3. Von der Technokratie zum Technopol
Postman-1991
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Mit der gebotenen Vorsicht könnte man das Auftreten der ersten wirklichen Technokratie auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in England datieren — etwa auf die Zeit um 1765, als James Watt die Dampfmaschine erfand. Fortan verging kein Jahrzehnt ohne eine oder mehrere wichtige technische Erfindungen, die, zusammengenommen, dem mittelalterlichen »Manufakturwesen« (dem »Machen« mit der »Hand«) ein Ende bereiteten.
Die praktische Energie und die technischen Fertigkeiten, die damals entfesselt wurden, veränderten die materielle und psychische Wirklichkeit der westlichen Welt für immer.
Ein ebenso einleuchtendes Datum für die Anfänge der Technokratie (das sich Amerikaner überdies leichter merken können) ist das Jahr 1776, in dem Adam Smith sein Buch <The Wealth of Nations> veröffentlichte. Wie Bacon kein Wissenschaftler war, so war Adam Smith kein Erfinder. Aber wie Bacon entwickelte er eine Theorie, die mit plausiblen Begriffen sichtbar machte, in welche Richtung die Menschheit strebte. Vor allem rechtfertigte er die Umwandlung der personalisierten, auf der handwerklichen Geschicklichkeit des Einzelnen beruhenden kleinen Produktion in eine unpersönliche, mechanisierte Großproduktion. Er brachte nicht nur überzeugende Argumente dafür vor, daß das Geld und nicht der Boden der Schlüssel zum Wohlstand sei, sondern entwickelte auch sein berühmtes Prinzip von der selbstregulierenden Kraft des Marktes. wikipedia Adam Smith
In einer Technokratie — also in einer Gesellschaft, die von Sitte und religiöser Tradition nur noch oberflächlich geprägt ist und von einem Drang zum Erfinden getrieben wird — werde eine »unsichtbare Hand« die Unfähigen ihres Einflusses berauben und jene belohnen, die billig und gut jene Güter herstellen, die die Menschen wollen. Damals wie heute war nicht klar, wessen unsichtbarer Verstand diese unsichtbare Hand lenkt, aber es war immerhin möglich (so meinten die technokratischen Industriellen), daß Gott etwas damit zu tun hatte. Und wenn nicht Gott, dann eben die »Natur des Menschen«, denn Adam Smith hatte unserer Spezies den Namen »homo oeconomicus« verliehen und glaubte, dieser Spezies sei der Trieb angeboren, Reichtümer zu tauschen und aufzuhäufen.
Jedenfalls befand sich die Technokratie gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Vormarsch, vor allem nachdem Richard Arkwright, ein Barbier von Beruf, das Fabriksystem entwickelt hatte. In seinen Baumwollspinnereien brachte Arkwright den Arbeitern, vor allem Kindern, bei, »sich dem regelmäßigen Tempo der Maschine anzupassen«, und gab damit der Entfaltung moderner Formen des technokratischen Kapitalismus einen enormen Auftrieb.
1780 standen zwanzig Fabriken unter seiner Leitung, wofür ihn eine dankbare Nation in den Adelsstand erhob und woraus einem ebenso dankbaren Sohn eine gewaltige Erbschaft erwuchs. Man darf Arkwright wohl als den ersten — und zugleich einen archetypischen — technokratischen Kapitalisten ansehen. Er verkörperte in jeder Hinsicht den Unternehmertypus des 19. Jahrhunderts. Wie Sigfried Giedion schrieb, realisierte Arkwright erstmals die Mechanisierung der Produktion, und zwar »ohne Unterstützung, ohne Regierungshilfe, inmitten einer feindlichen Umgebung, aber angetrieben von einem rücksichtslosen Utilitarismus, den kein Risiko und keine Gefahr abschreckte«. wikipedia Richard Arkwright
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts brachte England in jeder größeren Stadt solche Unternehmer hervor. Seit 1806 revolutionierte der von Edmund Cartwright entwickelte mechanische Webstuhl die Textilindustrie, indem er die Facharbeiter ein für allemal ausschaltete und durch ungelernte Arbeiter ersetzte, die nur noch dafür sorgten, daß die Maschinen liefen.
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Um das Jahr 1850 hatte sich die Werkzeugmaschinenindustrie entwickelt — Maschinen zur Herstellung von Maschinen. Und seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ergriff die Massen ein regelrechtes Erfinderfieber, vor allem in Amerika. Noch einmal sei Giedion zitiert: »Erfinden wurde eine Selbstverständlichkeit. Jeder, der einen Betrieb besaß, war darauf aus, seine Produkte rascher, vollendeter und gelegentlich auch schöner herzustellen. Anonym und unmerklich verwandelten sich dabei die alten Werkzeuge in moderne Instrumente.« 1)
Die Erfindungen des 19. Jahrhunderts sind uns so vertraut, daß wir sie nicht im einzelnen zu beschreiben brauchen. Zu ihnen gehören auch diejenigen, die dem Ausdruck »Revolution der Kommunikationsmittel« seine Bedeutung gaben: die Photographie und die Telegraphie (in den dreißiger Jahren), die Rotationsdruckpresse (in den vierziger Jahren), die Schreibmaschine (in den sechziger Jahren), das Überseekabel (1866), das Telephon (1876), der Film und die drahtlose Telegraphie (1895).
Alfred North Whitehead brachte dies auf die Formel, die größte Erfindung des 19. Jahrhunderts sein die Idee des Erfindens selbst gewesen. Die Menschen hatten gelernt, wie man etwas erfindet, und demgegenüber verlor die Frage, warum man etwas erfindet, an Gewicht. Daß man das, was man tun kann, auch tun soll, ist eine Idee des 19. Jahrhunderts. Und Hand in Hand mit ihr verbreitete sich ein tiefes Vertrauen in all jene Prinzipien, auf denen der Erfolg des Erfindens beruht: Objektivität, Effizienz, Sachverstand, Standardisierung, Meßbarkeit und Fortschritt. Außerdem gewann die Vorstellung an Boden, daß die Maschinerie des technischen Fortschritts am besten funktioniert, wenn man die Menschen nicht als Kinder Gottes und auch nicht als Staatsbürger auffaßt, sondern als Konsumenten, als Marktfaktoren.
Natürlich war nicht jeder einverstanden, vor allem nicht mit dieser letzten Vorstellung. In England schrieb William Blake von den »dunklen satanischen Fabriken«, die den Menschen ihre Seelen raubten. Matthew Arnold mahnte, der »Glaube an die Maschine« sei die größte Bedrohung für die Menschheit. Carlyle, Ruskin und William Morris wetterten gegen den geistigen Niedergang, den der industrielle Fortschritt mit sich bringe. In Frankreich bezeugten Balzac, Flaubert und Zola in ihren Romanen die geistige Öde des »homo oeconomicus« und die Verarmung, die aus dem Triumph des Erwerbstriebs resultiert.
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Für das 19. Jahrhundert war auch die Bildung <utopischer> Gemeinschaften kennzeichnend, unter denen Robert Owens Siedlungsexperiment New Lannark in Schottland vielleicht das bekannteste geworden ist. Er gründete dort eine Mustersiedlung, mit verringerter Arbeitzeit und besseren Lebensbedingungen für die Arbeiter seiner Fabrik und mit neuartigen Erziehungseinrichtungen für deren Kinder. 1824 ging Robert Owen nach Amerika und gründete dort ein weiteres Utopia, New Harmony in Indiana. Obwohl sich keines von seinen Experimenten über längere Zeit hielt, lieferten sie die Anregung zu Dutzenden ähnlicher Versuche, die »menschlichen Kosten« der Technokratie zu verringern. 2)
Aufstieg und Fall der vielgeschmähten Ludditen-Bewegung dürfen hier ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Der Ursprung des Ausdrucks »Ludditen« ist unklar, aber manche glauben, er gehe auf einen jungen Arbeiter namens Ludlum zurück, dem sein Vater gesagt hatte, er solle einen mechanischen Webstuhl reparieren, statt dessen jedoch machte er sich daran, diesen Webstuhl zu zerstören. Jedenfalls entstand in der Zeit zwischen 1811 und 1816 eine breite Unterstützung für die Arbeiter, die empört waren über Lohnkürzungen, Kinderarbeit und die Abschaffung von Gesetzen und Gewohnheitsrechten, die ihnen, sofern sie qualifiziert waren, in früherer Zeit einen gewissen Schutz geboten hatten.
Ihrer Unzufriedenheit machten sie Luft durch die Zerstörung von Maschinen, vor allem in der Textilindustrie; seither bezeichnet der Ausdruck »Luddit« (oder »Maschinenstürmer«) einen fast kindlichen und gewiß naiven Widerstand gegen die Technik. Aber die historischen Maschinenstürmer waren weder kindlich noch naiv. Es waren Leute, die sich verzweifelt bemühten, die Privilegien, Gesetze und Gewohnheiten zu bewahren, die ihnen innerhalb der älteren Weltsicht ihre Rechte gewährleistet hatten.3
Sie unterlagen, so wie alle anderen Neinsager im 19. Jahrhundert unterlagen. Und Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton hätten sich vielleicht auf ihre Seite gestellt. Vielleicht sogar Bacon, denn daß die Technik zum Fluch und zu einer zerstörerischen Kraft würde, lag nicht in seiner Absicht. Bacons größte Schwäche war allerdings, daß er die Legende von Thamus nicht kannte.
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Er hat die Dialektik des technologischen Wandels nicht begriffen, und über die negativen Auswirkungen der Technologie hat er sich kaum geäußert. Dennoch hätte der Aufstieg der Technokratie Bacon alles in allem wahrscheinlich behagt, denn es läßt sich nicht bestreiten, daß die Technokratie das Erscheinungsbild der materiellen Zivilisation völlig verwandelte und viel zur Beseitigung dessen beigetragen hat, was Tocqueville »die Malaise der Arbeit« genannt hat. Und obwohl es zutrifft, daß der technokratische Kapitalismus Elendsviertel und Entfremdung hervorbrachte, so gilt doch auch, daß diese Verhältnisse als ein Unheil wahrgenommen wurden, das abgewendet werden konnte und sollte; mit anderen Worten, die Technokratien förderten den Respekt vor der Würde des Menschen, dessen Fähigkeiten und dessen Wohlergehen nun zum Gegenstand eines beharrlichen politischen Interesses und einer engagierten Sozialpolitik wurden.
Das 19. Jahrhundert erlebte die Ausweitung des öffentlichen Bildungswesens, es schuf die Grundlage für die moderne Gewerkschaftsbewegung und führte vor allem in Amerika, durch den Ausbau der öffentlichen Bibliotheken und weil die Publikumszeitschriften immer mehr Bedeutung gewannen, zu einer raschen Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit, ja, von Bildung überhaupt.
Nur ein Beispiel zur Illustration dieses letzten Punktes: zu den Beiträgern der 1821 gegründeten Saturday Evening Post gehörten Leute wie William Cullen Bryant, Harnet Beecher Stowe, James Fenimore Cooper, Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne und Edgar Allan Poe — lauter Schriftsteller, die man heute zu den Klassikern der amerikanischen Literatur zählt. Die technokratische Kultur beseitigte die Schranke, die den Angehörigen der Arbeiterklasse den Zugang zu den intellektuellen Interessen der Gebildeten bis dahin versperrt hatte, und wir können als Tatsache ansehen, was George Steiner über die Zeitspanne zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg gesagt hat: sie sei eine Oase der Qualität gewesen, in der die große Literatur den Weg zu einem Massenpublikum fand.
Noch etwas anderes fand den Weg zu einem Massenpublikum: die politische und religiöse Freiheit. Es wäre eine unzulässige Vereinfachung, wollte man behaupten, das Zeitalter der Aufklärung sei einzig und allein aus der zunehmenden Bedeutung der Technologie im 18. Jahrhundert erwachsen, aber es liegt auf der Hand, daß die Betonung der Individualität in der ökonomischen Sphäre unausweichliche Folgen für die politische Sphäre hatte.
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Erbliches Königtum ist in einer Technokratie irrelevant und sinnlos. Die neue Königswürde war Leuten wie Richard Arkwright bestimmt, der aus kleinen Verhältnissen stammte, dessen Intelligenz und Kühnheit sich jedoch in höchste Höhen erhob. Denen, die über solche Gaben verfügten, konnte man politische Macht nicht vorenthalten, und wenn man sie ihnen nicht gab, dann waren sie durchaus willens, sie sich zu nehmen. In jedem Fall mußte das revolutionäre Wesen der neuen Produktions- und Kommunikationsmittel radikalen Ideen in jedem Bereich menschlichen Handelns und Strebens Vorschub leisten.
Die Technokratie, die uns die Idee des Fortschritts bescherte, lockerte notwendigerweise die Bindungen der Menschen an politische und an geistige Traditionen. Lauthals verhieß die Technokratie neue Freiheiten und neue Formen sozialer Organisation. Sie steigerte auch das Tempo des Lebens. Die Menschen konnten schneller von einem Ort zum anderen gelangen, sie konnten das, was zu tun war, schneller tun, sie konnten in kürzerer Zeit mehr leisten. Die Zeit wurde zu einem Gegner, über den die Technologie triumphieren konnte. Und dies hatte zur Folge, daß keine Zeit blieb, zurückzublicken und zu überlegen, was da verlorenging. Weltreiche mußten errichtet, Gelegenheiten genutzt, aufregende Freiheiten ausgekostet werden, vor allem in Amerika.
Auf den Flügeln der Technokratie schwangen sich die Vereinigten Staaten als Weltmacht in ungeahnte Höhen. Daß Jefferson, Adams und Madison sich dort oben unwohl gefühlt hätten, daß ihnen dieser Platz vielleicht sogar unangenehm gewesen wäre, darauf kam es nicht an. Es kam auch nicht darauf an, daß im Amerika des 19. Jahrhunderts durchaus Stimmen laut wurden — die von Thoreau zum Beispiel —, die beklagten, was im Zuge dieser Entwicklung alles auf der Strecke blieb. Die erste Antwort auf solche Klagen lautete: Wir lassen nichts anderes zurück als die Ketten einer Werkzeugkultur. Die zweite Antwort klang nachdenklicher: Wir werden uns von der Technokratie nicht überwältigen lassen. Und so war es auch — jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Die Technokratie zerstörte die Traditionen des gesellschaftlichen Lebens und der kulturellen Symbole nicht ganz und gar.
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Die Technokratie erhob sich über diese Traditionen — sie demütigte sie sogar —, aber sie machte sie nicht vollends wirkungslos. Im 19. Jahrhundert gab es in Amerika noch fromme Leute, und es gab auch noch eine Vorstellung von Sünde. Es gab noch Lokalstolz, und es war möglich, sich an traditionellen Bildern vom Familienleben zu orientieren. Es war möglich, die Tradition selbst zu respektieren und in Brauchtum und Mythos Halt zu finden. Es war möglich, auf soziale Verantwortung und die Möglichkeit individuellen Handelns zu setzen. Es war sogar möglich, auf Erfahrung, Vernunft und Weisheit der Älteren zu vertrauen. Leicht war es nicht, aber es war möglich.
Die Technokratie, die im Amerika des 19. Jahrhunderts voll gerüstet in Erscheinung trat, begegnete solchen Überzeugungen mit Geringschätzung, denn Frömmigkeit und Sünde, Großmütter und Familie, regionale Bindungen und zweitausend Jahre alte Überlieferungen stehen in einem Widerstreit zur technokratischen Lebensweise. Sie sind störende Überreste aus der Epoche der Werkzeugkultur und ein ständiger Anlaß zur Kritik an der Technokratie. Sie zeugen von einer Gedankenwelt, die mit der Technokratie nichts zu tun hat und mit ihr nichts zu tun haben will — die ihre Sprache ablehnt, ihre Anonymität, die von ihr hervorgerufene Zerstückelung und Entfremdung des Lebens. Deshalb strafte die Technokratie eine solche Gedankenwelt mit Mißachtung, zerstörte sie aber in Amerika nicht und konnte sie nicht zerstören.
Einen Eindruck von dem Wechselspiel zwischen der Technokratie und den Wertvorstellungen der Alten Welt vermittelt uns das Werk Mark Twains, den die technischen Leistungen des 19. Jahrhunderts immer wieder faszinierten. Er bezeichnete dieses Jahrhundert als »das schlichteste, kräftigste, großartigste und würdigste, das die Welt je gesehen hat«, und er beglückwünschte Walt Whitman einmal dazu, in einer Zeit zu leben, die der Welt die wohltätigen Erzeugnisse des Steinkohlenteers geschenkt hat. Oft wird behauptet, Mark Twain sei der erste Schriftsteller gewesen, der regelmäßig eine Schreibmaschine benutzte, und er investierte eine Menge Geld in neue Erfindungen (wobei er wiederum viel verlor). In seinem Buch Leben auf dem Mississippi finden sich immer wieder liebevoll ausgeschmückte Schilderungen der industriellen Entwicklung, zum Beispiel diese über das Wachstum der Baumwollspinnerei in Natchez:
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»Die Rosalie Garnspinnerei in Natchez verfügt über 6000 Spindeln und 160 Webstühle und hat 100 Arbeiter in Lohn. Die Natchez Baumwoll-Weberei A. G. begann ihren Betrieb vor vier Jahren in einem einstöckigen Haus von 50 mal 190 Fuß; Anfangskapazität 4000 Spindeln und 128 Webstühle... Die Fabrik verarbeitet jährlich 5000 Ballen Baumwolle zu 5.000.000 Yard braunem Schirting, Leinwand und Drell von bester Standardqualität.«
Twain schilderte nichts lieber als den Gigantismus und den Erfindungsreichtum der amerikanischen Industrie. Gleichzeitig jedoch bekräftigt sein gesamtes Werk die Wertvorstellungen einer vorindustriellen Ära. Persönliche Loyalität, regionale Traditionen, die Beständigkeit des Familienlebens, die Bedeutung von Erzählungen und Weisheiten der Älteren machen den Kern seiner Bücher aus. Die Geschichte von Huckleberry Finn und Jim, die auf einem Floß ihren Weg in die Freiheit suchen, ist nichts anderes als eine Hymne auf die Beharrlichkeit der Spiritualität des vortechnologischen Menschen.
Wenn wir fragen, warum die Technokratie die Weltsicht der Werkzeugkultur nicht zerstörte, so könnte die Antwort lauten, daß der Furor des Industrialismus noch zu neu und in seiner Reichweite noch beschränkt war, so daß es ihm nicht gelang, die inneren Bedürfnisse der Menschen umzumodeln und Sprache, Erinnerungen und Sozialstrukturen der Werkzeugkultur zu verdrängen. Es war möglich, die Wunder einer mechanischen Baumwollspinnerei zu betrachten, ohne deshalb die Tradition als völlig nutzlos abzuweisen.
Wenn man die amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts eingehend untersucht, vernimmt man das Ächzen und Knirschen einer in der Krise befindlichen Religion, einer heftigen Angriffen ausgesetzten Welt der Mythen und Überlieferungen, einer Politik und eines Bildungswesens, die in Verwirrung geraten sind, aber dieses Ächzen ist noch kein Todesröcheln. Es sind Laute einer gequälten Kultur, nicht mehr. Die Ideen der Werkzeugkultur galten schließlich Problemen, die in einer Technokratie immer noch akut waren. Die Menschen, die in der Technokratie lebten, wußten, daß Wissenschaft und Technik keine Anschauungen hervorbringen würden, die eine Orientierung für das Leben bieten konnten, und deshalb hielten sie sich an die Anschauungen ihrer Väter.
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Sie konnten sich nicht zu der Überzeugung durchringen, daß die Religion, wie es Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte, nichts weiter sei als eine Zwangsneurose. Und sie mochten auch nicht recht glauben, daß, wie es die neue Kosmologie sie lehrte, das Universum nur das Ergebnis einer zufälligen Zusammenballung von Atomen sei. Wie Mark Twain hielten sie bei aller Abhängigkeit von den Maschinen an der Auffassung fest, daß diese Werkzeuge Diener bleiben und nicht zu Herren werden sollten. Vielleicht ließen sie zu, daß sich ihre Werkzeuge wie anmaßende, aggressive, überhebliche Diener gebärdeten, aber daß sich die Werkzeuge jemals über ihre Dienstbarkeit erheben könnten, war für sie ein Schreckensbild. Und obwohl die Technokratie der menschlichen Seele keinen klaren Platz zuzuweisen vermochte, hielten die Menschen, die in ihr lebten, daran fest, daß eine Zunahme des materiellen Wohlstandes nie und nimmer eine hinreichende Entschädigung für eine Kultur bieten könnte, die ihre Selbstachtung beschädigte.
So existierten zwei einander entgegengesetzte Weltsichten — die technologische und die traditionale — in einer prekären Spannung nebeneinander. Die technologische war natürlich die stärkere, aber die traditionale war ebenfalls vorhanden - sie funktionierte noch, besaß Einfluß und war noch viel zu lebendig, als daß man sie hätte ignorieren können. Belege hierfür finden wir nicht nur bei Mark Twain, sondern auch in der Dichtung von Walt Whitman, in den Reden von Abraham Lincoln, in der Prosa von Thoreau, in der Philosophie von Emerson, in den Romanen von Hawthorne und Melville und ganz besonders anschaulich in Alexis de Tocquevilles monumentalem Werk Über die Demokratie in Amerika. Mit einem Wort, im Amerika des 19. Jahrhunderts lagen zwei unterschiedliche Gedankenwelten im Widerstreit miteinander.
Mit dem Aufstieg des Technopols verschwindet eine dieser Gedankenwelten. Das Technopol beseitigt die Alternativen, die es zu ihm gibt, auf eben jene Weise, die Aldous Huxley in Schöne neue Welt beschrieben hat. Es drängt sie nicht in die Illegalität, auch nicht in die Immoralität. Es macht sie nicht einmal unpopulär. Es macht sie einfach unsichtbar und damit irrelevant. Und dies gelingt ihm, indem es das, was wir unter Religion, Kunst, Familie, Politik, Geschichte, Wahrheit, Privatsphäre, Intelligenz verstehen, neu definiert, dergestalt, daß die Definitionen schließlich den Anforderungen des Technopols genügen.
Mit anderen Worten, das Technopol ist die totalitär gewordene Technokratie.
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Während ich dies schreibe, ist die amerikanische Kultur (und das ist der Grund, warum ich dies schreibe) die einzige, die zu einem Technopol geworden ist. Sie ist noch ein junges Technopol, und wir dürfen annehmen, daß sie nicht nur das erste Technopol gewesen sein, sondern auch das am höchsten entwickelte Technopol bleiben will. Deshalb werfen die Vereinigten Staaten jetzt besorgte Blicke nach Japan und nach mehreren europäischen Ländern, die sich ebenfalls anschicken, Technopole zu werden.
Versucht man, die Anfänge des Technopols in Amerika zu datieren, so geht das nicht ohne Willkür ab. Es ist, als wollte man genau bestimmen, wann eine Münze, die man in die Luft geworfen hat, anfängt zu fallen. Man kann den Augenblick, in dem sie aufhört zu steigen, nicht genau erkennen; man weiß nur, daß es geschehen ist und daß sie nun niedergeht. Huxley selbst nannte als den entscheidenden Augenblick für den Übergang von der Technokratie zum Technopol die Entstehung des Imperiums von Henry Ford, und deshalb wird in seiner Schönen neuen Welt die Zeit in v.F (vor Ford) und n.F. (nach Ford) eingeteilt.
Wegen seines dramatischen Verlaufs bin ich versucht, für einen entscheidenden Augenblick den berühmten »Affen«-Prozeß gegen John Scopes zu halten, der im Sommer 1925 in Dayton, Tennessee, stattfand. Wie in dem Prozeß gegen Galilei dreihundert Jahre vorher standen sich auch hier zwei Weltsichten unversöhnlich gegenüber. Und wie in dem Prozeß gegen Galilei drehte sich der Streit nicht nur um den Inhalt der »Wahrheit«, sondern auch um das richtige Verfahren zur Bestimmung der »Wahrheit«. Die Verteidiger von Scopes boten alle Grundannahmen und den ganzen methodischen Scharfsinn der modernen Wissenschaft auf (genauer gesagt: sie versuchten es), um zu beweisen, daß der religiöse Glaube keine Rolle spielen könne, wenn es darum geht, die Ursprünge des Lebens und die Abstammung des Menschen aufzudecken und zu begreifen.
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William Jennings Bryan und seine Anhänger setzten sich leidenschaftlich für die Gültigkeit eines Glaubens ein, der die Frage nach dem Ursprung an das Wort Gottes verwies. Im Laufe des Prozesses machten sie sich vor den Augen der Welt lächerlich. Aber fast siebzig Jahre später kann man zu ihren Gunsten immerhin eines sagen: Diese »Fundamentalisten« waren im Hinblick auf die Wohltaten der Wissenschaft und der Technik weder unwissend noch gleichgültig. Sie besaßen Automobile, sie benutzten Elektrizität, sie trugen maschinell gefertigte Kleidung. Sie gebrauchten den Telegraphen und das Radio, und zu ihnen zählte eine ganze Reihe von Männern, die man als angesehene Wissenschaftler bezeichnen kann. Sie waren durchaus daran interessiert, ihren Anteil an der Freigebigkeit der amerikanischen Technokratie zu erhalten, das heißt, sie waren weder Ludditen noch Primitive. Was sie jedoch kränkte und verletzte, war der Angriff der Wissenschaft auf die uralte Weltdeutung, aus der ihr Bild von einer moralischen Ordnung hervorgegangen war. Sie unterlagen, und ihre Niederlage war bitter.
Dieser Kampf klärte ein für allemal den Konflikt: bei der Definition von Wahrheit hat die große Welterklärung der induktiven Wissenschaft den Vorrang vor der großen Welterklärung der Genesis, und diejenigen, die hiermit nicht einverstanden sind, sind zu intellektueller Rückständigkeit verurteilt.
Obwohl vieles dafür spricht, den Scopes-Prozeß als Indiz für die endgültige Zurückweisung einer überlieferten älteren Weltsicht zu deuten, muß ich ihn übergehen. Im Mittelpunkt dieses Prozesses stand das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Glauben und nicht die Technologie, die zum Glaubensbekenntnis wird. Ein Ereignis, das die Anfänge einer Techno-Theologie markiert, ein Symptom für den Beginn des Technopols, finden wir in einer weniger dramatischen Konfrontation, zu der es schon früher, im Herbst 1910, kam. Vom September bis zum November dieses Jahres veranstaltete die Interstate Commerce Commission, eine Bundesbehörde zur Regelung des Handels zwischen den Bundesstaaten, Anhörungen, die sich mit dem Antrag der Northeastern Railroads befaßten, zum Ausgleich für Lohnerhöhungen, die den Eisenbahnarbeitern im Laufe des Jahres bereits gewährt worden waren, die Frachtgebühren heraufzusetzen.
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Der Verband der Eisenbahnarbeiter, vertreten durch Louis Brandais, sprach sich gegen diesen Antrag aus und erklärte, die Eisenbahngesellschaft könnte ihre Profite allein schon durch eine effizientere Betriebsführung erhöhen. Um seine Argumentation zu untermauern, ließ Brandeis Zeugen auftreten — vornehmlich Ingenieure und Industriemanager —, die erklärten, durch Anwendung der Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung könnte die Eisenbahn gleichzeitig die Löhne erhöhen und ihre Kosten senken.
Frederick W. Taylor war bei den Anhörungen zwar nicht anwesend, aber man berief sich häufig auf ihn als den Urheber der wissenschaftlichen Betriebsführung, und Fachleute versicherten der Kommission, das von Taylor entwickelte System könne jedermanns Probleme lösen. Zuletzt entschied die Kommission gegen den Antrag der Eisenbahngesellschaft, aber nicht, weil sie an die wissenschaftliche Betriebsführung glaubte, sondern weil sie der Meinung war, daß die Eisenbahngesellschaft ohnehin genug Geld einnahm. Doch viele Leute glaubten an die wissenschaftliche Betriebsführung, und die Anhörungen machten Taylor im ganzen Land bekannt. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Versuche unternommen, die Prinzipien des »Taylorismus« bei den Streitkräften, in der Justiz, im häuslichen Bereich, in der Kirche und im Erziehungswesen anzuwenden. Mit der Zeit gerieten der Name Taylors und die Einzelheiten seines Systems fast in Vergessenheit, aber seine Vorstellungen davon, woraus eine Kultur besteht, sind bis heute eine Grundlage des amerikanischen Technopols geblieben.
Ich nehme dieses Ereignis zum Ausgangspunkt, weil Taylors 1911 erschienenes Buch The Principles of Scientific Management die Anschauungen, die der Gedankenwelt des Technopols zugrunde liegen, zum erstenmal klar formuliert. Dazu gehört die Überzeugung, das erste, wenn nicht das einzige Ziel menschlichen Strebens und Denkens sei die Effizienz; ebenso die Vorstellung, daß eine technische Kalkulation dem menschlichen Urteil in jeder Hinsicht überlegen sei und daß man grundsätzlich der menschlichen Urteilskraft nicht trauen könne, weil sie durch Unklarheit, Mehrdeutigkeit und nutzlose Komplexität beeinträchtigt werde; daß die Subjektivität dem klaren Denken hinderlich sei; daß etwas, das sich nicht messen lasse, entweder nicht vorhanden oder wertlos sei; und daß die Angelegenheiten der Bürger eines Landes am besten von Fachleuten gelenkt und geleitet würden.
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Um Taylor (der den Begriff »wissenschaftliche Betriebsführung« nicht erfunden hat und ihn selbst nur zögernd verwendete) kein Unrecht zu tun, sollte man hinzufügen, daß er sein System ursprünglich nur für die Industrieproduktion vorgesehen hatte. Er wollte eine Wissenschaft des industriellen Arbeitsplatzes entwickeln, die nicht nur höhere Profite bringen, sondern auch höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen für die Lohnempfänger gewähren sollte. In seinem System, das auch »Zeit- und Bewegungsstudien« umfaßte, wurde das Urteil des einzelnen Arbeiters durch Gesetze, Regeln und Prinzipien außer Kraft gesetzt, die sich aus der »Wissenschaft« von seiner Arbeitstätigkeit ergaben. Das bedeutete, daß die Arbeiter die traditionellen Faustregeln aufgeben mußten, auf die sie sich bis dahin verlassen hatten; den Arbeitern wurde überhaupt jede mit Nachdenken verbundene Verantwortung abgenommen. Fortan dachte das System für sie. Dies ist ein wesentlicher Punkt, denn hieraus entstand eine Vorstellung, die zu den Grundprinzipien des Technopols gehört: daß die Technik das Denken ersetzen kann.
Die Voraussetzungen, auf denen die Grundsätze der wissenschaftlichen Betriebsführung beruhten, sind nicht mit einem Schlag der Originalität Taylors entsprungen. Sie reiften und wuchsen im Schoß der Technokratien des 18. und 19. Jahrhunderts heran. Und es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Ursprünge des Technopols auf den französischen Philosophen Auguste Comte aus dem frühen 19. Jahrhundert zurückgehen, der in dem Bemühen um eine Wissenschaft von der Gesellschaft den Positivismus und die Soziologie begründete. Comtes These, daß alles, was nicht sichtbar und nicht meßbar ist, unwirklich sei, war die Grundlage für die spätere Vorstellung vom Menschen als einem Objekt.
Aber in der Technokratie sind solche Vorstellungen lediglich Nebenprodukte, die daher rühren, daß die Technologie immer mehr Bedeutung gewinnt. Technokratien sind daran interessiert, Maschinen zu erfinden. Daß diese Maschinen das Leben der Menschen verändern, wird als selbstverständlich hingenommen, und daß Menschen zuweilen so behandelt werden müssen, als wären sie Maschinen, gilt als unabänderliche, wenngleich bedauerliche Bedingung des technologischen Fortschritts. Aber die Technokratie macht aus diesen Verhältnissen kein Grundprinzip der Kultur.
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Ihr Ziel ist nicht die große Reduktion, in der das menschliche Dasein seinen Sinn schließlich in Apparaturen und Technik finden muß. Diese Reduktion betreibt erst das Technopol. Im Werk von Frederick Taylor, so scheint mir, ist zum erstenmal der Gedanke formuliert, daß der Gesellschaft am besten gedient sei, wenn die Menschen für ihre Technik und ihre Technologie verfügbar gemacht werden, und daß sie in einem gewissen Sinne weniger wertvoll sind als die Maschinen. Taylor und seine Nachfolger haben sehr genau beschrieben, was das bedeutet, und sie haben ihre Entdeckung als den Anbruch einer schönen neuen Welt bejubelt.
Warum fand das Technopol — die Unterwerfung aller Formen des kulturellen Lebens unter die Vorherrschaft von Technik und Technologie — in Amerika einen so fruchtbaren Boden?
Es gibt vier miteinander zusammenhängende Gründe für den Aufstieg des Technopols in Amerika, dafür, daß es hier zuerst hervortrat und daß es hier ungehindert gedeihen konnte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß über alle diese Gründe in mancherlei Zusammenhängen schon viel geschrieben worden ist und daß sie durchaus bekannt sind.
Der erste steht in Verbindung mit dem, was man gemeinhin den »amerikanischen Charakter« nennt. Seine wichtigsten Merkmale hat Tocqueville schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben: »Der Amerikaner bewohnt ein Land der Wunder, alles um ihn ist in steter Unruhe, und jede Bewegung erscheint als Fortschritt. Die Vorstellung des Neuen ist daher in seinem Geist eng mit der Vorstellung des Besseren verknüpft. Nirgends erblickt er die Grenze, welche die Natur den Mühen des Menschen gezogen haben mag; in seinen Augen ist das nicht Vorhandene das noch nicht Versuchte.«4
Dieses Merkmal ist für jeden offenkundig, der sich mit der amerikanischen Kultur beschäftigt hat, wenngleich es von verschiedenen Leuten auf sehr unterschiedliche Weise erklärt wird. Einige führen es darauf zurück, daß die Bevölkerung Amerikas aus Einwanderern besteht; andere verweisen auf die Pioniermentalität; wieder andere auf die riesigen natürlichen Ressourcen eines in einmaliger Weise gesegneten Landes und auf die unbegrenzten Möglichkeiten eines neuen Kontinents; einige auf die bisher nie gekannte politische und religiöse Freiheit, die hier jedem gewährt wurde; andere auf alle diese Faktoren und noch mehr dazu.
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Es genügt hier zu sagen, daß das amerikanische Mißtrauen gegenüber Einengungen jedweder Art — man könnte sogar sagen: die amerikanische Skepsis gegen Kultur überhaupt — das radikale, ungehemmte Eindringen verschiedener Technologien durchaus begünstigt hat.
An zweiter Stelle und mit dem ersten Element eng verbunden sind das Genie und die Kühnheit der amerikanischen Kapitalisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu nennen, von Männern, die schneller und konzentrierter die ökonomischen Möglichkeiten neuer Technologien auszubeuten begannen, als dies in anderen Länder geschah. Zu ihnen gehören Samuel Morse, Alexander Graham Bell, Thomas Edison, John J. Rockefeller, John Jacob Astor, Henry Ford, Andrew Carnegie und viele andere — manche von ihnen hat man auch als Robber Barons, als »Raubritter«, bezeichnet.
Was sie raubten — man erkennt das heute klarer als damals —, war die Vergangenheit Amerikas, denn ihr Grundgedanke lautete, nichts sei so bewahrenswert, daß man es auch dann bewahren müsse, wenn es der technologischen Innovation im Wege stehe. Diese Männer prägten das 20. Jahrhundert, und sie gelangten dabei zu einem Reichtum, einem Ansehen und einer Macht, die selbst Richard Arkwright in Erstaunen versetzt hätte. Ihre größte Leistung aber bestand darin, daß sie ihren Landsleuten klarmachten, die Zukunft brauche keine Verbindung mit der Vergangenheit zu wahren.
Drittens: der Erfolg der Technologie des 20. Jahrhunderts bei der Versorgung der Amerikaner mit Bequemlichkeit, Komfort, Tempo, Hygiene und Überfluß war so offenkundig und vielversprechend, daß es keinen Grund zu geben schien, nach anderen Quellen von Erfüllung oder Kreativität oder nach anderen Orientierungen Ausschau zu halten. Zu jeder Überzeugung, jeder Gewohnheit, jeder Tradition der Alten Welt gab und gibt es eine technologische Alternative. Die Alternative zum Gebet ist das Penicillin; die Alternative zur Verwurzelung in der Familie ist die Mobilität; die Alternative zum Lesen ist das Fernsehen; die Alternative zur Selbstbeschränkung ist die unmittelbare Wunscherfüllung; die Alternative zur Sünde ist die Psychotherapie; die Alternative zur politischen Programmatik ist das populäre Image auf der Basis wissenschaftlicher Meinungsumfragen.
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Selbst zu dem quälenden Rätsel des Todes, wie Freud es genannt hat, gibt es eine Alternative. Zuerst wird dieses Rätsel durch Verlängerung des Lebens aufgeschoben und danach vielleicht mit Hilfe der Tieftemperaturtechnik ein für allemal aufgehoben. Jedenfalls fällt so rasch niemandem ein Grund dafür ein, warum es nicht so sein sollte.
Während sich die spektakulären Triumphe der Technologie häuften, geschah noch etwas anderes: die Quellen älterer Anschauungen und Überzeugungen gerieten in Bedrängnis.
Nietzsche verkündete, Gott sei tot. Darwin ging nicht so weit, aber er machte deutlich, daß wir, sofern wir denn Kinder Gottes waren, auf einem Weg hierzu geworden waren, der sich viel länger und sehr viel weniger erhaben ausnahm, als wir bisher vermutet hatten, und daß wir uns unterwegs ein paar sonderbare und nicht besonders ansehnliche Verwandte zugelegt hatten.
Marx behauptete, die Geschichte habe ihre eigene Tagesordnung und führe uns, ohne Rücksicht auf unsere Wünsche, in die Richtung, in der sie fortschreiten müsse. Freud lehrte, wir würden unsere innersten Bedürfnisse nicht verstehen und dürften nicht darauf hoffen, sie mit den herkömmlichen Mitteln unseres Verstandes aufzudecken. John Watson, der Begründer des Behaviorismus, zeigte, daß Willensfreiheit eine Illusion sei und daß sich unser Verhalten letzten Endes kaum von dem der Tauben unterschied. Einstein und seine Kollegen erklärten, es gebe keine Möglichkeit, sich über irgend etwas zu irgendeinem Zeitpunkt ein festes Urteil zu bilden, denn alles sei relativ.
Hundert Jahre Wissenschaft bewirkten, daß wir das Vertrauen in unsere Glaubensüberzeugungen und damit auch den Glauben an uns selbst verloren. Auf dem Trümmerfeld der Begriffe blieb nur eine einzige Gewißheit zurück, auf die man setzen konnte — die Technologie. Was immer man bestreiten und in Frage stellen mag — klar ist, daß Flugzeuge wirklich fliegen, daß Antibiotika heilen, daß Radios sprechen und daß, wie wir inzwischen wissen, Computer rechnen und nie Fehler machen — nur fehlbare Menschen machen Fehler (wovon uns schon Frederick Taylor zu überzeugen versucht hatte).
Aus all diesen durchaus bekannten Gründen waren die Amerikaner besser als andere Völker darauf vorbereitet, die Errichtung des Technopols in Angriff zu nehmen. Aber daß es zu voller Blüte gelangte, hing auch von einer Reihe anderer, weniger deutlich sichtbarer und daher weniger bekannter Voraussetzungen ab.
Diese Voraussetzungen bildeten den Hintergrund und den Kontext, in dem das amerikanische Mißtrauen gegen jegliche Einengung, das Ausbeutergenie seiner Industriekapitäne, die Erfolge der Technologie und die Entwertung überkommener Anschauungen jene übersteigerte Bedeutung gewannen, die in Amerika den Umschlag der Technokratie ins Technopol herbeiführte.
Diesen Kontext möchte ich im folgenden Kapitel unter dem Stichwort <Unwahrscheinliche Welt> genauer untersuchen.
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