zu befassen.
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»Wenn wir Ihren Gedanken konsequent verfolgen würden«, meinte ein Lehrer, der ein naturwissenschaftliches Fach unterrichtete, »dann würden wir die post-kopernikanische Astronomie genauso unterrichten müssen wie die ptolemäische Astronomie.« Ganz recht! Und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund kommt sehr prägnant in einem Essay zum Ausdruck, den George Orwell über die Bemerkung von George Bernard Shaw schrieb, wir seien heutzutage viel leichtgläubiger und viel abergläubischer als die Menschen im Mittelalter. Als Beispiel für die moderne Leichtgläubigkeit nannte Shaw die weitverbreitete Auffassung, die Erde sei rund. Der gewöhnliche Mensch, so Shaw, könne keinen einzigen Grund dafür benennen, daß er dies glaube.
Orwell nahm sich Shaws Bemerkung zu Herzen und prüfte sorgfältig die Gründe, die ihn selbst an die Kugelgestalt der Erde glauben ließen. Er kam zu dem Schluß, daß Shaw recht hatte, daß die meisten seiner wissenschaftlichen Anschauungen einzig und allein auf der Autorität von Naturwissenschaftlern beruhten. Mit anderen Worten, die meisten Schüler wissen gar nicht, warum man Kopernikus gegenüber Ptolemäus den Vorzug geben soll. Sofern sie Ptolemäus überhaupt kennen, wissen sie, daß er »unrecht«, Kopernikus hingegen »recht« hatte, aber nur deshalb, weil ihr Lehrer oder ihr Schulbuch es so sagt. Überzeugungen dieser Art bezeichnen Naturwissenschaftler als dogmatisch oder autoritär. Sie sind das genaue Gegenteil von wissenschaftlichen Überzeugungen. Ein wirklicher naturwissenschaftlicher Unterricht würde die Schüler auffordern, die ptolemäische und die kopernikanische Weltsicht unvoreingenommen zu prüfen, die Argumente, die für und gegen jede von ihnen sprechen, zu versammeln und dann zu erklären, warum man nach ihrer Ansicht der einen den Vorzug vor der anderen geben sollte.
Ein zweiter Grund, der für eine solche Vorgehensweise spricht, ergibt sich daraus, daß die Naturwissenschaften und jedes andere Fach verzerrt dargestellt werden, wenn man sie nicht aus einer historischen Perspektive lehrt. Als naturwissenschaftliche Theorie mag die ptolemäische Astronomie widerlegt sein, aber gerade deshalb ist sie sehr nützlich, indem sie nämlich den Schülern zu der Einsicht verhilft, daß Wissen Suche ist und kein Ding, das man erwerben kann; daß das, was wir heute zu wissen meinen, aus dem hervorgegangen ist, was wir früher zu wissen meinten; und daß das, was wir in Zukunft wissen werden, vielleicht alles das über den Haufen werfen wird, was wir heute meinen.
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Dies alles bedeutet nicht, daß sich unsere Schulen mit jeder neuen oder zu neuem Leben erweckten Erklärung für den Lauf der Welt ausgiebig befassen sollen. Lehrer müssen, wie immer, auswählen. Aber sie sollten ihre Wahl an Hand des folgenden Maßstabs treffen : Welche Theorien sind am ehesten geeignet, unseren Schülern dabei zu helfen, Klarheit über die Grundlagen ihrer Überzeugungen zu gewinnen? Die ptolemäische Theorie, so scheint mir, ist für diesen Zweck hervorragend geeignet. Und für die Schöpfungswissenschaft gilt das gleiche. Erstens wegen ihrer Ansprüche auf das Denken und die Ansichten einer großen Zahl von Menschen; zweitens, weil diese Theorie jahrhundertelang dominierend war und deshalb historisch besonders interessant ist; drittens, weil sie in ihrer modernen Gestalt ausdrücklich den Rang einer Wissenschaft beansprucht.
Ich möchte hier noch die Vermutung (eine Behauptung ist es nicht direkt) anschließen, daß wir uns nur deshalb nicht getrauen, die Schöpfungswissenschaft als Alternative zur Evolutionstheorie zuzulassen, weil die meisten Naturwissenschaftslehrer über die Geschichte und Philosophie der Wissenschaften zu wenig wissen und noch weniger über die Regeln zur Bewertung wissenschaftlicher Theorien. Das heißt, die Naturwissenschaftslehrer sind nicht gerüstet, die Naturwissenschaften anders denn als Dogma zu unterrichten. Wenn das stimmt, haben wir eine weitere wichtige »serendipitäre« Entdeckung gemacht und sollten sogleich darangehen, diesen schwerwiegenden Übelstand zu beseitigen, z.B. indem wir die Ausbildung der Lehrer für die Naturwissenschaften verbessern.
Das zweite Beispiel für Kolumbusität ergibt sich im Zusammenhang mit einer anderen Attacke der rührigen Rechten. Diese Attacke ist nicht ganz so infam wie die Schöpfungswissenschaft, dennoch bietet sie liberalen Pädagogen eine vorzügliche Chance, sich selbst, ihre Schüler und das Erziehungswesen im allgemeinen ein gutes Stück voranzubringen. Ich meine die Bewegung, die unter dem Namen »Accuracy in Academia« (wörtlich: Genauigkeit in der Akademie) bekannt geworden ist, ein Ableger der auf der politischen Rechten beheimateten Gruppe »Accuracy in Media« (Genauigkeit in den Medien). »Accuracy in Media« beobachtet sehr aufmerksam die Presse, das Radio und das Fernsehen, um etwaige linke Tendenzen ausfindig zu machen.
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Mr. Reed Irvine, der Vorsitzende von AIM, hat seine Aufsicht mit der Gründung von AIA nun auch auf das Klassenzimmer ausgedehnt. Dabei sollen die Mitglieder, also in aller Regel Schüler oder Studenten, heimlich, aber sorgfältig die Vorträge und Äußerungen ihrer Lehrer überwachen, um gegebenenfalls Unrichtigkeiten oder typische Akademikeransichten, die meist ein wenig linkslastig sind, aufzudecken. Die Liberalen haben auf den Gedanken, daß Schülerspitzel nun eifrig mitschreiben, was der Lehrer sagt, natürlich mit Verachtung, Ärger, Entrüstung und anderen Abwehrhaltungen reagiert.
Von Kolumbusität benebelt, haben die Liberalen übersehen, daß Reed Irvine den besten Einfall aller Zeiten hatte, um das zu erreichen, wonach jeder Lehrer — ob rechts oder links — sich sehnt; erstens, daß die Schüler aufpassen; zweitens, daß es ihm gelinge, sie zu kritischem Denken anzuhalten. Der schwache Punkt in Irvines Idee besteht natürlich darin, daß er sich wünscht, die Schüler sollten nur in einer Richtung kritisch denken. Aber das läßt sich leicht korrigieren. Dazu braucht der Lehrer am Anfang eines Kursus den Schülern oder Studenten nur folgendes zu einzuschärfen:
»Im Laufe dieses Semesters werde ich viel reden. Ich werde Vorträge halten, Fragen beantworten und Diskussionen leiten. Da ich gewiß ein unvollkommener Gelehrter und noch gewisser ein fehlbarer Mensch bin, werde ich unweigerlich sachliche Fehler machen, werde einige ungerechtfertigte Schlußfolgerungen ziehen und vielleicht sogar persönliche Meinungen für Fakten ausgeben.
Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Ihnen diese Fehler entgehen würden. Um diese Möglichkeit, soweit es geht, auszuschließen, ernenne ich Sie alle zu Ehrenmitgliedern von <Accuracy in Academia>. Ihre Aufgabe besteht darin sicherzustellen, daß kein Irrtum von mir unbemerkt bleibt. Zu Beginn jeder Stunde werde ich Sie deshalb bitten, sämtliche Irrtümer bloßzustellen, die ich in der voraufgegangenen Sitzung möglicherweise gemacht habe. Sie müssen natürlich erläutern, warum es sich dabei um Irrtümer handelt und worauf Sie sich bei diesen Erläuterungen stützen, und Sie sollten auch, wenn möglich, eine nützlichere oder weniger tendenziöse Formulierung für das, was ich gesagt habe, vorschlagen. Die Note, die Sie in diesem Kursus erhalten, wird zu einem gewissen Grade von der Strenge abhängen, mit der Sie meine Fehler verfolgen. Und um sicherzustellen, daß Sie nicht in die unter Schülern und Studenten so verbreitete Apathie verfallen, werde ich von Zeit zu Zeit absichtlich einige offenkundig unwahre Behauptungen und einige abstruse Ansichten einstreuen.
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Es ist nicht nötig, daß jeder von Ihnen allein aufpaßt. Sie sollten sich mit Ihren Klassenkameraden beraten und vielleicht sogar eine Arbeitsgruppe bilden, in der Sie kollektiv die Dinge überprüfen, die ich gesagt habe. Nichts würde mir mehr Spaß machen, als wenn einer oder mehrere von Ihnen Unterrichtszeit erbäten, um eine verbesserte oder eine alternative Fassung meiner Vorlesungen vorzutragen.«
Man darf wohl vermuten, daß Mr. Irvine dergleichen nicht im Sinne hatte. Aber darauf kommt es nicht an. Es kam ja auch nicht darauf an, daß Kolumbus glaubte, er sei in China. Eine Entdeckung ist eine Entdeckung, und eine Idee ist eine Idee. Aus welcher Quelle sie stammt, ist unerheblich. Tatsächlich kommen die fortgeschrittensten liberalen Ideen heutzutage anscheinend von der politischen Rechten. Daß sie es nicht merkt, ist wohl verständlich. Daß die Liberalen es nicht merken, ist unverzeihlich.
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14 Alfred Korzybski
Im Jahre 1976 wurde ich Redaktionsleiter von ETC: the Journal of General Semantics. Zehn Jahre lang war ich in dieser Funktion tätig, und mit jedem Jahr wuchs mein Respekt für Alfred Korzybski. Im gleichen Zuge schrumpfte mein Respekt gegenüber jenen Universitätsleuten, die sich selbst und ihren Studenten die Bekanntschaft mit seinem Werk vorenthalten.
Ich möchte hier meine Hochachtung für einen einzigartigen Fährtensucher bekunden und gleichzeitig meine Geringschätzung für jene Spracherzieher zum Ausdruck bringen, die ihre Studenten mit irgendwelchen Belanglosigkeiten vollstopfen und glauben, ein William Satire oder ein Edwin Newman hätte irgend etwas Wichtiges über die Sprache zu sagen.
Weil er keine Zeit hatte, jedes neue Buch auf seinem Fachgebiet zu lesen, bediente sich der große polnische Anthropologe Bronislaw Malinowski einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Methode, um zu entscheiden, welche Bücher seine Aufmerksamkeit verdienten: Sobald er ein neues Buch erhielt, blätterte er das Register durch und sah nach, ob sein Name darin vorkam und wie oft. Je mehr »Malinowski«, desto verlockender war das Buch. Kein »Malinowski« — und er zweifelte daran, daß sich dieses Buch überhaupt mit der Anthropologie befaßte.
Wenn man die Rolle berücksichtigt, die Malinowski für die Entwicklung seines Faches spielte, so wird man hierin ein Zeichen weniger von Egoismus als vielmehr von Realismus sehen, und es kommen einem noch ungefähr ein halbes Dutzend Gelehrte des 20. Jahrhunderts in den Sinn, die sich, wenn sie noch lebten, mit Fug und Recht der gleichen Methode bedienen könnten: Freud, George Herbert Mead, Bertrand Russell, Edward Sapir, John Dewey, Einstein — um nur jene zu nennen, die mir spontan einfallen. Ihre Namen dominieren in den Registern der Bücher über ihre Fachgebiete, und zwar mit Recht.
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Auch der Name von Malinowskis Landsmann Alfred Korzybski,* dem Begründer der allgemeinen Semantik, sollte auf dieser Liste stehen, aber das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Um dies zu belegen, habe ich einmal die Register von fünfzig neueren Büchern durchgesehen, die sich angeblich mit dem Thema Sprache und Bedeutung befassen. Mit Malinowskis Methode würde Korzybski unter ihnen nur vier finden, die für ihn lesenswert wären. Die anderen, so würde er vielleicht sagen, werden sich mit Sprache und Bedeutung wohl kaum beschäftigen. Dieser Zustand — diese Vernachlässigung des Werkes von Korzybski, der einer der außergewöhnlichen Synthetiker unseres Jahrhunderts gewesen ist — erklärt teilweise den Mangel an Reichweite und Tiefe der Semantik, wie sie heute betrieben wird, und er erklärt fast vollständig ihren Mangel an Nützlichkeit.
Hiergegen muß etwas unternommen werden, und deshalb hoffe ich, daß ich Ihre Aufmerksamkeit lange genug fesseln kann, um Ihnen zu verdeutlichen, welchen originellen Beitrag Korzybski zum Verständnis des symbolischen Prozesses geleistet hat, vor allem in dem wegweisenden Buch Science and Sanity: An Introduction to Non-aristotelian Systems and General Semantics.
Abgesehen davon, daß er 1879 in Polen geboren wurde, weiß man über die frühen Jahre Korzybskis nicht viel. Er behauptete, königlichen Geblüts zu sein, und bezeichnete sich als Graf Alfred Korzybski, was ihn den Universitätsleuten nicht sympathischer machte — einige von ihnen sahen darin sogar einen Beweis für die Fragwürdigkeit seiner Ideen. Dennoch, nach allem, was man darüber hört, wirkte Korzybskis ganzes Auftreten wirklich ausgesprochen souverän, ein Eindruck, der noch erheblich verstärkt wurde durch seinen marmorglatten Kahlkopf, seinen Akzent und etwas Hohnlächelnd-Herrisches in seiner Miene. Den Erinnerungen derer zufolge, die ihn kannten, ähnelte seine äußere Erscheinung der des alten Erich von Stroheim. Und vervollständigt wurde dieses Bild dadurch, daß auch Korzybski stark hinkte — Folge einer Verwundung, die er als Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg erlitten hatte.
* Olf, 2009: Alfred Korzybski (1879-1950) => Google1 Yahoo1 Amazon1 Wikipedia1
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Seine Verwundung war nicht das einzige Vermächtnis des Weltkriegs. Nachdem er Zeuge des Blutbads und der Schrecken dieses Krieges geworden war, ließ ihn eine Frage von einzigartiger Wichtigkeit nicht mehr los. Korzybski, der Mathematik und Ingenieurwesen studiert hatte, fragte sich, warum die Naturwissenschaftler beim Ergründen der Naturgeheimnisse so erstaunliche Erfolge vorweisen konnten, während gleichzeitig die Gemeinschaft der Nicht-Wissenschaftler bei ihren Bemühungen, psychologische, soziale und politische Probleme zu lösen, die entsetzlichsten Fehlschläge erlebte.
Fast täglich signalisieren die Naturwissenschaftler ihren Triumph, indem sie neue Theorien, neue Entdeckungen, neue Pfade zum Wissen verkünden. Wir anderen hingegen signalisieren nur unser Scheitern, indem wir gegen uns selbst und andere Krieg führen. Eine erste Antwort auf dieses Rätsel gab Korzybski in seinem 1921 erschienenen Buch Manhood of Humanity: The Science and Art o f Human Engineering. 1926 folgte dann Time-Binding: The General Theory und 1933 schließlich sein »magnum Opus« Science and Sanity.
Bei der Formulierung seiner Antwort war Korzybski stets auf die praktische Anwendbarkeit seiner Ideen bedacht. Er verstand sich als Erzieher, der der Menschheit sowohl eine Theorie als auch eine Methode anbot, mit der sie sich aus der nicht zu übersehenden und dennoch in immer neue Katastrophen mündenden Unwissenheit lösen konnte, deren Folgen in allen historischen Formen von menschlicher Erniedrigung erkennbar wurden. Auch dies wurde ihm von vielen Akademikern übelgenommen, die ihm vorwarfen, er sei hochtrabend und überheblich. Hätte sich Korzybski mit kleineren Gedanken begnügt, dann würde sein Name in gelehrten Namenregistern heute vielleicht häufiger auftauchen.
Die Universitätsleute hatten natürlich recht — aus ihrer Sicht. Korzybskis Denken war hochtrabend, insofern er alle Gebiete des Wissens in den Kreis seiner Interessen einschloß. Und er hielt es, wie man hinzufügen darf, für unter seiner Würde, wenn man ihn — und sei es lobend — als Semantiker bezeichnete. Die Semantik, so hat er des öfteren gesagt, untersucht die Bedeutung von Wörtern. Wer sich mit Semantik beschäftigt, braucht von Biologie, Chemie, Neurologie, Psychologie, Anthropologie und Physik nichts zu wissen. Ganz anders hingegen der, der Neurolinguistik oder Neurosemantik oder Allgemeine Semantik, wie er seine Arbeit schließlich nannte, betreibt.
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Korzybski begann seine Suche nach den Wurzeln menschlicher Leistung und menschlichen Versagens damit, daß er auf einen entscheidenden funktionellen Unterschied zwischen den menschlichen und anderen Lebensformen hinwies. Wir Menschen sind in Korzybskis Worten »Zeit-Binder«, während die Pflanzen »Chemie-Binder« und die Tiere »Raum-Binder« sind. Chemie-Bindung besteht in dem Vermögen, Sonnenlicht in organisch-chemische Energie zu verwandeln; Raum-Bindung in der Fähigkeit, sich von Ort zu Ort zu bewegen und eine materielle Umwelt zu beherrschen. Auch die Menschen verfügen über diese Fähigkeiten, aber sie allein besitzen zusätzlich die Fähigkeit, ihr Erleben und ihre Erfahrung durch die Zeit zu transportieren. Als Zeit-Binder können wir Wissen aus der Vergangenheit ansammeln und das, was wir wissen, an die Zukunft weitergeben. Science-fiction-Autoren brauchen ihre Erfindungsgabe bei der Suche nach interessanten Maschinen zur Überwindung der Zeitgrenzen nicht anzustrengen:
wir sind die Zeit-Maschinen des Universums. Das wichtigste Mittel, mit dem es uns gelingt, Zeit zu binden, ist natürlich das Symbol. Aber unsere Fähigkeit, Symbole zu schaffen und mit ihnen umzugehen, beruht auf einem anderen Vorgang, den Korzybski »Abstrahieren« nennt. Abstrahieren ist das ständige, aktive Auswählen, Ausscheiden und Organisieren von Einzelheiten der Wirklichkeit, dergestalt, daß wir die Welt als strukturiert und kohärent erleben. Korzybski war mit Heraklit der Ansicht, daß die Welt in einem ständigen Wandel begriffen sei und daß zwei Ereignisse nie und nimmer vollständig gleich seien. Stabilität verleihen wir unserer Welt allein durch die Fähigkeit, sie neu zu schaffen, wobei wir die Unterschiede übersehen und uns an die Ähnlichkeiten halten — auch wenn wir wissen, daß wir nicht zweimal in »denselben« Fluß steigen können, erlaubt uns das Abstrahieren, so zu tun, als könnten wir es.
Eines der aufschlußreichsten und wichtigsten Ergebnisse von Korzybskis Arbeit war ein Modell des Abstraktionsprozesses. Er konstruierte tatsächlich ein sehr merkwürdig aussehendes Mobile, das sogenannte »Strukturelle Differential«, das veranschaulichen sollte, wie unsere Abstraktionstätigkeit von niedrigeren zu höheren Stufen voranschreitet. Wir abstrahieren auf der neurologischen Ebene, auf der physiologischen Ebene, auf der Währnehmungs-ebene und auf der Sprachebene; alle Systeme, durch die wir in eine Interaktion mit der Welt treten, sind daran beteiligt, Daten aus der Welt auszuwählen, zu organisieren und zu verallgemeinern.
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Eine Abstraktion, um es einfach zu sagen, ist eine Art Zusammenfassung der Welt, ein verallgemeinertes Bild ihrer Struktur.
Korzybski hätte diesen Vorgang vielleicht so erklärt: Nehmen wir an, wir haben es mit dem Phänomen zu tun, das wir »Tasse« nennen . Zunächst einmal müssen wir verstehen, daß eine »Tasse« kein Ding ist, sondern ein Ereignis; die moderne Physik sagt uns, daß eine Tasse aus Milliarden von Elektronen besteht, die sich in ständiger Bewegung befinden und einem ständigen Wandel unterworfen sind. Auch wenn von dieser Aktivität nichts für uns wahrnehmbar ist, sollten wir uns ihr Vorhandensein doch klar machen, denn dann verstehen wir auch, daß die Welt nicht so ist, wie wir sie sehen. Was wir sehen, ist eine Zusammenfassung — eine Abstraktion, wenn man so will — von elektronischer Aktivität. Aber auch das, was wir sehen können, ist nicht das, was wir tatsächlich sehen.
Niemand hat je eine ganze Tasse gesehen — alles auf einmal, innerhalb der Raum-Zeit. Wir sehen nur Teile von Ganzheiten. Aber im allgemeinen sehen wir genug, um das Ganze rekonstruieren zu können, so daß wir so tun können, als wüßten wir, womit wir umgehen. Manchmal führt uns eine solche Rekonstruktion in die Irre, zum Beispiel, wenn wir eine »Tasse« heben, um Kaffee zu trinken, und feststellen, daß er sich über unseren Schoß statt über unsere Zunge ergießt. Aber meistens funktionieren unsere Annahmen hinsichtlich der »Tasse«, denn bei unseren Einschätzungen der Welt steht uns eine Hilfe von unschätzbarem Wert zur Verfügung:
Unsere Sprache nämlich hat uns mit Namen für die Ereignisse, mit denen wir es zu tun haben, ausgestattet. Ein solcher Name sagt uns, was wir zu erwarten haben und wie wir uns auf das Handeln vorbereiten können.
Das Benennen von Dingen ist natürlich eine Abstraktion auf sehr hohem Niveau (das Tieren überhaupt nicht zugänglich ist), und ihr kommt ganz besondere Wichtigkeit zu. Denn indem wir ein Ereignis benennen und es als ein »Ding« einordnen, schaffen wir eine anschauliche und mehr oder minder dauerhafte Landkarte der Welt. Eine höchst merkwürdige Karte allerdings. Das Wort »Tasse« zum Beispiel bezeichnet nichts, was es in der Welt wirklich gibt. Es ist ein Begriff, eine Zusammenfassung von Millionen einzelner Dinge, die ein ähnliches Aussehen und eine ähnliche Funktion haben.
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Das Wort »Geschirr« ist eine Abstraktion auf noch höherer Ebene, denn es umfaßt all die Dinge, die wir normalerweise als Tassen bezeichnen, aber auch Millionen von Dingen, die in nichts einer Tasse gleichen und nur eine im weitesten Sinne ähnliche Funktion haben.
Wichtig bei unserer kartographischen Erfassung der Welt durch die Sprache ist nun der Umstand, daß die von uns benutzten Symbole, ob »Patriotismus« und »Liebe« oder »Tasse« und »Teller«, stets ziemlich weit von der Realität der Welt selbst entfernt sind. Obwohl diese Symbole Teil unserer selbst werden — Korzybski glaubte, daß sie sich in unserem Nerven- und Wahrnehmungssystem verankern —, dürfen wir sie niemals für ganz und gar selbstverständlich halten. So meinte Korzybski einmal: »Wenn wir von etwas sagen, es sei das und das — dann ist es das doch nicht.«
So gelangen wir zu dem Schluß, daß Menschen in zwei Welten leben — in der Welt der Ereignisse und Dinge und in der Welt der Wörter über die Ereignisse und die Dinge. Wenn wir die Beziehung zwischen diesen beiden Welten betrachten, müssen wir im Auge behalten, daß die Sprache viel mehr tut, als Begriffe über Ereignisse und Dinge in der Welt zu konstruieren; sie sagt uns auch, welche Arten von Begriffen wir konstruieren sollen. Denn nicht für alles und jedes, das in der Welt vorkommt, haben wir einen Namen. Die verschiedenen Sprachen unterscheiden sich nicht nur in ihren Namen für die Dinge, sondern auch darin, welchen Dingen sie überhaupt Namen geben. Jede Sprache, so hat Edward Sapir gesagt, konstruiert die Realität anders als alle anderen Sprachen.
Unter allgemeiner Semantik verstand Korzybski also dies: Sie untersucht die Beziehung zwischen der Welt der Wörter und der Welt der Nicht-Wörter. Sie untersucht das Territorium, das wir Realität nennen, und sie untersucht, wie wir durch Abstraktion und Symbolisierung eine Landkarte von diesem Territorium anlegen. Und in der Auseinandersetzung mit diesem Problem glaubte Korzybski die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, warum Naturwissenschaftler bei der Lösung von Problemen so viel erfolgreicher sind als wir anderen. Naturwissenschaftlern ist der Abstraktionsvorgang in der Regel eher bewußt; sie erkennen in der Regel die Verzerrungen in ihren sprachlichen Landkarten deutlicher; sie sind flexibler, wenn es darum geht, ihre symbolischen Landkarten zu verändern, um sie der Welt anzugleichen.
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In Science and Sanity legte Korzybski eine detaillierte Analyse der nach seiner Ansicht wichtigsten Unterschiede zwischen dem Territorium der Wirklichkeit und unseren sprachlichen Karten davon vor, namentlich der Karte, die wir das Englische nennen. Das Territorium ist zum Beispiel in ständiger Veränderung begriffen, besonders innerhalb der Zeit; unsere Wörter aber sind eher statisch. Während sich die Realitäten verändern, bleiben unsere Beschreibungen dieser Realitäten unverändert. Auch ist das Territorium keine Welt des »Entweder-Oder« oder der »Dinghaftigkeit«. Doch unsere Sprache schildert es als eine solche. Das Territorium zeigt sich nie in all seinen Einzelheiten, wohingegen die Sprache die Illusion erzeugt, unsere Beschreibungen seien vollständig. Jedes Ding in der Welt ist einzigartig, aber unsere Sprache nötigt uns zu kategorialem Denken.
Mit anderen Worten, die Welt ist keine aristotelische Welt, in der die Dinge entweder a oder nicht a sind und in der der Syllogismus regiert. Die »Denkgesetze« des Aristoteles sind Regeln für einen klaren, widerspruchsfreien Gebrauch der Sprache (zumindest der indogermanischen Sprachen), aber sie sind nicht unbedingt das beste Mittel, um das Wesen einer prozeßhaften Welt zu erfassen. Eine »Tasse« ist eine »Tasse«, solange wir über das Wort selbst sprechen. In diesem Falle kann eine »Tasse« nicht gleichzeitig ein »Behälter« sein. Ein Wort ist entweder, was es ist, oder es ist nicht, was es ist — und kann nicht beides gleichzeitig sein. Aber mit dem Ding selbst verhält es sich ganz anders. Das Ding ist ja gar nicht ein Ding, sondern ein komplexer Prozeß, der sich von einem Augenblick zum anderen verändert. Man kann »es« gleichzeitig mit verschiedenen Namen bezeichnen, ohne Widersprüche zu erzeugen, je nachdem, in welchem Kontext man es wahrnimmt, und je nachdem, auf welcher Abstraktionsebene man es symbolisch erfaßt. In einer solchen Welt kann unsere Sprache nicht einmal mit Gewißheit bestimmen, was »Ursache« und was »Wirkung« ist.
Korzybski war der Meinung, die Naturwissenschaftler hätten dies alles begriffen und würden aus diesem Grund ihre Karten der Welt fast ausschließlich in der Sprache der Mathematik anlegen. Die Mathematik weise, vornehmlich in ihren modernen Formen, eine größere Korrespondenz zur Struktur der Realität auf als die gewöhnliche Sprache und habe infolgedessen die Entwicklung nichteuklidischer, einsteinscher, probabilistischer und indeterministischer Perspektiven möglich gemacht.
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In Science and Sanity nun plädierte Korzybski heftig für eine neue semantische Kartographie, die er als nicht-aristotelisch bezeichnete und die auf das Denken gewöhnlicher Menschen eine ähnliche Wirkung haben sollte wie die Mathematik auf das Denken der Gemeinschaft der Wissenschaftler. Seine nicht-aristotelische Perspektive fordert von uns, daß wir die modernsten Annahmen und Einsichten hinsichtlich der Struktur der Welt verstehen lernen und uns zu eigen machen, z.B.: Das Wort ist nicht das Ding; zwei Ereignisse, die identisch wären, gibt es nicht; niemand kann alles über ein Ereignis sagen; die Dinge unterliegen einem stetigen Wandel usw.
Um so zu handeln, als würden wir diese Ideen verstehen (als »selbstverständlich« werden sie meist nur von denen bezeichnet, die durch ihr Verhalten zeigen, daß sie sie am allerwenigsten verstanden haben), müssen wir eine neue Art und Weise entwickeln, über die Welt zu sprechen, und Korzybski hat eine Reihe von Veränderungen unserer Sprachgewohnheiten vorgeschlagen.
Er empfahl zum Beispiel, den Gebrauch des Verbs sein (to be) soweit wie möglich einzuschränken. Dieses Verb, das in einem Drittel aller englischen Sätze vorkommt, stützt nicht nur die Vorstellung, die Landkarte sei mit dem Territorium identisch, sie leistet auch einer irreführenden Projektion Vorschub. Wenn wir sagen »John ist elegant«, erwecken wir den Eindruck, »Eleganz« sei eine Eigenschaft von John, John besitze diese »Eleganz«. In Wirklichkeit existiert Johns »Eleganz« nur in den Augen des Betrachters. Durch eine Art von grammatikalischer Alchemie ist das wirkliche Subjekt dieses Satzes — die Person, die das Urteil fällt — verschwunden, und John, der in Wirklichkeit Objekt der Beurteilung durch einen anderen ist, erscheint als der eigentliche »Akteur«. Als Hilfe für das richtige Verständnis solcher Sätze - um zu begreifen, daß Eleganz den Menschen nicht anhaftet — schlug Korzybski den häufigen Gebrauch von Formulierungen wie »es erscheint mir...«, »aus meiner Sicht«, »in meinen Augen« usw. vor. Er empfahl auch die häufige Verwendung von Zeitmarkierungen — er sprach hier von »Datieren« (dating). Wenn wir z.B. einen Namen verwenden, sollten wir uns daran gewöhnen, ihn mit einem Datum zu versehen, um uns stets klar zu machen, daß sich Menschen und Dinge im Laufe der Zeit verändern, z.B. S. I. Hayakawa 1951, Oberster Gerichtshof 1975, New York University 1965 usw.
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Damit man nicht vergißt, daß unterschiedliche Dinge den gleichen Namen haben können, empfahl Korzybski die Verwendung einer einfachen Form von Auszeichnung, z.B. römisch-katholisch1 ist nicht römisch-katholisch2, deutsch1 ist nicht deutsch2, usw.
Auf diese Weise verfallen wir weniger leicht in den Fehler, von »allen Professoren« oder »allen Studenten« oder »allen Tassen« zu sprechen. Korzybski empfahl auch, man solle sich daran gewöhnen, die eigenen Behauptungen über die Welt mit stillschweigenden »et ceteras« zu durchsetzen, um sich stets gegenwärtig zu halten, daß wir nicht alles gesagt haben und gar nicht alles sagen können, was gesagt werden könnte. Und er schlug eine Reihe von Methoden vor, wie wir uns selbst daran erinnern können, daß unsere sprachlichen Landkarten von Zeit zu Zeit überprüft und den Veränderungen in der Wirklichkeit angepaßt werden müssen.
Korzybski, das muß hervorgehoben werden, hatte nichts übrig für diejenigen, die die allgemeine Semantik nur auf der sprachlichen Ebene praktizierten. Es sei, so stellte er fest, durchaus möglich, seine Empfehlungen dem eigenen Sprachrepertoire auf eine rein mechanische Weise einzuverleiben, also ohne die eigene Wahrnehmung und Bewertung der Welt zu verändern. Korzybski glaubte aber auch, daß wir durch eine gründliche Beschäftigung mit der allgemeinen Semantik bei gleichzeitiger Ausbildung neuer Sprachgewohnheiten unser »neuro-semantisches« System umerziehen und auf diese Weise soziale Konflikte und eine Vielzahl psychischer Störungen eindämmen könnten. Kurzum, er hoffte, den Weg zu einer humanen und wissenschaftlichen Methode für das gewöhnliche Sprechen gewiesen zu haben.
Die Jahre zwischen 1940 und 1960 waren die Zeit von Korzybskis größter Wirkung, die in erheblichem Maße dem großen übersetzerischen Talent eines seiner Schüler, S. I. Hayakawa 1941, zu verdanken ist. Hayakawas popularisierendes Buch Language in Thought and Action (dt. Semantik. Sprache im Denken und Handeln) und seine fünfundzwanzigjährige Tätigkeit als Redakteur von ETC, der Zeitschrift für allgemeine Semantik, veranlaßten Hunderttausende von Menschen, sich mit den Ideen von Korzybski auseinanderzusetzen.
Außerdem waren bedeutende Gelehrte, Wissenschaftler und Lehrer aus den verschiedensten Disziplinen der Ansicht, Korzybskis Gedankengänge seien einleuchtend und wichtig, wenn auch nicht über jede Kritik erhaben.
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Zu ihnen gehörten Wendell Johnson, Irving Lee, J. Samuel Bois, Elwood Murray, Margaret Mead, Ashley Montagu, Aldous Huxley, F.S.C. Northrop, Russell Meyers, Clyde Kluckhohn und Stuart Chase. In dieser Zeit boten viele Schulen und Universitäten Kurse in allgemeiner Semantik an; gegen Ende der fünfziger Jahre war dies an mehr als hundert Colleges der Fall, auch an der New York University. Das genaue Datum habe ich nicht ermitteln können, aber es gibt überzeugende Hinweise darauf, daß die Pädagogische Fakultät der New York University in den späten vierziger Jahren ein Seminar förderte, das von Korzybski selbst geleitet wurde. Und in seinem Buch The Power of Words erklärt Stuart Chase, ein Kurs unter dem Titel »Sprache und Verhalten« an der Pädagogischen Fakultät der New York University sei einer der ersten Kurse in allgemeiner Semantik gewesen, der an einer größeren Universität angeboten wurde. Unter dem Namen »Sprache und menschliches Verhalten« ist dieser Kurs bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.
Wie ich schon zu Beginn gesagt habe, wird Korzybskis Werk, zumindest in seiner systematischen Gestalt, von akademischen Sprachwissenschaftlern, Semantikern, Psychologen und Anthropologen heutzutage kaum beachtet. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber gewiß hat dazu auch beigetragen, daß Korzybski, indem er alles Wissen seinem Kompetenzbereich einverleibte, mehr aufgriff, als er verarbeiten konnte. Science and Sanity ist voll von anfechtbaren Behauptungen und nicht wenigen, mitunter außerordentlich naiven Irrtümern. Das hat viele Spezialisten abgeschreckt, die sich durch Genauigkeit und Behutsamkeit mehr beeindrucken lassen als durch große Aus- und Überblicke.
Hinzu kommt, daß sich Korzybski in der Frage, was für eine Art von Unterfangen die allgemeine Semantik eigentlich sei, viel weniger klar geäußert hat, als er selbst glaubte. Handelt es sich um eine neue Wissenschaft? Um ein pädagogisches Programm? Um eine therapeutische Strategie?
Wie die Psychoanalyse paßt sich auch die allgemeine Semantik allzu leicht den Vorlieben und Idiosynkrasien derer an, die sie praktizieren, und einen allgemeinen Konsensus darüber, welcher Weg einzuschlagen sei, hat es nie gegeben. Außerdem fügt sich die allgemeine Semantik nicht ohne weiteres in die Landschaft der herkömmlichen akademischen Fächereinteilung.
Ihre Perspektive ist zu breit angelegt, als daß sie sich einer einzigen Disziplin zuordnen ließe, denn zu ihr gehören ein Teil Philosophie, ein Teil Epistemologie, ein Teil Psychologie, ein Teil Linguistik und verschiedene andere »Teile«, die zusammengenommen den gesamten Fächerkanon der Universität ausmachen. In einer Welt der akademischen Spezialisten wirkt die allgemeine Semantik allzu diffus, zu sehr von der Norm abweichend, zu holistisch, als daß sie sich in den Stil des modernen akademischen Denkens fügen würde. Mit einem Wort, sich mit ihr zu beschäftigen oder sie zu lehren, bringt auf dem Weg zu Amt und Würden nicht weiter.
Doch obwohl Korzybskis Name im Augenblick ziemlich in den Hintergrund getreten ist, wäre es nicht richtig zu sagen, daß von ihm keine Wirkung mehr ausgehe. Manches von seiner Terminologie und viele seiner Einsichten haben Eingang in Fachgebiete wie Semiotik, Psycholinguistik, Erziehungspsychologie, Medienforschung und natürlich Semantik gefunden. Auch in der nicht-akademischen Welt — in Wirtschaft, Politik, Sozialarbeit und Psychotherapie — bedienen sich viele Menschen mit großem Erfolg der Methoden Korzybskis und scheuen sich keineswegs anzuerkennen, was sie ihm zu verdanken haben. Aber darüber hinaus läßt sich nicht bestreiten, daß zusammen mit Gestalten wie Charles Sanders Peirce, William James, Ludwig Wittgenstein und I.A. Richards auch Alfred Korzybski dazu beigetragen hat, unseren Sinn dafür zu schärfen, wie die Sprache uns zu dem macht, was wir sind, und wie sie uns zugleich daran hindert zu werden, was wir sein sollten, aber noch nicht sind.
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