16 Am Abgrund des Friedens
1988 von Neil Postman
Vor Jahren erschien in England ein Roman mit dem Titel <Fail Safe>. Er handelt von der Möglichkeit,
daß wir ungewollt in einen Atomkrieg hineinstolpern. Diese Möglichkeit besteht immer noch.
In dieser Geschichte male ich mir allerdings das Gegenteil aus — daß wir ungewollt in den Frieden hineinstolpern.
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Obwohl Russell Groves inzwischen in aller Stille von Beamten der Vereinten Nationen in seine Heimatstadt Yarmouth in England zurückgebracht wurde, wo er keine Gefahr für die Stabilität der Weltlage darstellt, werden uns die Nachwirkungen seiner Tat noch jahrelang beschäftigen. Nach wie vor bestehen zwei amerikanische Kongreßabgeordnete darauf, seine Motive und die der anderen Beteiligten einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Der Aktienmarkt ist weiterhin nicht vorhersagbaren Schwankungen ausgesetzt, als wolle er uns zu verstehen geben, wo es einen Russell Groves gab, da könne es auch einen zweiten geben.
Der russische Botschafter Belonogov scheint am Ende seiner Kräfte zu sein. Der amerikanische Botschafter Walters, der schon zwei landesweit ausgestrahlte Fernseherklärungen zu seinem Verhalten abgegeben hat, plant eine dritte. Fidel Castro hat erklärt, es werde wohl sehr lange dauern, bis der Kreml das Vertrauen des kubanischen Volkes in seine Führungsrolle zurückgewonnen hat. Westdeutsche Spitzenpolitiker haben laut darüber nachgedacht, ob die Vereinigten Staaten ihren Anspruch auf die Bündnistreue der übrigen NATO-Staaten nicht verwirkt haben.
Das alles ist verständlich. Wir waren dem Abgrund so nahe, so gefährlich nahe, daß man sich mit Recht fragen kann, ob wir eine ähnliche Erfahrung ein zweites Mal überleben würden. Vielleicht kann uns die Geschichte des Russell Groves für die Zukunft eine Lehre sein — hier ist sie, soweit wir sie aus den verschiedenen Quellen zusammensetzen konnten.
Russell Groves war bis vor zwei Wochen ein stiller, ausgeglichener und äußerst tüchtiger Simultandolmetscher bei den Vereinten Nationen. Seine Kenntnisse der slawischen Sprachen, auf die er sich spezialisiert hatte, erwarb er nicht in der Schule, sie waren vielmehr das Resultat eines mehr als zwölfjährigen Aufenthalts in Rußland und anderen slawischen Ländern. Groves, 1923 im englischen Yarmouth geboren, wurde mit acht Jahren von seinem strengen, verwitweten Vater Dr. Glenville Groves, der seinem Gott durch Missionsarbeit in fernen Ländern diente, mit in die Türkei genommen. In der Türkei machte Dr. Groves die Bekanntschaft von Natascha Homolka, einer korpulenten, jedoch hübschen russischen Witwe aus Odessa. Aus nicht ganz einsichtigen Gründen, die aber ohne Zweifel nichts zur Sache tun, verliebten sich Dr. Groves und Natascha ineinander, sie heirateten und wanderten nach Rußland aus. Den jungen Russell nahmen sie mit. Dort sagte sich Dr. Groves dann von Gott los, ebenso wie von Natascha und Russell; seither hat man nichts mehr von ihm gehört. Zehn Jahre lebte Russell bei seiner Stiefmutter, deren Zuneigung für ihn und für die Bolschewisten gleichzeitig, aber nicht gleichermaßen wuchs, wobei Russell ein wenig ins Hintertreffen geriet.
Im Jahre 1940 jedoch, mit siebzehn Jahren, verließ Groves Rußland und folgte dem Ruf Winston Churchills, der die Engländer gewarnt hatte, am Ende müßten sie sich der Barbaren noch auf der Schwelle des eigenen Wohnzimmers erwehren. Es ist bekannt, daß Natascha 1942 an einer akuten Blinddarmentzündung starb. Wie immer man es deuten mag, sie vermachte ihre wenigen Habseligkeiten jedenfalls nicht Russell Groves, sondern der Kommunistischen Partei. Unterdessen diente Groves bei der Royal Air Force und zeichnete sich offenbar aus, denn ihm wurde offiziell das Verdienst am Abschuß drei deutscher Maschinen zuerkannt.
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Nach dem Krieg immatrikulierte er sich an der Universität Oxford, wo er, was nahelag, Russische Literatur studierte. Seine besondere Liebe galt dem dichterischen Werk Puschkins. 1956 kam er in die Vereinigten Staaten, wo er bei den Vereinten Nationen als Dolmetscher für slawische Sprachen angestellt wurde. Bis vor zwei Wochen gab seine Arbeit niemals Anlaß zu irgendwelchen Klagen. Allenfalls hätte man aussetzen können, daß er sich in seinen Übersetzungen häufig um allzu große Genauigkeit bemühte. So wartete er oft mit zwei oder drei möglichen englischen Wörtern auf, wo nach Ansicht anderer Übersetzer eines ausgereicht hätte.
Soweit bekannt, hatte Groves keine entschiedenen politischen Ansichten und unterhielt keinerlei Verbindung zu irgendwelchen Friedensbewegungen, auch heimlich nicht. Er war Junggeselle und wohnte an der East 38th Street, wo er, nach Aussage seines Zimmergenossen und Übersetzerkollegen Donald Flowers, seine Abende meist mit der Lektüre vorrevolutionärer russischer Dichter verbrachte. Flowers zufolge äußerte sich Groves mehrfach geringschätzig über Belonogovs schwerfällige Prosa. Aber bekannt ist auch, daß er kein Bewunderer von »Walters' gestammelten Platitüden« war, wie er sie zuweilen nannte.
Wann genau Groves sich zu dem entschloß, was er dann an jenem schicksalhaften 8. März tat, ist keineswegs klar. Groves selbst hat es abgelehnt, Auskunft zu geben. Flowers indessen hat in seiner Zeugenaussage erklärt, es sei mit ziemlicher Sicherheit ein Entschluß der letzten Minute gewesen, vielleicht ein spontaner Ausdruck von Trotz, Langeweile oder Ungebundenheit. Aber diese Möglichkeit ist, um es vorsichtig auszudrücken, zumindest unwahrscheinlich. Groves muß seine Übersetzung vorbereitet haben — dazu war sie in ihrer verheerenden Wirkung zu genau kalkuliert. Man nimmt an, daß Groves seine Übersetzung zwei Tage im voraus plante, wenngleich Beweise für diese Vermutung fehlen. Zumindest ein Mitarbeiter lieferte die nachsichtige Erklärung, möglicherweise habe die Arbeitsüberlastung am Tage zuvor, dem 7. März, Groves' unverantwortlichen Schritt ausgelöst. Ein anderer Kollege mutmaßte, Groves habe sich von einem latenten, aber intensiven Gefühl der Verantwortung für das Wohl der Türkei leiten lassen. Sowohl über die Ursache seiner Verirrung wie auch über den Zeitpunkt ihrer Entstehung läßt sich also trefflich spekulieren.
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Alles andere indessen ist durch Akten belegt und nicht im mindesten rätselhaft.
Am 3. März erklärte das US-Verteidigungsministerium, die USA würden die nach Ansicht von Fachleuten veralteten amerikanischen Raketen in der Türkei ab dem 6. März durch neue, schlagkräftige St. Augustin-Raketen ersetzen, benannt nach dem berühmten Verfasser des Buches Der Gottesstaat. Die Sowjetunion, der die amerikanischen Raketenbasen in der Türkei schon seit Jahren mißfielen, forderte zunächst, die USA sollten von ihrem Vorhaben Abstand nehmen, und beantragte dann, zum Zeichen für ihren Respekt gegenüber dem internationalen Recht, eine Vollversammlung der UNO, auf der die Krise erörtert werden sollte. Obwohl der amerikanische Verteidigungsminister betonte, das Gleichgewicht der Kräfte werde durch die St. Augustin-Raketen in der Türkei nicht spürbar verändert, begrüßte er, wie er sagte, diese Gelegenheit, um der Welt alle gewünschten moralischen, politischen und militärischen Rechtfertigungen für diesen Schritt zu liefern. Im übrigen, so fügte er gereizt hinzu, gehe es niemanden etwas an und sei allein Sache des Pentagon, wo die USA ihre St. Augustin-Raketen oder auch die noch moderneren Martin Luther-Mittelstreckenraketen stationierten.
Die UNO-Sitzung vom 7. März erschöpfte sich im wesentlichen in Dringlichkeitsappellen unbedeutender Delegationen, die beide Seiten zur Mäßigung aufriefen. Die Protokolle beweisen, daß Groves' Dienste an diesem Tag nur einmal in Anspruch genommen wurden — was die These von der »Arbeitsüberlastung« einigermaßen entkräftet. Gegen 16 Uhr 20, 40 Minuten vor Ende der Sitzung, wurde er aufgerufen, die eher banalen Bemerkungen des Delegierten aus Somaliland zu übersetzen, der sich dabei aus unerfindlichem Grund des Litauischen bediente. Weder die russische noch die amerikanische Delegation richtete an diesem 7. März das Wort an die Weltöffentlichkeit, und, soweit bekannt, zeigte sich Russell Groves hierüber nicht enttäuscht.
Am 8. März nahmen die nichtssagenden Ansprachen unbedeutender Nationen ihren Fortgang, bis 16 Uhr 10. Zu diesem Zeitpunkt trat Aleksandr Belonogov, mit aschfahlem Gesicht und grimmiger oder argwöhnischer dreinblickend als gewöhnlich, ans Rednerpult, um eine, wie wir heute wissen, sehr beherzte und durchaus vernünftige Erklärung abzugeben. Hier der vollständige Text:
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»Herr Präsident. Ich möchte den hochverehrten Delegierten der Vereinigten Staaten davon in Kenntnis setzen, daß in eben diesem Augenblick 24 Divisionen der sowjetischen Armee an der türkisch-sowjetischen Grenze aufmarschieren. Ich brauche dem hochverehrten Delegierten der Vereinigten Staaten und seinen Landsleuten nicht zu sagen, daß diese Streitkräfte mit den zerstörerischsten Waffen ausgerüstet sind, die sowjetische Technik hervorzubringen vermag, darunter selbstverständlich auch Atomwaffen. Wenn die US-Regierung binnen 24 Stunden nicht ihre St. Augustin-Raketen aus der Türkei abzieht, beabsichtigt die Sowjetunion, dies an ihrer Stelle zu tun. Um keinerlei Mißverständnis aufkommen zu lassen, möchte ich es so formulieren: Wenn die Raketen bis morgen, den 9. März, nicht abgezogen sind, wird die sowjetische Armee in die Türkei einmarschieren.«
Die US-Delegation war auf diese Ankündigung durchaus vorbereitet und wollte erwidern, die St. Augustin-Raketen in der Türkei seien gerade dazu da, einem Fall, wie ihn Belonogov gerade beschrieben habe, vorzubeugen. Aber wie die Welt inzwischen nur zu gut weiß, hatte Mr. Walters gar nicht die Gelegenheit zu dieser vorzüglichen Erwiderung, weil nämlich das Angebot von Mr. Belonogov sein Ohr nie erreichte. Russell Groves, von irgendwelchen Teufeln geritten, die sich für diese Fragen interessieren, oblag es, die Erklärung von Mr. Belonogov in die Kopfhörer sämtlicher englischsprechenden Delegierten zu übersetzen, von denen kein einziger Russisch verstand. Wie das Protokoll zeigt, lautete seine Übersetzung tragischerweise so:
»Herr Präsident, ich möchte den hochverehrten Delegierten der Vereinigten Staaten davon in Kenntnis setzen, daß die sowjetische Regierung volles Verständnis dafür hat, daß die USA in der Türkei St. Augustin-Raketen aufstellt. Wir alle sind in diesen unruhigen Zeiten furchtsam, angespannt und wenig geneigt, unseren Nachbarn zu trauen. Auch die Sowjetunion hat sich häufig feindselig und aggressiv gezeigt, weil wir fürchteten, andere wollten uns unsere Lebensart streitig machen. Diese Ängste sind, wie wir jetzt erkennen, weitgehend irrational, und wir möchten etwas unternehmen, um sie zu überwinden. Wer weiß? Vielleicht werden uns die Vereinigten Staaten dabei sogar helfen. Aber wie dem auch sei, die Sowjetunion möchte hiermit ankündigen, daß am 25. März dieses Jahres alle sowjetischen Truppen aus Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei abgezogen werden.«
Die amerikanische Delegation geriet verständlicherweise in helle Aufregung. Inmitten des allgemeinen Tumults im Saal versuchten die amerikanischen Vertreter, sich mit hektischem Geflüster untereinander zu verständigen. Der Delegierte aus Somaliland, der
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nicht nur Litauisch, sondern auch Russisch sprach, war verzweifelt bemüht, die Aufmerksamkeit des Präsidenten zu gewinnen, ohne Zweifel, um ihn darauf hinzuweisen, daß der Sinn von Belonogovs Einlassungen durch die Übersetzung erheblich verloren habe. Zum späteren Bedauern der Welt blieben die somalischen Appelle jedoch unbeachtet. Der Präsident der Vollversammlung fühlte sich genötigt, Mr. Walters das Recht zu einer Erwiderung einzuräumen, obwohl Walters gar nicht ums Wort gebeten hatte. Zögernd und unsicher begab sich Walters hierauf an das Rednerpult und teilte in stockendem Tonfall dem Präsidenten und Mr. Belonogov mit, er habe natürlich keinerlei Instruktionen aus Washington, wie er sich bei einer solchen Wendung der Dinge verhalten solle. Er fügte aber hinzu:
»Ich persönlich fühle mich zu der Bemerkung veranlaßt, daß wir von den friedfertigen Erklärungen meines hochverehrten Kollegen aus der Sowjetunion tief beeindruckt sind. Ich halte es nicht für unmöglich, daß, wenn die sowjetischen Truppen aus Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei abgezogen werden sollten, die amerikanischen Raketenbasen nicht nur in der Türkei, sondern auch in den anderen europäischen Ländern gänzlich überflüssig sein könnten.«
Jetzt war es natürlich die sowjetische Delegation, die in Aufregung geriet. Belonogov erhob sich für einen Moment, als wolle er etwas sagen; aber dann ließ er sich in seinen Sessel zurückfallen, während sich die anderen sowjetischen Vertreter äußerst verunsichert anblickten. Schließlich stand Belonogov auf und strebte wie unter einem Zwang zum Rednerpult, obwohl ihm, wie das Protokoll klar ausweist, nicht das Wort erteilt worden war. Belonogov gestand später, er habe keinen klaren Gedanken fassen können, außer den einen, daß die Sowjetunion schon seit Jahren Bulgarien, Ungarn und die Tschechoslowakei als eine Belastung ihrer eigenen Wirtschaft angesehen und lange nach Wegen gesucht habe, sich ohne Gesichtsverlust aus ihnen zurückziehen zu können. Belonogov, der sich stets standhaft geweigert hatte, in der UNO englisch zu sprechen, obwohl er dazu sehr wohl imstande war, wandte sich nun in englischer Sprache direkt an Walters, wobei er einen bezaubernden Akzent verriet. Er sagte:
»Herr Botschafter, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie erfrischend Ihre Antwort auf meine strengen Bemerkungen war. Auch ich habe keine Instruktionen von meiner Regierung, aber ich bin sicher, daß die friedliebenden Völker der Sowjetrepubliken überglücklich wären, weitere Gesten des Friedens mit den Vereinigten Staaten auszutauschen.«
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Dann kehrte Belonogov an seinen Platz zurück, wo ihm ein strahlender Walters in Freundschaft und Frieden seine Hand entgegenstreckte. Kurz darauf, vielleicht ein oder zwei Minuten später, vertagte sich die Sitzung unter fortgesetztem Tumult, an dem sich der Delegierte aus Somaliland, noch immer um Aufmerksamkeit bemüht, mit Ausrufen wie »Betrug! Lüge! Irrtum!« heftig beteiligte.
Fünf Minuten später stürzten die Kurse an der New Yorker Aktienbörse. Golden Missile Development, Inc. fiel von 56 auf 12, woraufhin der Vorstandsvorsitzende Jonathan Lowry ein in scharfem Ton gehaltenes Telegramm an das Weiße Haus schickte, in dem er den Vorwurf erhob, der Ausverkauf der freien Welt solle demnächst offenbar direkt im Moskauer Kaulhaus Gum stattfinden. Zwei Kongreßabgeordnete von der Westküste mit einer Mehrheitsbeteiligung bei Egalitarian Aircraft, der Herstellerfirma der Apostel-Interkontinentalraketen, verlangten, man solle Walters auf seine Zurechnungsfähigkeit prüfen. Die Generalstabschefs der US-Armee beriefen eine Dringlichkeitssitzung ein, um die Möglichkeit zu erörtern, einen Angriff mit Polaris-Raketen gegen Rußland zu starten, bevor die Russen ihre Truppen aus den besetzten Ländern abziehen könnten. Was in Moskau geschah, läßt sich nur vermuten, denn unmittelbar nachdem sie von den Vorgängen bei der UNO unterrichtet worden waren, ließ die sowjetische Führung einen noch undurchdringlicheren Eisernen Vorhang über den kommunistischen Block fallen. Allgemein ist man jedoch der Auffassung, daß die albanische Militärführung eine Sitzung beantragte, um darauf zu drängen, Rußland möge seine Interkontinentalraketen abschießen, bevor die USA ihre Raketenbasen aus den europäischen Ländern abziehen könnten.
Kurzum, am Abgrund des Friedens wurde die ganze Welt von Enttäuschung, Schrecken, ja beinahe Verzweiflung gepackt. Einfache Bürger empfanden, wie nie zuvor, jenes Gefühl der Ohnmacht des einzelnen, das Kierkegaard und Kafka so treffend beschrieben haben.
Glücklicherweise währte es nicht so lange, daß es irreparable Schäden hätte verursachen können.
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Bis zum Abend war die ganze Sache geklärt, vor allem dank der Bemühungen des französischen Chefdelegierten, der, als er eine korrekte französische Übersetzung erhalten hatte, seine diplomatische Contenance nur einen Augenblick lang verlor. Nachdem er sich wieder gefaßt hatte, vereinigte er seine Entschlossenheit und sein beträchtliches Ansehen mit den Bemühungen des erschöpften Delegierten aus Somaliland, und gemeinsam gaben sie ein Kommunique heraus, in dem sie der Welt mitteilten, daß keine Chance zu einem katastrophalen Frieden bestehe. Ihre in Französisch verfaßte Verlautbarung wurde in 28 Sprachen übersetzt und über jedes bekannte Kommunikationsmedium verbreitet. Hier der Wortlaut:
»Aufgrund der unverantwortlichen Handlungsweise eines einzelnen Mannes wurde der Sinn der Ausführungen von Alexandre Belonogov vor den Vereinten Nationen in sein Gegenteil verkehrt. Hierdurch wurde eine Kettenreaktion von Mißverständnissen und Befürchtungen ausgelöst, die noch in diesem Augenblick die Ruhe der ganzen Welt bedrohen. Nun, da die Wahrheit bekannt ist, hoffen wir inständig, daß die Ordnung so bald wie möglich wiederhergestellt werden möge. Nie gab es die entfernteste Möglichkeit zu einem unmittelbaren Frieden, und auch jetzt gibt es sie nicht.«
Russell Groves wurde, wie sich von selbst versteht, verhaftet und unter strikter Geheimhaltung neun Stunden lang verhört, um herauszufinden, welche Gruppe oder welche Gruppen er vertrat. Im Fernsehen erhob Senator Clark Croker Dettering den Vorwurf, Groves sei ein sowjetischer Agent und sein langer Aufenthalt in Odessa habe ihm seinen Haß gegen die freie Welt eingeflößt. Mit Hilfe von Landkarten, die eigens für das Fernsehen hergestellt worden waren, konnte Senator Dettering schlüssig nachweisen, daß Odessa in Rußland liegt, und dies schon seit geraumer Zeit.
Der Präsident der Vereinigten Staaten hielt sich, wie gewöhnlich, in seinen Äußerungen zurück und bemerkte nur schalkhaft, es sei doch durchaus möglich, daß Groves dem nationalen Exekutivausschuß der Demokratischen Partei angehöre. In nüchternem Ton versicherte er dann dem amerikanischen Volk, daß die St. Augustin-Raketen in der Türkei bleiben würden, gleichgültig, wie sich die Russen in Osteuropa verhielten. Gorbatschow, so weiß man, erklärte seiner Partei auf einer Geheimsitzung, daß es die Sowjetarmee, auch wenn die USA ihre Raketen aus der Türkei sofort abziehen sollten, gern einmal wieder irgendwo mit einer Invasion versuchen würde.
Russell Groves, so stellte sich heraus, vertrat kein politisches Ziel und keine politische Gruppe, sondern nur sich selbst. Eine gründliche psychiatrische Untersuchung enthüllte allerdings, daß eine erhebliche Blutarmut als Ursache für sein unverantwortliches Handeln theoretisch in Betracht kam. Der Staatsanwalt wies diese Erwägung jedoch zurück, die, wenn sie zuträfe, Groves eine Strafverfolgung erspart hätte. Er verlangte statt dessen, Groves wegen Anstiftung zum Aufruhr und Beihilfe zum Umsturz der nationalen Verteidigung anzuklagen. Der Präsident erinnerte die Nation daran, daß Groves offenkundig krank sei, und drängte zur Nachsicht. Sein Wille wurde respektiert.
Wie schon berichtet, ist Groves inzwischen in aller Stille nach England zurückgebracht worden und lehnt es ab, vielleicht weil er unter strenger Überwachung steht, sich zu der gesamten Affäre zu äußern. Nachdenklichen Leuten geht sie allerdings nicht aus dem Kopf. So erklärte der angesehene Fernsehkommentator Dan Rather in einem Dokumentarbericht von CBS <Der Verrat des Russell Groves>: »Was einmal geschehen konnte, könnte auch ein zweites Mal geschehen — egal, wie sicher wir zu sein glauben.«
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