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15  Meine Ansprache zur Graduierungsfeier  

 

1988 von Neil Postman

 

Bisher habe ich ungefähr zwei Dutzend Ansprachen anläßlich von akademischen Abschlußfeiern über mich ergehen lassen und mir dabei immer wieder die Frage gestellt, warum sie oft so schlecht sind. Ein Grund ist wohl der, daß die Redner nach ihrem Rang innerhalb irgendeines Faches ausgewählt werden, und nicht weil sie gut sprechen oder gut schreiben können. Ein anderer Grund besteht darin, daß die Zuhörer die ganze Zeremonie möglichst schnell hinter sich bringen möchten, um sich dann mit um so größerem Ernst dem fröhlichen Teil des Festes zuzuwenden. Deshalb wird jede Ansprache, die mehr als, sagen wir, fünfzehn Minuten in Anspruch nimmt, als langatmig empfunden, sofern sie nicht überhaupt ins Leere geht.

Daneben gibt es auch andere Gründe, zum Beispiel die Schwierigkeit, überhaupt etwas Inspirierendes zu sagen, ohne banal zu werden. Mit dem folgenden Text habe auch ich mich in diesem Genre versucht, und zwar nicht bloß, um herauszufinden, ob ich mit der Form zurechtkomme. Es ist vielmehr genau das, was ich jungen Leuten gern sagen würde, wenn sie mir für ein paar Minuten ihre Aufmerksamkeit schenkten.

Falls Ihnen meine Ansprache gefällt, gebe ich Ihnen hiermit die Erlaubnis, sie ohne meine Zustimmung und ohne weitere Quellenangabe zu benutzen, wenn Sie einmal in die Lage kommen, eine solche Ansprache halten zu müssen.

 

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Sehr geehrte Angehörige der Fakultät, sehr geehrte Eltern, Gäste und Graduierte, fürchten Sie sich nicht! Ich weiß wohl, daß Sie an einem so aufregenden Tag von einem Redner zuerst und vor allem Kürze verlangen. Ich werde Sie in dieser Hinsicht nicht enttäuschen. Meine Ansprache besteht aus genau dreiundachtzig Sätzen, von denen Sie vier soeben schon gehört haben.

Es wird ungefähr zwölf Minuten dauern, sie alle vorzutragen, und ich muß Ihnen sagen, daß es mir nicht leichtgefallen ist, mich so knapp zu fassen, denn ich möchte zu Ihnen über das komplexe Thema Ihrer Vorfahren sprechen. Selbstverständlich nicht über Ihre biologischen Vorfahren, von denen ich nichts weiß, sondern über Ihre geistigen Vorfahren, über die ich ein wenig weiß. Genauer gesagt, ich möchte zu Ihnen über zwei Gruppen von Menschen sprechen, die vor vielen Jahren lebten und deren Einfluß bis heute spürbar ist. Sie vertraten einander entgegengesetzte Wertvorstellungen und Traditionen und waren deshalb deutlich voneinander unterschieden. Ich glaube, es ist angebracht, wenn ich Sie am heutigen Tage an diese beiden Gruppen erinnere, denn früher oder später müssen Sie sich in Ihrer geistigen Haltung der einen oder der anderen anschließen.

Die erste Gruppe lebte vor zweitausendfünfhundert Jahren in einer Gegend, die wir heute Griechenland nennen, in einer Stadt, die sie Athen nannten. Über ihre Ursprünge wissen wir weniger, als uns lieb ist. Aber über ihre Errungenschaften wissen wir eine ganze Menge. Sie waren beispielsweise das erste Volk, das ein vollständiges Alphabet entwickelte, und daher auch das erste Volk der Erde, das des Lesens und Schreibens kundig war. Sie erfanden die Idee der Demokratie und praktizierten sie mit einer Entschiedenheit, die uns beschämt. Sie erfanden das, was wir Philosophie nennen. Sie erfanden das, was wir Logik und Rhetorik nennen. 

Und fast hätten sie auch das erfunden, was wir Naturwissenschaft nennen, denn einer von ihnen — mit Namen Demokrit — entwickelte die atomistische Theorie der Materie zweitausenddreihundert Jahre, bevor die modernen Wissenschaftler darauf kamen. Sie schufen und sangen epische Gedichte von unübertroffener Schönheit und Weisheit. Und sie schrieben und spielten Theaterstücke, die noch fast dreitausend Jahre nachher die Kraft besitzen, ein Publikum lachen oder weinen zu machen. Sie erfanden sogar das, was wir heute die Olympischen Spiele nennen, und unter ihren Wertvorstellungen stand keine höher als die, daß es gelte, in allen Dingen nach Vortrefflichkeit zu streben. Sie glaubten an die Vernunft. Sie glaubten an die Schönheit. Sie glaubten an die Mäßigung. Und sie erfanden nicht nur das Wort »Ökologie«, sondern auch die Idee, die wir heute mit diesem Wort verbinden.

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Vor ungefähr zweitausend Jahren verlor ihre Kultur an Lebenskraft, und nach und nach verschwanden diese Leute. Nicht aber das, was sie geschaffen hatten. Ihre Vorstellungskraft, ihre Kunst, ihre Politik, ihre Literatur und ihre Sprache breiteten sich über die ganze Welt aus, so daß es heutzutage kaum möglich ist, über irgendein Thema zu sprechen, ohne zu wiederholen, was vor zweitausendfünfhundert Jahren irgendein Athener dazu gesagt hat.

Die zweite Gruppe von Menschen lebte in einer Gegend, die wir heute Deutschland nennen, und sie erlebte ihre Blütezeit vor etwa eintausendsiebenhundert Jahren. Wir nennen sie Westgoten, und vielleicht erinnern Sie sich noch, daß Ihr Lehrer im sechsten oder siebten Schuljahr kurz auf sie zu sprechen kam. Sie waren phantastische Reiter, aber das ist auch ungefähr das einzig Erfreuliche, was die Geschichte über sie zu berichten weiß. Sie waren Plünderer — gnadenlos und brutal. Ihrer Sprache fehlte es an Verfeinerung und Tiefe. Ihre Kunst war roh und geradezu grotesk. Sie jagten durch Europa, alles zerstörend, was ihnen in die Quere kam, und überrannten das Römische Reich. Die Westgoten taten nichts lieber als Bücher verbrennen, Bauwerke schänden oder Kunstwerke zertrümmern. Von den Westgoten ist keine Dichtung, kein Theater, keine Logik, keine Wissenschaft, keine menschenfreundliche Politik auf uns gekommen.

Wie die Athener, so verschwanden auch die Westgoten, aber erst nachdem sie jene Ära, die wir als »Zeitalter der Dunkelheit« bezeichnen, eingeleitet hatten. Fast tausend Jahre brauchte Europa, um sich von den Westgoten zu erholen.

Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß die Athener und die Westgoten noch immer lebendig sind, und zwar in uns und in der Art, wie wir unser Leben führen. Überall um uns — in diesem Saal, in dieser Gemeinschaft, in dieser Stadt — gibt es Menschen, deren Art, die Welt zu betrachten, an die der Athener anknüpft; und es gibt Menschen, die leben, wie die Westgoten gelebt haben. Ich meine natürlich nicht, daß unsere modernen Athener geistesabwesend durch die Straßen wandeln und dabei Dichtung und Philosophie rezitieren, oder daß die Westgoten von heute Killer seien. Ich meine, Athener oder Westgote sein bedeutet, das eigene Leben an einem bestimmten Ensemble von Wertvorstellungen zu orientieren. Der Athener ist eine Idee. Und der Westgote ist ebenfalls eine Idee. Lassen Sie mich kurz erläutern, was diese Ideen besagen.

* (u.2014)  wikipedia  Westgotenreich 

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Athener sein bedeutet, das Wissen und vor allem das Streben nach Wissen zu achten. Betrachtungen, Überlegungen, Versuche anstellen, Fragen stellen — das sind für einen Athener die erhabensten Tätigkeiten, denen sich ein Mensch widmen kann. Für einen Westgoten ist das Streben nach Wissen nutzlos, sofern es ihm nicht hilft, Geld oder Macht über andere Menschen zu gewinnen.

Athener sein bedeutet, die Sprache zu pflegen, weil man in ihr die kostbarste Gabe der Menschheit erblickt. In ihrem Umgang mit der Sprache streben Athener nach Anmut, Genauigkeit und Abwechslung. Und sie bewundern jene, die diese Fertigkeit erwerben. Für den Westgoten ist ein Wort so gut wie das andere, dieser Satz von jenem nicht zu unterscheiden. Das Höchste, wonach die Sprache des Westgoten trachtet, ist der Gemeinplatz.

Athener sein bedeutet zu verstehen, daß das Band, welches die zivilisierte Gesellschaft zusammenhält, dünn und verletzlich ist, und deshalb messen Athener der Tradition, der sozialen Zurückhaltung und der Kontinuität großen Wert bei. Schlechte Manieren sind für einen Athener Gewaltakte gegen die soziale Ordnung. Den modernen Westgoten kümmert dies alles herzlich wenig. Westgoten halten sich für den Nabel der Welt. Die Tradition ist nur zu ihrer Bequemlichkeit da, gute Manieren sind bloßes Getue und lästig obendrein, und Geschichte ist, was gestern in der Zeitung stand.

Athener sein bedeutet, Anteil zu nehmen an öffentlichen Angelegenheiten und an der Verfeinerung der Umgangsformen in der Öffentlichkeit. Die alten Athener hatten sogar ein Wort für Leute, die dies nicht taten. Sie nannten sie »idiotes«, und daher stammt unser Wort »Idiot«. Ein moderner Westgote interessiert sich nur für seine Privatangelegenheiten und ahnt nichts vom Sinn des Gemeinwesens.

Athener sein bedeutet schließlich, die Disziplin, die Fertigkeit und den Geschmack zu schätzen, die vonnöten sind, um dauerhafte Kunstwerke hervorzubringen. Bevor Athener sich einem Kunstwerk nähern, bereiten sie ihre Vorstellungskraft durch Lernen und Erfahrung darauf vor. Für den Westgoten gibt es nur einen Maßstab künstlerischer Vortrefflichkeit, nämlich die Popularität. Was bei der Menge Gefallen findet, ist gut. Kein anderer Maßstab wird von dem Westgoten beachtet oder auch nur anerkannt.

Nun ist wohl deutlich geworden, was dies alles mit Ihnen zu tun hat. Sie müssen sich schließlich, wie wir anderen auch, auf diese diese oder jene Seite schlagen. Sie müssen Athener oder Westgote sein. Natürlich ist es viel schwieriger, Athener zu sein, denn das muß man erst lernen, daran muß man arbeiten, während wir alle in gewisser Weise geborene Westgoten sind. Deshalb gibt es auch so viel mehr Westgoten als Athener. Und ich muß Ihnen sagen, daß Sie nicht schon dadurch zum Athener werden, daß Sie auf die Schule gehen oder akademische Titel anhäufen. Mein Vater war einer der engagiertesten Athener, die mir je begegnet sind, und er hat sein Leben lang als Schneider an der Seventh Avenue in New York City gearbeitet.

Gleichzeitig kenne ich Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure, die eingefleischte Westgoten sind. Und ich muß Ihnen — ebenso besorgt wie beschämt — sagen, daß es auch an unseren großen Universitäten — vielleicht sogar an dieser — Professoren gibt, die wir mit Fug und Recht als verkappte Westgoten bezeichnen können. Aber Sie brauchen deshalb keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß eine Schule eine tief atheniensische Idee ist. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen den kulturellen Leistungen von Athen und dem, worum es an dieser Universität im wesentlichen geht. Ich kann mir ohne Schwierigkeiten vorstellen, daß sich Platon, Aristoteles oder Demokrit in unseren Seminarräumen sehr wohlfühlen würden. Ein Westgote würde bloß Obszönitäten an die Wände kritzeln.

Ob Sie sich dessen nun bewußt waren oder nicht — Ihr Aufenthalt an dieser Universität diente dem Zweck, Ihnen wenigstens einen flüchtigen Eindruck von der Art der Athener zu vermitteln. Ihr Interesse für den Weg der Athener zu wecken. Wir können am heutigen Tag nicht sagen, wie viele von Ihnen diesen Weg einschlagen werden und wie viele nicht. Sie sind jung, und uns ist es nicht gegeben, in Ihre Zukunft zu schauen. Aber eines möchte ich Ihnen sagen und hiermit dann schließen: Ich könnte Ihnen kein höheres Lob wünschen, als daß es in der Zukunft von Ihnen heißen wird, in Ihrer Graduierten-Klasse seien die Athener gegen die Westgoten erheblich in der Überzahl gewesen. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch.

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