1 Die Ideologie als materielle Gewalt
1 Die Schere
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Im Verlaufe der Monate seit der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus in Deutschland konnte man sehr oft eine Feststellung machen, von der wir ausgehen wollen. Es zeigten sich Zweifel an der Richtigkeit der marxistischen Grundauffassung des gesellschaftlichen Geschehens auch bei solchen, die durch die Tat jahrelang ihre revolutionäre Festigkeit bewiesen hatten.
Diese Zweifel knüpfen an einer zunächst unverständlichen Tatsache an, die nicht wegzuleugnen ist: Der Faschismus, seinen objektiven Zielen und seinem Wesen nach der extremste Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Reaktion, wird seit mehreren Jahren zu einer internationalen Erscheinung und überflügelt in vielen Ländern sichtbar und unleugbar die proletarisch-revolutionäre Bewegung.
Dass sich diese Erscheinung in den hochindustriellen Ländern am stärksten ausprägt, verschärft nur das Problem. Dem internationalen Erstarken des Nationalismus steht die Tatsache des Versagens der Arbeiterbewegung in einer ökonomisch zur Sprengung der kapitalistischen Produktionsweise reif gewordenen Phase der neuzeitlichen Geschichte gegenüber.
Dazu kommt die unauslöschliche Erinnerung an das Versagen der Arbeiterinternationale beim Ausbruch des Weltkrieges und das Ersticken der revolutionären Erhebung 1918-1923 ausserhalb Russlands. Die genannten Zweifel knüpfen also an schwerwiegenden Tatsachen an; bestehen sie zurecht, ist die Marxsche Grundauffassung unrichtig, dann bedarf es entschlossener Neuorientierung der Arbeiterbewegung, wenn man ihr Ziel dennoch erreichen will; bestehen aber die Zweifel nicht zurecht, ist die Marxsche Grundauffassung richtig, dann bedarf es gründlichster, vielseitiger Analyse sowohl der Ursachen des bisherigen Versagens der Arbeiterbewegung, als auch – und dies vor allem – einer restlosen Klärung der in der Geschichte neuartigen Massenbewegung des Faschismus, aus der sich eine neue Praxis ergeben würde.
Auf keinen Fall ist auf eine Änderung der gegenwärtigen Lage zu hoffen, wenn der Nachweis nach der einen oder anderen Richtung nicht gelingen sollte. Es ist klar, dass weder ein Appellieren an das revolutionäre Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft, noch die heute mit Vorliebe betriebene Methode à la Coue, die Niederlagen verschleiert und gewichtige Tatsachen durch Illusionen verhüllt, zum Ziele führen kann.
Auch ein Sichbescheiden mit der Tatsache, dass auch die Arbeiterbewegung "vorwärtsgeht", dass hier und dort gekämpft und gestreikt wird, wäre illusionär, denn nicht, dass es vorwärtsgeht, ist entscheidend, sondern in welchem Tempo im Verhältnis zum internationalen Erstarken und Vorwärtsschreiten der politischen Reaktion.
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Die junge sexualpolitische Bewegung ist an gründlichster Klärung dieser Fragen nicht nur deshalb interessiert, weil sie ein Teil des sozialen Befreiungskampfes überhaupt ist, sondern vor allem auch deshalb, weil die Erreichung ihrer Ziele unlösbar an die Erreichung der wirtschaftspolitischen Ziele der Arbeiterbewegung geknüpft ist. Wir wollen daher von der sexualpolitischen Seite der Arbeiterbewegung her darzulegen versuchen, wo sich die speziellen sexualpolitischen mit den allgemeinen Fragen der Politik verflechten.
In manchen deutschen Versammlungen pflegten kluge, ehrlich gesinnte, wenn auch nationalistisch und metaphysisch denkende Antikapitalisten wie etwa Otto Strasser den Marxisten entgegenzuhalten:
"Ihr Marxisten pflegt euch auf die Lehre von Karl Marx zu berufen. Wie wir aber wissen, hat Marx gelehrt, dass sich die Theorie nur durch die Praxis bestätige. Ihr aber kommt immer nur mit Erklärungen für die Niederlagen der Arbeiterinternationale. Euer Marxismus hat versagt: Für die Niederlage 1914 diente als Erklärung der Umfall der Sozialdemokratie, für 1918 ihre verräterische Politik und ihre Illusionen. Und nun habt ihr wieder Erklärungen zur Hand für die Tatsache, dass die Massen in der Weltkrise statt nach links nach rechts abschwenkten. Aber eure Erklärungen schaffen die Tatsache der Niederlage nicht aus der Welt! Wo bleibt seit 80 Jahren die Bestätigung der Lehre von der sozialen Revolution durch die Praxis? Euer Grundfehler ist, dass ihr die Seele und den Geist leugnet oder verlacht — und ihn, der alles bewegt, nicht begreift."
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So oder ähnlich argumentierten sie und die marxistischen Referenten wussten keine geeignete Antwort auf derartige Fragen. Es wurde immer klarer, dass die politische Massenpropaganda, wenn sie sich nur auf die Erörterung der objektiven sozialökonomischen Krisenprozesse (kapitalistische Produktionsweise, wirtschaftliche Anarchie, etc.) bezog, außer der Minderheit der bereits in der linken Front Eingereihten niemand erfasste; dass die Herausstellung der materiellen Not, des Hungers der Massen, nicht genügte, denn das tat jede politische Partei, sogar die Kirche; und schließlich siegte die Mystik der Nationalsozialisten in tiefster Krise und Verelendung über den wissenschaftlichen Sozialismus.
Man musste sich also sagen, dass es offenbar eine klaffende Lücke in der Propaganda und in der Gesamtauffassung gab, aus der sich die politischen Fehler der kommunistischen Partei erklären ließen; man konnte auch feststellen, dass es sich um Mängel in der marxistischen Erfassung der politischen Wirklichkeit handelte, zu deren Behebung in der Methode des dialektischen Materialismus alle Voraussetzungen enthalten waren. Diese Möglichkeiten waren aber unausgenützt geblieben, die marxistische Politik hatte, um es kurz vorwegzunehmen, die Psychologie der Massen und die soziale Wirkung des Mystizismus in ihre Kalkulationen und ihre politische Praxis nicht oder unrichtig einbezogen.
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Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenannten "subjektiven Faktor" der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte, noch erfasste; sie unterließ es vor allem, die Methode des dialektischen Materialismus immer neu anzuwenden, immer lebendig zu erhalten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung mit dieser Methode neu zu erfassen.
Die Anwendung des dialektischen Materialismus auf neue historische Erscheinungen (und der Faschismus ist eine derartige Erscheinung, die weder Marx noch Engels bekannt war und von Lenin erst in ihren Anfängen gesichtet wurde) kann zu keiner falschen Praxis führen; aus einem sehr einfachen, bisher schwer vernachlässigten Grunde: Die bürgerliche Erfassung der Wirklichkeit geht an ihren Widersprüchen und realen Verhältnissen vorbei; die bürgerliche Praxis der Politik bedient sich automatisch derjenigen Kräfte der Geschichte, die sich gegen die Entwicklung stemmen; sie kann dies erfolgreich nur solange tun, als die revolutionäre Wissenschaft nicht diejenigen Kräfte restlos aufdeckt, die jenen gegenübergestellt, sie überwinden müssen.
Wie wir später darlegen werden, waren in der Massenbasis des Faschismus, im rebellierenden Kleinbürgertum, nicht nur die rückwärtstreibenden, sondern auch ganz energisch vorwärtstreibende Kräfte der Geschichte in Erscheinung getreten; dieser Widerspruch wurde übersehen, mehr, die ganze Frage der Rolle des Kleinbürgertums stand bis knapp vor der Machtergreifung durch Hitler überhaupt nicht im Vordergrunde der Diskussion, und wenn hier und da, so einseitig, mechanistisch.
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Die revolutionäre Praxis auf jedem Gebiete des menschlichen Daseins ergibt sich automatisch, wenn man die Widersprüche in jedem neuen Prozess erfasst; sie besteht dann in nichts anderem als darin, dass man sich auf die Seite derjenigen Kräfte stellt, die in der Richtung der vorwärtsstrebenden Entwicklung wirken, und ihnen zur Bewusstwerdung durch praktische Bewältigung verhilft.
Radikal sein, heisst "die Dinge an der Wurzel fassen", sagte Karl Marx; fasst man die Dinge an der Wurzel, begreift man ihren widerspruchsvollen Prozess, dann ist die revolutionäre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so landet man, ob man will oder nicht, ob man sich dialektischer Materialist nennt oder nicht, im Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise ein falsche Praxis. Eine Kritik dieser falschen Praxis hat demnach nur dann einen Sinn und praktischen Wert, wenn sie in der Lage ist nachzuweisen, wo die Widersprüche der Wirklichkeit übersehen wurden.
Die marxsche revolutionäre Tat bestand nicht darin, dass er irgendwelche Aufrufe schrieb oder revolutionäre Ziele wies, sondern in der Hauptsache darin, dass er das Proletariat als die vorwärtsdrängende Kraft der Geschichte erkannte und die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft der Wirklichkeit entsprechend darstellte, so dass heute jeder wissen kann, welche wirtschaftlichen Kräfte vorwärts drängen und welche sich dagegen anstemmen. Wenn die Arbeiterbewegung versagte, so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärtsentwicklung aufhalten, nicht restlos, wahrscheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht erkannt sein.
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Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlichstes Kennzeichen ist, die dialektisch-materialistische Methode praktisch durch Nichtanwendung zu negieren, musste daher zur Auffassung gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen Ausmasses wie die 1929–1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse. Während sogar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von einem "revolutionären Aufschwung" in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu einer extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten und derjenigen, die in tieferes Elend als bisher versanken, geführt hatte. Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage nicht gestellt werden, wie ein Nationalistischwerden der breiten Masse in der Pauperisierung möglich ist. Mit Worten wie "Chauvinismus", "Psychose", "Folgen von Versailles", lässt sich etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Verelendung rechtsradikal zu werden nicht praktisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht wirklich erfasst.
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Zudem waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten. Man übersah, dass die Bourgeoisie, gewarnt durch den Erfolg der russischen Revolution, zu neuen, noch nicht verstandenen, von der Arbeiterbewegung unanalysierten, sehr merkwürdigen Vorbeugungsversuchen greift (etwa der Roosevelt-Plan); man übersah, dass der Faschismus in seinem Ansatz und im Beginne seiner Entwicklung zur Massenbewegung sich zunächst gegen die Grossbourgeoisie richtet und als "nur eine Garde des Finanzkapitals" nicht erledigt werden kann, schon deshalb nicht, weil er eine Massenbewegung ist.
Wo liegt das Problem?
Die Marxsche Grundkonzeption erfasste zunächst die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft und die prozesshafte, notwendige Konzentration des Kapitals in wenigen Händen, mit der die fortschreitende Verelendung der Mehrheit der arbeitenden Menschheit, des Proletariats in erster Linie, Hand in Hand geht. Aus diesem Prozess leitete Marx die objektive Notwendigkeit der "Expropriation der Expropriateure" ab. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sprengen den Rahmen der Produktionsweise, der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Produkte durch das Kapital kann nur durch die Angleichung der Produktionsweise an den Stand der Produktivkräfte gelöst werden. Zur gesellschaftlichen Produktion muss die gesellschaftliche Aneignung der Erzeugnisse hinzukommen. Der erste Akt dieser Angleichung ist die soziale Revolution; das ist das ökonomische Grundprinzip des wissenschaftlichen Sozialismus.
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Diese Angleichung kann nur so erfolgen, dass die verelendete Mehrheit die "Diktatur des Proletariats" errichtet, als Diktatur der Mehrheit der Schaffenden über die Minderheit der nunmehr enteigneten Besitzer der Produktionsmittel. Die ökonomischen Voraussetzungen der sozialen Revolution trafen entsprechen der Theorie von Marx zu: Das Kapital ist in wenigen Händen konzentriert, die Entwicklung der Nationalwirtschaft zur Weltwirtschaft steht in schärfstem Widerspruch zum Zollsystem der nationalen Staaten, die kapitalistische Wirtschaft erreicht die Produktionskapazität kaum zur Hälfte und hat ihre Anarchie restlos enthüllt, die Mehrheit der Bevölkerung der hochindustriellen Länder ist verelendet, etwa 50 Millionen Menschen sind arbeitslos, Hunderte Millionen Schaffender fristen ein Hungerdasein. Aber die Expropriation der Expropriateure bleibt aus, und die Geschichte scheint, im Gegensatz zu den Erwartungen, sich am Scheidewege zwischen Sozialismus und Barbarei zunächst in der Richtung zur Barbarei hinzubewegen, denn nichts anderes ist das internationale Erstarken des Faschismus und das Zurückbleiben der Arbeiterbewegung.
Und wer noch eine Hoffnung auf einen revolutionären Ausgang des kommenden Weltkrieges mit "Sicherheit" setzt, wer sich sozusagen darauf verlässt, dass die Massen die Waffen, die sie in die Hand bekommen, gegen den inneren Feind wenden werden, der möge zumindest die Entwicklung der neueren Kriegstechnik verfolgen und nicht von vornherein einen kürzlich ausgesprochenen Gedankengang verwerfen, dass die Bewaffnung der breiten Masse im nächsten Kriege sehr unwahrscheinlich ist.
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Die kriegerischen Handlungen würden sich dieser Auffassung nach gegen die unbewaffneten Massen der grossen Industriezentren richten und von wenigen, sehr verlässlichen und ausgesuchten Kriegstechnikern durchgeführt werden. Im Denken und Überlegen umzulernen ist daher die Voraussetzung einer neuen sozialistischen Praxis.
2 Ökonomische und ideologische Struktur der Gesellschaft
Wenn unsere Auffassung von der zunächst merkwürdigen Schere zwischen ökonomischer Lage und Ideologie der proletarischen und proletarisierten Massen, die dem Faschismus zur Macht in Deutschland verhalfen, richtig ist, so müssen wir sie mit Hilfe unserer dialektisch-materialistischen Methode erfassen können. Es handelt sich gewiss um die Frage nach der Rolle der Ideologie und der gefühlsmässigen Einstellung dieser Massen als geschichtlichen Faktors, um die Rückwirkung der Ideologie auf die ökonomische Basis. Wenn die materielle Verelendung breiter Massen nicht zu einer Revolutionierung im Sinne der proletarischen Revolution geführt hat, wenn sich aus der Krise objektiv gesehen der Revolution konträre Ideologien ergeben haben, so hat die Entwicklung der Ideologie der Masse in den letzten Jahren die Entfaltung der Produktivkräfte, die revolutionäre Lösung des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften des monopolistischen Kapitalismus und seiner Produktionsweise gehemmt.
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Die Klassengliederung in Deutschland (nach Kunik: <Versuch einer Feststellung der sozialen Gliederung der deutschen Bevölkerung>, "Die Internationale" 1928, zusammengestellt von Lenz: "Proletarische Politik", Internationaler Arbeiterverlag 1931) enthüllt folgendes Bild:
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Wieviele Mittelständler auch Linksparteien und umgekehrt Proletarier Rechtsparteien gewählt haben mögen, so fällt doch auf, dass die von uns errechneten Zahlen der ideologischen Schichtung ungefähr mit den Wahlziffern 1932 übereinstimmen: Kommunisten und Sozialdemokraten umfassten zusammen zuletzt 12 bis 13 Millionen Stimmen, die NSDAP und die Deutschnationalen zusammen etwa 19 bis 20 Millionen. Das spricht dafür, dass praktisch-politisch nicht die wirtschaftliche, sondern die ideologische Schichtung entschieden hat. Dem Mittelstand kommt somit eine höhere Bedeutung zu, als ihm beigemessen war.
In die Zeit des rapiden Niedergangs der deutschen Wirtschaft 1929-1932 fällt der grosse Sprung der NSDAP von 800.000 Stimmen im Jahre 1928 auf 6,4 Millionen im Herbst 1930, 13 Millionen im Sommer 1932 und 17 Millionen im Januar 1933. Nach einer Berechnung von Jäger ("Hitler", "Roter Aufbau", Oktober 1930), die ich auf ihre Genauigkeit nicht überprüfen konnte, enthielten bereits die 6,4 Millionen nationalsozialistischen Stimmen etwa drei Millionen ökonomisch-proletarische, und zwar 60-70 % Angestellte und 30-40 % Arbeiter.
Das Problematische des jüngsten soziologischen Prozesses erfasste meines Wissens am klarsten Karl Radek schon im Jahre 1930 nach dem ersten Aufschwung der NSDAP; er schrieb:
"Nichts ähnliches ist in der Geschichte des politischen Kampfes bekannt, besonders in einem Lande mit alter politischer Differenzierung, wo jede neue Partei sehr schwer einen Platz an dem durch die alten Parteien besetzten Tische erkämpfen muss. Es gibt nichts charakteristischeres, als dass über diese Partei, die den zweiten Platz im deutschen politischen Leben einnimmt, sowohl in der bürgerlichen wie in der sozialistischen Literatur nichts gesagt worden ist. Das ist eine Partei ohne Geschichte, die sich plötzlich im politischen Leben Deutschlands emporhebt, wie plötzlich mitten im Meer durch die Wirkung vulkanischer Kräfte ein Eiland emportaucht."
("Deutsche Wahlen", Roter Aufbau, Oktober 1930).
wikipedia Karl_Radek 1885-1939
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Wir zweifeln nicht daran, dass auch dieses Eiland seine Geschichte hat und über eine innere Logik verfügt.
Die Entscheidung in der Alternative: "Untergang in der Barbarei", oder: "Aufstieg zum Sozialismus", liegt, nach allem, was die Überlegung bisher ergibt, daran, ob sich die ideologische Struktur der beherrschten Schichten nach ihrer ökonomischen Lage ausrichtet, oder ob sie auseinanderfallen; sei es in der Form, dass die Ausbeutung passiv geduldet wird, wie in den großen asiatischen Gesellschaften, sei es in der Form, dass die Ideologie der Mehrheit der Unterdrückten der ökonomischen Lage konträr ist wie heute in Deutschland.
Das Grundproblem ist also, was das beschriebene Auseinanderfallen bedingt bezw. den Zusammenklang von wirtschaftlicher Lage und Ideologie verhindert. Es kommt also auf die Erfassung des Wesens der ideologischen Struktur und ihrer Beziehung zur ökonomischen Basis, der sie entsprang, an.
Um dies zu begreifen, müssen wir uns zunächst von einigen vulgärmarxistischen Auffassungen befreien, die den Weg zum Verständnis des Faschismus versperren.
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Es sind im wesentlichen folgende:
Der Vulgärmarxismus trennt schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, dass die Ideologie und das "Bewusstsein" der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden. So gelangt er zu einer mechanischen Gegenüberstellung von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und Überbau; er macht die Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft und übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem Grunde ist ihm das Problem der sogenannten "Rückwirkung der Ideologie" verschlossen. Obwohl er nun vom "Zurückbleiben des subjektiven Faktors", wie ihn Lenin verstand, spricht, kann er dieses Zurückbleiben nicht praktisch bewältigen, weil er ihn früher aus der wirtschaftlichen Situation einseitig hervorgehen liess, ohne erstens die Widersprüche der Ökonomie in der Ideologie aufzusuchen, und zweitens ohne die Ideologie als geschichtliche Kraft zu erfassen.
In der Tat sträubt er sich gegen die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, indem er sie als "Psychologie", die unmarxistisch sei, abtut, und überlässt die Handhabung des subjektiven Faktors, des sogenannten "Seelenlebens" in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion, den Gentile und Rosenberg, die den "Geist" und die "Seele" allein Geschichte machen lassen, womit sie merkwürdigerweise sogar Erfolg haben.
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Die Vernachlässigung dieser Seite des historischen Materialismus ist ein Vorgehen, das Marx seinerzeit prinzipiell schon am Materialismus des 18. Jahrhunderts kritisierte. Dem Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein von vornherein metaphysisches System und er denkt nicht daran, den metaphysischen Charakter der bürgerlichen Psychologie von ihren materialistischen Grundelementen, die die bürgerliche psychologische Forschung erbringt und die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen. Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsachen wie "Trieb", "Bedürfnis" oder "seelischer Prozess" als "idealistisch" verwirft. Er gerät dadurch in grösste Schwierigkeiten und erntet nur Misserfolge, weil er gezwungen ist, in der politischen Praxis unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen etc. zu sprechen.
Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus und schlimmeres, wie öden Coueismus, etwa indem er eine historische Situation aus der "Hitlerpsychose" erklärt oder die Massen tröstet, sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen u.s.f. Er versinkt schliesslich darin, illusionär Mut einzupumpen, ohne in Wirklichkeit etwas sachliches zur Situation zu sagen, ohne zu begreifen, was vorgegangen ist.
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Dass es für die Bourgeoisie nie eine ausweglose Situation gibt, dass eine scharfe ökonomische Krise ebensogut zum Sozialismus wie in die Barbarei führen kann, muss ihm als Problem ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Statt aus der Wirklichkeit Gedanken und Tat abzuleiten, formt er die Wirklichkeit in der Phantasie so um, wie es seinen Wünschen entspricht.
Die dialektisch-materialistische Psychologie kann nichts anderes sein als die Forschung nach diesem subjektiven Faktor der Geschichte, nach der ideologischen Struktur der Menschen einer Epoche und der ideologischen Struktur der Gesellschaft, die sie bilden. Sie stellt sich nicht wie die bürgerliche Psychologie und die psychologistische Ökonomie der Marxschen Soziologie gegenüber, indem sie ihr eine "psychologische Auffassung" des Gesellschaftlichen entgegensetzt, sondern sie ordnet sich ihr, die das Bewusstsein aus dem Sein ableitet, an einer ganz bestimmten Stelle unter und ein.
Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens, wie das geschieht, was dabei "im Menschenkopfe" vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst. Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klassengesellschaft oder die kapitalistische Produktionsweise erklären (sofern sie solches versucht,
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kommt regelmässig reaktionärer Unsinn heraus, z.B. der Kapitalismus sei eine Erscheinung der Habgier der Menschen), wohl aber ist allein sie befähigt – und nicht die Sozialökonomie – zu erforschen, wie der Mensch einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit diesem Dasein fertig zu werden versucht etc. Sie untersucht zwar nur den einzelnen Menschen, wenn sie sich aber zur Erforschung der einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe etc. gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse spezialisiert und das Unterschiedliche ausschaltet, wird sie zur Massenpsychologie. Sie knüpft dabei an Marx selbst an:
"Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch die Aktion erzeugten." (Deutsche Ideologie, I).
"Der Mensch ist selbst die Basis seiner materiellen Produktion wie jeder anderen, die er verrichtet. Alle Umstände also, die den Menschen, das Subjekt der Produktion affizieren, modifizieren mehr oder weniger alle seine Funktionen und Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, dass alle menschlichen Verhältnisse und Funktionen, wie und wann sie sich immer darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie einwirken." (Theorien über den Mehrwert, 1905, I, S. 388 f).
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Wir sagen also keine Neuigkeiten und revidieren nicht Marx, wie wir sicher zu hören bekommen werden: "Alle menschlichen Verhaltnisse" — dazu gehören die Verhältnisse des Arbeitsprozesses ebenso wie die persönlichsten und privatesten und die höchsten Sublimierungen des menschlichen Trieblebens und Denkens, also auch etwa das Geschlechtsleben der Frauen und Jugendlichen und Kinder ebenso wie der Stand der marxistischen Forschung über diese Verhältnisse und ihre Anwendung auf neue gesellschaftliche Fragen. Hitler vermochte mit einer bestimmten Art dieser menschlichen Verhältnisse Geschichte zu machen, die durch Verlachen nicht aus der Welt zu schaffen ist. Wenn also Marx keine Sexualsoziologie entwickelt hat und nicht entwickeln konnte, weil es damals keine Sexualwissenschaft gab, so kommt es darauf an, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch diese Verhältnisse in das Gebäude des historischen Materialismus einzubauen, die Hegemonie der Mystiker und Metaphysiker über dieses Gebiet zu zerstören.
Wenn eine Ideologie auf den wirtschaftlichen Prozess rückwirkt, muss sie zu einer materiellen Kraft geworden sein. Wenn eine Ideologie zur materiellen Kraft wird, sobald sie Massen ergreift, so müssen wir weiter fragen: Auf welchem Wege geschieht das? Wie wird die materielle Auswirkung eines ideologischen Tatbestandes möglich, also etwa einer Theorie, die geschichtsumwälzend wirkt? Die Antwort auf diese Frage muss gleichzeitig die Antwort auf die Frage nach der Praxis der Massenpsychologie sein.
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Die Ideologie jeder gesellschaftlichen Formation hat nicht nur die Funktion, den ökonomischen Prozess dieser Gesellschaft zu spiegeln, sondern vielmehr auch die, ihn in den psychischen Strukturen der Menschen dieser Gesellschaft zu verankern.
Die Menschen unterliegen ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: direkt der unmittelbaren Einwirkung ihrer ökonomischen und sozialen Lage, und indirekt vermittels der ideologischen Struktur der Gesellschaft; sie müssen also immer einen Widerspruch in ihrer psychischen Struktur entwickeln, der dem Widerspruch zwischen der Einwirkung durch ihre materielle Lage und der Einwirkung durch die ideologische Struktur der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa ist sowohl seiner Klassensituation wie der allgemeinen Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt.
Indem die Menschen der verschiedenen Schichten aber nicht nur Objekte dieser Einwirkungen sind, sondern sie auch als tätige Subjekte reproduzieren, muss ihr Denken und Handeln ebenso widerspruchsvoll sein, wie die Gesellschaft, der es entspringt. Indem aber eine Ideologie die psychische Struktur der Menschen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen Menschen reproduziert, sondern Was bedeutsamer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret veränderten und infolgedessen verändert und widerspruchsvoll handelnden Menschen zur aktiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden. Auf diese Weise wird die Rückwirkung der Ideologie einer Gesellschaft auf die ökonomische Basis, der sie entsprang, möglich, und nur auf diese Weise. Die "Rückwirkung" verliert ihren anscheinend metaphysischen oder psycho-logistischen Charakter, wenn sie in ihrer materiellen Gegebenheit als psychische Struktur des handelnden Menschen erfasst werden kann.
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Als solche ist sie dann Objekt der naturwissenschaftlichen, d.h. marxistischen Psychologie. Die Feststellung, dass sich die Ideologie langsamer umwälzt als die ökonomische Basis, erfährt hier bestimmte Präzision. Da die psychischen Strukturen, die einer bestimmten historischen Situation entsprechen, in der frühen Kindheit in den Grundzügen formiert werden und einen weit konservativeren Charakter haben als die technischen Produktivkräfte, so ergibt sich, dass mit der Zeit die psychischen Strukturen hinter der Entwicklung der Seinsverhältnisse, denen sie entsprangen und die sich rasch weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den späteren Lebensformen in Konflikt geraten müssen. Das ist der Grundzug des Wesens der sogenannten Tradition, die wir aber dadurch noch nicht inhaltlich begreifen.
3 Die Fragestellung der Massenpsychologie
Wir haben bisher gesehen, dass die wirtschaftliche und ideologische Situation der Massen sich nicht decken müssen und sogar beträchtlich auseinanderfallen können. Wir müssen nun weiter feststellen, dass die ökonomische Lage sich nicht unmittelbar und direkt in politisches Bewusstsein umsetzt. Wäre das der Fall, die soziale Revolution wäre längst da. Entsprechend diesem Auseinanderfallen von ökonomischer Lage und Ideologie oder politischem Bewusstsein muss die Untersuchung der Wirklichkeit eine doppelte sein:
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Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Ideologie grob gefasst aus dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss die wirtschaftliche Situation mit anderer Fragestellung erfasst werden als die ideologische Struktur: jene sozialökonomisch, diese psychologisch. Wir wollen das Gesagte an einem einfachen Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die infolge Lohndrucks hungern, streiken, so ergibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirtschaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hungernden, der stiehlt. Zur Erklärung des Diebstahls aus Hunger oder des Streiks aus der Ausbeutung bedarf es keiner weiteren psychologischen Erklärung. In diesem Falle entsprechen Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichen Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken sich.
Die bürgerliche Psychologie pflegt in diesem Falle psychologisch erklären zu wollen, aus welchen angeblich irrationalen Motiven gestohlen oder gestreikt wird, was immer zu reaktionären Erklärungen führt. Für die dialektisch-materialistische Psychologie steht die Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt. Die Sozialökonomie erklärt also einen gesellschaftlichen Tatbestand restlos dann, wenn das Handeln und Denken rational-zweckmässig ist, d.h. der Bedürfnisbefriedigung dient und die ökonomische Situation unmittelbar wiedergibt und fortsetzt. Sie versagt, wenn das Denken und Handeln der Menschen der ökonomischen Situation widerspricht, also irrational ist.
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Der Vulgärmarxismus und der Ökonomismus, die die Psychologie nicht anerkennen, stehen einem solchen Widerspruch hilflos gegenüber. Je mechanistischer, ökonomistischer der vulgäre Marxist ist, je mehr er die Psychologie des Menschen leugnet, desto mehr verfällt er dem oberflächlichsten Psychologismus in der Praxis der Massenpropaganda, indem er, statt den psychischen Widerspruch im Massenindividuum zu erraten und zu beseitigen, öden Coueismus betreibt oder die nationalistische Bewegung aus einer "Massenpsychose" erklärt.
Die Fragestellung der marxistischen Massenpsychologie setzt also gerade dort an, wo die unmittelbare sozialökonomische Erklärung versagt. Stellt sich die Massenpsychologie dadurch in Gegensatz zur Sozialökonomie? Nein. Um es vorwegzunehmen: das irrationale, also der unmittelbaren sozialökonomischen Situation widersprechende Denken und Handeln der Massen ist selbst die Folge einer früheren, älteren sozialökonomischen Situation. Man pflegt die Hemmung der Entwicklung des revolutionären Bewusstseins aus der sogenannten Tradition zu erklären. Es ist aber bisher nicht untersucht worden, was das ist: "Tradition", an welchen materiellen, psychischen Tatbeständen sie sich abspielt. Der Ökonomismus hat bisher übersehen, dass die wesentlichste Frage nicht die ist, dass und wie Klassenbewusstsein beim Werktätigen vorhanden ist (das ist selbstverständlich!), sondern was die Entwicklung des Klassenbewusstseins hemmt.
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Die Ablehnung der psychologischen Beobachtung und Praxis in der proletarischen Politik ergab bisher in den Diskussionen eine unproduktive politische Fragestellung. Die Kommunisten erklärten z.B. die Machtergreifung durch den Faschismus aus der illusionären, irreführenden Politik der Sozialdemokratie.
Diese Erklärung führt im Grunde in eine Sackgasse, denn es ist ja eben die Funktion der Sozialdemokratie, als objektive Stütze des Kapitalismus, Illusionen zu verbreiten. Das wird sie immer tun, solange sie besteht. Diese Erklärung ergibt keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen "vernebelt", "verführt" und "hypnotisiert". Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. Es ist unproduktiv, weil es keinen Ausweg zeigt, die Politik nur auf die objektive Funktion einer kapitalistischen Partei, nämlich Stütze der kapitalistischen Herrschaft zu sein, zu begründen.
Man muss natürlich die objektive Funktion der Sozialdemokratie und des Faschismus enthüllen. Die Erfahrung lehrt aber, dass die tausendfältige Enthüllung dieser Rolle die Massen nicht überzeugte, dass also die sozialökonomische Fragestellung allein nicht genügt. Liegt nicht nahe zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass sie diese Rolle nicht erkennen konnten und wollten?
Mit der typischen Auskunft "Die Arbeiter müssen nun erkennen ..." oder "Wir haben es nicht verstanden ..." ist nicht gedient. Warum erkennen die Arbeiter nicht und warum haben wir nicht verstanden? Als unproduktive Fragestellung ist z.B. auch jene zu betrachten, die der Diskussion zwischen der rechten Opposition und der Komintern zugrundelag.
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Die Rechten behaupteten, die Arbeiter seien nicht kampfgewillt; die "Linie" dagegen behauptete, das sei falsch, die Arbeiter seien revolutionär und die Behauptung der Rechten bedeute Verrat am revolutionären Gedanken. Beide Fragestellungen waren, weil sie ein Entweder — Oder darstellten, mechanisch, undialektisch. Der Wirklichkeit hätte entsprochen festzustellen, dass der durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch, gleichzeitig die Gegensätze von revolutionärer Einstellung und bürgerlicher Hemmung (z.B. Führerbindung des sozialdemokratischen Arbeiters) in sich trägt, dass er also weder eindeutig revolutionär, noch eindeutig bürgerlich ist, sondern in einem Konflikt steht: seine psychische Struktur leitet sich einerseits aus seiner Klassenlage ab, die revolutionäre Einstellungen anbahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre der bürgerlichen Gesellschaft, was einander widerspricht.
Es ist nicht nur entscheidend, einen solchen Widerspruch zu sehen, sondern auch zu erfahren, worin sich konkret das Bürgerliche und das Klassenmäßige im Arbeiter darstellt. Die gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für den Mittelständler. Dass er in der Krise gegen das "System" rebelliert, verstehen wir unmittelbar. Dass er aber, obwohl bereits ökonomisch proletarisiert, trotzdem das Absinken ins Proletariat fürchtet und extrem reaktionär wird, ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu verstehen. Auch er hat also einen Widerspruch in sich zwischen rebellierendem Fühlen und reaktionären Zielen und Inhalten.
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Wir erklären z.B. einen Krieg soziologisch nicht vollständig, wenn wir die besonderen ökonomischen und politischen Gesetze aufdecken, die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die deutschen Annexionstendenzen, die sich vor 1914 auf die Erzbecken von Briey und Longy, auf das belgische Industriegebiet, auf die Erweiterung des Kolonialbesitzes in Vorderasien etc. richteten. Die ökonomischen Widersprüche des deutschen Imperialismus waren zwar der entscheidende aktuelle Faktor, aber wir müssen auch die massenpsychologische Basis des Weltkrieges einordnen, wir müssen fragen, warum der massenpsychologische Boden fähig war, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen. Man beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend, wenn man den Umfall der Führer der II. Internationale dafür allein verantwortlich macht. Warum ließen sich die Millionenmassen der sozialistisch und antiimperialistisch gesinnten Arbeiter verraten?
Die Angst vor den Folgen der Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei einer Minderzahl in Betracht. Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiß, dass sich in den proletarischen Massen verschiedenartige Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit hinein in proletarische Kreise. Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges.
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Diese massenpsychologische Fundierung des Weltkrieges muss unter dem Gesichtspunkt entlarvt werden, dass die imperialistische Ideologie der Hochfinanz zu einer materiellen Kraft nur dadurch werden konnte, dass sie die Strukturen der werktätigen Massen konkret im Sinne des Imperialismus veränderte, dass es allgemeine Prinzipien der Klassengesellschaft waren, die den Krieg ermöglichten, Prinzipien, die man mit der Auskunft, dass es sich um eine "Kriegspsychose" oder eine "Massenvernebelung" handelte, nicht abtun kann. Es würde einen Widerspruch zur marxistischen Theorie des Klassenbewusstseins bedeuten, wenn man die Massen auf der anderen Seite derart einschätzen würde, dass sie einer blossen Vernebelung zugänglich seien. Es handelt sich offenbar um die grosse Frage, dass jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht.1)
1) "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, sodass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten. herrschenden materiellen Verhältnisse; also die Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft." (Marx).
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Ohne diese massenpsychologisch zu erforschenden Strukturen wäre der Krieg nicht möglich gewesen. Es muss eine wichtige Korrelation bestehen zwischen der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft und der massenpsychologischen Struktur ihrer Mitglieder; nicht nur in dem Sinne, dass die herrschenden Ideologien die Ideologien der herrschenden Klasse sind, sondern, was für die Lösung von praktischen Fragen der Politik bedeutsamer ist: auch die Widersprüche der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft müssen in den massenpsychologischen Strukturen der Unterdrückten repräsentiert sein. Anders wäre nicht denkbar, dass die ökonomischen Gesetze einer Gesellschaft nur durch die "Aktion", das heisst die psychischen Strukturen der ihnen unterworfenen Massen zur konkreten Auswirkung gelangen können.
Die proletarische Bewegung wusste zwar von der Wichtigkeit des sogenannten "subjektiven Faktors der Geschichte" (bei Marx ist im Gegensatz zum mechanischen Materialismus der Mensch als Subjekt der Geschichte im Prinzip erfasst und Lenin baute gerade diese Seite des Marxismus aus); woran es mangelte, war die Erfassung des irrationalen, unzweckmässigen Handelns, anders ausgedrückt, des Auseinanderfallens von Ökonomie und Ideologie. Wir müssen erklären können, wie es möglich wurde, dass Mystik über wissenschaftliche Soziologie gesiegt hat. Diese Aufgabe kann nur dann geleistet werden, wenn unsere Fragestellung derart ist, dass sich aus der Erklärung automatisch neue Praxis ergibt.
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Wenn der Werktätige weder eindeutig bürgerlich noch eindeutig revolutionär ist, sondern in einem Widerspruch zwischen reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muss sich, wenn wir diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die revolutionären entgegensetzt.
Die Mystik ist reaktionär, der bürgerliche Mensch ist mystisch. Wenn man die Mystik verlacht, als Vernebelung oder als Psychose unerklärt abtut, so geht keine Praxis gegen die Mystik daraus hervor. Wenn man aber die Mystik materialistisch erklären kann, so muss sich zwangsläufig ein politisches Gegengift gegen sie ergeben. Um aber diese Aufgabe zu leisten, müssen die Beziehungen zwischen sozialer Lage und Ideologiebildung, im besonderen die nicht unmittelbar sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen, soweit die Erkenntnismittel reichen, erfasst werden.
4 Die gesellschaftliche Funktion der Sexualunterdrückung
Schon Lenin war ein merkwürdiges, irrationales Verhalten der Massen vor Aufständen oder im Prozess des Aufstandes aufgefallen. Er berichtet über die Soldatenaufstände 1905 in Russland:
"Der Soldat war voller Sympathie für die Sache des Bauern; seine Augen glühten auf bei der blossen Erwähnung von Land. Mehrfach war die Macht bei den Truppen in die Hände der Soldaten übergegangen, doch hat es fast nie eine geschlossene Ausnutzung dieser Macht gegeben; die Soldaten schwankten; einige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhassten Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen in Freiheit, traten in Verhandlungen mit den Behörden und liessen sich dann erschiessen, legten sich unter die Ruten, liessen sich wieder ins Joch spannen ..." ("Über Religion", S. 65, Verl. f. Lit. u. Pol.)
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Der Mystiker jeder Art wird derartiges Verhalten aus der ewig sittlichen Natur des Menschen erklären, die eine Rebellion gegen die göttliche Einrichtung des Privateigentums und der Autorität des Staates und seiner Vertreter verhindere; der Vulgärmarxist geht an derartigen Erscheinungen achtlos vorbei, und er hätte auch weder ein Verständnis noch eine Erklärung für sie, weil sie unmittelbar ökonomisch nicht zu erklären sind. Die Freudsche Auffassung kommt dem Tatbestand beträchtlich näher, wenn sie in solchem Verhalten die Wirkung eines aus der Kindheit der Menschen stammenden Schuldgefühls Vatergestalten gegenüber erkennt. Sie bleibt uns nur die Auskunft über die soziologische Herkunft und Funktion dieses Verhaltens schuldig und führt daher auch zu keiner praktischen Lösung. Sie übersieht auch den Zusammenhang mit der Art des Geschlechtslebens der breiten Massen.
Zur Klärung der Frage, wie wir an die Erforschung derartiger massenpsychologischer Erscheinungen irrationaler Art herantreten können, ist ein kurzer Überblick über die – an anderen Stellen ausführlich behandelte – Fragestellung der Sexualökonomie notwendig.
Die Sexualökonomie ist eine Forschungsrichtung, die sich seit einigen Jahren an der Soziologie des menschlichen Geschlechtslebens durch Anwendung des dialektischen Materialismus auf dieses Gebiet formiert und bereits über eine Reihe neuartiger Feststellungen verfügt. Sie geht von folgenden Voraussetzungen aus.
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Marx fand das gesellschaftliche Leben beherrscht von den Bedingungen der wirtschaftlichen Produktion und den aus ihnen von einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte ab hervorgehenden Klassenkämpfen. Die Beherrschung der unterdrückten Klasse durch die Besitzer der Produktionsmittel bedient sich nur selten der Mittel der brutalen Gewalt; ihre Hauptwaffe ist die ideologische Macht über die Unterdrückten, die den Staatsapparat mächtig stützt. Dass Marx als erste Voraussetzung der Geschichte und Politik den lebendigen, produzierenden Menschen mit seiner psychischen und physischen Beschaffenheit setzte, haben wir bereits gehört. Die Struktur des handelnden Menschen, der sog. "subjektive Faktor der Geschichte", blieb unerforscht, weil Marx Soziologe und nicht Psychologe war, und weil es damals keine naturwissenschaftliche Psychologie gab. Das Problem, aus welchem Grunde sich die Menschen die Ausbeutung, moralische Erniedrigung, kurz die Sklaverei seit Jahrtausenden gefallen lassen, blieb unbeantwortet; ermittelt war nur der ökonomische Prozess der Gesellschaft und der Mechanismus der privatwirtschaftlichen Ausbeutung.
Ein knapp halbes Jahrhundert später entdeckte Freud mit einer speziellen Methode, die er Psychoanalyse nannte, den Prozess, der das Seelenleben beherrscht. Seine wichtigsten Entdeckungen, die auf eine grosse Reihe bisheriger Anschauungen verheerend und an sich umstürzlerisch wirkten, was ihm anfangs den Hass der Welt eintrug, sind folgende.1)
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Das Bewusstsein ist nur ein kleiner Teil des Seelischen; es wird selbst dirigiert von seelischen Prozessen, die unbewusst ablaufen und deshalb der Kontrolle des Bewusstseins nicht zugänglich sind; jedes scheinbar noch so sinnlose psychische Geschehen, wie der Traum, die Fehlleistung, die absurden Äusserungen der seelisch Kranken und Geistesgestörten etc., hat eine Funktion und einen "Sinn" und lässt sich restlos verstehen, wenn man es in die Entwicklungsgeschichte des betreffenden Menschen einzuordnen vermag. Dadurch reihte sich die Psychologie, die bis dahin entweder als eine Art Physik des Gehirns ("Hirnmythologie") oder als Lehre von einem mysteriösen objektiven Geist vegetierte, in die Reihe der Naturwissenschaften ein.
Die zweite grosse Entdeckung war die, dass schon das kleine Kind eine lebhafte Sexualität entwickelt, die nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat, dass also Sexualität und Fortpflanzung, sexuell und genital nicht dasselbe seien; die analytische Zerlegung der psychischen Prozesse wies ferner nach, dass die Sexualität bzw. deren Energie, die Libido, aus körperlichen Quellen stammend, der zentrale Motor des Seelenlebens ist, sobald sie in Konflikt mit realen Bedingungen des Daseins gerät. Biologische Voraussetzungen und soziale Bedingungen des Lebens treffen also im Seelischen aufeinander.
1) Eine ausführlichere Darstellung findet sich vom marxistischen Standpunkt in Reich: "Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse", ("Unter dem Banner des Marxismus", 1929).
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Die dritte grosse Entdeckung war, dass die kindliche Sexualität, zu der auch das meiste und wesentlichste an der Kind-Eltern-Beziehung ("Oedipuskomplex") gehört, gewöhnlich aus Angst vor Strafe für sexuelles Tun und Denken (im Kern "Kastrationsangst") verdrängt wird, das heisst von der Aktion ausgesperrt und in der Erinnerung ausgelöscht wird. Die Verdrängung der kindlichen Sexualität entzieht sie also der Herrschaft des Bewusstseins, nimmt ihr aber nicht ihre Kraft, erhöht sie vielmehr und befähigt sie derart, sich in verschiedenen krankhaften Störungen des Seelenleben zu äussern. Da es kaum eine Ausnahme von dieser Regel beim Kulturmenschen gibt, konnte Freud sagen, dass er die ganze Menschheit zum Patienten habe.
Die vierte hier wichtige Entdeckung war, dass die moralischen Instanzen im Menschen, weit entfernt davon, überirdischer Herkunft zu sein, sich zentral aus den Erziehungsmassnahmen der Eltern und ihrer Vertreter in frühester Kindheit ableiten. Im Kern dieser Erziehungsmassnahmen wirken diejenigen, die sich gegen die Sexualität des Kindes richten. Der Konflikt, der sich ursprünglich zwischen den Wünschen des Kindes und den Verboten der Eltern abspielt, setzt sich später als Konflikt zwischen Trieb und Moral innerhalb der Person fort. Die moralischen Instanzen, die selbst unbewusst sind, wirken sich beim Erwachsenen gegen die Erkenntnisse der Gesetze der Sexualität und des unbewussten Seelenlebens aus; sie unterstützen die Sexualverdrängung ("Sexualwiderstand") und erklären den Widerstand der Welt gegen die Entdeckung der kindlichen Sexualität.
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Jede dieser Entdeckungen (wir nannten nur die für unser Thema wichtigsten) bedeutete schon durch ihre Existenz einen schweren Schlag gegen die bürgerliche Moralphilosophie und insbesondere gegen die Religion, die ewige sittliche Werte verteidigten, einen objektiven Geist die Welt beherrschen lassen und die kindliche Sexualität leugneten, sowie die Geschlechtlichkeit auf die Fortpflanzungsfunktion einengten. Diese Entdeckungen konnten bisher ihre Wirkung nicht entfalten, weil die psychoanalytische Soziologie, die sich darauf aufbaute, zum größten Teile ihnen wieder nahm, was sie an fortschrittlichem und umstürzlerischem gegeben hatten. Hier ist nicht der Ort, dies zu beweisen.
Die analytische Soziologie versuchte die Gesellschaft wie ein Individuum zu analysieren, setzte einen absoluten Gegensatz von Kulturprozess und Sexualbefriedigung, fasste die destruktiven Triebe als ursprüngliche, biologische Gegebenheiten auf, die das menschliche Geschick unausrottbar beherrschen, leugnete die mutterrechtliche Urzeit und landete in einer lähmenden Skepsis, weil sie vor den Konsequenzen der eigenen Entdeckungen zurückschrak. Heute steht sie Bestrebungen, diese Konsequenzen zu ziehen, feindlich gegenüber, und ihre Vertreter erweisen sich im Kampfe gegen diese Bestrebungen keineswegs inkonsequent. Das ändert nichts daran, dass wir die großen Freudschen Entdeckungen gegen jeden Angriff, von welcher Seite immer er kommen mag, aufs schärfste zu verteidigen entschlossen sind.
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Die Fragestellung der Sexualökonomie, die von diesen Entdeckungen ausging, ist nicht einer der üblichen Versuche, Marx durch Freud oder Freud durch Marx zu ersetzen, zu ergänzen, sie zu vermengen etc. (von der dialektisch-materialistischen Kritik der psychoanalytischen Theorie sehen wir dabei ab). Wir haben früher die Stelle im historischen Materialismus angegeben, an der die Psychoanalyse eine wissenschaftliche Funktion zu erfüllen hat, die die Sozialökonomie nicht zu leisten vermag: die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, nicht deren historischen Bodens.
Die Psychoanalyse ist in ihrem klinischen Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie. Durch Einbeziehung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirklichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist. Dass sie nicht sofort billige praktische Ratschläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissenschaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, sie als ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexualität erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrechnen.
Es ergibt sich daraus von selbst, das die Wissenschaft der Sexualökonomie, die sich auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud aufbaut, eine im wesentlichen massenpsychologische und sexual-soziologische zugleich ist. Sie beginnt dort, wo, nach Ablehnung der idealistischen Soziologie und Kulturphilosophie Freuds1), die klinisch-psychologische Fragestellung der Psychoanalyse endet.
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Die Psychoanalyse enthüllt uns die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen. Die Sexualökonomie setzt fort: Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus; die Freudsche Kulturphilosophie behauptet, dies geschehe um der "Kultur" willen; man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte. Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist gern bereit, die Formen zu opfern, wenn dadurch das masslose Kinder- und Jugendelend beseitigt werden könnte. Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung.
1) in der sich trotz allem Idealismus mehr Wahrheiten über das lebendige Leben finden als in allen bürgerlichen Soziologien und manchen "marxistischen" Psychologien zusammengenommen.
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Man untersucht die Geschichte der Sexualunterdrückung und die Herkunft der Sexualverdrängung und findet, dass sie nicht im Beginne der Kulturentwicklung einsetzt, also nicht die Voraussetzung der Kulturbildung ist, sondern erst relativ spät sich mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Beginne der Klassenteilung herauszubilden beginnt. Die Geschlechtsinteressen aller beginnen in den Dienst der wirtschaftlichen Profitinteressen einer Minderheit zu treten; in Form der monogamen Ehe und der vaterrechtlichen Familie hat dieser Tatbestand feste organisatorische Gestalt gewonnen.
Mit der Einschränkung und Unterdrückung der Geschlechtlichkeit verändert das menschliche Fühlen seine Art, es entsteht die sexualverneinende Religion und allmählich baut die herrschende Klasse eine eigene sexualpolitische Organisation auf, die Kirche mit allen ihren Vorläufern, die nichts anderes als die Ausrottung der sexuellen Lust der Menschen und mithin des geringen Glücks auf Erden zum Ziele hat. Das hat seinen guten soziologischen Sinn im Zusammenhange mit der nunmehr blühenden Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft.
Um diesen Zusammenhang zu begreifen, ist es notwendig, die gesellschaftliche Kerninstitution zu erfassen, in der die wirtschaftliche und die sexualökonomische Situation der privatwirtschaftlichen Gesellschaft sich ineinanderflechten. Ohne Einbeziehung dieser Institution ist ein Verständnis der sexuellen Ökonomie und des ideologischen Prozesses des Patriarchats unmöglich.
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Die Psychoanalyse von Menschen jeder Altersstufe, aus allen Ländern und jeder sozialen Schichte ergibt: Die Verknüpfung der sozialökonomischen mit der sexuellen Struktur der Gesellschaft und die ideologische Reproduktion der Gesellschaft erfolgen in den ersten vier bis fünf Lebensjahren und in der Familie. Die Kirche setzt diese Funktion später nur fort. So gewinnt der Klassenstaat sein ungeheures Interesse an der Familie: Sie ist seine Struktur- und Ideologiefabrik geworden.
Wir fanden die Institution, in der sich die sexuellen und die wirtschaftlichen Interessen verknüpfen. Wir müssen nun fragen, wie diese Verknüpfung erfolgt und wie ihr Mechanismus ist. Auch darauf gibt die Analyse der typischen Struktur des bürgerlichen Menschen (des Proletariers eingeschlossen) eine Antwort, freilich nur dann, wenn man sich solche Fragen in der individuellen Analyse überhaupt vorlegt. Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe die schwere Beeinträchtigung der genitalen Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lahmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft des Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muss, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.
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Die Umstrukturierung des Menschen erfolgt — das muss genau festgehalten werden — zentral durch Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material der sexuellen Antriebe.
Wir werden sofort begreifen, warum die Familie von der Sexualökonomie als die wichtigste ideologische Reproduktionsstätte des privat-wirtschaftlichen Gesellschaftssystems aufgefasst wird, wenn wir uns das Beispiel einer durchschnittlichen christlichen Arbeiterfrau vor Augen halten. Sie hungert ebensosehr wie eine kommunistische, ist also der gleichen ökonomischen Lage unterworfen, wählt aber Zentrum und später NSDAP; wenn wir uns auch noch die Wirklichkeit des Unterschiedes in der Sexualideologie der durchschnittlichen klassenbewussten und der durchschnittlichen christlichen Frau klarmachen, dann erkennen wir die entscheidende Bedeutung der Sexualstruktur: Die antisexuelle, moralische Hemmung verhindert die christliche Frau zum Bewusstsein ihrer sozialen Lage zu gelangen und bindet sie ebenso fest an die Kirche, wie sie sie den "Sexualbolschewismus" fürchten lässt.
Theoretisch stellt sich die Sachlage wie folgt dar. Der mechanistisch denkende Vulgärmarxist wird annehmen, dass das Klassenbewusstsein, d.h. die Einsicht in die soziale Lage, besonders ausgeprägt dann sein müsste, wenn sich zur wirtschaftlichen Notlage die sexuelle hinzuaddiert. Nach dieser Annahme müssten die Masse der Jugendlichen und die Masse der Frauen weit klassenbewusster sein als die der Männer. Die Wirklichkeit zeigt das gerade Gegenteil und der Vulgärmarxist steht dem völlig hilflos gegenüber.
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Er wird es unverstehbar finden, dass die christliche Frau sich sträubt, sein Wirtschaftsprogramm auch nur anzuhören. Die Erklärung ist die: Die Unterdrückung der grob materiellen Bedürfnisbefriedigung erzielt ein anderes Resultat als die der sexuellen Bedürfnisse. Erste treibt zur Rebellion, die zweite jedoch verhindert dadurch, dass sie die sexuellen Ansprüche zur Verdrängung bringt, sie dem Bewusstsein entzieht und sich als moralische Abwehr innerlich verankert, den Vollzug der Auflehnung aus beiden Arten von Unterdrückung. Ja, auch die Hemmung der Auflehnung selbst ist unbewusst. Es findet sich beim durchschnittlichen unpolitischen Menschen im Bewusstsein nicht einmal ein Ansatz dazu. Zur Verdeutlichung der Beziehung diene folgendes Schema:
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Die Sexualverdrängung stärkt die politische Reaktion nicht nur durch den beschriebenen Vorgang, der die Massenindividuen passiv und unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur des bürgerlichen Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die herrschende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäss gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen insceniert wird.
Um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Wirkung des Militarismus beruht massenpsychologisch im wesentlichen auf einem libidinösen Mechanismus; die sexuelle Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende, weil rhythmisch vollendete Wirkung der Parademärsche, der exhibitionistische Charakter des militärischen Auftretens sind einer Hausgehilfin oder einer durchschnittlichen Angestellten bisher praktisch klarer geworden als unseren gebildetsten Politikern. Dagegen bedient sich die politische Reaktion bewusst dieser sexuellen Interessen. Sie schafft nicht nur pfauenartig ausstaffierte Uniformen für die Männer, sondern sie lässt wie in Amerika die Anwerbung durch anziehende Frauen durchführen.
Am Schluss sei noch an die Werbeplakate der kriegslüsternen Mächte erinnert, die etwa folgenden Inhalt haben: "Willst Du fremde Länder kennen lernen, dann tritt in die Marine des Königs ein!"; und die fremden Länder sind durch exotische Frauen dargestellt. Und warum wirken diese Plakate? Weil unsere Jugend durch die Sexualeinschränkung sexualhungrig geworden ist.
Sowohl die das Klassenbewusstsein hemmende Sexualmoral, als auch diejenigen Kräfte, die den kapitalistischen Interessen entgegenkommen, beziehen ihre Energie aus der verdrängten Sexualität. Wir begreifen nun besser ein Kernstück im Prozess der Rückwirkung der Ideologie auf die ökonomische Basis: Die Sexualhemmung verändert den wirtschaftlich unterdrückten Menschen strukturell derart, dass er gegen sein materielles Interesse handelt, fühlt und denkt. Das ist gleichbedeutend mit ideologischer Angleichung an die Bourgeoisie.
Die Beobachtung von Lenin erfährt derart ihre massenpsychologische Bestätigung und Deutung. Die Soldaten von 1905 erblickten unbewusst in den Offizieren die Väter aus der Kindheit, kondensiert in der Gottesvorstellung, die die Sexualität versagten und die man damals weder töten durfte noch konnte, obwohl sie einem die Lebensfreude zerbrachen. Ihre Reue nach der Machtergreifung und ihr Schwanken waren Ausdruck in sein Gegenteil, in Mitleid, verwandelten Hasses, der solcherweise nicht zur Aktion vordringen konnte.
Das praktische Problem der Massenpsychologie ist somit die Aktivierung der passiven Mehrheit der Bevölkerung, die stets der politischen Reaktion zum Siege verhilft, und die Beseitigung derjenigen Hemmungen, die der Entwicklung des aus der sozialökonomischen Lage strömenden Klassenbewussteins entgegenwirken.
Die seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse, die ein Fußballspiel erregt verfolgt oder eine kitschige Operette miterlebt, von ihren Fesseln gelöst, in die Bahnen zu den rationalen Zielen der Arbeiterbewegung gelenkt, wäre nicht mehr zu binden.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist die folgende sexualökonomische Untersuchung geleitet.
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Reich-1933