Start    Weiter

9. Szientismus

Postman-1991

 

156-176

Am 5.12.1989 widmete Daniel Goleman, der für die <New York Times> über die Sozial­wissen­schaften berichtet, einigen »neuen Forschungs­ergebnissen« breiten Raum, die auf Leser, welche über die laufenden Projekte unserer Human­wissenschaftler nicht informiert waren, höchst beunruhigend gewirkt haben müssen: Goleman berichtete nämlich, Psychologen hätten entdeckt, daß die Menschen Angst vor dem Tod haben. Diese Erkenntnis habe sie dazu veranlaßt, so Goleman, »eine umwerfende Theorie« zu formulieren, »die der Angst vor dem Tod eine zentrale und oft geradezu überraschende Rolle im psychischen Leben zuweist«.

Für wen die Rolle des Todes überraschend war, erfahren wir nicht, aber die Theorie ist immerhin so gewichtig, daß sie die Hypothese nahelegt, alle Kulturen (um noch einmal Goleman zu zitieren) »gäben ihren Angehörigen Anweisungen, wie sie ein <gutes> und <sinnerfülltes> Leben führen sollten, und machten ihnen Hoffnung auf Unsterblichkeit, wie etwa in der der* christlichen Vorstellung vom ewigen Leben oder in der hinduistischen Vorstellung von der Wiedergeburt zu einem besseren Leben.« (* Die Wiederholung des Wörtchens »der« in dem zitierten Satz ist vielleicht nur ein Druckfehler — aber vielleicht steht sie auch für ein ergriffenes Stammeln angesichts einer derart verblüffenden Hypothese.)

Als wäre dies noch nicht genug, berichtet Goleman, dieselben Psychologen hätten überdies herausgefunden, daß die Art und Weise, wie ein Mensch auf den Tod reagiert, von seinem jeweiligen Moralkodex abhängig ist und daß Menschen, die Aufge­schlossenheit für einen Wert halten, toleranter als andere gegenüber Menschen sind, deren Werte von ihren eigenen abweichen — mit anderen Worten, aufgeschlossene Leute sind aufgeschlossen, eine Tatsache, die, falls sie überhaupt bekannt war, bisher jedenfalls niemals hinreichend gewürdigt worden ist.

Am 11. September 1990 offenbarte Goleman, neuere Untersuchungen hätten ergeben, daß asiatisch-amerikan­ische Schüler in der Schule meist gut abschneiden, weil sie aus intakten Familien kommen, in denen der höheren Schulbildung ein zentraler Wert beigemessen wird. Und am 2. Oktober 1990 berichtete er, Psychologen hätten entdeckt, daß Kinder, die im sozialen Umgang unbeholfen sind, bei anderen Kindern tendenziell eher unbeliebt sind.

 

Ich führe diese Berichte aus der <New York Times> an, weil diese Zeitung von vielen als maßgebliches Archiv der Zeitgeschichte angesehen wird und man daher vermuten darf, daß sie über das Beste berichtet, was die Sozialwissenschaften zu bieten haben. Es ist natürlich möglich, daß Goleman ein »Maulwurf« ist, ein verdeckt arbeitender Agent, der uns zeigen will, wie es um unsere Kultur bestellt ist, indem er sich über die Trivialitäten der Sozialwissenschaften lustig macht.  

Aber ich zweifle, daß es sich so verhält. Er scheint an die Sozialwissenschaften zu glauben, so wie viele andere unter dem Technopol dies ebenfalls tun. Das heißt, er ist der Ansicht, daß die Erforschung des menschlichen Verhaltens, sofern sie nach den strengen Prinzipien der physikalischen und biologischen Wissenschaften betrieben wird, objektive Tatsachen, überprüfbare Theorien und ein tieferes Verständnis des menschlichen Lebens zum Ergebnis hat. Vielleicht sogar universelle Gesetze.

Ich habe diesen Glauben weiter oben auf das Werk von Auguste Comte zurückgeführt, was sich auch durchaus vertreten läßt, wenngleich es den Sachverhalt zu sehr vereinfacht. Genaugenommen müßte man die Anfänge der »Wissenschaft vom Menschen« nicht einem Einzelnen, sondern einer bestimmten Schule zuschreiben, der 1794 in Paris gegründeten Ecole Polytechnique (die, wie bereits erwähnt, sehr schnell aus Cambridge die Praxis übernahm, die Arbeiten ihrer Schüler mit Noten zu bewerten). 

157


Die Ecole Polytechnique versammelte in ihrem Lehrerkollegium die besten Natur­wissen­schaftler, Mathematiker und Ingenieure, die Frankreich hervorgebracht hatte, und wurde berühmt für den Enthusiasmus, den sie den Methoden der Naturwissenschaften entgegenbrachte. Hier lehrten Lavoisier und Ampère, später auch Volta und Alexander von Humboldt. Ihre Arbeiten auf den Gebieten der Chemie und der Physik trugen dazu bei, die Grundlagen der modernen Wissenschaft zu schaffen, und in dieser Hinsicht besitzt die Ecole Polytechnique ihren hohen Ruf zu Recht. Aber mit dieser Schule standen auch andere Wissenschaftler in Verbindung, deren überschwengliche Begeisterung für die Methoden der Naturwissenschaften sie zu dem Glauben verleiteten, für die Kraft des menschlichen Verstandes gebe es keine Grenzen und vor allem keine Grenzen für die Kraft der wissenschaftlichen Forschung. 

Ihren berühmtesten Ausdruck fand diese »wissenschaftliche Hybris« in Pierre-Simon de Laplaces 1814 erschienenem <Essai philosophique sur les probabilités>. Darin heißt es: 

»Ein Geist, dem in einem bestimmten Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, und die Lage aller Körper, aus denen sie besteht, bekannt wäre, wenn er denn groß genug wäre, alle diese Gegebenheiten in seine Analyse einzubeziehen, könnte mit einer einzigen Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und der kleinsten Atome erfassen; nichts wäre ihm ungewiß, die Zukunft und die Vergangenheit stünden ihm gleich deutlich vor Augen.«1)

Heute gibt es natürlich keinen Naturwissenschaftler, der diese Vorstellung noch ernst nähme, und auch im 19. Jahrhundert waren nicht allzu viele dazu bereit. Aber der Geist hinter diesem wissenschaftlichen Ideal bestärkte mehrere Männer in dem Glauben, daß es möglich sei, so verläßliche und voraussagbare Erkenntnisse wie über Sterne und Atome auch über das Verhalten des Menschen zu gewinnen. Die bekanntesten unter diesen frühen »Sozialwissen­schaftlern« waren Claude-Henri de Saint-Simon, Prosper Enfantin und natürlich Auguste Comte. 

Ihnen waren zwei Überzeugungen gemeinsam, denen das Technopol viel zu verdanken hat: daß die Naturwissenschaften eine Methode liefern, mit der sich die Geheimnisse sowohl des menschlichen Herzens als auch des Werdegangs der Gesellschaft lüften lassen; und daß man die Gesellschaft auf rationale und humane Weise nach den von den Sozialwissenschaften entdeckten Prinzipien umgestalten könne. Von diesen Männern nimmt die Idee des »social engineering« ihren Ausgang, sie haben die Saat des Szientismus ausgestreut.

158


Unter Szientismus verstehe ich drei miteinander verbundene Ideen, die zusammengenommen einen der Grundpfeiler des Technopols bilden. Der erste und unentbehrliche Gedanke besagt, daß sich die Methoden der Naturwissenschaften auch zur Untersuchung von menschlichem Verhalten eignen. Diese Vorstellung ist der Rahmen für vieles, was auf den Gebieten der Psychologie und der Soziologie, zumindest in Amerika, getrieben wird, und erklärt im wesentlichen auch, daß die Sozial­wissenschaft, um mit F.A. Hayek zu sprechen, »zu unserem Verständnis sozialer Phänomene kaum beigetragen hat«.2)

Der zweite Gedanke besagt, daß die Sozialwissenschaft spezifische Prinzipien formuliert, nach denen sich die Gesellschaft rational und human organisieren läßt. Hiermit verbindet sich die Vorstellung, daß technische Mittel — vor allem »unsichtbare Technologien«, die von Experten überwacht werden — entwickelt werden können, um menschliches Verhalten zu kontrollieren und in die richtigen Bahnen zu lenken.

Der dritte Gedanke besagt, daß der Glaube an die Wissenschaft zu einem neuen Fundament umfassender Überzeugungen werden kann, die dem Leben einen Sinn geben und den Menschen ein Gefühl von Wohlbefinden, eine Ethik und sogar Unsterblichkeit schenken.

Ich möchte hier zeigen, wie sich diese Ideen miteinander verknüpfen und wie sie dem Technopol Kraft und Gestalt verleihen.

Der Ausdruck »Science — Wissenschaft«, wie er heute gebraucht wird, um die Arbeit von Leuten zu bezeichnen, die sich innerhalb der physikalischen, chemischen und biologischen Disziplinen betätigen, verbreitete sich im frühen 19. Jahrhundert, nicht zuletzt infolge der Gründung der <British Association for the Advancement of Science> im Jahre 1831 (wenngleich Murrays <New English Dictionary> als frühesten Zeitpunkt, zu dem dieser Ausdruck in seiner modernen Bedeutung verwendet worden sei, das Jahr 1867 angibt).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich auch andere den Begriff zu eigen gemacht, und seither benutzt man ihn in zunehmendem Maße auch zur Bezeichnung dessen, was Psychologen, Soziologen und Anthropologen tun.

159


Es wird den Leser nicht überraschen, wenn ich behaupte, daß es sich hier um einen irreführenden Sprachgebrauch handelt — auch deshalb, weil er den Unterschied zwischen Prozessen und Praktiken verwischt.

Im Anschluß an die Definitionen von Michael Oakeshott können wir sagen, daß man als »Prozesse« solche Ereignisse bezeichnet, die sich in der Natur vollziehen, etwa die Kreisbewegung der Planeten, das Schmelzen von Eis oder die Erzeugung von Chlorophyll in einem Blatt. Derartige Prozesse haben mit menschlicher Intelligenz nichts zu tun, sie werden von unwandelbaren Gesetzen gelenkt und gleichsam durch die Struktur der Natur selbst determiniert.

Unter »Praktiken« hingegen versteht Oakeshott etwas von den Menschen Geschaffenes, nämlich Ereignisse, die sich aus menschlichen Entscheidungen und Handlungen ergeben — zum Beispiel das Schreiben oder die Lektüre dieses Buches oder die Bildung einer neuen Regierung oder das, was geschieht, wenn wir uns beim Abendessen miteinander unterhalten oder wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben. Derlei Ereignisse sind das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen menschlicher Intelligenz und Umwelt, und obwohl das Dasein der Menschen zweifellos ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit aufweist, wird es doch nicht von unwandelbaren Gesetzen bestimmt. 

Mit anderen Worten, es gibt einen unwiderruflichen Unterschied zwischen einem Blinzeln und einem Zwinkern. Das Blinzeln ist ein Ereignis, das wir als Prozeß klassifizieren können, es hat physiologische Ursachen, die sich im Kontext beweisbarer Postulate und Theorien begreifen und erklären lassen. Das Zwinkern dagegen müssen wir als eine Praktik klassifizieren, die von individuellen und bis zu einem gewissen Grad nicht zu ermittelnden Bedeutungen erfüllt ist und sich keinesfalls kausal erklären oder vorhersagen läßt.

Als Wissenschaft (science) können wir also die Suche nach den unwandelbaren, universellen Gesetzen bezeichnen, von denen Prozesse gelenkt werden, ausgehend von der Annahme, daß zwischen diesen Prozessen Beziehungen von Ursache und Wirkung bestehen. Daraus folgt, daß sich das Bestreben, menschliches Verhalten und Empfinden zu verstehen, nicht oder nur in einem äußerst trivialen Sinne als Wissenschaft bezeichnen läßt.

160


Man könnte nun natürlich darauf hinweisen, daß die Forscher, die sich mit Naturgesetzen befassen, und jene, die sich mit menschlichem Verhalten befassen, ihre Beobachtungen häufig quantifizieren, und könnte sie aufgrund dieser Gemeinsamkeit der gleichen Kategorie zuordnen. Aber wer so denkt, der müßte auch annehmen, daß ein Anstreicher und ein Kunstmaler schon deshalb das gleiche tun und das gleiche beabsichtigen, weil sich beide der Farbe bedienen.

Der Wissenschaftler gebraucht die Mathematik als Hilfsmittel bei der Aufdeckung und Beschreibung des Aufbaus der Natur. Der Soziologe (um nur ein Beispiel zu nennen) benutzt die Mathematik bestenfalls, um eine gewisse Genauigkeit in seine Gedanken zu bringen. Daran freilich ist nichts spezifisch Wissenschaftliches. Alle möglichen Leute zählen Dinge, um Genauigkeit zu erreichen, und behaupten dennoch nicht, sie seien Wissenschaftler. Kautionsbürgen zählen die Morde, die in ihrer Stadt begangen werden; Richter zählen die Scheidungsprozesse in ihrem Amtsbereich; Geschäftsführer zählen nach, wieviel Geld in ihren Filialen ausgegeben wird; und kleine Kinder lieben es, ihre Zehen und Finger zu zählen, weil sie es eben genau wissen wollen. Informationen, die sich durch Zählen ergeben, können wertvoll sein, indem sie jemanden auf eine bestimmte Idee bringen, oder eher noch, indem sie eine Idee untermauern. Aber das bloße Zählen macht noch keine Wissenschaft.

Und ebensowenig das bloße Beobachten, obgleich hin und wieder behauptet wird, wenn man empirisch vorgehe, so sei das wissenschaftlich. Empirisch vorgehen bedeutet, daß man sich die Dinge ansieht, bevor man Schlüsse zieht. Deshalb ist jeder Mensch ein Empiriker, vielleicht mit Ausnahme paranoider Schizophrener. Empirisch vorgehen bedeutet auch, daß man Beweise vorlegt, die für andere ebenso einleuchtend sind wie für einen selbst.

So könnten Sie beispielsweise zu dem Schluß gelangen, daß es mir Spaß macht, Bücher zu schreiben, und als Beweis hierfür könnten Sie anführen, daß ich dieses Buch hier und noch ein paar andere geschrieben habe. Sie könnten als Beweis auch eine Tonbandaufnahme präsentieren, die ich Ihnen auf Anfrage gern zur Verfügung stelle und auf der ich Ihnen mitteile, daß ich gern Bücher schreibe. Man kann solche Beweismittel empirisch und Ihre Schlußfolgerung empirisch fundiert nennen. Aber deshalb betätigen Sie sich noch lange nicht als Wissenschaftler.

161


Sie handeln wie ein vernünftiger Mensch, und darauf können mit Fug und Recht viele Leute Anspruch erheben, die keine Wissenschaftler sind.

Wissenschaftler sind bestrebt, empirisch zu verfahren und, wenn möglich, präzise zu sein, aber es ist für ihr Unterfangen auch grundlegend, daß sie ein hohes Maß an Objektivität wahren, daß sie also ihre Gegenstände untersuchen, ohne darauf zu achten, was andere Menschen über diese Gegenstände denken oder mit ihnen anfangen. Die Ansichten der Menschen von der äußeren Welt sind für die Wissenschaftler stets ein Hindernis, das sie überwinden müssen, und das Bild, das sich die Wissenschaftler von der äußeren Welt machen, unterscheidet sich bekanntlich ganz erheblich von dem, das sich die Mehrzahl der Menschen macht. Außerdem gehen Wissenschaftler in ihrem Streben nach Objektivität von der Annahme aus, daß ihre Untersuchungsobjekte durch die Tatsache, daß man sie untersucht, nicht »berührt« werden, daß sie indifferent bleiben. 

Die Heisenbergsche Unschärferelation deutet zwar darauf hin, daß die Teilchen auf subatomarer Ebene »wissen«, daß sie untersucht werden, jedenfalls wenn man »wissen« in einem ganz spezifischen Sinne auffaßt. Ein Elektron zum Beispiel verändert entweder seinen Impuls oder seine Lage, wenn es aufgespürt wird, d. h. wenn es in eine Wechselwirkung mit einem Photon gerät. Aber im gebräuchlichen Sinne des Wortes »weiß« dieses Elektron nicht und kümmert sich auch nicht darum, daß die Wechselwirkung stattfindet. Das gleiche gilt für Objekte wie Blätter, Äpfel, Planeten, Lebern oder Brücken. Dieser Umstand enthebt die Wissenschaftler der Notwendigkeit, die eigenen Wertvorstellungen und Motivationen in den Blick zu nehmen, und trennt allein schon aus diesem Grund die Wissenschaft von der sogenannten Sozialwissenschaft, indem er der Methodologie der letzteren (Gunnar Myrdal zufolge) den Status des »Metaphysischen und Pseudo-Objektiven« zuweist.3

Das Ansehen der sozialwissenschaftlichen Methoden wird auch dadurch beeinträchtigt, daß es kaum Experimente gibt, die eine sozialwissenschaftliche Theorie als falsch erweisen könnten. In den Sozialwissenschaften verschwinden Theorien anscheinend nicht deshalb, weil sie widerlegt wurden, sondern weil sie langweilig geworden sind.

162


Wie jedoch Karl Popper gezeigt hat, beruht die Wissenschaft auf der Forderung, Theorien müßten so formuliert sein, daß sie sich in Experimenten als falsch herausstellen können. Eine Theorie, die sich nicht auf ihre Falschheit überprüfen läßt, ist keine wissenschaftliche Theorie — das gilt zum Beispiel für Freuds Theorie des Ödipus-Komplexes. Psychologen können viele Beispiele anführen, die die Gültigkeit dieser Theorie untermauern, aber die Frage »Aufgrund welcher Beweismittel würde sich die Theorie als falsch erweisen?« können sie nicht beantworten. Diejenigen, die an die sogenannte »Schöpfungswissenschaft« glauben, reagieren mit Schweigen auf die Frage: »Welche Beweismittel würden zeigen, daß es keinen Gott gibt?«

Ich behaupte hier nicht, daß es den Ödipus-Komplex und daß es Gott nicht gibt. Ich behaupte auch nicht, daß es schädlich sei, an sie zu glauben - ganz und gar nicht. Ich sage nur, da es keine Prüfverfahren gibt, in denen sie sich prinzipiell als falsch erweisen könnten, liegen sie außerhalb des Geltungsbereichs der Wissenschaft, wie dies übrigens für fast alle Theorien gilt, die den Inhalt der »Sozialwissenschaft« ausmachen.

Ich werde gleich erklären, wofür ich die Sozialwissenschaften halte, und auch, warum das Technopol sie gern in eine Verbindung mit der Wissenschaft bringt. Doch zunächst möchte ich anhand eines Beispiels aus der Sozialwissenschaft verdeutlichen, warum es irreführend ist, hier von »Wissenschaft« zu sprechen.

Eine Studie, die als sozialwissenschaftliche Arbeit vielleicht nicht unter ethischem, wohl aber unter technischem Blickwinkel große Bewunderung erregt hat, ist die Folge von (sogenannten) Experimenten, die Stanley Milgram geleitet und unter dem Titel Obedience to Authority (dt.: Das Milgram-Experiment) publiziert hat. Im Zuge dieses Experiments suchte Milgram Menschen zu veranlassen, »unschuldige Opfer«, die allerdings eingeweiht waren, mit Elektroschocks zu traktieren. In Wirklichkeit wurden den Opfern diese Elektroschocks nicht verabreicht, aber die meisten Versuchspersonen glaubten es, und viele von ihnen lösten unter psychologischem Druck Schocks aus, die, wenn sie echt gewesen wären, das Opfer hätten töten können.

163


Milgram gab sich viel Mühe bei der Gestaltung der Umgebung, in der sich das alles abspielte, und sein Buch ist voll von Statistiken, die angeben, wie viele taten, was ihnen die Versuchsleiter sagten, und wie viele nicht. Etwa 65 Prozent seiner Versuchspersonen waren willfähriger, als es für das Wohlbefinden ihrer Opfer gut gewesen wäre. Milgram zieht aus seinem Experiment folgenden Schluß: Angesichts einer Instanz, die sie als rechtmäßige Autorität aurfassen, tun die meisten Menschen das, was man ihnen sagt. Anders ausgedrückt: Der soziale Kontext, in dem die Menschen sich befinden, ist ein bestimmender Faktor dafür, wie sie sich verhalten.

Nun ist aber diese Schlußfolgerung zunächst einmal nichts weiter als eine Binsenweisheit der Lebens­erfahrung, die jeder kennt, angefangen bei Maimonides bis hin zu Ihrer Tante und Ihrem Onkel, ausgenommen allerdings die amerikanischen Psychologen. Bevor Milgram sein Experiment durchführte, schickte er einer Gruppe von Psychologen einen Fragebogen, in dem er sie um ihre Meinung darüber bat, wie viele Versuchspersonen solche Elektroschocks verabreichen würden, wenn man sie dazu aufforderte. Die Psychologen glaubten, die Zahl werde sehr viel kleiner ausfallen, als sie dann in Wirklichkeit war, und gründeten diese Einschätzung auf ihre Kenntnis des menschlichen Verhaltens. Ich möchte damit nicht sagen, daß wirkliche Wissenschaftler nie Binsenweisheiten verbreiteten, aber es kommt doch ziemlich selten vor und ist niemals Anlaß zur Begeisterung. Andererseits sind Schlußfolgerungen, die den Charakter von Binsenweisheiten haben, regelmäßiges Merkmal einer Sozialforschung, die sich als Wissenschaft ausgibt.

Zweitens war Milgrams Studie nicht im strengen Sinne empirisch, denn sie beruhte nicht auf der Beobachtung von Menschen in natürlichen Situationen. Ich nehme an, daß sich niemand sonderlich dafür interessiert, wie sich Menschen in einem Laboratorium an der Yale University oder anderswo verhalten. Aufschlußreich wäre jedoch, wie sie sich in Situationen verhalten, in denen es für ihren eigenen Lebens­zusammenhang auf ihr Verhalten ankommt.

Doch alle Schlußfolgerungen, die man aus Milgrams Studie ziehen will, muß man insofern einschränken, als sie nur für Menschen in Laboratorien und unter den von Milgram hergestellten Bedingungen gelten. Aber selbst wenn wir annehmen, daß es eine Entsprechung zwischen dem Verhalten im Laboratorium und lebens­ähnlichen Situationen gibt, läßt sich nicht voraussagen, welche lebensähnlichen Situationen dies sein werden.

164


Und genausowenig kann man ernsthaft behaupten, daß zwischen der Bereitschaft, eine rechtmäßige Autorität zu akzeptieren, und der Bereitschaft, ihre Gebote zu befolgen, ein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht. Milgram selbst zeigt uns, daß es nicht besteht, denn immerhin sagten 35 Prozent seiner Versuchspersonen der »Autoritätsgestalt«, sie solle mit dem Unfug aufhören. Übrigens hatte Milgram nicht die leiseste Ahnung, warum ihm manche Leute sagten, er solle mit dem Unfug aufhören, und andere nicht. Außerdem bin ich ziemlich sicher, daß Milgrams Zahlen ganz anders ausgefallen wären, wenn er seine Versuchspersonen aufgefordert hätte, Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem zu lesen, bevor sie im Laboratorium erschienen.

Aber nehmen wir an, ich würde mich hierin irren, und nehmen wir weiter an, Milgram hätte herausgefunden, daß 100 Prozent seiner Versuchspersonen tun, was man ihnen sagt — mit oder ohne Hannah Arendt. Nehmen wir außerdem an, ich würde Ihnen eine Geschichte von einer Gruppe von Menschen erzählen, die sich in irgendeiner realen Situation weigerten, die Gebote einer rechtmäßigen Autorität zu befolgen — etwa die Geschichte der Dänen, die unter der deutschen Besetzung neuntausend Juden zur Flucht nach Schweden verhalfen. 

Würden Sie mir dann sagen, das könne nicht sein, weil Milgrams Untersuchung etwas ganz anderes bewiesen habe? Oder würden Sie sagen, damit sei Milgrams Experiment widerlegt? 

Vielleicht würden Sie auch sagen, daß die Reaktion der Dänen nicht relevant sei, weil die Dänen in den deutschen Besatzern keine rechtmäßige Autorität erblickten. Wie würden Sie dann jedoch die Bereitschaft der Nazi-Kollaborateure in Frankreich, in Polen und in Litauen erklären? Aber vermutlich würden Sie nichts dergleichen sagen, weil Milgrams Experiment nämlich irgendeine Theorie, die man als Gesetz der menschlichen Natur bezeichnen könnte, weder bestätigt noch falsifiziert. Seine Studie, die mir übrigens ebenso faszinierend wie erschreckend erscheint, ist keine Wissenschaft. Sie ist etwas ganz anderes.

Und nun möchte ich endlich sagen, mit was für einer Art von Arbeit Milgram meiner Ansicht nach befaßt war — und mit was für einer Arbeit sich diejenigen befassen, die menschliches Verhalten und menschliche Situationen untersuchen.

165


Ich möchte hier zunächst auf einen berühmten Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein hinweisen. Freud schickte einmal eines seiner Bücher an Einstein und bat ihn gleichzeitig um sein Urteil. Einstein erwiderte, er halte das Buch für exemplarisch, sei aber nicht qualifiziert, seinen wissenschaftlichen Wert zu beurteilen. Worauf Freud ein wenig gereizt antwortete, wenn Einstein über den wissenschaftlichen Wert des Buches nicht befinden könne, dann sei ihm, Freud, nicht klar, wieso er das Buch für exemplarisch erachten könne: entweder es sei Wissenschaft, oder es sei gar nichts. Nun, selbstverständlich war Freud im Unrecht .Sein Werk ist exemplarisch — sogar monumental —, aber kaum jemand meint heute noch, daß Freud Wissenschaft getrieben habe, genausowenig, wie gebildete Leute meinen, Marx habe Wissenschaft betrieben, oder Max Weber oder Lewis Mumford oder Bruno Bettelheim oder C. G. Jung oder Margaret Mead oder Arnold Toynbee.

Diese Leute — und auch Stanley Milgram — haben das Verhalten und Empfinden von Menschen in der Auseinandersetzung mit Problemen dokumentiert, die ihnen ihre Kultur stellte. Ihre Arbeit ist eine Form von Geschichtenerzählen. Wissenschaft ist natürlich ebenfalls eine Art von Geschichtenerzählen, aber die Grundannahmen und Verfahrensweisen der Wissenschaft unterscheiden sich von denen der Sozialforschung so sehr, daß es höchst irreführend wäre, beidem den gleichen Namen zu geben.

Die Geschichten der Sozialforscher stehen ihrer Struktur und ihrer Zielsetzung nach der herkömmlichen Literatur sehr viel näher; das heißt, sowohl der Sozialforscher wie auch der Romancier geben einem Komplex von menschlichen Ereignissen unverwechselbare Deutungen und bekräftigen ihre Deutungen durch vielfältige Beispiele. Ihre Deutungen lassen sich nicht beweisen oder widerlegen, ihren Reiz gewinnen sie aus der Kraft ihrer Sprache, aus der Tiefendimension ihrer Erklärungen, aus der Triftigkeit ihrer Beispiele und der Glaubwürdigkeit ihres Stoffes. Und dies alles dient in beiden Fällen einem erkennbaren moralischen Zweck. Die Wörter »wahr« und »falsch« sind hier nicht in dem Sinne anwendbar, der ihnen in der Mathematik oder in der Wissenschaft zukommt. Denn an diesen Deutungen gibt es nichts, was universal und unwiderruflich wahr oder falsch wäre.

166


Es gibt keine Prüfverfahren, um sie zu bestätigen oder zu widerlegen. Es gibt keine Naturgesetze, aus denen sie sich ableiten lassen. Sie sind an eine Zeit und eine Konstellation gebunden und vor allem an die kulturellen Vorurteile des Forschers oder des Schriftstellers.

Ein Schriftsteller, zum Beispiel D.H. Lawrence, erzählt eine Geschichte über das Geschlechtsleben einer Frau, Lady Chatterley. Wir können daraus etwas über die Geheimnisse mancher Leute erfahren und dann fragen, ob die Geheimnisse der Lady Chatterley vielleicht doch alltäglicher sind, als wir vermutet haben. Lawrence erhob nicht den Anspruch, ein Wissenschaftler zu sein, aber er sah sich die Menschen, die er kannte, sehr genau und gründlich an und gelangte zu dem Schluß, daß es im Himmel und auf Erden mehr Heuchelei gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.

Auch Alfred Kinsey hat sich für das Geschlechtsleben von Frauen interessiert, und deshalb haben er und seine Assistenten Tausende von ihnen interviewt, um herauszufinden, wie sie über ihr sexuelles Verhalten dachten. Jede Frau erzählte ihre Geschichte, obschon diese Geschichte durch Kinseys Fragen nachdrücklich strukturiert wurde. Manche von ihnen erzählten alles, was man sie erzählen ließ, manche nur wenig, und manche haben wahrscheinlich gelogen. Aber als man alles zusammentrug, ergab sich eine Kollektiverzählung, die zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort gehörte. Sie war abstrakter als die Geschichte von D.H. Lawrence, überwiegend in der Sprache der Statistik erzählt, und natürlich ohne tiefere psychologische Einsicht. Aber es war jedenfalls eine Geschichte. Man könnte sie eine Stammeserzählung über tausendundeine Nacht nennen, berichtet von tausendundeiner Frau, und ihr Stoff unterschied sich nicht sehr von dem in Lawrences Roman — hier wie dort geht es darum, daß das Geschlechtsleben mancher Frauen viel eigenartiger und aktiver ist, als uns einige andere Geschichten, vor allem die von Freud, vermuten ließen.

Ich sage nicht, daß es zwischen Lawrence und Kinsey keinerlei Unterschied gebe. Lawrence entfaltet seine Geschichte in einer Sprachstruktur, die man narrativ nennen könnte. Kinseys Sprachstruktur hingegen könnte man als argumentative Darstellung bezeichnen. Diese Formen unterscheiden sich gewiß voneinander, wenn auch nicht so stark, wie man vielleicht annehmen mag.

167


Über die Brüder Henry und William James hat man gesagt, Henry sei der Romancier, der wie ein Psychologe schrieb, und William der Psychologe, der wie ein Romancier schrieb. So wie ich das Wort »Geschichte« verstehe, ist die argumentative Darstellung ebensogut wie die narrative imstande, eine solche Geschichte zu entfalten. Natürlich wird die Geschichte von Lawrence durch die Grenzen seiner eigenen Phantasie bestimmt, und er war nicht verpflichtet, andere soziale Tatsachen zu berücksichtigen als die, die er zu kennen meinte. Seine Geschichte ist ganz und gar persönliche Wahrnehmung, und deshalb sprechen wir hier von fiktiver Literatur.

Kinseys Geschichte stammt aus dem Mund anderer Menschen, und er war durch das begrenzt, was sie ihm mitteilten, als er ihnen seine Fragen stellte. Seine Geschichte könnten wir daher einen Tatsachenroman nennen. Aber wie alle Geschichten ist auch sie von moralischen Vorurteilen und soziologischer Theorie durchdrungen. Kinsey war es, der die Fragen formulierte, der bestimmte, wer interviewt werden sollte und in welchem Rahmen, und wie die Antworten zu interpretieren seien. Das alles verleiht seiner Geschichte ihre Form und Stichhaltigkeit. Wir dürfen sogar annehmen, daß Kinsey, ebenso wie Lawrence, von Anfang an wußte, welches Thema seine Geschichte haben würde. Sonst hätte er sich wahrscheinlich gar nicht die Mühe gemacht, sie zu erzählen.

Der Romancier ebenso wie der Sozialforscher verwenden beim Aufbau ihrer Geschichten Archetypen und Metaphern. Cervantes zum Beispiel schenkte uns in Don Quijote den unvergänglichen Archetypus des unverbesserlichen Träumers und Idealisten. Der Sozialhistoriker Marx schuf den Archetypus des skrupellosen, anonymen Kapitalisten. Flaubert schuf in Emma Bovary den Typus der unterdrückten bürgerlichen Romantikerin. Und Margaret Mead haben wir das Bild der sorglos und ohne Schuldgefühle heranwachsenden jungen Samoaner zu verdanken. Kafka entwarf das Bild des entfremdeten, vom Abscheu vor sich selbst geplagten Städters. Und Max Weber zeichnete die schwer arbeitenden Männer, die von jener Mythologie vorangetrieben wurden, die er protestantische Ethik nannte. Dostojewski entdeckte die Gestalt des Egozentrikers, der in Liebe und religiösem Eifer Erlösung findet. Und B.F. Skinner schuf das Bild des Automatenmenschen, der seine Erlösung in einer wohltätigen Technik findet.

168


Man kann sagen, daß uns im 19. Jahrhundert die Romanschriftsteller die eindringlichsten Gleichnisse und Bilder für unsere Kultur geschenkt haben. Im 20. Jahrhundert jedoch wurden solche Bilder und Gleichnisse hauptsächlich von Sozialhistorikern und Sozialforschern gezeichnet. Denken wir an John Dewey, William James, Erik Erikson, Alfred Kinsey, Thorstein Veblen, Margaret Mead, Lewis Mumford, B.F. Skinner, Carl Rogers, Marshall McLuhan, Noam Chomsky, Robert Coles und schließlich auch an Stanley Milgram, und es wird offensichtlich, daß unsere Vorstellungen davon, was wir sind und in was für einem Land wir leben, viel häufiger aus ihren Geschichten als aus denen unserer berühmten Literaten herrühren.

 

Ich will damit übrigens nicht sagen, daß die Gleichnisse der Sozialforschung auf die gleiche Art und Weise zustande kommen wie die der Romane und Dramen. Der Literat schafft Gleichnisse durch die beharrliche, mit konkreten Details arbeitende Schilderung der Handlungen und Gefühle besonderer Menschen. Die Soziologie bildet nur den Hintergrund, im Zentrum steht die individuelle Psychologie. Der Sozialforscher verfährt anders. Für ihn steht ein größerer Wirklichkeitsausschnitt im Zentrum, und das individuelle Leben wird lediglich als Silhouette, in Rückschlüssen und Andeutungen sichtbar. Außerdem geht der Roman­schriftsteller so vor, daß er etwas zeigt. Der Sozialforscher hingegen, der sich abstrakter sozialer Tatsachen bedient, operiert mit Gründen, mit Logik, mit Argumenten. Deshalb ist die fiktive Literatur in aller Regel unterhaltsamer. Während Oscar Wilde und Evelyn Waugh uns die müßigen, dem Geltungskonsum huldigenden Reichen zeigen, erweckt Thorstein Veblen sie durch argumentative Darstellung zum Leben. In der Gestalt des Sammy Glick zeigt uns Budd Schulberg den Narziß, dessen Herkunft Christopher Lasch kürzlich durch soziologische Analyse zu erklären versuchte. Es gibt also Unterschiede zwischen diesen Geschichtenerzählern, und meistens ist es vergnüglicher, unsere Romanschriftsteller zu lesen. Aber die Geschichten unserer Sozialforscher sind zumindest genauso unwiderstehlich und heutzutage offenbar um einiges glaubwürdiger.

169


Aber warum erzählen Sozialforscher eigentlich Geschichten? Der Zweck ist vor allem ein didaktischer und moralischer. Alle diese Leute erzählen ihre Geschichten aus dem gleichen Grund, aus dem Buddha, Konfuzius, Hillel und Jesus die ihren erzählten (und übrigens auch D.H. Lawrence). Es stimmt zwar, daß Sozialforscher ihre Ansprüche auf Wissen nur selten auf die Unanfechtbarkeit heiliger Texte gründen und noch seltener auf irgendeine Offenbarung. Aber man sollte sich von den methodischen Unterschieden zwischen Predigern und Gelehrten nicht blenden oder täuschen lassen. Ohne blasphemisch sein zu wollen, behaupte ich, daß Jesus ein ebenso scharfsinniger Soziologe war wie Veblen. Besser läßt sich nämlich Veblens Theorie der feinen Leute gar nicht zusammenfassen als durch Jesus' Bemerkung über die Reichen, das Kamel und das Nadelöhr. Als Sozialforscher unterschieden sich die beiden nur insofern, als Veblen gelegentlich zur Weitschweifigkeit neigte.4

Im Unterschied zur Wissenschaft macht die Sozialforschung keine neuen Entdeckungen. Sie entdeckt nur wieder, was den Menschen früher schon gesagt worden ist und was ihnen immer wieder gesagt werden muß. 

Wenn der Preis für die Zivilisation wirklich in der Verdrängung der Sexualität besteht, dann hat nicht Freud diese Entdeckung gemacht. Wenn das Bewußtsein der Menschen durch ihr materielles Sein bestimmt wird, dann hat nicht Marx diese Entdeckung gemacht. Wenn das Medium die Botschaft ist, dann hat dies nicht McLuhan entdeckt. Sie alle haben nur alte Geschichten auf eine neue Weise erzählt. Und diese Geschichten werden auch in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder erzählt werden, allerdings, so stelle ich mir vor, mit geringerer Wirkung. Denn wie es scheint, mag das Technopol solche Geschichten nicht — es will Tatsachen, harte, wissenschaftliche Tatsachen. Vielleicht kann man sogar sagen, daß das Technopol dem präzisen Wissen den Vorrang vor dem wahrhaftigen Wissen einräumt, in jedem Fall aber will das Technopol das Dilemma der Subjektivität ein für allemal lösen. In einer Kultur, in der die Maschine mit ihren unpersönlichen, endlos wiederholbaren Operationen zur dominanten Metapher geworden ist und als Instrument des Fortschritts gilt, bekommt Subjektivität etwas Unannehmbares. Vielfalt, Komplexität und Mehrdeutigkeit des menschlichen Urteils sind Feinde der Technik.

170


Sie machen sich lustig über Statistiken, Meinungsumfragen, standardisierte Tests und Bürokratien. Unter dem Technopol genügt es nicht, wenn die Sozialforschung alte Wahrheiten wiederentdeckt oder wenn sie sich kritisch über die Moral und das Verhalten von Menschen äußert. Unter dem Technopol ist es eine Beleidigung, wenn man jemanden einen »Moralisten« nennt. Und es genügt auch nicht, wenn die Sozialforschung Gleichnisse, Bilder und Ideen entwickelt, die den Menschen helfen, mit einem gewissen Maß an Einsicht und Würde zu leben. Einem solchen Programm fehlt der Glanz des exakten Wissens, den nur die Wissenschaft zu gewähren vermag. Deshalb wird es notwendig, aus Psychologie, Soziologie und Anthropologie »Wissenschaften« zu machen, in denen die Menschheit selbst zum Objekt wird, so wie Pflanzen, Planeten oder Eiswürfel Objekte sind.

Deshalb müssen triviale Einsichten wie die, daß die Menschen Angst vor dem Tod haben oder daß Kinder aus stabilen Familien, die der Bildung einen hohen Wert beimessen, in der Schule meist gut abschneiden, als wissenschaftliche »Entdeckungen« deklariert werden. Auf diese Weise erscheinen Sozialforscher sich selbst und anderen als Wissenschaftler, als vorurteilslose und wertfreie, von bloßen Meinungen unbelastete Forscher. Aus dieser Position kann man dann behaupten, gesellschaftspolitische Maßnahmen beruhten auf objektiven Fakten. Unter dem Technopol genügt es nicht, zu argumentieren, daß die Trennung von Schwarzen und Weißen in den Schulen unmoralisch ist, und es ist nutzlos, Bücher wie Black Boy oder The Invisible Man oder The Fire Next Time als Beweis anzuführen. Vor den Gerichten muß man mit standardisierten Schuleignungstests und psychologischen Tests nachweisen, daß Schwarze weniger leisten als Weiße und daß sie sich durch die Rassentrennung erniedrigt fühlen. Unter dem Technopol genügt nicht der Satz, es sei unmoralisch und entwürdigend, zuzulassen, daß Menschen obdachlos werden. Man kommt nicht weiter, wenn man einen Richter, einen Politiker oder einen Bürokraten auffordert, Les Miserables oder Nana oder auch das Neue Testament zu lesen. Man muß Statistiken vorlegen, die bekunden, daß Obdachlose wirklich unglücklich sind und eine Belastung für die Wirtschaft darstellen.

171


Weder aus Dostojewski noch aus Freud, weder aus Dickens noch aus Weber, weder aus Twain noch aus Marx läßt sich heute legitimes Wissen schöpfen. Sie sind interessant; sie sind »lesenswert«; sie sind Kunstgebilde aus unserer Vergangenheit, aber um »Wahrheit« zu erlangen, müssen wir uns an die »Wissenschaft« halten. Und damit bin ich beim Kern dessen, was ich unter »Szientismus« verstehe, angelangt und bei der Frage, warum er unter dem Technopol entstanden ist.

Ich habe versucht zu zeigen, daß Wissenschaft, Sozialforschung und das, was wir im engeren Sinne als Literatur bezeichnen, drei ganz unterschiedliche Unterfangen sind. Alle drei sind letztlich Formen von Geschichtenerzählen - Versuche von Menschen, menschliche Erfahrungen kohärent darzustellen. Aber ihre Ziele sind unterschiedlich, sie stellen unterschiedliche Fragen, sie verwenden unterschiedliche Verfahren, und sie geben dem Begriff »Wahrheit« unterschiedliche Bedeutungen. Hinsichtlich der meisten dieser Gesichtspunkte hat die Sozialforschung mit der Wissenschaft wenig gemeinsam, viel hingegen mit bestimmten Literaturformen. Dennoch sind die »Sozialwissenschaftler« seit langem bestrebt, sich nicht nur dem Namen nach mit Physikern, Chemikern, Biologen und anderen zu identifizieren, die in der Welt der Natur nach gesetzhaften Regelmäßigkeiten suchen.

Warum Gelehrte, die sich mit der Erforschung des menschlichen Daseins befassen, dies tun, ist nicht schwer zu erklären. Die großen Erfolge der Neuzeit — vielleicht sogar die einzigen Erfolge — waren in der Medizin, in der Pharmakologie, in der Biochemie, in der Astrophysik zu verzeichnen, und alle Errungenschaften im Maschinenbau, in der biologischen Technik und in der Elektronik sind durch die konsequente Anwendung der Zielvorstellungen, Grundannahmen und Verfahrensweisen der Naturwissenschaften ermöglicht worden. Diese Erfolge haben den Begriff Wissenschaft mit einer ehrfurchtgebietenden Autorität ausgestattet und denen, die Anspruch auf die Bezeichnung »Wissenschaftler« erheben, ein hohes Maß an Achtung und Ansehen verschafft. Hinzu kommt die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Hoffnung, die Prinzipien und Verfahrensweisen der Naturwissenschaft ließen sich unverändert und mit ebenso großem praktischen Erfolg auf die soziale Welt anwenden. Diese Hoffnung hat sich als irrig und illusorisch herausgestellt.

172


Aber es handelt sich um eine mächtige Illusion, und wenn man sich vor Augen führt, welche psycholog­ischen, sozialen und materiellen Vorteile mit dem Etikett »Wissenschaftler« verbunden sind, dann kann man leicht verstehen, warum es den Sozialforschern schwerfällt, sich von ihr zu lösen.

Nicht so leicht zu verstehen ist, warum wir anderen uns bereitwillig und sogar eifrig an der Aufrecht­erhaltung dieser Illusion beteiligt haben. Zum Teil liegt die Erklärung in einem fundamentalen Unverständnis für die Ziele der Naturwissenschaften und der Sozialforschung und für die Unterschiede zwischen der physikalischen und der sozialen Welt. Aber es steckt noch mehr dahinter.

Als die neuen Technologien und Techniken, als Männer wie Galilei, Newton und Bacon die Grundlagen der Naturwissenschaft schufen, da geriet auch die Autorität älterer Modelle der physikalischen Welt, etwa die der Genesis, in Mißkredit. Indem die Wissenschaft die Wahrheit solcher Darstellungen auf einem bestimmten Gebiet in Zweifel zog, untergrub sie den Glauben an geheiligte Welterklärungen überhaupt und verschüttete zuletzt auch jene Quellen, an die sich die Menschen in ihrer überwiegenden Zahl bei der Suche nach moralischer Autorität gehalten hatten.

Die Behauptung ist, wie mir scheint, nicht übertrieben, daß die Welt, aus der das Heilige verschwunden ist, seither auf der Suche nach einer anderen Quelle moralischer Autorität ist. Soviel ich weiß, hat noch kein verantwortungsbewußter Naturwissenschaftler, weder in der Renaissance noch in neuerer Zeit, behauptet, die Verfahren der Naturwissenschaften oder ihre Entdeckungen könnten uns sagen, was wir tun sollen - ob unser Umgang mit den Mitmenschen gut oder böse, richtig oder falsch ist. 

Die Prinzipien der Naturwissenschaft selbst, die Forderung, gegenüber dem, was untersucht werden soll, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, machen es dem Naturwissenschaftler unmöglich, in seiner Rolle als Wissenschaftler moralische Urteile zu fällen oder moralische Forderungen zu formulieren. Wenn sich Naturwissenschaftler zu moralischen Fragen äußern, darüber, was man tun und was man lassen sollte, dann sprechen sie mit der gleichen Autorität wie wir anderen auch — als besorgte und betroffene Bewohner eines bedrohten Planeten, als rationale Männer und Frauen, als Menschen, die ein Gewissen haben und die nicht weniger als Sie oder ich um eine Antwort auf die Frage ringen müssen, worauf denn die Autorität ihres moralischen Urteils sich letztlich stützt.

173


Aber eine Welt voller verzweifelter Zuhörer, die sich nach einer mächtigeren moralischen Autorität sehnen, fleht den Naturwissenschaftler an, zu erklären, daß durch ihn die Wissenschaft selbst das Wort ergreift, nicht ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau. Doch der Wissenschaftler kann darauf bei seiner Ehre nicht eingehen.

Unsere »Sozialwissenschaftler« hatten in diesem Punkt von Anfang an weniger Skrupel, oder sie hegten weniger strenge Anschauungen von der Wissenschaft, oder es herrschte bei ihnen größere Unklarheit im Hinblick darauf, welche Fragen sich mit Hilfe ihrer Verfahren beantworten lassen und welche nicht. Jedenfalls scheuten sie sich nicht, zu behaupten, ihre »Entdeckungen« und ihre strengen Verfahrensweisen seien imstande, uns Anleitungen zum »richtigen« Verhalten zu geben. 

Deshalb findet man »Sozialwissenschaftler« so häufig auf dem Fernsehbildschirm, auf unseren Bestseller­listen und in den Ratgeber­abteilungen der Flughafen­buchhandlungen: nicht weil sie uns sagen können, wie sich manche Menschen bei manchen Gelegenheiten verhalten, sondern weil sie behaupten, sie könnten uns sagen, wie sie sich verhalten sollen; nicht weil sie als Mitmenschen zu uns sprechen, die länger gelebt, mehr Leid erfahren und länger oder gründlicher über bestimmte Probleme nachgedacht haben, sondern weil sie bereit sind, die Illusion aufrechtzuerhalten, es seien ihre Daten, ihre Verfahren, ihre Wissenschaft und nicht sie selbst, die da sprechen.

Wir sind froh darüber und begrüßen sie herzlich, weil wir verzweifelt nach einer Quelle jenseits unserer eigenen schwachen, schwankenden Urteilskraft suchen, die unseren moralischen Entscheidungen und unserem Verhalten Autorität verleihen könnte. Und abgesehen von der Autorität der rohen Gewalt, die man aber schwerlich moralisch nennen kann, ist uns offenbar kaum etwas anderes geblieben als die Autorität der Verfahren.

Das also ist es, was ich unter Szientismus verstehe. Nicht bloß die verfehlte Anwendung von Techniken wie der Quantifizierung auf Themen, bei denen mit Zahlen nichts auszurichten ist; nicht bloß die Verwechslung des physikalischen Erfahrungsbereiches mit dem Bereich sozialer Erfahrungen; nicht bloß die Behauptung der Sozialforscher, sie könnten die Ziele und Verfahren der Naturwissenschaften auf die Welt der Menschen übertragen.

174/175


Szientismus ist alles das, aber noch viel mehr. Er verkörpert die verzweifelte Hoffnung, den verzweifelten Wunsch, den letztlich illusorischen Glauben, ein Komplex von standardisierten Verfahrensweisen, genannt »Wissenschaft«, könne für uns zu einer Quelle unanfechtbarer moralischer Autorität werden, zu einer übermenschlichen Grundlage für die Antwort auf Fragen wie: »Was ist Leben, wann beginnt es und warum?« — »Warum gibt es Tod und Leiden?« — »Was ist richtig und was falsch?« — »Was sind gute und was böse Zwecke?« — »Wie soll man denken und empfinden und sich verhalten?« 

Es handelt sich um Szientismus, wenn Präsident Reagan sagt, er persönlich halte die Abtreibung für falsch, aber die Antwort auf die Frage, wann der Fötus zu leben anfange, müßten wir der Wissenschaft überlassen. Es handelt sich ebenso um Szientismus, wenn kein Wissenschaftler Einspruch erhebt, wenn keine Zeitung auf ihrer »Wissenschafts«-Seite eine Widerlegung druckt, wenn jeder, sei es bewußt oder aus Unwissenheit, an der Aufrechterhaltung dieser Illusion mitwirkt. 

Die Wissenschaft kann uns sagen, wann ein Herz zu schlagen beginnt oder wann Bewegungen einsetzen oder wie hoch die statistischen Überlebenschancen für Embryos in den verschiedenen Entwicklungsphasen außerhalb des Mutterleibs sind. Aber sie besitzt nicht mehr Autorität als Sie oder ich, wenn es darum geht, Maßstäbe aufzustellen, etwa die »wahre« Definition von »Leben«, von Humanität oder von Personalität. Die Sozialforschung kann uns sagen, wie sich manche Menschen angesichts einer Autorität, die sie für legitim erachten, verhalten. Aber sie kann uns nicht sagen, wann eine Autorität »legitim« ist und wann nicht, oder wie wir uns entscheiden sollen, oder wann es richtig ist, zu gehorchen, und wann nicht. Antworten auf solche Fragen von der Wissenschaft zu verlangen, zu erwarten oder ungeprüft hinzunehmen — das ist Szientismus, die große Illusion des Technopols.

 

Gegen Ende seines Lebens führte Sigmund Freud mit sich selbst eine Debatte über das, was er <Die Zukunft einer Illusion> nannte. Die Illusion, die er meinte, war der Glaube an eine übernatürliche und übermenschliche Quelle von Sein, Wissen und moralischer Autorität: der Glaube an Gott. 

Freud bei detopia 

Freud ging es nicht um die Frage, ob Gott existiere, sondern darum, ob die Menschheit ohne die Illusion eines Gottes überleben könnte — oder anders formuliert: ob es der Menschheit psychologisch, kulturell und moralisch ohne diese Illusion besser ergehen würde als mit ihr. Freud formuliert seine eigenen Zweifel (indem er sie einem Alter ego in den Mund legt, mit dem er debattiert) so eindrucksvoll, wie es ihm möglich ist, aber am Ende »gewinnt« die Stimme von Freuds Vernunft (oder sein Glaube an die Vernunft): gleichgültig, ob es der Menschheit besser ergehen werde oder nicht, sie müsse ohne die Illusion von Gott auskommen.

Freud erkannte nicht, daß er mit seinem Werk einer anderen Illusion Vorschub leistete: dem illusionären Glauben an eine Zukunft, in der die Verfahrens­weisen der Natur- und Sozialwissenschaften letztlich die »wirkliche« Wahrheit über das menschliche Verhalten offenbaren und durch die Vermittlung objektiver, neutraler Wissenschaftler eine empirische Quelle moralischer Autorität zugänglich machen würden. 

Hätte Freud die eigentümliche Verwandlung, die das Bild von der letzten Autorität in unserer Zeit durchgemacht hat, vorausgesehen — die Verwandlung eines alten Mannes mit einem langen weißen Bart in lauter junge Männer und Frauen mit langen weißen Kitteln —, dann hätte er seiner Frage vielleicht eine andere Zielrichtung gegeben.

Er konnte es nicht. Und deshalb will ich es hier tun — nicht um eine Antwort zu geben, sondern in der Hoffnung, eine neue Debatte zu entfachen: 

Was liegt im Zeitalter des Technopols am ehesten im Interesse der Menschen und was könnte sich am ehesten als verhängnisvoll erweisen: die Illusion Gottes, die Illusion des Szientismus oder die Preisgabe jeglicher Illusion und jeglicher Hoffnung auf eine letzte Quelle moralischer Autorität?

176

 #

 

www.detopia.de       ^^^^

Neil Postman, Technopol und Szientismus