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3 - Die verfeindeten Brüder oder Intelligenz und Nomenklatura

Reich-1992

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  Kollaps   

Es gibt keine Gesellschaft ohne Intelligentsia in der Rolle des Wissenshalters. Im Wissen erscheint jede Gesellschaft als System, als Ganzheit von wechselwirkenden und politischen Kräften, die ein Gleich­gewicht erzeugen.

Ein solches Gleichgewicht kann, wie die Physik lehrt, in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Da gibt es den starren stationären Zustand. Da gibt es die Kippschwingung zwischen mehreren Zuständen, wobei jeder für eine gewisse Zeit stabil ist. Dann gibt es die «Chaos» genannte Bewegungsform, bei der das ganze System zwar bewegungsfähig bleibt, aber kein Einzel­zustand ist vorhersagbar. Wie beim Aprilwetter zeigt die Analyse, was alles geschehen kann und auch regelmäßig geschieht, aber welcher Zustand am kommenden Wochenende herrschen wird, kann auch der beste Computer nicht ausrechnen.

In der politischen Physik erweist sich ein starrer stationärer Zustand stets als anfällig für Langzeitdrift in einen instabilen Zustand. Es ist wie ein Schönwetterhoch, eine Inversionslage, die lange Zeit bestehenbleibt und sich dabei langsam mit Smog auffüllt.

So war die sowjetische Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre ultrastabil. Kein Stoß konnte den stationären Zustand nachhaltig erschüttern. Ganz langsam, schleichend, schritten aber Erosionsprozesse mit langer Eigenzeit voran. Die Verknappung von Ressourcen, besonders fossiler Brennstoffe, deren Nachschublinien immer weiter in den sibirischen Permafrost führten. Die Anhäufung von Endprodukten, die ganze Landstriche zu Müllkippen machten. Die sich weitende technologische Lücke, die zu klobigem Riesenwuchs von militärischer Rüstung führte. Und anderes.

Schließlich waren die Steuerparameter der Systembewegung so weit weggerutscht, daß es instabil wurde. Da war nichts aus heiterem Himmel. Die Krise kam einschleichend, unterkritisch daher.

Ihren sichtbaren Ausbruch können wir an scheinbar zufälligen Äußerlichkeiten festmachen, vor allem an Personen. Aber das darf die Analyse nicht blind machen gegen die eigentliche Struktur­instabilität des stationären Systems.

   Reißbrettentwurf   

Der Sozialismus war das erste Beispiel dafür, daß eine Gesellschaftsutopie verwirklicht wurde. Was Wiedertäufer, Quäker und die Owen-Kolonien versucht hatten und womit sie gescheitert waren, das gelang hier für einen erheblichen Teil der Menschheit: eine neue Gesellschaft nach vorgefertigter Reißbrett­zeichnung herzustellen. Der Sozialismus verwirklichte, was Hans Magnus Enzensberger als die fatalsten Attribute des utopischen Denkens ausgemacht hat, «den projektiven Größenwahn, den Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit».

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Machbarkeitswahn und Gigantomanie waren die motivierenden Triebkräfte dieses Systems bis in seine Kollapsphase hinein. Sie sind nicht spezifisch für dieses Gesellschaftsexperiment. Wir finden das auch in anderen Gesellschaften, allerdings nicht so allumfassend. In der Energiepolitik, beim Wirken des militärisch-industriellen Komplexes, bei der Urwaldrodung, beim Ausbau des Flugverkehrsnetzes, in der Autoindustrie und Mikroelektronik — überall gibt es Ansätze zum rational Optimierten, zum Totalen, zum Grand Design.

Als Träger wahnhafter rationaler Gesellschaftsentwürfe werden meist Intellektuelle ausgemacht, also Angehörige einer kleinen Zunft von Schriftstellern, Gesellschafts­theoretikern, Philosophen und so weiter, die von Platos Zeiten über Campanella bis zu Karl Marx schon zahlreiche utopische Entwürfe vorgelegt haben. Sie haben sie ausgedacht und zu Papier gebracht; ihnen wird auch der Fluch nach der gescheiterten Realisierung aufgebunden. Von Vorvätern werden sie zu Sündenböcken.

Am Grab des utopischen Entwurfes stehen die vollendeten Projekte, die Großbauten des Sozialismus. Allen voran der sterbende Aralsee und die mit Wasser seiner ehemaligen Zuflüsse ausgelaugte und versalzene Erde Usbekistans, eine ökologische Jahrhundertkatastrophe.

Eine ebenso grandiose Ausputzerlösung konnte eine eben erwachte Öffentlichkeit gerade noch verhindern: die Umleitung der Riesenströme Asiens, Ob-Irtysch und Jenissei-Angara aus ihrer Nordrichtung nach Südwesten in den Aral. Das hätte ohne Zweifel zu einer Ökokatastrophe der ganzen Nordhemisphäre geführt.

Die Großprojekte des Sozialismus sind zu seinen Sargnägeln geworden. Bis zum Assuan-Staudamm erstrecken sich die Exkremente planender Totalvernunft. Jahrhundertentwürfe wie die Industriegebiete des Kusbass, das Erdölgebiet um Tjumen, im Ural und um Donezk, das Riesenprojekt der BAM sind zu Alpträumen ihrer Erbauer geworden.

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Die sowjetische Literatur von Gladkow und Gorki bis in die Glasnost-Zeit ist voll von Heldenliedern. Erst in der Gegenwart sind die Freuden­gesänge in Klagegeheul umgeschlagen.

Verwüstungen anderer Art wurden in den Köpfen von Menschen angerichtet. Vier Generationen hat ein Erziehungssystem gewütet, das Schriftsteller und Pädagogen als Ingenieure der Seele verstand und Disziplin und monotonen Stumpfsinn zu den geistigen Tugenden erklärte, das menschliches Denken und Wissen zu trostloser Langeweile zusammenstutzte, die Gehirne der jungen Leute mit wiedergekäutem Brechmaterial füllte, bis sie fürs Leben von aller Wissenschaft, aller Kunst und jedem Geist geheilt waren und entweder in die private Nische der Gleichgültigkeit krochen oder ausbrachen in wirtschaftliche und Gewalt­kriminalität. Auch hier hat sich die Wahnvorstellung der universellen geplanten Manipulierbarkeit ausgetobt.

Als Schuldige für das Desaster wird die Nomenklatura ausgemacht, die Partei- und Staatsbürokratie mit ihren Schlag- und Fangarmen Armee, Polizei und Staatssicherheit.

Diese Schuldzuweisung greift zu kurz. Vielmehr hat die gesamte Intelligentsia dieses Ergebnis zu verantworten. Sie hat mitgearbeitet, die Pflicht erfüllt, die berstende Großrationalität mit Flickvernunft im Kleinen kompensiert. Sie konnte keine Wiese sehen, ohne zu «meliorieren», keinen unberührten Wald, ohne eine Trasse durchzuschlagen, keinen Fluß, ohne Wasserkraft zu stauen. Sie lieferte immer neue Ressourcen, neue Ideen, neue Energiequellen, Wasserquellen, Bodenschätze, bildete immer neue Generationen von Ingenieuren aus.

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Wie oft habe ich in der Sowjetunion von Menschen, die durchaus keine Parteifunktionäre waren, ein mitleidiges Lächeln kassiert, wenn ich, bereits in den Zeiten des Club of Rome, auf die Endlichkeit und Erschöpfbarkeit unserer Ressourcen verwies: Keine Sorge, so etwas mag bei euch im Zwergeneuropa ein Problem sein — unser Land ist unerschöpflich reich, und die Regenerationskräfte der Natur sind unerschöpflich; nur keine kleinmütigen Ängste!

Ohne die Intelligentsia als Planer wäre es nicht gegangen. Mit Parteibuchparolen allein kann man keine Großprojekte meistern. Und als Auftragnehmer war die Intelligenz ein Ensemble von ängstlich-beflissen-gehorsamen Erfüllungsgehilfen. Wenn jemand sich weigerte, so fand sich stets ein anderer für den Leitungsposten.

Es stimmt, wir, die Intelligentsia, sind um den Lohn geprellt und beim Bankett ins hinterste Ende des Festsaales gewiesen worden. Es ist richtig, wir waren stets skeptisch. Wir haben mehr Sachkompetenz angemahnt, es ging noch nicht rational genug zu. Wir waren dagegen. Wir haben schließlich sogar versucht, vom sinkenden Schiff zu kommen. Aber die großen Projekte und ihre Ruinen sind Zeugen der Pervertierung einer Denkweise, die wir auf Universitäten und Technika studiert und bewundert haben.

Vor Jahren gab es den Witz, daß in einem KIM (Kombinat Industrielle Mast), das Hunderttausende von Hühnern in einer Großanlage hielt, eine Seuche ausgebrochen sei. In Hektik rief die Kombinatsleitung immer wieder beim ZK-Sekretariat für Landwirtschaft und bei der Bezirksparteileitung an, was denn da zu tun sei. Diese konsultierten Akademien und Landwirtschafts­fakultäten und produzierten immer neue Anordnungen, wie zu verfahren sei. Die Rückmeldung «nach Maßnahme­vollzug» war stets eine neue Katastrophe: wieder hunderttausend Hühner verendet. Beim letzten Anruf kam die Frage: Habt ihr denn keine Idee mehr, was wir nun machen sollen? Die Antwort: Ideen hätten wir schon, aber ihr habt ja keine Hühner mehr!

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Nach diesem Strickmuster ist der Sozialismus zugrunde gerichtet worden: Verantwortung und Kontrollbefugnis nach oben delegiert. Unten saßen sie und schüttelten den Kopf und schwiegen oder murrten leise. Einige protestierten und verfaßten Eingaben, wurden als Querulanten kaltgestellt oder nach dem Westen hinausgelassen. Plantreue war oberstes Gebot. Planerfüllung die heilige Kuh. Das System war thermo-dynamisch offen, weit offen wie ein Scheunentor, und es war stolz darauf, verbrauchte Ressourcen und produzierte Abfall. Alles war konstruiert wie die organische Chemie: Reinste Ausgangssubstanzen werden hektoliterweise zusammengemischt, sauberste Reaktionen finden in ästhetischen Anlagen statt, am Ende erhält man grammweise eine kostbare Substanz und dazu einen Riesenbehälter verdorbener, weil vermischter Chemikalien, die man unter Qualm- und Dioxinentwicklung verbrennt oder über den Ausguß in den Vorfluter einleitet.

Ich habe das sowjetische Beispiel betont, weil hier der utopische Wahn besonders unkontrolliert getobt hat. Es gibt ähnliche Hinterlassen­schaften in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in der DDR. Small is beautiful only by comparison: Wir konnten nicht bis zu den Ellenbogen in Ressourcen baden — das war der Unterschied.

Die technische Denk- und Handlungsweise ist mit dem Sozialismus keineswegs ausgestorben. Wir finden sie überall auf der Welt, nur nicht als vollständiges gesellschaftspolitisches System. Im Golfkrieg von 1991 haben wir ein neues Beispiel für den hohlen Grand Design als Ersatz für Problemlösung.

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    Intelligenz und Nomenklatura   

 

Im Sozialismus gab es die seufzende, die kopfschüttelnde Intelligenz, die alles kommen sah, «Wem sagen sie dies!» rief, eine bessere Versorgung mit Geräten und Verbrauchsmaterialien anmahnte, darüber klagte, daß Importmittel für goldene Klos in Zhukovka und Wandlitz oder zur Ausbildung von PLO-Terroristen verbraten wurden, anstatt japanische Feinelektronik und westdeutsche Großanlagen anzuschaffen. Wir hier unten, und die Bonzen da oben. Wenn sie wenigstens einige japanische Autos für uns beibringen würden. Statt dessen die gepanzerten Volvos.

Für Menschen, die so gedacht und gelebt und ihre Pflicht erfüllt haben, muß die These von György Konrád und Iván Szelényi von der «Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht« ein einziges Ärgernis sein. Sie schiebt die Schuld für das Desaster, dessen Folgen wir alle in Osteuropa jetzt auskosten, auf breite Schultern, anstatt die wenigen und gut auffindbaren Schuldigen namhaft zu machen: Partei, Staatsapparat, Armee, Polizei, Staatssicherheit, ja, und dann noch die «Leitungskader» in den Großbetrieben, Kolchosen, Bergwerken — da wird es dann schon durchmischt, denn «dort gab es vielleicht auch anständige Leute». Und dann noch die Speichellecker in den Universitäten und beim Schriftstellerverband. Aber nicht wir, die kleinen Leute!

Wenn man mit der These arbeitet, muß man wohl ein Wort der Erklärung abgeben, daß man keine individuelle moralische Schuld zuweist. Ich will ein analoges Beispiel geben, wie die These gemeint ist.

Mein Vater und mein Onkel und eine Reihe anderer Soldaten des Zweiten Weltkrieges, die ich kenne, sind anständige Leute und haben nie ein Unrecht getan. Auf Befragen sagen sie, daß sie gelegentlich von «Übergriffen» der SS gehört oder etwas erfahren oder beobachtet hätten, aber «die Wehrmacht, die war sauber, die haben fair und tapfer gekämpft und die Zivilbevölkerung geschont»!

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Sie reagieren mit Abwehr und Entrüstung auf die Behauptung, daß es die Funktionsweise und die politische Vereinnahmung der Wehrmacht waren, die sie für ganz Europa zu einem Schrecken werden ließen. Daß aus einem Zusammenwirken von Befehl und Gehorsam ohne Kontrolle und Einsicht in die Tatbestände in einem totalitären System keine moralisch saubere Kriegführung heraus­kommen kann, falls es so etwas überhaupt gibt. Daß man bei aller persönlichen Integrität bei einer verbrecherischen Sache mitmacht, wenn man den Henkern Waffen und Feuerschutz bietet. Daß da ein moralisches Dilemma vorliegt, über das man prinzipiell nachdenken muß, wenn man lebend herauskommt, damit man selbst oder die Kinder und Enkelkinder nie wieder in so eine Situation kommen können, in der sie, ohne es zu wollen, mitschuldig werden.

So auch hier beim Debakel der Großbaustelle Sozialismus. Wir müssen die Strukturen suchen, in denen wir gehangen haben wie in einer Sprossenwand, so daß unser alltägliches Tun, unser Funktionieren, unsere Pflichterfüllung bewirkten, daß das System siebzig (bei uns vierzig) Jahre hielt und uns als Bankrotteure in die Welt des 21. Jahrhunderts entläßt. Und da reicht es nicht aus, die Hauptganoven oben zu benennen und zu bestrafen. Da muß man auch die strukturellen Vorbedingungen für politische Feigheit in allen Bevölkerungsschichten und Klassen erforschen. Das betrifft speziell die Intelligenz.

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Intelligenz und Nomenklatura waren bestenfalls verfeindete Brüder, keine antagonistischen Klassen. Der tägliche Augenschein zeigte das. Wurde im Betrieb ein neues Produktionsgebäude eingeweiht, dann kam der Bezirkssekretär mit seinem Troß. Auf der Tribüne standen der Direktor (promoviert), der technische Direktor (promoviert), der Direktor für Ökonomie und Finanzen (Dipl.-Ök.), der Sicherheitsinspektor (Dipl.-Ing.) und der Parteisekretär (meist auch promoviert, als Mitglied einer Arbeiterpartei). Alle mit den unvermeidlichen weißen Schutzhelmen.

Unten standen die Werktätigen, natürlich «Intelligenz» unter ihnen: Ingenieure, Wirtschaftler, Physiker, der Betriebsarzt. In einem Weißkittelbetrieb war die oberste Leitung in Weiß oder in Zivil mit Schlips, wie die Hoch- und Fachschulabsolventen unten, niemals im blauen Kittel, wie die herumstehenden Produktions­arbeiter. Im schmutzigen Betrieb war die Klassenzugehörigkeit erkennbar am Alltagsanzug einerseits (oft mit Krawatte, aber nicht so obligatorisch wie offenbar im Westen) und Arbeitskleidung andererseits. In der Kantine, in der ich selbst jahrelang gespeist habe, richteten sie ein abgezäuntes Areal ein und brachten ein Schild an: Für Kollegen in schmutziger Arbeitskleidung! Dahinter speisten die Handwerker und Transportarbeiter. Zwischen Frühstück und Mittagessen saßen dort des öfteren die Brigaden und spielten Skat ...

Der Direktor las eine honigtriefende Dankesrede für den großartigen Bau ab, an die Arbeiterklasse gerichtet, und zwar diejenige, die mit den schwarzen Limousinen angereist war, nicht die unten vor der Tribüne. Versprach Verdopplung der Anstrengungen, um dem Vertrauen gerecht zu werden. Für die Arbeiter war das die Rede des obersten Bosses, sie hörten nicht hin. Die Intelligenzler beneideten, bewunderten oder verachteten den Direktor. Er war zwar ein Arschloch, aber keinesfalls eines aus der Arbeiterklasse. Und auch die Arbeiter unterschieden zwischen den ihrigen in der Montagehalle und denen in der Leitungsetage. Dorthin gehörten natürlich auch alle, die «geistig» arbeiteten. Bis hin zum technischen Zeichner.

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Von der Tribüne geht es auf die Festveranstaltung mit Büfett. Weitere Reden. Dem hohen Gast werden die Leitungskader vorgestellt. Presse ist anwesend. Das Politbüromitglied und die zwei Prominenten aus dem Troß (ZK-Mitglied und ZK-Abteilungsleiter) sammeln jeder eine schwarze Traube um sich, die sensationshungrig zuhört und beflissen lacht. Man spricht eine «Problematik» an. Das Politbüro hört gnädig zu und winkt einem Referenten zu, sich der Sache anzunehmen. Später verabschiedet man sich kernig «bis zum nächsten Mal».

Die Bauarbeiter werden in ein anderes Gebäude einquartiert. Dort gibt es heiße Würstchen mit Senf und viel Bier und Schnaps. Sie dürfen sich in der verdienten Arbeitspause entspannen (das Gebäude ist noch nicht fertig, nur für den Gast vordrapiert. Es gibt noch wochenlang Arbeit, dies ist eine Zwischenfeier zwecks Beschwörung von Termintreue). Später am Abend gibt es eine zünftige Schlägerei.

Konrád und Szelényi haben die Beobachtung beschrieben, wie bunt verschieden die Zweige der Intelligenz im Westen auftreten: Welten liegen zwischen Joseph Beuys und einem Vorstandsmitglied. Und sie gehen verlegen miteinander um, wie aus zwei verschiedenen Welten. Ganz anders im sozialistischen Lager: Dort unterscheidet sich der Parteisekretär schon rein äußerlich nur in Nuancen vom gefeierten Professor oder bekannten Schriftsteller. Sie gleichen sich wie Pinguine in ihren korrekten dunklen Anzügen mit weißem Hemd.

Der Eintritt in die Partei: für den ehrgeizigen Intelligenzler der Start zur Karriere (er verliert dabei allerdings auf längere Sicht die Freunde, mit denen er zusammen auf der Uni war, damals noch stark «dagegen»), für den Arbeiter das Ende des Arbeiterdaseins, gerade wenn er Vorzeigearbeiter blieb. Vorzeige­arbeiter ist das Gegenteil von Arbeiter.

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Die Parteihochschule: Sie brachte dem Apparatschik (im Westen sagt man Kanalarbeiter) die notwendigen Weihen. Er wird «Diplom-Staatswissenschaftler». Paradox: Ein Mitglied der Kommunistischen Partei müßte eigentlich den Ehrentitel Vorarbeiter verlangen. Später schreibt er eine Doktorarbeit, für die Pflichtexemplare bei den Universitäten abzulegen sind. Die Parteihoch­schule hat Promotionsrecht. Titel der Arbeit: «Über die Rolle der materiellen Stimuli im Sozialistischen Wettbewerb als Mittel zur Entfaltung des Schöpfertums der Arbeiterklasse in einem metallurgischen Großbetrieb».

Die merkwürdige gegenseitige Mimikry zwischen Intelligenz und Parteibürokratie ging bis in die Lebensweise hinein. Gehobenes Kleinbürgertum. Ein Sohn von Erich Mielke ist Arzt geworden. Nomenklatura regenerierte sich als Erbadel, die nicht mehr erbberechtigten Kinder wurden Intelligenz. Wurden sie Arbeiter, dann konnte irgend etwas in der Familie nicht stimmen.

Die Verwandtschaft zwischen Intelligenz und Parteiapparat und ihre Distanz von der produzierenden Bevölkerung war in der Sowjetunion besonders deutlich. Aber nicht im subjektiven Bewußtsein. Da hielten sich die «Intelligenty» für etwas Besseres als die Bonzen, verachteten sie und gehorchten doch, wenn sie das Stirnrunzeln des Dompteurs bemerkten. Sie waren arrogante Lakaien. Da verachten sie die Bonzen ebensosehr und halten dabei den Kopf beflissen zur Seite.

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Ich kenne die Akademiestädtchen, Neugründungen, in denen notgedrungenerweise nach Fertigstellung auch die Bauarbeiter und anderen Gewerke wohnen blieben. Man hatte sie aus allen Landesteilen angeworben, ihnen Wohnungen versprochen und auch gegeben — jetzt konnte man sie nicht mehr loswerden. Ein erhebliches soziales Problem. In diesen Orten wohnen die Bewohner mit abstrakter Arbeit (also nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Finanzbuchhaltung, Parteibüro, Kraftfahrzeug«basis») in anderen Betonsilos (meist in etwas besserer Gegend) als «die Schwarzen».

Ob ein Aufgang schwarz ist oder nicht, erkennt man sehr schnell beim Betreten. Im Haus der Schwarzen ist alles noch einen Grad unbehauener, roher gezimmert und weniger aufgeräumt als in den besseren Häusern. Dabei ist es durchaus nicht so, daß die Bezahlung der Arbeiter schlechter ist als die der nichtarrivierten Wissenschaftler. Der Unterschied liegt «in der Kultur».

In Rußland ist auch der soziale Unterschied zwischen Büroarbeit und körperlicher Arbeit ungleich krasser als in den mittel­europäischen Ostblockländern. Harte klimatische Bedingungen, veraltete Technik und eine souveräne Verachtung von Arbeitsschutzvorkehrungen machen das Arbeiterdasein zur Galeerenfron, nur gemildert durch Trägheit und störrische, lautlose Arbeitsverweigerung. Das Addieren von Zahlenkolonnen in der «Kontora» des Güterbahnhofs Serpuchow, bei zugigem Fenster und prasselnder Heizkanone, ist ein unglaubliches Privileg gegenüber den Transportarbeitern, die scharenweise in Filzjacken in einer kalten Baracke herumlungern und meist schon am Morgen betrunken sind.

Wer die Sowjetunion gesehen hat, wird nicht mehr bestreiten, daß der «Intelligent» bedeutend näher an der Nomenklatur ist als der Arbeiter. Und ich rede im Präsens, denn solche Verhältnisse ändern sich erst in Generationen.

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    Rußland, Ancien régime et la Révolution   

 

Nach einigem Gerangel hatte sich Anfang der sechziger Jahre die Parteihegemonie voll ausgebildet. Berija und seine Opritschniki waren verdrängt. Die techno­kratische Intelligenz saß auf zahlreichen Pferden: Parteiapparat, Regierungsbürokratie, Industrie­management, alle hockten gemütlich im akademischen Ziergärtchen.

Das riesige Land, mit den schweren Klötzen zahlreicher nichtrussischer Gebiete und Republiken behängt, war auf eine historisch einmalige und unglaubliche Weise organisiert wie ein Netzgewirr von Kabelbündeln.

Ein Kabelbündel ist ein Strang, in dem die verschiedensten Informationsströme räumlich benachbart und parallel verlaufen und dabei nur im unerwünschten Störungsfall miteinander kommunizieren. Im sowjetischen Sozialismus herrschten analoge Verhältnisse bei den Produktionsprozessen in jeder größeren Industriestadt. Jede Fabrik gehörte einem anderen aus den Plejaden von etwa einem Schock Ministerien und wurde kaderpolitisch und in den Grundentscheidungen von einer anderen der konkurrierenden ZK-Abteilungen geführt. 

Zwischen zwei benachbarten Fabriken gab es lediglich ökonomisch informelle, lokale Kontakte, private Bindungen, alkoholschwere Toasts zum Feiertag der Sowjetarmee und die Querschnittskontrolle politischer Ruhe durch lokalen Polizeiapparat und Staatssicherheit. Die Herstellung von Bau- und Ersatzteilen durch eine Fabrik für eine andere erforderte Planbilanzierung über die Republik- oder Allunionszentrale, war damit schwieriger als die Selbstversorgung innerhalb der «Nomenklatur» des gleichen Ministeriums. So konnte es geschehen, daß ein Los Bolzen von Sibirien auf die Krim versandt wurde, das montierte Gerät dann nach Minsk usw. Wie ein Kabelknäuel durchzogen Wirtschafts­beziehungen das ganze Land, wo informelle Absprachen innerhalb der Nomenklaturen effizientere Lösungen erlaubt hätten.

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Den Höhepunkt dieser Segregation erreichte die vollständige Aufteilung der Wirtschaft in den militärisch-industriellen Komplex und den zivilen Sektor. Das ging so weit, daß eine Stadt, die «voennyi gorod» (Militärsperrgebiet) war, sogar eine Millionenstadt wie Gorki oder Swerdlowsk, vollständig «geschlossen» war, selbst für Sowjetbürger nur mit Erlaubnis zu betreten und für Ausländer unzugänglich.

Der rationale Sinn bestand darin, daß auf Kosten des zivilen Sektors relative Privilegien und Doppel­sicherungen geschaffen wurden, die die Motivierung der dort Arbeitenden auf westliches Niveau heben sollten, ohne daß im ganzen Land liberale Verhältnisse und ein erträgliches Konsumniveau eingeführt werden mußten. Die dort Arbeitenden waren froh über das relative Privileg und fragten nicht so sehr nach der absoluten Höhe.

Dieser Motivierungsschub kann nur einmal erreicht werden und wirkt nur für eine bestimmte Zeit. Dann kommt das System der Doppelwirtschaft in die Krise. Ein Beispiel: Serpuchow ist eine elende Industrie­groß­stadt des zivilen Sektors, ein Manchester des 20. Jahrhunderts. Einige Kilometer entfernt liegt Protvino, wo der Teilchenbeschleuniger steht, dessen Leistungsfähigkeit für einige Zeit die Weltspitze erreichte. Ein Akademiestädtchen im Walde, mit Sonderversorgung, geprägt durch ein wissenschaftlich-akademisches Klima, eine Oase in Mittelrußland. Auch Jazzbands oder Kinostars aus Moskau ließen sich gern dorthin einladen, um für ein paar Tage freieren Geist und frische Luft zu atmen.

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Auf den Straßen Serpuchows und in seinen Restaurants versteht der Besucher sofort, warum der zivile Sektor das politökonomische System bestenfalls 25 Jahre erträgt, und in der isolierten Protvino-Welt wird klar, daß man auch die teilprivilegierte Intelligentsia nicht für dauernd motivieren kann. In Bahnhofs­nähe von Serpuchow liegen am hellen Tage die Betrunkenen schwer atmend im Gebüsch. Die Läden gähnen vor Leere. Der Arzt oder Lehrer oder Ingenieur verteidigt seine Wohnung im zugigen Hochhaus als Höhle mit Büchern, Wandteppichen und Schallplatten vor der langsam zunehmenden realsozialistischen Proletarisierung der Lebenskultur. 

In Protvino dagegen sind die Bewohner frustriert, weil sie mit den Kollegen im Ausland nicht korrespondieren und nicht ihre Privatadresse preisgeben dürfen, während der Chef das Privileg hat, ins Ausland zu fahren. Der Chef behält diesen uneinholbaren Vorsprung, bis er 80 Jahre alt wird oder der Tod ihn ereilt, so daß die jungen Jahre in kreativer Hilfsarbeit zerrinnen. Dem Ort fehlt auch die geistige Nahrung: Kommunikation, Interaktion. Da kann auch ein Wohnzimmer, Typ «Riga», nicht auf die Dauer trösten. Die jungen Leute streben in Scharen ins westliche Ausland.

Das Ende des Realsozialismus nahte, als die Produktivität sogar des Sonderkomplexes nicht mehr ausreichte, um als militärische Weltmacht mitzuhalten, und als das verworrene Kabelnetz jede Wirtschaftstätigkeit lahmlegte, so daß das Land nicht mehr zureichend ernährt und zivilisatorisch versorgt werden konnte.

Aber haben wir nicht hinreichend oberflächlichen Vulgärmarxismus gelernt, um zu wissen, daß diese Beschreibung nicht genügt? Sie erklärt nicht den Umschlag in den Köpfen, und sie erklärt nicht, wann. Schon gar nicht erklärt das Modell, wie der Umschlag ohne gewaltsamen Widerstand der Herrschenden erfolgen kann, die bei einer beliebigen Änderung des verkrusteten Zustandes den Sturz ins gesellschaftliche Nichts zu erwarten haben.

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Hier setzt als Katalysator die Gorbatschowsche Wende ein. Sie ist ganz ausdrücklich auf den Umbau des Systems unter Wahrung der Machtverhältnisse (Bewahrung des Sozialismus, der Leninschen Ideale) gerichtet. Er sucht den New Deal zwischen den Schichten der machtausübenden und der struktur­stabilisierenden Intelligenz. Freiheit der Meinungsbildung und -äußerung (Glasnost) soll die klagenden marginalisierten Intelligenzschichten besänftigen. 

Für den Motivationsschub bei den Hand­arbeitenden fällt ihm nichts Rechtes ein: Erst probiert er «Beschleunigung» der wissenschaftlich-technischen Revolution, dann Alkoholverbot und Einhaltung der Arbeitszeit, schließlich Würstchenbuden mit hohen Preisen. Dann resigniert er. Liebäugelt mit den Konservativen. Das Volk verhält sich passiv.

Im Gegensatz zum Ausland, wo ihn die Popularitätswoge bis zum Nobelpreis emporträgt, ist er zu Hause von Anbeginn an unbeliebt. 

Alle Körpersignale, die ihn uns im Westen auf Anhieb sympathisch machen, die offenen Gesten, die südrussische Suada (deren provinzielle Lautung wir Ausländer nicht mithören), das Sichaufpumpen, In-Szene-Setzen — alles bewirkt nur mißtrauische Zurückhaltung bei seinen eigenen Leuten. 

Schon die ersten Fernsehbilder (Treffen mit Werktätigen in Wladiwostok) vermittelten diesen Eindruck einer unüberbrückbaren Distanz: Er hatte nicht den richtigen «Stallgeruch»; sie scheuten vor ihm. Er ist zu sehr «Intelligent»; sie trauen ihm nicht. Es ist das alte Los des Narodniks (Volkstümlers), vor dem die Muschiki die Mütze ziehen, ohne wirklich beeindruckt zu sein.

Aus der Ratlosigkeit befreit ihn die Karikatur eines Staatsstreiches. Sie zeigt den Motivationsverfall der herrschenden Schicht, nichts sonst. Jedes ihrer Mitglieder sagt: So kann es nicht weitergehen, ich bin smart genug, um auf die Beine zu fallen — und verweigert sich. Ein Staatsstreich, dessen Subjekt interessiert den Ausgang abwartet, kann nicht gelingen. Er gerät statt dessen zur Machtübergabe — an wen? An eine Koalition von Gruppen, die sich aus der Retransformation in den Kapitalismus Vorteile erhoffen, bei Antritt der Fahrt zur Stelle sein wollen, ohne selbst an der festgefahrenen Karre zu ziehen. 

Das Modell dieses Überganges ist die Privatisierung einer Kaviarfabrik mit westlicher Hilfe: Kaviar wird in Paris immer gekauft, das Ausgangsmaterial beschaffen wir uns umsonst (durch Abfischen), Effizienz erzielen wir durch kreditierte Investitionen (moderne Preservierungs­technik) und durch Freisetzung aller herumlungernden, verdeckt arbeitslosen Werktätigen (uns selbst, das Management, ausgenommen). Der Westen speist unser Produkt in seine Marketingnetze, und ab geht die Post ins Reich der Freiheit!

Leider wird das so nicht funktionieren. Das Volk wird nicht mitspielen. Die Natur auch nicht — verdorbene Fischgründe. Die Polizei wird die öffentliche Sicherheit nicht garantieren können. Mafia wird Geld abschöpfen. Und der Westen wird nicht investieren, bevor nicht ein autoritäres Regime für Ruhe und Ordnung sorgt.

Es ist ausgeschlossen, daß in Rußland eine funktionierende Wirtschaft ohne starken Staat entsteht. Und der setzt autonom (föderal) funktionierende Teileinheiten voraus. Und funktionieren werden sie nur, wenn die Bevölkerung zufriedengestellt und die Mafia ausgetrocknet wird. Der Anfang dieses Prozesses setzt sein Ende voraus. Catch 22. So sind wir skeptisch und doch hoffnungsvoll malgré tout, daß das Wunder geschehen möge. 

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