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14. Alfred Korzybski

1988 von Neil Postman

 

Im Jahre 1976 wurde ich Redaktionsleiter von <ETC; The Journal of General Semantics>. Zehn Jahre lang war ich in dieser Funktion tätig, und mit jedem Jahr wuchs mein Respekt für Alfred Korzybski. Im gleichen Zuge schrumpfte mein Respekt gegenüber jenen Universitätsleuten, die sich selbst und ihren Studenten die Bekanntschaft mit seinem Werk vorenthalten. Ich möchte hier meine Hochachtung für einen einzigartigen Fährtensucher bekunden und gleichzeitig meine Geringschätzung für jene Spracherzieher zum Ausdruck bringen, die ihre Studenten mit irgendwelchen Belanglosigkeiten vollstopfen und glauben, ein William Satire oder ein Edwin Newman hätte irgend etwas Wichtiges über die Sprache zu sagen.

 

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Weil er keine Zeit hatte, jedes neue Buch auf seinem Fachgebiet zu lesen, bediente sich der große polnische Anthropologe Bronislaw Malinowski einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Methode, um zu entscheiden, welche Bücher seine Aufmerksamkeit verdienten: Sobald er ein neues Buch erhielt, blätterte er das Register durch und sah nach, ob sein Name darin vorkam und wie oft. Je mehr »Malinowski«, desto verlockender war das Buch. Kein »Malinowski« — und er zweifelte daran, daß sich dieses Buch überhaupt mit der Anthropologie befaßte.

Wenn man die Rolle berücksichtigt, die Malinowski für die Entwicklung seines Faches spielte, so wird man hierin ein Zeichen weniger von Egoismus als vielmehr von Realismus sehen, und es kommen einem noch ungefähr ein halbes Dutzend Gelehrte des 20. Jahrhunderts in den Sinn, die sich, wenn sie noch lebten, mit Fug und Recht der gleichen Methode bedienen könnten: Freud, George Herbert Mead, Bertrand Russell, Edward Sapir, John Dewey, Einstein — um nur jene zu nennen, die mir spontan einfallen. Ihre Namen dominieren in den Registern der Bücher über ihre Fachgebiete, und zwar mit Recht.

 

Auch der Name von Malinowskis Landsmann Alfred Korzybski, dem Begründer der allgemeinen Semantik, sollte auf dieser Liste stehen, aber das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Um dies zu belegen, habe ich einmal die Register von fünfzig neueren Büchern durchgesehen, die sich angeblich mit dem Thema Sprache und Bedeutung befassen. Mit Malinowskis Methode würde Korzybski unter ihnen nur vier finden, die für ihn lesenswert wären. Die anderen, so würde er vielleicht sagen, werden sich mit Sprache und Bedeutung wohl kaum beschäftigen. 

Dieser Zustand — diese Vernachlässigung des Werkes von Korzybski, der einer der außergewöhnlichen Synthetiker unseres Jahrhunderts gewesen ist — erklärt teilweise den Mangel an Reichweite und Tiefe der Semantik, wie sie heute betrieben wird, und er erklärt fast vollständig ihren Mangel an Nützlichkeit.

Hiergegen muß etwas unternommen werden, und deshalb hoffe ich, daß ich Ihre Aufmerksamkeit lange genug fesseln kann, um Ihnen zu verdeutlichen, welchen originellen Beitrag Korzybski zum Verständnis des symbolischen Prozesses geleistet hat, vor allem in dem wegweisenden Buch <Science and Sanity: An Introduction to Non-aristotelian Systems and General Semantics>.

 

Abgesehen davon, daß er 1879 in Polen geboren wurde, weiß man über die frühen Jahre Korzybskis nicht viel. Er behauptete, königlichen Geblüts zu sein, und bezeichnete sich als Graf Alfred Korzybski, was ihn den Universitätsleuten nicht sympathischer machte — einige von ihnen sahen darin sogar einen Beweis für die Fragwürdigkeit seiner Ideen. Dennoch, nach allem, was man darüber hört, wirkte Korzybskis ganzes Auftreten wirklich ausgesprochen souverän, ein Eindruck, der noch erheblich verstärkt wurde durch seinen marmorglatten Kahlkopf, seinen Akzent und etwas Hohnlächelnd-Herrisches in seiner Miene. Den Erinnerungen derer zufolge, die ihn kannten, ähnelte seine äußere Erscheinung der des alten Erich von Stroheim. Und vervollständigt wurde dieses Bild dadurch, daß auch Korzybski stark hinkte — Folge einer Verwundung, die er als Artillerie­offizier im Ersten Weltkrieg erlitten hatte. 

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Seine Verwundung war nicht das einzige Vermächtnis des Weltkriegs. Nachdem er Zeuge des Blutbads und der Schrecken dieses Krieges geworden war, ließ ihn eine Frage von einzigartiger Wichtigkeit nicht mehr los. 

Korzybski, der Mathematik und Ingenieurwesen studiert hatte, fragte sich, warum die Natur­wissenschaft­ler beim Ergründen der Naturgeheimnisse so erstaunliche Erfolge vorweisen konnten, während gleichzeitig die Gemeinschaft der Nicht-Wissenschaftler bei ihren Bemühungen, psychologische, soziale und politische Probleme zu lösen, die entsetzlichsten Fehlschläge erlebte. 

Fast täglich signalisieren die Naturwissenschaftler ihren Triumph, indem sie neue Theorien, neue Entdeckungen, neue Pfade zum Wissen verkünden. Wir anderen hingegen signalisieren nur unser Scheitern, indem wir gegen uns selbst und andere Krieg führen. 

Eine erste Antwort auf dieses Rätsel gab Korzybski in seinem 1921 erschienenen Buch <Manhood of Humanity: The Science and Art o f Human Engineering>. 1926 folgte dann <Time-Binding: The General Theory> und 1933 schließlich sein »magnum Opus« <Science and Sanity>.

Bei der Formulierung seiner Antwort war Korzybski stets auf die praktische Anwendbarkeit seiner Ideen bedacht. Er verstand sich als Erzieher, der der Menschheit sowohl eine Theorie als auch eine Methode anbot, mit der sie sich aus der nicht zu übersehenden und dennoch in immer neue Katastrophen mündenden Unwissenheit lösen konnte, deren Folgen in allen historischen Formen von menschlicher Erniedrigung erkennbar wurden. 

Auch dies wurde ihm von vielen Akademikern übelgenommen, die ihm vorwarfen, er sei hochtrabend und überheblich. Hätte sich Korzybski mit kleineren Gedanken begnügt, dann würde sein Name in gelehrten Namenregistern heute vielleicht häufiger auftauchen.

Die Universitätsleute hatten natürlich recht — aus ihrer Sicht. Korzybskis Denken war hochtrabend, insofern er alle Gebiete des Wissens in den Kreis seiner Interessen einschloß. Und er hielt es, wie man hinzufügen darf, für unter seiner Würde, wenn man ihn — und sei es lobend — als Semantiker bezeichnete. Die Semantik, so hat er des öfteren gesagt, untersucht die Bedeutung von Wörtern. Wer sich mit Semantik beschäftigt, braucht von Biologie, Chemie, Neurologie, Psychologie, Anthropologie und Physik nichts zu wissen. Ganz anders hingegen der, der Neurolinguistik oder Neurosemantik oder Allgemeine Semantik, wie er seine Arbeit schließlich nannte, betreibt.

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Korzybski begann seine Suche nach den Wurzeln menschlicher Leistung und menschlichen Versagens damit, daß er auf einen entscheidenden funktionellen Unterschied zwischen den menschlichen und anderen Lebensformen hinwies. Wir Menschen sind in Korzybskis Worten »Zeit-Binder«, während die Pflanzen »Chemie-Binder« und die Tiere »Raum-Binder« sind. Chemie-Bindung besteht in dem Vermögen, Sonnenlicht in organisch-chemische Energie zu verwandeln; Raum-Bindung in der Fähigkeit, sich von Ort zu Ort zu bewegen und eine materielle Umwelt zu beherrschen. 

Auch die Menschen verfügen über diese Fähigkeiten, aber sie allein besitzen zusätzlich die Fähigkeit, ihr Erleben und ihre Erfahrung durch die Zeit zu transportieren. Als Zeit-Binder können wir Wissen aus der Vergangenheit ansammeln und das, was wir wissen, an die Zukunft weitergeben. Science-fiction-Autoren brauchen ihre Erfindungsgabe bei der Suche nach interessanten Maschinen zur Überwindung der Zeitgrenzen nicht anzustrengen: wir sind die Zeit-Maschinen des Universums. 

Das wichtigste Mittel, mit dem es uns gelingt, Zeit zu binden, ist natürlich das Symbol. Aber unsere Fähigkeit, Symbole zu schaffen und mit ihnen umzugehen, beruht auf einem anderen Vorgang, den Korzybski »Abstrahieren« nennt. Abstrahieren ist das ständige, aktive Auswählen, Ausscheiden und Organisieren von Einzelheiten der Wirklichkeit, dergestalt, daß wir die Welt als strukturiert und kohärent erleben. 

Korzybski war mit Heraklit der Ansicht, daß die Welt in einem ständigen Wandel begriffen sei und daß zwei Ereignisse nie und nimmer vollständig gleich seien. Stabilität verleihen wir unserer Welt allein durch die Fähigkeit, sie neu zu schaffen, wobei wir die Unterschiede übersehen und uns an die Ähnlichkeiten halten — auch wenn wir wissen, daß wir nicht zweimal in »denselben« Fluß steigen können, erlaubt uns das Abstrahieren, so zu tun, als könnten wir es.

Eines der aufschlußreichsten und wichtigsten Ergebnisse von Korzybskis Arbeit war ein Modell des Abstraktions­prozesses. 

Er konstruierte tatsächlich ein sehr merkwürdig aussehendes Mobile, das sogenannte »Strukturelle Differential«, das veran­schaulichen sollte, wie unsere Abstraktions­tätigkeit von niedrigeren zu höheren Stufen voranschreitet. Wir abstrahieren auf der neurologischen Ebene, auf der physiologischen Ebene, auf der Wahrnehmungsebene und auf der Sprachebene; alle Systeme, durch die wir in eine Interaktion mit der Welt treten, sind daran beteiligt, Daten aus der Welt auszuwählen, zu organisieren und zu verallgemeinern.

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Eine Abstraktion, um es einfach zu sagen, ist eine Art Zusammenfassung der Welt, ein verallgemeinertes Bild ihrer Struktur.

Korzybski hätte diesen Vorgang vielleicht so erklärt: 

Nehmen wir an, wir haben es mit dem Phänomen zu tun, das wir »Tasse« nennen. Zunächst einmal müssen wir verstehen, daß eine »Tasse« kein Ding ist, sondern ein Ereignis; die moderne Physik sagt uns, daß eine Tasse aus Milliarden von Elektronen besteht, die sich in ständiger Bewegung befinden und einem ständigen Wandel unterworfen sind. Auch wenn von dieser Aktivität nichts für uns wahrnehmbar ist, sollten wir uns ihr Vorhandensein doch klar machen, denn dann verstehen wir auch, daß die Welt nicht so ist, wie wir sie sehen. Was wir sehen, ist eine Zusammen­fassung — eine Abstraktion, wenn man so will — von elektronischer Aktivität. Aber auch das, was wir sehen können, ist nicht das, was wir tatsächlich sehen.

Niemand hat je eine ganze Tasse gesehen — alles auf einmal, innerhalb der Raum-Zeit. Wir sehen nur Teile von Ganzheiten. Aber im allgemeinen sehen wir genug, um das Ganze rekonstruieren zu können, so daß wir so tun können, als wüßten wir, womit wir umgehen. Manchmal führt uns eine solche Rekonstruktion in die Irre, zum Beispiel, wenn wir eine »Tasse« heben, um Kaffee zu trinken, und feststellen, daß er sich über unseren Schoß statt über unsere Zunge ergießt. 

Aber meistens funktionieren unsere Annahmen hinsichtlich der »Tasse«, denn bei unseren Einschätzungen der Welt steht uns eine Hilfe von unschätzbarem Wert zur Verfügung: Unsere Sprache nämlich hat uns mit Namen für die Ereignisse, mit denen wir es zu tun haben, ausgestattet. Ein solcher Name sagt uns, was wir zu erwarten haben und wie wir uns auf das Handeln vorbereiten können.

Das Benennen von Dingen ist natürlich eine Abstraktion auf sehr hohem Niveau (das Tieren überhaupt nicht zugänglich ist), und ihr kommt ganz besondere Wichtigkeit zu. Denn indem wir ein Ereignis benennen und es als ein »Ding« einordnen, schaffen wir eine anschauliche und mehr oder minder dauerhafte Landkarte der Welt. Eine höchst merkwürdige Karte allerdings. Das Wort »Tasse« zum Beispiel bezeichnet nichts, was es in der Welt wirklich gibt. Es ist ein Begriff, eine Zusammenfassung von Millionen einzelner Dinge, die ein ähnliches Aussehen und eine ähnliche Funktion haben.

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Das Wort »Geschirr« ist eine Abstraktion auf noch höherer Ebene, denn es umfaßt all die Dinge, die wir normalerweise als Tassen bezeichnen, aber auch Millionen von Dingen, die in nichts einer Tasse gleichen und nur eine im weitesten Sinne ähnliche Funktion haben.

Wichtig bei unserer kartographischen Erfassung der Welt durch die Sprache ist nun der Umstand, daß die von uns benutzten Symbole, ob »Patriotismus« und »Liebe« oder »Tasse« und »Teller«, stets ziemlich weit von der Realität der Welt selbst entfernt sind. Obwohl diese Symbole Teil unserer selbst werden — Korzybski glaubte, daß sie sich in unserem Nerven- und Wahrnehmungssystem verankern —, dürfen wir sie niemals für ganz und gar selbstverständlich halten. So meinte Korzybski einmal: »Wenn wir von etwas sagen, es sei das und das — dann ist es das doch nicht.«

So gelangen wir zu dem Schluß, daß Menschen in zwei Welten leben — in der Welt der Ereignisse und Dinge und in der Welt der Wörter über die Ereignisse und die Dinge. Wenn wir die Beziehung zwischen diesen beiden Welten betrachten, müssen wir im Auge behalten, daß die Sprache viel mehr tut, als Begriffe über Ereignisse und Dinge in der Welt zu konstruieren; sie sagt uns auch, welche Arten von Begriffen wir konstruieren sollen. Denn nicht für alles und jedes, das in der Welt vorkommt, haben wir einen Namen. Die verschiedenen Sprachen unterscheiden sich nicht nur in ihren Namen für die Dinge, sondern auch darin, welchen Dingen sie überhaupt Namen geben. Jede Sprache, so hat Edward Sapir gesagt, konstruiert die Realität anders als alle anderen Sprachen.

Unter allgemeiner Semantik verstand Korzybski also dies:  

Sie untersucht die Beziehung zwischen der Welt der Wörter und der Welt der Nicht-Wörter. Sie untersucht das Territorium, das wir Realität nennen, und sie untersucht, wie wir durch Abstraktion und Symbolisierung eine Landkarte von diesem Territorium anlegen. 

Und in der Auseinandersetzung mit diesem Problem glaubte Korzybski die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, warum Naturwissenschaftler bei der Lösung von Problemen so viel erfolgreicher sind als wir anderen. Naturwissenschaftlern ist der Abstraktionsvorgang in der Regel eher bewußt; sie erkennen in der Regel die Verzerrungen in ihren sprachlichen Landkarten deutlicher; sie sind flexibler, wenn es darum geht, ihre symbolischen Landkarten zu verändern, um sie der Welt anzugleichen.

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In Science and Sanity legte Korzybski eine detaillierte Analyse der nach seiner Ansicht wichtigsten Unterschiede zwischen dem Territorium der Wirklichkeit und unseren sprachlichen Karten davon vor, namentlich der Karte, die wir das Englische nennen. Das Territorium ist zum Beispiel in ständiger Veränderung begriffen, besonders innerhalb der Zeit; unsere Wörter aber sind eher statisch. Während sich die Realitäten verändern, bleiben unsere Beschreibungen dieser Realitäten unverändert. Auch ist das Territorium keine Welt des »Entweder-Oder« oder der »Dinghaftigkeit«. Doch unsere Sprache schildert es als eine solche. Das Territorium zeigt sich nie in all seinen Einzelheiten, wohingegen die Sprache die Illusion erzeugt, unsere Beschreibungen seien vollständig. Jedes Ding in der Welt ist einzigartig, aber unsere Sprache nötigt uns zu kategorialem Denken.

 

Mit anderen Worten, die Welt ist keine aristotelische Welt, in der die Dinge entweder a oder nicht a sind und in der der Syllogismus regiert. Die »Denkgesetze« des Aristoteles sind Regeln für einen klaren, widerspruchsfreien Gebrauch der Sprache (zumindest der indogermanischen Sprachen), aber sie sind nicht unbedingt das beste Mittel, um das Wesen einer prozeßhaften Welt zu erfassen. Eine »Tasse« ist eine »Tasse«, solange wir über das Wort selbst sprechen. In diesem Falle kann eine »Tasse« nicht gleichzeitig ein »Behälter« sein. 

Ein Wort ist entweder, was es ist, oder es ist nicht, was es ist — und kann nicht beides gleichzeitig sein. Aber mit dem Ding selbst verhält es sich ganz anders. Das Ding ist ja gar nicht ein Ding, sondern ein komplexer Prozeß, der sich von einem Augenblick zum anderen verändert. Man kann »es« gleichzeitig mit verschiedenen Namen bezeichnen, ohne Widersprüche zu erzeugen, je nachdem, in welchem Kontext man es wahrnimmt, und je nachdem, auf welcher Abstraktions­ebene man es symbolisch erfaßt. In einer solchen Welt kann unsere Sprache nicht einmal mit Gewißheit bestimmen, was »Ursache« und was »Wirkung« ist.

Korzybski war der Meinung, die Naturwissenschaftler hätten dies alles begriffen und würden aus diesem Grund ihre Karten der Welt fast ausschließlich in der Sprache der Mathematik anlegen. Die Mathematik weise, vornehmlich in ihren modernen Formen, eine größere Korrespondenz zur Struktur der Realität auf als die gewöhnliche Sprache und habe infolgedessen die Entwicklung nichteuklidischer, einsteinscher, probabilistischer und indeterministischer Perspektiven möglich gemacht.

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In <Science and Sanity> nun plädierte Korzybski heftig für eine neue semantische Kartographie, die er als nicht-aristotelisch bezeichnete und die auf das Denken gewöhnlicher Menschen eine ähnliche Wirkung haben sollte wie die Mathematik auf das Denken der Gemeinschaft der Wissenschaftler. Seine nicht-aristotelische Perspektive fordert von uns, daß wir die modernsten Annahmen und Einsichten hinsichtlich der Struktur der Welt verstehen lernen und uns zu eigen machen, z.B.: Das Wort ist nicht das Ding; zwei Ereignisse, die identisch wären, gibt es nicht; niemand kann alles über ein Ereignis sagen; die Dinge unterliegen einem stetigen Wandel usw.

Um so zu handeln, als würden wir diese Ideen verstehen (als »selbstverständlich« werden sie meist nur von denen bezeichnet, die durch ihr Verhalten zeigen, daß sie sie am allerwenigsten verstanden haben), müssen wir eine neue Art und Weise entwickeln, über die Welt zu sprechen, und Korzybski hat eine Reihe von Veränderungen unserer Sprachgewohnheiten vorgeschlagen.

Er empfahl zum Beispiel, den Gebrauch des Verbs sein (to be) soweit wie möglich einzuschränken. Dieses Verb, das in einem Drittel aller englischen Sätze vorkommt, stützt nicht nur die Vorstellung, die Landkarte sei mit dem Territorium identisch, sie leistet auch einer irreführenden Projektion Vorschub. 

Wenn wir sagen »John ist elegant«, erwecken wir den Eindruck, »Eleganz« sei eine Eigenschaft von John, John besitze diese »Eleganz«. In Wirklichkeit existiert Johns »Eleganz« nur in den Augen des Betrachters. Durch eine Art von grammatikalischer Alchemie ist das wirkliche Subjekt dieses Satzes — die Person, die das Urteil fällt — verschwunden, und John, der in Wirklichkeit Objekt der Beurteilung durch einen anderen ist, erscheint als der eigentliche »Akteur«. 

Als Hilfe für das richtige Verständnis solcher Sätze — um zu begreifen, daß Eleganz den Menschen nicht anhaftet — schlug Korzybski den häufigen Gebrauch von Formulierungen wie »es erscheint mir...«, »aus meiner Sicht«, »in meinen Augen« usw. vor. Er empfahl auch die häufige Verwendung von Zeitmarkierungen — er sprach hier von »Datieren« (dating). Wenn wir z.B. einen Namen verwenden, sollten wir uns daran gewöhnen, ihn mit einem Datum zu versehen, um uns stets klar zu machen, daß sich Menschen und Dinge im Laufe der Zeit verändern, z.B. S. I. Hayakawa 1951, Oberster Gerichtshof 1975, New York University 1965 usw.

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Damit man nicht vergißt, daß unterschiedliche Dinge den gleichen Namen haben können, empfahl Korzybski die Verwendung einer einfachen Form von Auszeichnung, z.B. römisch-katholisch1 ist nicht römisch-katholisch2, deutsch1 ist nicht deutsch2, usw. Auf diese Weise verfallen wir weniger leicht in den Fehler, von »allen Professoren« oder »allen Studenten« oder »allen Tassen« zu sprechen.

Korzybski empfahl auch, man solle sich daran gewöhnen, die eigenen Behauptungen über die Welt mit stillschweigenden »et ceteras« zu durchsetzen, um sich stets gegenwärtig zu halten, daß wir nicht alles gesagt haben und gar nicht alles sagen können, was gesagt werden könnte. Und er schlug eine Reihe von Methoden vor, wie wir uns selbst daran erinnern können, daß unsere sprachlichen Landkarten von Zeit zu Zeit überprüft und den Veränderungen in der Wirklichkeit angepaßt werden müssen.

Korzybski — das muß hervorgehoben werden — hatte nichts übrig für diejenigen, die die allgemeine Semantik nur auf der sprachlichen Ebene praktizierten. Es sei, so stellte er fest, durchaus möglich, seine Empfehlungen dem eigenen Sprachrepertoire auf eine rein mechanische Weise einzuverleiben, also ohne die eigene Wahrnehmung und Bewertung der Welt zu verändern. 

Korzybski glaubte aber auch, daß wir durch eine gründliche Beschäftigung mit der allgemeinen Semantik bei gleichzeitiger Ausbildung neuer Sprachgewohnheiten unser »neuro-semantisches« System umerziehen und auf diese Weise soziale Konflikte und eine Vielzahl psychischer Störungen eindämmen könnten. 

Kurzum, er hoffte, den Weg zu einer humanen und wissenschaftlichen Methode für das gewöhnliche Sprechen gewiesen zu haben.

 

Die Jahre zwischen 1940 und 1960 waren die Zeit von Korzybskis größter Wirkung, die in erheblichem Maße dem großen übersetzerischen Talent eines seiner Schüler, S. Hayakawa, zu verdanken ist. 

Hayakawas popularisierendes Buch <Language in Thought and Action> (deutsch: <Semantik; Sprache im Denken und Handeln>) und seine fünfund­zwanzigjährige Tätigkeit als Redakteur von <ETC>, der Zeitschrift für allgemeine Semantik, veranlaßten Hunderttausende von Menschen, sich mit den Ideen von Korzybski auseinanderzusetzen. 

Außerdem waren bedeutende Gelehrte, Wissenschaftler und Lehrer aus den verschiedensten Disziplinen der Ansicht, Korzybskis Gedankengänge seien einleuchtend und wichtig, wenn auch nicht über jede Kritik erhaben.

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Zu ihnen gehörten Wendell Johnson, Irving Lee, J. Samuel Bois, Elwood Murray, Margaret Mead, Ashley Montagu, Aldous Huxley, F.S.C. Northrop, Russell Meyers, Clyde Kluckhohn und Stuart Chase. In dieser Zeit boten viele Schulen und Universitäten Kurse in allgemeiner Semantik an; gegen Ende der fünfziger Jahre war dies an mehr als hundert Colleges der Fall, auch an der New York University. 

Das genaue Datum habe ich nicht ermitteln können, aber es gibt überzeugende Hinweise darauf, daß die Pädagogische Fakultät der New York University in den späten vierziger Jahren ein Seminar förderte, das von Korzybski selbst geleitet wurde. Und in seinem Buch <The Power of Words> erklärt Stuart Chase, ein Kurs unter dem Titel »Sprache und Verhalten« an der Pädagogischen Fakultät der New York University sei einer der ersten Kurse in allgemeiner Semantik gewesen, der an einer größeren Universität angeboten wurde. Unter dem Namen »Sprache und menschliches Verhalten« ist dieser Kurs bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.

 

Wie ich schon zu Beginn gesagt habe, wird Korzybskis Werk, zumindest in seiner systematischen Gestalt, von akademischen Sprachwissen­schaftlern, Semantikern, Psychologen und Anthropologen heutzutage kaum beachtet. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber gewiß hat dazu auch beigetragen, daß Korzybski, indem er alles Wissen seinem Kompetenzbereich einverleibte, mehr aufgriff, als er verarbeiten konnte. <Science and Sanity> ist voll von anfechtbaren Behauptungen und nicht wenigen, mitunter außerordentlich naiven Irrtümern. Das hat viele Spezialisten abgeschreckt, die sich durch Genauigkeit und Behutsamkeit mehr beeindrucken lassen als durch große Aus- und Überblicke.

Hinzu kommt, daß sich Korzybski in der Frage, was für eine Art von Unterfangen die allgemeine Semantik eigentlich sei, viel weniger klar geäußert hat, als er selbst glaubte. Handelt es sich um eine neue Wissenschaft? Um ein pädagogisches Programm? Um eine therapeutische Strategie?

 

Wie die Psychoanalyse paßt sich auch die allgemeine Semantik allzu leicht den Vorlieben und Idiosynkrasien derer an, die sie praktizieren, und einen allgemeinen Konsensus darüber, welcher Weg einzuschlagen sei, hat es nie gegeben. Außerdem fügt sich die allgemeine Semantik nicht ohne weiteres in die Landschaft der herkömmlichen akademischen Fächereinteilung.

Ihre Perspektive ist zu breit angelegt, als daß sie sich einer einzigen Disziplin zuordnen ließe, denn zu ihr gehören ein Teil Philosophie, ein Teil Epistemologie, ein Teil Psychologie, ein Teil Linguistik und verschiedene andere »Teile«, die zusammengenommen den gesamten Fächerkanon der Universität ausmachen. In einer Welt der akademischen Spezialisten wirkt die allgemeine Semantik allzu diffus, zu sehr von der Norm abweichend, zu holistisch, als daß sie sich in den Stil des modernen akademischen Denkens fügen würde. Mit einem Wort, sich mit ihr zu beschäftigen oder sie zu lehren, bringt auf dem Weg zu Amt und Würden nicht weiter.

Doch obwohl Korzybskis Name im Augenblick ziemlich in den Hintergrund getreten ist, wäre es nicht richtig zu sagen, daß von ihm keine Wirkung mehr ausgehe. Manches von seiner Terminologie und viele seiner Einsichten haben Eingang in Fachgebiete wie Semiotik, Psycholinguistik, Erziehungspsychologie, Medienforschung und natürlich Semantik gefunden. Auch in der nicht-akademischen Welt — in Wirtschaft, Politik, Sozialarbeit und Psychotherapie — bedienen sich viele Menschen mit großem Erfolg der Methoden Korzybskis und scheuen sich keineswegs anzuerkennen, was sie ihm zu verdanken haben.

Aber darüber hinaus läßt sich nicht bestreiten, daß zusammen mit Gestalten wie Ch. Peirce, William James, Ludwig Wittgenstein und I.A. Richards auch Alfred Korzybski dazu beigetragen hat, unseren Sinn dafür zu schärfen, wie die Sprache uns zu dem macht, was wir sind, und wie sie uns zugleich daran hindert zu werden, was wir sein sollten, aber noch nicht sind.

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