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September 1941 

 

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Letzthin, die kleine Umsteigestation Garching in Oberbayern passierend, habe ich den ersten Transport russischer Gefangener gesehn ... Will sagen, ich sah sie nicht, sondern roch sie nur. Von einem Zug festgeschlossener Güterwagen nämlich, der auf einem Nebengleis stand, wehte der sommerliche Wind einen pestilenzartigen Gestank von Urin und menschlichen Exkrementen herüber, und als ich mich näherte, bemerkte ich denn auch die entsprechenden Spuren, die aus den Wagen durch die Dielenritzen und Spalten auf den Bahnkörper hinuntertropften.

»Sie sind dort zusammengepfercht wie Vieh.« Der Landsturmmann, der es mir sagte, war keineswegs einverstanden mit dieser Behandlung Wehrloser — er schien vielmehr ehrlich entrüstet. »In den Lagern läßt man sie so hungern, daß sie aus dem Boden das Gras raufen und es hinunterschlingen.«

In der Nachbarschaft hat folgendes sich ereignet. 

Zu einem bettelarmen und durchaus unbescholtenen Gütlerehepaar kehrt, nach abenteuerlicher Odyssee aus Amerika gekommen, der vor Jahren ausgewanderte Sohn heim, läßt die Eltern, die ihn jubelnd begrüßen, ein paar Hundertdollarnoten sehn und legt sich nach reichlichem Begrüßungsmahl schlafen. In der Nacht, während er schlummert, hocken die Eltern lange beisammen, dann, nach eingehender Beratung, nimmt die Mutter ein langes Küchenmesser und schneidet im Hinblick auf das schöne Geld dem arglosen Sohn den Hals durch. 

Brave und ehrliche Leute sonst. 

Wenn ich meine alte Hypothese entwickele, wonach hinter all diesen Greueln und dieser beispiellosen Loslösung eines an sich gutartigen Volkes von aller Sitte ein kosmischer Prozeß, eine gigantische Psychose und das Freiwerden einer sonst gefesselt gehaltenen Dämonenhorde stecke — wenn ich je diese Hypothese äußere, lacht man mich aus, schilt mich einen Phantasten und verweist auf die gewissermaßen physiologische Verrohung, die in jedem Kriege zu beobachten ist. 

Wir werden sehen, ob es nicht eine spätere Geschichtsschreibung ist, die mir, sei es nach vielen Jahrzehnten, recht geben wird. Und nachgerade scheint es, als gehöre das Sterben der übriggebliebenen Guten ebenfalls zu dieser Symptomatologie ... als vollzöge dieses Sterben sich planmäßig, in einer schaurigen Systematik. 

Clemens von Franckenstein erkrankte im Winter, als er eben für ein paar Tage mich besuchen wollte, an einer heftig einsetzenden Grippe, die man zuerst nur für eine solche gehalten hatte und die dann, da sie keiner Behandlung wich, eine klinische Therapie notwendig machte. 

Jüngst, als ich ihn besuchte, erschrak ich über die furchtbare Veränderung seines abgemagerten Gesichtes heute schickt mir ein ärztlicher Bekannter das Exemplar einer Münchener klinischen Wochenschrift, in der ich eine Kasuistik des Lungenkrebses vorfinde. Der erste Fall, in einer recht peinlich wirkenden Indiskretion durch des Namenschiffren bezeichnet, betrifft ihn, den Guten, den Reinen ..... ihn, der in Haltung und Gesinnung mir immer als ein letzter deutscher Edelmann erschienen ist! 

Als wolle mir aber das Schicksal nun wirklich alle Freunde nehmen, als gehöre zu den Martern dieser Zeit auch diese wachsende Vereinsamung, erreicht mich am gleichen Tage die Nachricht von der schweren Erkrankung, die Clés Vetter, den Grafen Erwein Schönborn befallen hat. 

1)  Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu (1819-1901), Reichskanzler von 1894-1900.

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Besitzer der gewaltigen Wiesenheidschen Standesherrschaft, Enkel des alten Reichskanzlers Hohenlohe1, hatte er, ein Mann von echter humanistischer Geisteshaltung, die übliche Juristen- und Diplomatenlaufbahn mit einem medizinischen Studium und einer gründlichen Fachausbildung als Chirurg vertauscht — nach dem Frühstück in einem Prachtraum, dessen Tapeten von Raffael entworfen waren, pflegte der schwerreiche Standesherr sich von seinen Gästen zu beurlauben, um auf einem Leichtmotorrad zu seinen natürlich unentgeltlich behandelten Patienten zu fahren. 

Nun scheint auch ihn, den großartigen Gelehrten und Menschenfreund, die jahrelange Überanstrengung zu fällen. Wir waren ... Franckenstein, er und ich, ein Gremium von Freunden, die durch mancherlei sportliches und persönliches Erleben, vor allem aber durch die gemeinsame Haltung und durch die Hoffnung auf lichtvollere Zeiten zusammengehalten wurden. In dem Gedanken, auch ihn verlieren zu müssen, von dem ich gemeinsames Wirken für die zukünftige Gestaltung des Landes mir versprach: in diesem Gedanken erschauere ich. 

Im Saal die Lichter brennen dunkler, die Bühne leert sich, und aus ihren unsichtbaren Hinterräumen weht ein eisiger Hauch mich an. Es sind die Larven nur, die im Parkett sitzen bleiben, und in tödlicher Einsamkeit, vor einer Troglodytenhorde, wird man's vollenden müssen.

Berlin freilich, das ich jüngst besuchte, ist weitab von solcher Melancholie! Berlin, angekurbelt durch diesen Siegeskatarakt, zuversichtlich und laut tönend wie in den fettesten Tagen des Wilhelminismus, verteilt unter den Seinen die Güter dieses von Herrn Hitler unterworfenen Erdballes ... schiebt, frühstückt in abseitigen, für die Halbgötter des Regimes bestimmten Lokalen noch immer leidlich gut und befindet sich im Gemütszustände eines Mannes, der sozusagen alle Tage Geburtstag hat.

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In jenem unterirdischen Lokal, in dem ich vor Jahren mich so an dem Treiben des preußischen Jungadels erfreute, treffe ich Frau v. K., die in ihren Mädchenjahren meine Tänzerin gewesen ist und mir nun entgegenkommend im Format eines eichenen Speisezimmerbüffets, mit einem zwei Pud schweren Monstrebusen und jener erwerbsfreudigen Physiognomie, auf die man bei ihren Standesgenossinnen so oft stößt, wenn sie erst die Schattenlinie der vierziger Jahre passiert haben. Sie also, die Sylphe von ehedem, stellt mir, als Hors d'oeuvre gewissermaßen, vor die Nase ein paar prachtvolle Bronzeleuchter, die sie aus ihrer Handtasche holt und die, laut vorgelegter Bescheinigung, ehedem, in dem längst niedergebrannten St. Cloud, den Schreibtisch des großen Napoleon geziert haben ...
    Geraubt, sichergestellt ... es ist Krieg, was wollen Sie?

 

Als ich die mir vergiftet erscheinende Speise mit einem Hinweis auf meine bescheidenen Mittel ablehne, bekomme ich einen volkswirtschaftlichen Vortrag über die Kreditfreudigkeit der Banken, über das automatische Versacken der Währung und über die Konjunktur serviert, die ein Vater von zwei Kindern doch ausnützen müsse. Auf die Leuchter folgt dann ein Angebot von französischem Kognak, von Pariser Damenwäsche und schließlich sogar von einem Zuchtpaar von Silighamterriern, die ein Bekannter von ihr auf einem Gute bei Rennes »sichergestellt« habe und die freilich nicht, wie vorhin die Leuchter in der Handtasche, mitgeführt werden. Als aber alle diese Versuchungen von mir abprallen, wird die Atmosphäre eisig, und Madame, mich für einen Idioten haltend, entfernt sich, mit ihrem meterbreiten Gesäß, hinter sich eine unsichtbare Spur tiefer Verachtung lassend.

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Paul Wiegler übrigens, der als letzter Mann der Ullsteinzeit im Verlagshause an der Kochstraße verblieben ist, erzählt mir von einem alten Portier des Hauses, der durch etwelche unterirdische Kanäle noch immer mit seinen nach New York ausgewanderten früheren Herren korrespondiert und von einem von ihnen jüngst die Nachricht erhalten habe, wonach er, der ehemalige Multimillionär, nun doch auf seine alten Tage mit dem Hunger Bekanntschaft mache. Ich habe keinen von diesen unnahbaren Ullsteinbrüdern gekannt, konnte nur hier und da ihren Bienenfleiß und ihre puritanischen Grundsätze beobachten. Nun also hungern sie. 

In Berlin hat man inzwischen mit Telephonnummer, Kartothek und Bürofräuleins ein ... nein, dies ist Wirklichkeit und keineswegs Legende ... <Reichsamt für Wirtschaftsmoral> aufgetan.

Meine Aufwartung mache ich bei dieser Gelegenheit der meinen Schwiegereltern nahestehenden Prinzessin Friedrich Leopold, Schwester der verstorbenen deutschen Kaiserin, Schwägerin des nun ebenfalls und sozusagen »unter Ausschluß der Öffentlichkeit« dahingegangenen Kaisers und Schwiegertochter jenes Prinzen Friedrich Karl, der einst bei Mars-la-Tour kommandierte.

Die alte, trotz ihrer achtzig Jahre noch immer sehr frische und elastische Dame erinnert in keiner Hinsicht an ihre kaiserliche Schwester: vorurteilsfrei, vorzüglich konserviert, benützt sie das Velo, wenn sie von Glienicke aus meine in Strausberg wohnenden Schwiegereltern besucht, durchmißt auf diese Weise die riesige Stadt gewissermaßen vom West- bis zum Ostpol und verleugnet in keiner Weise die Kritik, mit der sie sich ihres kaiserlichen Schwagers und seiner Hofhaltung erinnert.

Von dem Glanz freilich, mit dem ihr Schwiegervater Glienicke ausstattete, ist wirklich nur noch ein kümmerlicher Rest ihr verblieben. Der Großteil des Schlosses ist an Kempinski verkauft, der Großteil ihres Vermögens auf eine wahrhaft tragische Art zusammengeschmolzen. Da von ihren drei Söhnen der eine in den ersten Tagen des Krieges gefallen, der zweite bei einem Reitturnier verunglückt ist, hat das

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