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11. Der liebevolle Widerstandskämpfer   

 

 

 

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Jeder, der die Kunst der Kulturkritik ausübt, muß sich die Frage gefallen lassen: Worin besteht die Lösung für die Probleme, die du schilderst? — Die meisten Kritiker mögen diese Frage nicht, denn sie sind meist schon zufrieden damit, daß sie die Probleme formuliert haben, und meist sind sie auch kaum gerüstet, praktische Vorschläge zu entwickeln. Aus diesem Grund sind sie ja Kulturkritiker geworden.

Trotzdem wird die Frage gestellt, und zwar in drei verschiedenen Stimmlagen

Die erste Stimme klingt freundlich und eifrig, so als wollte der Fragende zu verstehen geben, daß der Kritiker die Lösungen gewiß kenne und nur vergessen habe, sie in seine Arbeit aufzunehmen. 

Die zweite Stimme klingt drohend und zurechtweisend, so als wollte sie dem Kritiker klarmachen, daß es nicht seines Amtes sei, die Leute zu beunruhigen, solange er nicht ein paar ordentliche Lösungen bei der Hand habe. 

Die dritte Stimme klingt erwartungsvoll und aufmunternd, so als wollte sie andeuten, daß es selbstverständlich nicht für jedes ernste Problem sofort eine Lösung gebe, daß aber vielleicht doch etwas Konstruktives dabei herauskommen könnte, wenn der Kritiker sich ein paar Gedanken machte.

Auf diese letzte Art, Fragen zu stellen, möchte ich hier antworten. Ich habe mir tatsächlich ein paar Gedanken gemacht, und dieses Kapitel ist das Ergebnis meiner Überlegungen. Seine Schlichtheit wird dem Leser deutlich machen, daß auch ich, wie die meisten anderen Kritiker, eher Probleme als Lösungen im Gepäck habe.

Soweit ich sehe, kann man eine vernünftige Reaktion (also nicht gerade eine Lösung) auf die Probleme, die sich ergeben, wenn man unter einem in Entwicklung befindlichen Technopol lebt, in zwei Teile aufspalten: indem man einerseits auf die Frage eingeht, was der Einzelne tun kann, ungeachtet dessen, was die Kultur tut; und andererseits auf die Frage, was die Kultur tun kann, ungeachtet dessen, was die in ihr lebenden Einzelnen tun. 

Ich möchte mit der Frage nach der Reaktion des Einzelnen beginnen, muß aber sofort anmerken, daß ich nicht vorhabe, hier eine Liste von Ratschlägen nach Art jener »Experten« zu liefern, über die ich mich im 5. Kapitel unter dem Stichwort »Zusammen­bruch der Abwehr­mechanismen« lustig gemacht habe. 

Es gibt keine Experten dafür, wie man das eigene Leben führen soll. Ich habe aber ein talmudisches Prinzip anzubieten, das mir eine verläßliche Richtschnur für diejenigen zu sein scheint, die sich gegen die schlimmsten Auswirkungen des amerikanischen Technopols zur Wehr setzen wollen. Es lautet: Sie müssen versuchen, ein liebevoller Widerstandskämpfer zu sein. Das ist die Lehre, so würde Hillel sagen. Nun folgt der Kommentar: Mit »liebevoll« meine ich, daß Sie trotz der Verwirrung, trotz der Irrtümer und Dummheiten, die Sie um sich herum erblicken, jene Erzählungen und Symbole stets achtsam hegen und pflegen sollten, die einst aus Amerika eine Hoffnung für die ganz Welt gemacht haben und die vielleicht noch immer so viel Lebenskraft besitzen, daß es dereinst wieder so sein wird. 

Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sich zuweilen in Erinnerung rufen, daß die chinesischen Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens ihrem leidenschaftlichen Wunsch nach einer Demokratisierung ihres Landes auch dadurch Ausdruck verliehen, daß sie, für die ganze Welt sichtbar, aus Pappmache ein Modell der Freiheitsstatue herstellten. Keine Statue von Karl Marx und keinen Eiffelturm und auch keinen Buckingham Palace, sondern die Freiheitsstatue. Es läßt sich nicht sagen, wie dieses Ereignis auf die Amerikaner gewirkt hat. Aber man muß doch fragen: Gibt es einen Amerikaner, der innerlich so abgestorben ist, daß er angesichts dieser Berufung auf ein einst eindrucksvolles Symbol nicht wenigstens ein befriedigtes Gemurmel (wenn schon keinen Jubelruf) vernehmen läßt?

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Gibt es einen Amerikaner, der sich schon so sehr in dem aus der Leere des Technopols erwachsenden Zynismus verfangen hat, daß er sich von den Studenten, die 1989 auf den Straßen von Prag mit lauter Stimme aus den Werken Thomas Jeffersons vorgelesen haben, nicht aufgerüttelt fühlt? Amerikaner vergessen vielleicht, aber andere vergessen nicht, daß die amerikanischen Proteste während des Vietnamkrieges womöglich der einzige Fall in der Geschichte sind, in dem eine Regierung durch die öffentliche Meinung gezwungen wurde, ihre Außenpolitik zu ändern. Amerikaner vergessen vielleicht, aber andere vergessen nicht, daß Amerikaner die Idee der öffentlichen Schulbildung für alle Bürger erfunden und seither nicht mehr aufgegeben haben. Und jeder weiß, auch die Amerikaner, daß Tag für Tag noch immer Einwanderer in der Hoffnung nach Amerika kommen, diese oder jene Art von Entbehrung abzuschütteln.

Es gibt hundert andere Dinge, auf die man sich besinnen kann und die einem helfen können, sich für die Vereinigten Staaten zu erwärmen, nicht zuletzt die Tatsache, daß dieses Land eine Reihe von großangelegten Experimenten durchgeführt hat, denen die Welt mit Staunen zugesehen hat. Drei von ihnen scheinen mir besonders wichtig.

Das erste fand gegen Ende des 18. Jahrhunderts statt und stellte die Frage: Kann eine Nation ihren Bürgern die denkbar größte politische und religiöse Freiheit gewähren und dennoch ihre Identität und ihre Orientierung bewahren? Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein zweites großes Experiment unternommen, das die Frage stellte: Kann eine Nation ihren Zusammenhalt und ihr Zusammen­gehörigkeits­gefühl bewahren, wenn sie sich Menschen aus der ganzen Welt öffnet? Und nun folgt das dritte — das Experiment des Technopols, das die Frage stellte: Kann eine Nation ihre Geschichte, ihre Originalität und ihre Humanität bewahren, wenn sie sich ganz der Vorherrschaft einer technologischen Gedankenwelt ausliefert?

Ich glaube allerdings nicht, daß die Antwort auf diese letzte Frage so zufriedenstellend ausfallen wird wie die Antworten auf die ersten beiden. Aber wenn es ein Bewußtsein von den Gefahren des Technopols gibt und einen Widerstand gegen sie, dann besteht auch Hoffnung, daß die Vereinigten Staaten ihre hybride Gedankenlosigkeit im Umgang mit der Technik überleben werden. Und nun möchte ich erläutern, was ich unter einem »Widerstandskämpfer« verstehe.

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Widerstand gegen das amerikanische Technopol leisten Menschen,

die einer Meinungsumfrage keine Beachtung schenken, sofern sie nicht wissen, wie die Fragen formuliert waren und warum sie gestellt wurden;
die sich weigern, Effizienz als das vorrangige Ziel des Umgangs und der Beziehungen zwischen Menschen zu akzeptieren;
die sich von dem Glauben an die magische Kraft der Zahlen befreit haben, die Berechnungen nicht als einen angemessenen Ersatz für die Urteilskraft betrachten und Präzision nicht als Synonym für Wahrheit;
die nicht bereit sind, zuzulassen, daß die Psychologie oder eine andere »Sozialwissenschaft« Sprache und Denken des Menschenverstandes unterläuft;
die der Idee des Fortschritts zumindest mit Argwohn begegnen und Information nicht mit Begreifen verwechseln;
die die alten Menschen nicht für nutzlos halten;
die die Begriffe Familienzusammenhalt und Ehre ernst nehmen;
die die großen Erzählungen der Religion ernst nehmen und nicht glauben, die Wissenschaft sei das einzige Denksystem, das Wahrheit hervorbringen könne;
die den Unterschied zwischen dem Sakralen und dem Profanen kennen und die Tradition nicht zugunsten der Modernität ignorieren; 
die technische Erfindungsgabe bewundern, aber nicht glauben, sie stelle die denkbar höchste Errungenschaft des Menschen dar.

Ein Widerstandskämpfer begreift, daß man die Technik niemals als Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge einfach hinnehmen darf, daß jede Technologie — vom Intelligenztest über den Fernsehapparat bis hin zum Computer — Produkt eines bestimmten ökonomischen und politischen Umfeldes ist und ein Programm, eine Ausrichtung, eine Theorie in sich birgt, die das Leben lebenswerter machen kann oder auch nicht. Kurz, der Widerstandskämpfer wahrt eine epistemologische und psychische Distanz zur Technik, so daß sie ihm stets sonderbar erscheint und niemals unausweichlich, niemals selbstverständlich.

 

Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn jeder muß selbst entscheiden, wie er diese Ideen umsetzt. Es ist aber sehr wohl möglich, daß die Bildung, über die ein Mensch verfügt, in erheblichem Maße nicht nur dazu beiträgt, den Widerstand gegen die Technik allgemein zu propagieren, sondern daß sie gerade den jungen Menschen hilft, ihre eigenen Widerstandsformen zu entwickeln

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Deshalb möchte ich dieses Buch mit Überlegungen zu Fragen der Bildung schließen. Ich will damit nicht sagen, daß politisches Handeln und Sozialpolitik beim Widerstand gegen das Technopol nicht wertvolle Dienste leisten könnten. Selbst heute gibt es immer noch Anzeichen dafür, daß das Technopol als ein Problem aufgefaßt wird, auf das man mit politischen und rechtlichen Mitteln reagieren sollte — in der Umwelt­schutz­bewegung und dort, wo man juristische Überlegungen zur Beschränkung der Computer­technologie anstellt, in dem wachsenden Mißtrauen gegen die medizinische Technologie, in der Ablehnung der immer mehr um sich greifenden Tests, in verschiedenen Bemühungen um die Wiederherstellung eines Gefühls von sozialer Zusammengehörigkeit in Städten und Stadtvierteln. 

Aber wie Lawrence Cremin einmal bemerkte — immer wenn wir in den Vereinigten Staaten eine Revolution brauchen, bekommen wir ein neues Curriculum. Und so werde auch ich ein solches vorschlagen. Ich habe das schon einmal getan und damit nicht eben großen Beifall geerntet.1 Aber nach meiner Auffassung bietet ein solches Curriculum einer Kultur die beste Möglichkeit, sich dem Problem des Technopols zu stellen. Gewiß, die Schule ist selbst eine Technologie, aber eine sehr spezielle Technologie insofern, als sie im Unterschied zu den meisten anderen fortwährend überprüft, kritisiert und modifiziert wird. Sie ist das wichtigste Instrument Amerikas, um Fehler zu korrigieren und Probleme aufzugreifen, von denen sich andere Institutionen verwirren und lahmen lassen.

Wenn man bedenkt, welche zersetzende Kraft das Technopol zu entfalten vermag, besteht der wichtigste Beitrag, den die Schulen zur Bildung junger Menschen leisten können, vielleicht darin, daß sie ihnen ein Gefühl für die Kohärenz in ihren Studien vermitteln, ein Gefühl dafür, daß das, was sie lernen, Zweck, Sinn und Zusammenhalt hat. Die moderne Erziehung scheitert nicht deshalb, weil sie nicht lehrt, wer Ginger Rogers, Norman Mailer und tausend andere Leute waren, sondern weil sie kein moralisches, soziales oder intellektuelles Zentrum besitzt. Sie verfügt nicht über einen Komplex von Ideen oder Einstellungen, der alle Teile des Curriculums durchdringt.

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Das Curriculum von heute ist im Grunde genommen überhaupt kein Studien-»Gang«, sondern nur ein sinnloses Durcheinander von Fächern oder Themen. Es entwickelt nicht einmal eine klare Vision davon, was einen gebildeten Menschen ausmacht, oder allenfalls die, es sei dies jemand, der über verschiedene »Fertigkeiten« verfügt. Aber das ist ein Ideal für Technokraten — die Vorstellung von einem Menschen ohne Engagement und ohne Perspektive, allerdings mit einer Menge Fertigkeiten, die sich vermarkten lassen.

Natürlich dürfen wir die Fähigkeit der Schule, Kohärenz zu vermitteln angesichts einer Kultur, aus der fast alle Kohärenz  verschwunden scheint, nicht überschätzen. In unserer technisierten, gegenwartsbezogenen Informationsumwelt ist es nicht leicht, ein Grundprinzip für die Bildung zu finden, und noch schwerer ist, ein solches Prinzip anderen überzeugend zu vermitteln. Von wenigen Leuten abgesehen, würde heute wohl niemand mehr die Vorstellung ernst nehmen. Lernen geschehe zum höheren Ruhm Gottes. Offensichtlich ist auch, daß die Wissensexplosion begrenzte, wenngleich gut koordinierte Curricula, die einige wenige »große Bücher« ins Zentrum rücken, ein für allemal unpraktikabel gemacht hat. Manche Leute empfehlen, die Vaterlandsliebe zum übergreifenden Prinzip der Bildung zu erheben. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, daß Vaterlandsliebe immer wieder in Liebe zum Staat umschlägt und sich am Ende nicht mehr von dem unterscheiden läßt, was noch immer im Mittelpunkt des kubanischen oder chinesischen Bildungssystems steht.

Manche schlagen vor, die »psychische Gesundheit« zum Zentrum des Curriculums zu machen. Ich meine hier einen Gesichts­punkt, der zuweilen mit dem Namen Rogers, manchmal mit dem Namen Maslow verknüpft wird und der die Entfaltung der individuellen Psyche durch die Suche nach dem eigenen »wirklichen Selbst« über alles andere stellt. Eine solche Idee macht jedes Curriculum natürlich irrelevant, da ihr nur die »Selbst-Erkenntnis«, d.h. die Erkenntnis der eigenen Gefühlsregungen, wertvoll erscheint. Carl Rogers selbst schrieb einmal, wahrscheinlich sei alles, was gelehrt werden könne, entweder belanglos oder schädlich, und erklärte damit jegliche Erörterung über die Schule für überflüssig.

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Aber die Verherrlichung des >Selbst< lastet ohnehin schon schwer auf unserer Kultur, daß es ganz und gar redundant wäre, wenn sich die Schulen, sofern sie denn dazu imstande wären, ihrer ebenfalls noch annehmen wollten.

Man betritt natürlich schwankenden Boden, wenn man einer vielgestaltigen, diesseits­orientierten Bevölkerung ein einleuchtendes Thema vorschlagen will. Dennoch - mit aller gebotenen Vorsicht möchte ich als eine Möglichkeit jenes Thema vorschlagen, von dem Jacob Bronowskis Buch The Ascent of Man handelt. Dieses Buch und seine »Philosophie« sind voller Optimismus und durchdrungen von der Überzeugung, daß die Bestimmung der Menschheit in der Entdeckung von Wissen und Erkenntnis liegt. Und obwohl Bronowski den Akzent auf die Naturwissenschaft setzt, findet er reichlich Gründe, die Künste und die Geistes­wissenschaften als Teil des niemals endenden Strebens nach einem einheitlichen Verständnis der Natur und unserer Stellung in ihr in seine Darstellung einzubeziehen.

Um den Aufstieg des Menschen oder, wie ich es formulieren möchte, den »Aufstieg der Menschheit« nachzuzeichnen, müssen wir Kunst und Wissenschaft miteinander verbinden. Aber wir müssen auch Vergangenheit und Gegenwart verbinden, denn der Aufstieg der Menschheit ist vor allem eine kontinuierliche Geschichte. Er ist sogar eine Schöpfungsgeschichte, wenn auch nicht gerade jene, die die Fundamentalisten heute so heftig verteidigen. Er ist die Geschichte der schöpferischen Kräfte, die die Menschheit bei dem Versuch, Einsamkeit, Unwissen und Elend zu besiegen, entfaltet hat und immer wieder entfaltet. Zu dieser Geschichte gehört auch die Entwicklung verschiedener religiöser Systeme, die dazu beigetragen haben, dem Dasein Ordnung und Sinn zu verleihen. Es wirkt in diesem Zusammenhang durchaus inspirierend, daß sich die biblische Version der Schöpfungs­geschichte zum Erstaunen aller, vielleicht mit Ausnahme der Fundament­alisten, als eine fast vollkommene Mischung aus künstlerischer Einbildungs­kraft und wissenschaftlicher Intuition erwiesen hat: die heute von den Kosmologen weithin akzeptierte Theorie, das Universum sei durch einen Urknall entstanden, bestätigt in wesentlichen Einzelheiten das, was die Bibel über die Welt »im Anfang« sagt.

Es spricht jedenfalls vieles dafür — und vor allem in unserer heutigen Situation —, den Aufstieg der Menschheit gleichsam zum Gerüst für ein neues Curriculum zu machen.

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Zum einen wird es — von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die ich noch hinweisen werde — nicht erforderlich sein, neue Fächer zu erfinden und alte abzuschaffen. Die thematische Gliederung des Curriculums, so wie sie heute an den meisten Schulen besteht, ist durchaus verwendbar. Zum anderen kann man mit diesem Thema schon in den untersten Klassen beginnen und kann es von Klasse zu Klasse bis hin zum College immer mehr vertiefen und erweitern. Noch besser: es bietet den Schülern einen Gesichtspunkt, aus dem sie die Bedeutung der Fächer und Themen, mit denen sie sich beschäftigen, begreifen können, denn man kann jedes Fach als eine Art Schlachtfeld betrachten, als ein Gebiet, auf dem heftige geistige Kämpfe stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Jede Idee innerhalb eines Faches markiert eine Stelle, an der jemand gefallen oder jemand aufgestanden ist. Insofern ist der Aufstieg der Menschheit eine optimistische Geschichte, nicht ohne Unglück und Leiden, aber immer wieder markiert von erstaunlichen Siegen. In dieser Hinsicht könnte man das Curriculum selbst für eine Huldigung an den menschlichen Verstand und die menschliche Kreativität erachten, jedenfalls nicht für eine sinnlose Ansammlung von Prüfungswissen.

Und das Beste ist, daß uns das Thema »Aufstieg der Menschheit« eine nicht-technische, nicht-kommerz­ielle Definition von Bildung liefert. Diese Definition leitet sich aus einer ehrwürdigen humanistischen Tradition her und spiegelt eine bestimmte Auffassung von den Zielen des akademischen Lebens, die den Vorstellungen der Technokraten ganz und gar zuwiderläuft. Bildung gewinnen bedeutet nämlich, auch die Ursprünge und das Wachstum des Wissens und der Wissenssysteme wahrnehmen lernen; es bedeutet, sich vertraut machen mit den geistigen und schöpferischen Prozessen, in deren Verlauf das Beste, was gedacht und gesagt worden ist, zutage kam; es bedeutet, lernen, wie man, und sei es nur als Zuhörer, an dem teilnehmen kann, was Robert Maynard Hutchins einmal das »Große Gespräch« genannt hat — ein anderes Bild für das, was hier mit »Aufstieg der Menschheit« gemeint ist. 

Sie werden bemerken, daß eine solche Definition nicht das Kind in den Mittelpunkt stellt und nicht den Unterricht, auch nicht den Erwerb von Fertigkeiten, ja, nicht einmal die »Probleme«. In den Mittelpunkt stellt sie vielmehr die Idee und die Kohärenz.

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»Weltfremd« ist sie übrigens auch insofern, als sie nicht der Meinung huldigt, was man in der Schule lernt, müsse sich unbedingt und direkt auf irgendein Tagesproblem münzen lassen. Mit anderen Worten, es geht hier um eine Bildung, die Wert auf die Geschichte legt, auf eine wissenschaftliche Denkweise, auf einen disziplinierten Umgang mit Sprache, auf eine weitgefächerte Kenntnis von Kunst und Religion und insgesamt auf die Kontinuität menschlichen Strebens. Bildung, so verstanden, ist ein ausgezeichnetes Korrektiv gegen den geschichtsfeindlichen, informationsübersättigten, technikverliebten Charakter des Technopols. 

Wenden wir uns zunächst der Geschichte zu, denn sie ist in mancher Hinsicht die zentrale Disziplin bei alledem. Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, daß, wie Cicero es formulierte, »derjenige ein Kind bleibt, der nichts von den Dingen weiß, die vor seiner Geburt geschahen«. Die Geschichte ist das wirksamste intellektuelle Mittel zur »Erweiterung« unseres Bewußtseins. Aber einige Gesichtspunkte, die die Geschichte und ihren Unterricht betreffen, müssen hier hervorgehoben werden, weil sie an unseren Schulen meist übersehen werden. Zuerst muß darauf hingewiesen werden, daß die Geschichte nicht bloß ein Fach unter vielen anderen ist; jedes Fach hat eine Geschichte, auch Biologie, Physik, Mathematik, Literatur, Musik und Kunst. Deshalb meine ich, jeder Lehrer sollte auch Geschichtslehrer sein. Unser heutiges biologisches Wissen im Unterricht darzustellen, ohne auf das einzugehen, was die Menschen früher darüber wußten oder zu wissen glaubten, heißt Wissen zu einem bloßen Konsumprodukt verkürzen. 

Man gibt den Schülern nicht die Möglichkeit, die Bedeutung unseres Wissens und der Wege, auf denen wir es erlangt haben, zu begreifen. In der Schule über das Atom sprechen, ohne Demokrit zu erwähnen, über Elektrizität, ohne Faraday zu erwähnen, über politische Wissenschaft, ohne Aristoteles oder Machiavelli zu erwähnen, über Musik, ohne Haydn zu erwähnen, heißt, den Schülern den Zugang zum »Großen Gespräch« verwehren. Es heißt, ihnen das Wissen von ihrer Herkunft verweigern, ein Wissen, um das sich zur Zeit keine andere gesellschaftliche Institution kümmert. Denn von der eigenen Herkunft wissen, bedeutet nicht nur, daß man weiß, woher der eigene Großvater stammt und was er in seinem Leben ertragen mußte.

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Es bedeutet auch, daß man weiß, woher die eigenen Ideen stammen und wie es kommt, daß man von ihnen überzeugt ist; daß man weiß, woher die eigenen moralischen und ästhetischen Empfindungen stammen. Es bedeutet, daß man weiß, woher die eigene Welt und nicht nur die eigene Familie stammt. Um den oben begonnenen Gedankengang Ciceros abzuschließen: »Worin besteht der Wert des Menschenlebens, wenn es nicht einbezogen ist in das Leben der eigenen Vorfahren und in den Zusammenhang der Geschichte?« Mit den »eigenen Vorfahren« meinte Cicero nicht nur die Tante Ihrer Mutter.

Deshalb möchte ich empfehlen, jedes Fach als Geschichte zu unterrichten. Auf diese Weise können Kinder, anders als es heute der Fall ist, schon in den untersten Klassen erfahren, daß Wissen und Erkenntnis keine feststehenden Dinge sind, sondern Stufen in der Entwicklung, daß sie eine Vergangenheit und eine Zukunft haben. Um noch einmal auf die Schöpfungstheorien zurück­zukommen: wir sollten unseren Schülern vor Augen führen, wie eine vor fast viertausend Jahren entstandene Idee nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch verschiedene Bedeutungssphären gewandert ist, aus der Wissenschaft in die Sphäre religiöser Gleichnisse und wieder zurück in die Wissenschaft. Was für ein erfreulicher, tiefer Zusammenhang — zwischen den wundersamen Spekulationen in einem alten hebräischen Wüstenzelt und den nicht minder wundersamen Spekulationen in einem modernen Seminarraum am M.I.T.!  Ich will damit sagen, daß die Geschichte der verschiedenen Fächer Zusammenhänge auf schließt; sie lehrt, daß die Welt nicht an jedem Tag neu geschaffen wird und daß jeder auf den Schultern eines anderen steht.

Ich bin mir darüber im klaren, daß ein solcher Ansatz in bezug auf die verschiedenen Fächer durchaus schwierig wäre. Es gibt zur Zeit kaum Texte, die dabei helfen könnten, und die Lehrer sind nicht darauf vorbereitet, in dieser Weise mit dem Wissen umzugehen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß wir lernen müssen, dies alles für Kinder verschiedener Altersstufen zu leisten. Aber daß es geschehen muß, steht für mich außer Zweifel.

Der Vorschlag, die verschiedenen Fächer so zu lehren, daß dabei zugleich historische Prozesse sichtbar werden, soll aber die Geschichte als gesondertes Fach nicht überflüssig machen.

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Wenn jedes Fach im Unterricht eine historische Dimension erhält, hat der Geschichtslehrer die Chance, zu zeigen, woraus Geschichte besteht: aus Hypothesen und Theorien darüber, warum es zu Veränderungen kommt. In gewissem Sinne gibt es so etwas wie die »Historie« gar nicht, denn jeder Historiker, von Thukydides bis zu Toynbee, hat stets gewußt, daß er seine Geschichten aus einem bestimmten Blickwinkel erzählen muß, in dem sich seine spezielle Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung spiegelt. Und die Historiker wissen auch, daß sie ihre Geschichten zu einem bestimmten Zweck schreiben — nicht selten, um die Gegenwart entweder zu verherrlichen oder zu verdammen. Es gibt keine definitive Geschichte von irgend etwas — es gibt nur Geschichten, menschliche Erfindungen, die uns nicht die eine Antwort geben, sondern immer bloß jene Antworten, die durch die jeweils gestellten Fragen hervorgerufen wurden.

Historiker wissen das alles — für sie ist dies eine alltägliche Vorstellung. Aber vor den jungen Menschen machen wir ein Geheimnis daraus. Ihre Ahnungslosigkeit hindert sie daran, zu begreifen, warum sich »die Geschichte« verändern kann und warum Russen, Chinesen, Indianer und manch anderer auch geschichtliche Ereignisse ganz anders sehen als die Verfasser unserer Geschichtsbücher. Die Aufgabe des Geschichtslehrers besteht also darin, aus sich einen »Geschichtenlehrer« zu machen. Das bedeutet nicht, daß nun unbedingt jede partikulare Version der Geschichte Amerikas, Europas oder Asiens erörtert werden müßte.

Aber es bedeutet, daß ein Geschichtenlehrer jederzeit die Aufgabe hat, zu zeigen, inwiefern die Geschichten selbst Erzeugnisse von Kulturen sind; wie jede Geschichte die Gedanken und selbst die metaphysischen Vorstellungen der Kultur widerspiegelt, aus der sie hervorgegangen ist; wie Religion, Politik, Geographie und Wirtschaft eines Volkes die Menschen dazu bringen, die eigene Vergangenheit anhand ganz bestimmter Linien neu zu erschaffen. Der Geschichtenlehrer muß seinen Schülern klarmachen, was »Objektivität« und was »Ereignis« bedeutet, er muß ihnen zeigen, was ein »Blickwinkel« und was eine >Theorie< ist, und er muß ihnen eine Ahnung davon vermitteln, wie man Geschichten bewerten kann.

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Man könnte einwenden, diese Idee — Geschichte als vergleichende Geschichte zu lehren — sei zu abstrakt für den Verstand von Schülern. Aber dies ist gerade einer von mehreren Gründen dafür, eine solche vergleichende Geschichte zu unterrichten. Wer die Vergangenheit bloß als eine Chronik unbestreitbarer, zerstückelter, konkreter Ereignisse darstellt, der modelt die Geschichte nach jenen Vorstellungen, denen das Technopol selbst Vorschub leistet, wenn es unserer Jugend den Zugang zu Begriffen und Theorien verwehrt und sie nur mit einem Strom sinnloser Ereignisse konfrontiert. Deshalb klingen auch die Kontroversen über die Frage, welche Ereignisse in das Curriculum des Faches Geschichte aufgenommen werden sollen und welche nicht, immer ein wenig hohl. Manche dringen zum Beispiel darauf, daß der Holocaust oder die Blutbäder, die Stalin angerichtet hat, oder der Leidensweg der Indiander* in die Lehrpläne aufgenommen werden sollen. 

Auch ich finde, daß unsere Schüler etwas über diese Sachverhalte wissen sollten, und dennoch müssen wir uns fragen: Was genau sollen sie über diese Ereignisse eigentlich <wissen>? Soll man ihnen erklären, daß die Geschichte hier verrückt gespielt hat? Sollen sie in ihnen Beispiele für die »Banalität des Bösen« oder für das »Gesetz vom Überleben des Stärkeren« erblicken? Manifestiert sich in ihnen die universelle Kraft ökonomischer Habgier? Oder die Natur des Menschen?

Gleichgültig, welche Ereignisse im Geschichtsunterricht dargestellt werden — das Schlimmste wäre, sie ohne jene Kohärenz darzustellen, die aus einer Theorie oder aus mehreren Theorien erwächst, das heißt, sie als etwas Sinnloses darzustellen. Dies — da können wir sicher sein — tut das Technopol jeden Tag. Der Geschichtenlehrer muß über die Ereignisebene weit hinaus in das Gebiet der Begriffe, Theorien, Hypothesen, Vergleiche, Ableitungen und Bewertungen vordringen. Es geht darum, die Abstraktions­ebene, auf der »Geschichte« gelehrt wird, anzuheben. Das sollte für alle Fächer gelten, auch für die Natur­wissenschaften.

Aus dem Blickwinkel des Aufstiegs der Menschheit ist die Wissenschaft eine unserer großartigen Leistungen. Wenn am Jüngsten Tag Gericht gehalten wird, werden die Menschen ganz bestimmt rasch auf ihre Wissenschaft zu sprechen kommen. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, in jeden natur­wissen­schaftlichen Kurs auch die Geschichte der jeweiligen Wissenschaft einzubeziehen.

 

* OD: In meinem Original: "Indiander" (?) -- ich lese: Indianer

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Aber genauso wichtig ist es, ihre »Philosophie« einzubeziehen. Ich sage das mit einer gewissen Verzweiflung. Mehr als die Hälfte der High Schools in den Vereinigten Staaten bieten nämlich keinen einzigen Kurs in Physik an. Und ich möchte behaupten, daß, grob geschätzt, an 90 Prozent unserer Schulen das Fach Chemie noch immer so unterrichtet wird, als ginge es darum, aus den Schülern Apotheker zu machen. Hinweise darauf, daß die Wissenschaft eine Betätigung der menschlichen Phantasie ist, daß sie etwas ganz anderes ist als die Technologie, daß es »Philosophien« der Wissenschaft gibt und daß dies alles Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts sein sollte — solche Hinweise gehen über das, was heute üblich ist, weit hinaus. Dennoch halte ich sie für unabdingbar.

Wäre die Behauptung übertrieben, daß von fünfzig Schülern nicht einer weiß, was »Induktion« bedeutet? Oder was eine wissenschaftliche Theorie ist? Oder ein wissenschaftliches Modell? Oder wie die optimalen Bedingungen für ein gültiges wissenschaftliches Experiment beschaffen sind? Oder sich je die Frage gestellt hat, was wissenschaftliche Wahrheit ist? In seinem Buch The Identity of Man sagt Bronowski: 

»Darin besteht das Paradox der Phantasie innerhalb der Wissenschaft, daß ihr Ziel die Verarmung der Phantasie ist. Mit diesem unerhörten Satz will ich sagen, daß die höchste Leistung der wissenschaftlichen Phantasie darin besteht, das Gewucher neuer Ideen auszujäten. In der Wissenschaft ist die großartige Perspektive eine kümmerliche Perspektive, und ein reichhaltiges Modell des Universums ist eines, das so arm wie möglich an Hypothesen ist.«

Würde man unter hundert Schülern einen finden, der sich auf diese Sätze einen Reim machen könnte? Die Formulierung »Verarmung der Phantasie« mag unerhört klingen, aber sonst ist nichts Verblüffendes oder auch nur Ungewöhnliches an dem hier zitierten Gedanken. Jeder praktizierende Wissenschaftler versteht, was Bronowski meint. Aber vor unseren Schülern machen wir ein Geheimnis daraus. Es sollte gelüftet werden.

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Über den Vorschlag hinaus, daß jeder naturwissenschaftliche Kurs eine ernsthafte historische Dimension haben sollte, möchte ich weiter vorschlagen, daß jede Schule — von der Grundschule bis zum College — einen Kurs in Wissenschaftsphilosophie anbieten und verlangen sollte. Ein solcher Kurs sollte sich mit der Sprache der Wissenschaft beschäftigen, mit dem Wesen des wissenschaftlichen Beweises, mit der Quelle wissenschaftlicher Hypothesen und der Rolle der Phantasie, mit den Bedingungen für das Experimentieren und vor allem mit dem Wert von Irrtum und Widerlegung. Wenn ich mich nicht irre, glauben immer noch viele Menschen, irgendein Satz werde dadurch zu einem wissenschaftlichen Satz, daß man ihn verifizieren kann. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Wissenschaftliche Sätze unterscheiden sich von nichtwissenschaftlichen dadurch, daß man die ersteren »falsifizieren« kann. Wissenschaft beruht nicht auf unserer Fähigkeit, »Wahrheit« zu erkennen, sondern auf unserer Fähigkeit zum Erkennen von »Falschheit«. 

Ein solcher Kurs müßte eine Vorstellung davon vermitteln, daß Wissenschaft nicht Pharmazie und nicht Technologie und keine Serie von Zaubertricks ist, sondern eine besondere Art und Weise, die menschliche Intelligenz zu betätigen. Die Schüler sollten lernen, daß man nicht zum Wissenschaftler wird, indem man sich einen weißen Kittel anzieht (wie es das Fernsehen lehrt), sondern indem man mit einem Komplex von Denk- und Verstandesregeln operiert, von denen viele auf einem disziplinierten Umgang mit der Sprache beruhen. Zur Wissenschaft gehört auch eine Methode, eine allgemein zugängliche Sprache zu verwenden. Der Aufstieg der Menschheit beruht zu einem großen Teil eben darauf.

Was den disziplinierten Umgang mit Sprache angeht, so möchte ich empfehlen, daß jede Schule — wiederum angefangen bei den Grundschulen bis zum College — neben den Kursen in Wissenschafts­philosophie auch einen Kurs in Semantik anbietet, in dem es um die Prozesse geht, mit denen die Menschen Sinn erzeugen. In diesem Zusammenhang muß ich auf die betrübliche Tatsache hinweisen, daß Englischlehrer sich dem Fach Semantik schon immer verschlossen haben — mit anderen Worten, sie haben es ignoriert. Ich habe das nie verstehen können, denn Englischlehrer behaupten immerhin, sie würden Unterricht im Lesen und Schreiben erteilen. Aber wenn sie dabei nichts über die Beziehung zwischen Sprache und Realität verlauten lassen — und genau damit beschäftigt sich die Semantik —, dann weiß ich nicht, wie sie Lesen und Schreiben bei ihren Schülern verbessern wollen.

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Jeder Lehrer sollte auch Semantiklehrer sein, denn es ist nicht möglich, die Sprache von dem zu trennen, was wir Wissen oder Erkenntnis nennen. So wie die Geschichte ist auch die Semantik interdisziplinär: man muß etwas von ihr wissen, wenn man in irgendeinem Fach irgend etwas verstehen will. Aber für die Entwicklung der Intelligenz der jungen Leute wäre es äußerst nützlich, wenn es auch einen speziellen Kurs gäbe, in dem bestimmte Grundprinzipien der Sprache benannt und erklärt werden. Ein solcher Kurs würde sich nicht nur mit verschiedenen Arten von Sprachgebrauch beschäftigen, sondern auch mit der Beziehung zwischen Gegenständen und Wörtern, zwischen Symbolen und Zeichen, zwischen Tatsachenfeststellungen und Urteilen, zwischen Grammatik und Denken. Vor allem bei jungen Schülern würde der Kurs jene semantischen Irrtümer hervorheben, die uns allen immer wieder unterlaufen und die sich durch ein bewußtes und diszipliniertes Verhältnis zur Sprache vermeiden lassen — Verwechslung von Abstraktions­ebenen, Verwechslung von Wörtern und Dingen, floskelhaftes Reden.

Unter allen Disziplinen, die in das Curriculum aufgenommen werden können, gehört die Semantik gewiß zu den »grundlegenden«. Weil sie sich mit den Prozessen beschäftigt, durch die wir Sinn erzeugen und deuten, kann sie elementare Auswirkungen für die Intelligenz unserer Schüler haben. Trotzdem wird die Semantik selten genannt, wenn der Ruf »Zurück zu den Grundlagen« ertönt. Warum? Ich vermute, weil die Semantik zu tief vordringt. In Anlehnung an George Orwell könnte man sagen: viele Fächer sind grundlegend, aber einige sind grundlegender als andere. Solche Fächer können kritisches Denken entfalten und den Schülern den Zugang zu Fragen eröffnen, die an den Kern der Dinge rühren.

Aber das ist es nicht, was den Befürwortern eines »Zurück zu den Grundlagen« meist vorschwebt. Sie wünschen sich Sprachtechniker: Leute, die Anweisungen befolgen, klare Berichte verfassen und orthographisch korrekt schreiben können. Es spricht vieles dafür, daß die Beschäftigung mit der Semantik die Schreib- und Lesefähigkeit der Schüler verbessert. Aber sie leistet in jedem Fall mehr. Sie versetzt die Schüler in die Lage, über den Sinn und die Wahrheit dessen nachzudenken, was sie schreiben und lesen sollen.

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Sie lehrt sie, die Annahmen zu erkennen, die dem, was ihnen gesagt wird, zugrunde liegen. Sie macht die zahlreichen Formen sichtbar, in denen Sprache die Wirklichkeit verzerren kann. Sie hilft den Schülern, das zu werden, was Charles Weingartner und ich einmal »Quatsch-Detektoren« genannt haben. Schülern, die Über eine feste Grundlage in der Semantik verfügen, wird es schwerfallen, sich einem Lesetest zu unterziehen. Ein Lesetest lädt nämlich nicht dazu ein, die Frage zu stellen, ob das Geschriebene wahr ist oder nicht — und wenn es wahr ist, danach zu fragen, in welchen Zusammenhängen es steht. Die Beschäftigung mit der Semantik beharrt auf solchen Fragen. Aber so »grundlegend« haben sich die Befürworter des Grundsatzes »Zurück zu den Grundlagen« die Bildung denn doch nicht vorgestellt. Und deshalb nehmen sie Literatur, Musik und Kunst im allgemeinen auch nicht in ihre Lehrpläne auf. Wenn wir hingegen den Aufstieg der Menschheit zum Grundthema machen, wird es selbstverständlich notwendig, diesen Fächern einen wichtigen Platz einzuräumen.

Vor allem deshalb, weil das, was diese Fächer zum Inhalt haben, besser als alles andere die Einheit und Kontinuität menschlicher Erfahrung und menschlichen Empfindens bezeugen kann. Und deshalb schlage ich vor, im geisteswissenschaftlichen Unterricht die Werke der Vergangenheit in den Vordergrund zu stellen. Von den zeitgenössischen Werken hingegen sollten sich die Schulen möglichst fern halten. Die Kommunikations­industrie sorgt schon dafür, daß unsere Schüler ständig Zugang zur Populärkunst ihrer Zeit haben — zu Musik, Rhetorik, Design, Literatur und Architektur. Ihr Wissen von Form und Inhalt dieser Künste ist bei weitem nicht zufriedenstellend. Aber ihr Unwissen im Hinblick auf Form und Inhalt der Kunst vergangener Zeiten gleicht einer gähnenden Leere. Dies ist der erste gute Grund dafür, die Kunst der Vergangenheit in den Vordergrund zu rücken. Ein zweiter besteht darin, daß kein Fach besser geeignet ist, uns von der Tyrannei der Gegenwart zu befreien, als das historische Studium der Kunst. Die Malerei zum Beispiel ist mehr als dreimal so alt wie das Schreiben und enthält im Wechsel der Stile und Motive eine Chronik des Aufstiegs der Menschheit, die sich über fünfzehntausend Jahre erstreckt.

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Ich will hiermit nicht sagen, daß die Kunst unter die Rubrik Archäologie gestellt werden sollte, ich möchte nur empfehlen, der Kunstgeschichte einen wesentlichen Platz im Curriculum zu geben. Aber Kunst ist mehr als bloß historisches Artefakt. Wenn sie uns etwas bedeuten soll, muß sie in eine Beziehung zu Gefühls­schichten treten, die der diskursiven Sprache nicht zugänglich sind. 

Es stellt sich also die Frage, ob es den Schülern heute überhaupt möglich ist, auf der Ebene von Gefühl und Empfinden ein Verhältnis zu Malerei, Architektur, Musik, Bildhauerei oder Literatur der Vergangenheit herzustellen. Die Antwort lautet, wie ich glaube: nur unter größten Schwierigkeiten. Ihre ästhetische Sensibilität und die vieler anderer Menschen ist weit von dem entfernt, was nötig ist, um ein Sonett von Shakespeare, eine Symphonie von Haydn oder ein Bild von Frans Hals anregend oder gar unterhaltsam zu finden. 

Um es übermäßig zu vereinfachen:  

Einem jungen Mann, der Madonna für den absoluten Höhepunkt musikalischen Ausdrucks hält, fehlt die Sensibilität, zwischen Auf- und Abstieg der Menschheit zu unterscheiden. Aber ich will hier nicht die Populärkultur anschwärzen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Produkte der Populärkunst von der Kultur selbst ausgiebig propagiert werden. Die Schulen müssen sich um die Produkte der klassischen Kunstformen gerade deshalb kümmern, weil sie nicht so verfügbar sind und weil sie eine andere Form von Sensibilität und Aufnahmebereitschaft verlangen. 

Heutzutage gibt es keine Entschuldigung für Schulen, die Rock-Konzerte veranstalten, während ihre Schüler die Musik von Mozart, Beethoven, Bach oder Chopin noch nie gehört haben. Oder für Schüler, die ihren Abschluß an der High School machen und noch nie Shakespeare, Cervantes, Milton, Keats, Dickens, Whitman, Twain, Melville oder Poe gelesen haben. Oder für Studenten, die noch nie ein Gemälde von Goya, El Greco oder David und sei es nur als Reproduktion gesehen haben. Es kommt nicht darauf an, daß viele dieser Komponisten, Schriftsteller und Maler zu ihrer Zeit durchaus populär waren. Es kommt darauf an, daß sie in einer Sprache und aus einem Blickwinkel gesprochen haben, die sich von unserer Sprache und unserem Blick­winkel unterscheiden und dennoch in einer kontinuierlichen Beziehung zu ihnen stehen.

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Diese Künstler sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie Maßstäbe für den Umgang zivilisierter Menschen mit der Kunst aufgestellt haben. Sie sind wichtig, weil die heutige Kultur ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen und ihre Maßstäbe unsichtbar zu machen versucht.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß Schüler, die ganz in der Populärkunst von heute aufgehen, eine solche Akzentuierung als langweilig und sogar als quälend empfinden werden. Dies wiederum werden die Lehrer als quälend empfinden, die verständ­licherweise lieber etwas unterrichten, das direkt begeisterte Reaktionen auslöst. Aber wir müssen den Jugendlichen zeigen, daß nicht alles Wertvolle unmittelbar zugänglich ist und daß es Ebenen von Wahrnehmungsfähigkeit gibt, die sie gar nicht kennen. Und vor allem müssen wir ihnen die künstlerischen Wurzeln der Menschheit zeigen. Und diese Aufgabe fällt in unserer Zeit unausweichlich den Schulen zu.

Anknüpfend an das Stichwort »Wurzeln«, möchte ich zum Schluß zwei Themenbereiche in meinen Vorschlag aufnehmen, die unentbehrlich sind, wenn wir verstehen wollen, woher wir kommen. Zum einen die Geschichte der Technik, die genau wie Wissenschaft und Kunst einen Beitrag zur Geschichte der Menschheit und ihrer Konfrontation mit der Natur und mit ihren eigenen Grenzen liefert.

Es ist wichtig, den Schülern zu zeigen, daß es zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der Erfindung der Brille im 13. Jahrhundert und den Experimenten der Gen-Forschung im 20. Jahrhundert gibt: daß wir nämlich in beiden Fällen die These, Anatomie sei Schicksal, zurückweisen und mit Hilfe der Technik unser Schicksal selbst bestimmen. Kurz, wir brauchen Schüler, die die Beziehungen zwischen unserer Technik und unserer gesellschaftlichen und psychischen Welt begreifen, so daß sie sich auf eine informierte Weise an Gesprächen darüber beteiligen können, wohin uns Technik und Technologie führen und wie dies geschieht.

Der zweite Themenbereich ist die Religion, die mit Malerei, Musik, Technik, Architektur, Literatur und Wissenschaft eng und auf vielfältige Weise verbunden ist. Ich möchte vorschlagen, in das Curriculum einen Kurs zum Thema Religions­vergleich aufzunehmen. Er würde sich mit der Religion als Ausdruck der schöpferischen Kraft der Menschheit, als einer umfassenden Antwort auf die fundamentalen Fragen nach dem Sinn des Daseins beschäftigen.

Der Kurs würde deskriptiv verfahren, er würde keine bestimmte Religion befürworten, sondern die Gleichnisse, die Literatur, die Kunst, das Ritual des religiösen Ausdrucks selbst beleuchten. Ich bin mir über die Schwierig­keiten, mit denen es ein solcher Kurs zu tun hätte, durchaus im klaren. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Auffassung, daß Schule und Religion keinesfalls miteinander in Berührung kommen dürfen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie wir den Heranwachsenden Bildung vermitteln wollen, wenn wir ihnen nicht vor Augen führen, wie unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten versucht haben, über die Welt hinauszudenken. 

Bildung kann Texte wie die Genesis, das Neue Testament, den Koran oder die Bhagawadgita nicht außer acht lassen. Jeder von ihnen verkörpert einen Stil und eine Weltsicht, die über den Aufstieg der Menschheit so viel mitteilen, wie man sich von einem Buch nur wünschen kann. Und diesen Schriften würde ich auch das <Kommunistische Manifest> an die Seite stellen, dem sich bis in die jüngste Zeit Millionen von Menschen verbunden fühlten.

Um noch einmal zusammenzufassen: 

Ich schlage für den Anfang ein Curriculum vor, in dem alle Fächer als Stufen der historischen Entwicklung der Menschheit dargestellt werden, in dem die Philosophien von Wissenschaft, Geschichte, Sprache, Technik und Religion gelehrt werden; in dem den klassischen Ausdrucksformen der Kunst ein bevorzugter Platz eingeräumt wird.

Dieses Curriculum geht »zurück zu den Grundlagen«, aber nicht so, wie die Technokraten sich das wünschen. Und mit Sicherheit steht es in Opposition zum Geist des Technopols.

Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß ein solches Bildungsprogramm das weitere Vordringen des Technopols stoppen könnte. Aber vielleicht hilft es, ein ernsthaftes Gespräch in Gang zu bringen und in Gang zu halten, das es uns ermöglicht, Distanz gegenüber dem Technopol zu gewinnen, es zu kritisieren und zu verändern. Die gleiche Hoffnung verbinde ich mit diesem Buch.

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Ende

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