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2.  Die Familienideologie in der Massenpsychologie des Faschismus

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   (1) Führer und Massenstruktur  

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Ließe die Geschichte des gesellschaftlichen Prozesses den bürgerlichen Historikern Zeit, Betrachtungen über die deutsche Vergangenheit nach einigen Jahrzehnten anzustellen, sie würden im Erfolg Hitlers in den Jahren 1928-1933 sicher den Beweis dafür erblicken, dass nur der große Mann Geschichte macht, indem er die Massen mit "seiner Idee" entflammt - und ein Grundzug der nationalsozialistischen Propaganda baut sich in der Tat auf dieser Führer­ideologie auf. 

So wenig den Propagandisten des National­sozialismus die Mechanik ihres Erfolges bekannt ist, so wenig dürfen sie den historischen Boden der national­sozialistischen Bewegung je erfassen. Es ist daher vollkommen konsequent, wenn der National­sozialist Wilhelm Stapel in seiner Schrift "Christentum und National­sozialismus" (Hanseatische Verlagsanstalt) seinerzeit schrieb: 

"Weil der National­sozialismus eine elementare Bewegung ist, darum kann man ihm nicht mit 'Argumenten' beikommen. Argumente würden nur wirken, wenn die Bewegung durch Argumente groß­geworden wäre."    wikipedia  Wilhelm_Stapel  1882-1954

Das sachliche Niveau der nationalsozialistischen Versammlungsreden zeichnete sich entsprechend dieser Charakteristik durch sehr geschickte Massnahmen aus, mit den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren und sachliche Argumentation tunlichst zu vermeiden.

Hitler betont an verschiedenen Stellen seines Buches <Mein Kampf>, dass die richtige massenpsycho­logische Taktik auf Argumentation verzichten und nur das "grosse Endziel" unausgesetzt den Massen vorführen müsse. Wie es dann mit dem Endziel nach der Machtergreifung aussieht, lässt sich am italienischen Faschismus leicht zeigen, wie ja auch die jüngsten Erlässe Görings gegen die wirtschaftlichen Organisationen des Mittel­standes, die Absage an die von den Anhängern erwartete "zweite Revolution", die Nichterfüllung der versprochenen sozialistischen Massnahmen etc. bereits die eigentliche objektive Funktion des Faschismus enthüllen.

Wie wenig Hitler selbst den Mechanismus seiner Erfolge kennt, zeigt folgende Ansicht:

"Diese große Linie allein, die nie verlassen werden darf, lässt bei immer gleichbleibender konsequenter Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann aber wird man mit Staunen feststellen können, zu welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen solch eine Beharrlichkeit führt." (Mein Kampf, S. 203).

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Hitlers Erfolg lässt sich also keinesfalls aus seiner objektiven Rolle in der Geschichte des Kapitalismus erklären, denn diese hätte, wäre sie unmittelbarer Inhalt der Propaganda gewesen, das Gegenteil des Beabsichtigten erzielt. Die Erforschung der massen­psycho­logischen Wirkung Hitlers muss von der Voraussetzung ausgehen, dass ein Führer oder auch nur Vertreter einer Idee nur dann Erfolg haben kann (wenn auch nicht in historischer, so doch in begrenzter Perspektive), wenn seine persönliche Anschauung, seine Ideologie oder sein Programm an die durchschnittliche Struktur einer breiten Schicht von Massenindividuen anklingt.

Dann ergibt sich die weitere Frage, welcher historischen und soziologischen Situation diese Massen­strukturen ihr Entstehen verdanken. So verlegt sich die Fragestellung der Massenpsychologie aus der Metaphysik in die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens. Nur dann, wenn die Struktur einer Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise zusammenklingt, kann ein "Führer" Geschichte machen. Und ob er endgültig Geschichte macht oder nur vorübergehend, hängt einzig und allein davon ab, ob sein Programm in der Richtung des fortschreitenden gesellschaftlichen Prozesses liegt oder sich dagegen anstemmt.

Es ist daher nicht nur verfehlt, sondern auch politisch irreführend, wenn man den Hitlerschen Erfolg allein aus der Demagogie der Nationalsozialisten, mit der "Vernebelung der Massen", ihrer "Irreführung" oder gar mit dem vagen, nichtssagenden Begriff der "Nazipsychose" zu erklären versucht, wie sogar Kommunisten es vielfach taten.

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Kommt es doch gerade darauf an zu begreifen, warum sich die Massen der (objektiv gesehen) tatsäch­lichen Irreführung, Vernebelung und psychotischen Situation zugänglich erwiesen. Das heißt, ohne die genaue Analyse dessen, was in den Massen vorgeht, kann man das Problem nicht lösen. Auch nicht mit der Angabe der objektiven Rolle der Hitler-Bewegung im historischen Prozess. Denn wie gesagt, der Erfolg der NSDAP widerspricht dieser ihrer Rolle, ein Widerspruch, der nur massenpsychologisch zu lösen ist.

Der Nationalsozialismus bediente sich gegenüber den verschiedenen Objekten seiner Propaganda verschiedener Mittel und machte, je nach der sozialen Schicht, die er gerade brauchte, verschiedene Versprechungen. So trat z.B. im Frühjahr 1933 in der Propaganda die Betonung des revolutionären Charakters der Nazi-Bewegung hervor, weil man die Industriearbeiter gewinnen wollte, und man feierte den 1. Mai, nachdem man in Potsdam den Adel zufriedengestellt hatte. Wollte man daraus ableiten, dass der Erfolg nur politischem Schwindel zuzuschreiben ist, man geriete als Marxist in Widerspruch mit sich selbst und würde dadurch praktisch die soziale Revolution negieren.

Die Grundfrage ist: Warum lassen sich die Massen politisch beschwindeln? Sie hatten alle Möglichkeiten, die Propaganda der verschiedenen Parteien zu kontrollieren. Warum entdeckten Sie nicht etwa, dass Hitler den Arbeitern Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln und den Kapitalisten Schutz vor Streiks gleichzeitig versprach?

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Hitlers persönliche Struktur und seine Lebensgeschichte sind für das Verständnis des Nationalsozialismus von keinerlei Belang. Es ist allerdings akademisch interessant, dass die kleinbürgerliche Herkunft seiner Ideen sich mit dem massenpsychologischen Milieu der Strukturen, die diese Ideen bereitwillig aufnahmen, in den Hauptzügen deckt.

Hitler stützt sich wie jede faschistische Bewegung auf die verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums. Der Nationalsozialismus offenbart somit sämtliche Widersprüche, die die Massenpsychologie des Kleinbürgertums kennzeichnen. Es kommt nur darauf an, erstens diese Widersprüche selbst in ihrem ideologischen Gefüge zu erfassen, zweitens die gemeinsame Herkunft dieser Widersprüche aus den Produktionsverhältnissen des imperialistischen Kapitalismus kennenzulernen. Wir schränken uns auf die sexual-ideologischen Fragen ein.

  

(2)  Hitlers Herkunft    

 

Der Führer des deutschen rebellierenden Mittelstandes ist selbst Beamtensohn und berichtet genau über einen die klein­bürgerliche Massenstruktur spezifisch kennzeichnenden Konflikt, den er durchzumachen hatte. Sein Vater wollte ihn zum Beamten machen, der Sohn rebellierte aber gegen den väterlichen Plan, beschloss, "unter keinen Umständen" Folge zu leisten, wurde Maler und proletarisierte sich dadurch. Aber neben dieser Rebellion gegen den Vater blieb die Hochachtung und Anerkennung seiner Autorität bestehen. 

Diese zwiespältige Einstellung zur Autorität: Rebellion gegen die Autorität bei gleichzeitiger Anerkennung und Unterwerfung, ist ein zentraler Faktor jeder kleinbürgerlichen Struktur am Übergang von der Pubertät zur völligen Erwachsenheit und besonders ausgeprägt bei materiell proletarischer Lebensführung. 

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Zur Mutter hatte Hitler eine eindeutig positive Einstellung; er spricht mit grosser Sentimentalität von ihr und versichert, er hätte nur einmal in seinem Leben geweint, als nämlich seine Mutter starb. Aus der Rassen- und Syphilistheorie (vgl. nächstes Kapitel) geht seine ideologische Sexualablehnung und die Idealisierung der Mutterschaft eindeutig hervor.

Als junger Nationalist beschloss Hitler, der in Österreich lebte, den Kampf gegen das österreichische Herrscherhaus aufzu­nehmen, das das deutsche Vaterland "der Slawisierung" preisgab. Bei der Polemik gegen die Habsburger nimmt der Vorwurf, dass es unter ihnen einige Syphilitiker gab, eine bemerkenswerte Stellung ein. Man würde daran achtlos vorübergehen, wenn nicht das Motiv der "Vergiftung des Volkskörpers" und die gesamte Stellung zur Frage der Syphilis in besonderer Weise immer wiederkehrte und später nach der Machtergreifung ein zentrales Stück der Innenpolitik gebildet hätte.

Hitler sympathisierte ursprünglich mit der Sozialdemokratie, weil sie den Kampf um das allgemeine und geheime Wahlrecht führte und dies zu einer Schwächung des ihm verhassten "Habsburgerregiments" führen musste.  

Doch die Betonung der Klassen, die Negierung der Nation, der staatlichen Autorität, des Eigentums-Rechts, der Religion und Moral stiessen Hitler ab.

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Den entscheidenden Anstoss zu seiner Ideologie gab die Aufforderung, die von Seiten seiner Baustelle an ihn gerichtet wurde, der Gewerkschaft beizutreten. Er lehnte ab und begründet das mit der ersten Einsicht in die Rolle der Sozialdemokratie.

Sein Ideal wurde Bismarck, weil er die Einigung der deutschen Nation herbeiführte und gegen das österreichische Herrscherhaus kämpfte. Der Antisemit Lueger und der Deutschnationale Schönerer bestimmten entscheidend die weitere Entwicklung Hitlers. Er ging nunmehr von nationalistisch-imperialistischen Zielen aus, die er mit anderen, geeigneteren Mitteln als der alte "bürgerliche" Nationalismus zu verwirklichen gedachte. Die Wahl dieser Mittel ergab sich aus der Erkenntnis der Macht des organisierten Marxismus, aus der Erkenntnis der Bedeutung der Masse für jede politische Bewegung.

"Erst wenn der — politisch durch den organisierten Marxismus geführten — internationalen Weltanschauung eine ebenso einheitlich organisierte und geleitete völkische gegenübertritt, wird sich bei gleicher Kampfesenergie der Erfolg auf die Seite der ewigen Wahrheit schlagen."

"Was der internationalen Weltauffassung den Erfolg gab, war ihre Vertretung durch eine sturmabteilungsmässig organisierte politische Partei; was die gegenteilige Weltanschauung unterliegen liess, war der bisherige Mangel einer einheitlich geformten Vertretung derselben. Nicht in einer unbegrenzten Freigabe der Auslegung einer allgemeinen Anschauung, sondern nur in der begrenzten und damit zusammenfassenden Form einer politischen Organisation kann eine Weltanschauung kämpfen und siegen".   "Mein Kampf", S. 422-423

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Hitler erkannte früh den Bankrott der sozialdemokratischen Politik, aber gleichzeitig auch die Ohnmacht der alten bürgerlichen Parteien, eingeschlossen der deutschnationalen.

"Dies alles aber war nur die zwangsläufige Folge des Fehlens einer grundsätzlichen, dem Marxismus entgegen­gesetzten neuen Weltanschauung von stürmischem Eroberungswillen." (1. c. S. 190).

"Je mehr ich mich damals mit dem Gedanken einer notwendigen Änderung der Haltung der staatlichen Regierungen zur Sozialdemokratie als der augenblicklichen Verkörperung des Marxismus beschäftigte, umso mehr erkannte ich das Fehlen eines brauchbaren Ersatzes für diese Lehre. Was wollte man denn den Massen geben, wenn, angenommen, die Sozialdemokratie gebrochen worden wäre? Nicht eine Bewegung war vorhanden, von der man hätte erwarten können, dass es ihr gelingen würde, die grossen Scharen der nun mehr oder weniger führerlos gewordenen Arbeiter in ihren Bann zu ziehen. Es ist unsinnig und mehr als dumm, zu meinen, dass der aus der Klassenpartei ausgeschiedene internationale Fanatiker nun augenblicklich in eine bürgerliche Partei, also in eine neue Klassenorganisation, einrücken werde." (1. c. S. 190).

"Die "bürgerlichen" Parteien, wie sie sich selbst bezeichnen, werden niemals mehr die "proletarischen" Massen an ihr Lager fesseln, da sich hier zwei Welten gegenüberstehen, teils natürlich, teils künstlich getrennt, deren Verhaltungszustand zueinander nur der Kampf sein kann. Siegen aber wird hier der Jüngere - und dies wäre der Marxismus." (1 c. S. 191).

Die antisowjetistische Grundtendenz des Nationalsozialismus kam früh zum Vorschein.

"Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im grossen und ganzen nur auf Kosten Russlands geschehen, dann musste sich das neue Reich wieder auf der Strasse der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben." (1. c. S. 154).

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Solchermaßen sieht sich Hitler vor folgende Fragen gestellt: Wie ist dem nationalsozialistischen Gedanken zum Siege zu verhelfen? Wie lässt sich der Marxismus wirksam bekämpfen? Wie kann man an die Massen herankommen?

Zu diesem Zweck appelliert Hitler an die nationalistischen Gefühle der Massen, beschliesst aber, dabei sich wie der Marxismus auf einer Massenbasis zu organisieren, eine eigene Propagandatechnik zu entwickeln und konsequent durchzuführen. Er will also, was offen zugegeben wird, den nationalistischen Imperialismus mit Methoden durchsetzen, die er dem Marxismus und seiner Technik der Massenorganisierung entlehnt. Dass diese Massenorganisierung gelang, lag an den Massen und nicht an Hitler. Es lag an ihren kleinbürgerlichen Strukturen, dass seine Propaganda Wurzel fassen konnte. Daher kommt das, was an Hitler soziologisch wichtig ist, nicht aus seiner Persönlichkeit, sondern aus der Bedeutung, die er von den Massen bekommt. Und das Problem ist umso brennender, als Hitler die Massen, mit deren Hilfe er seinen Imperialismus durchsetzen will, gründlichst verachtet. Dafür anstelle vieler nur ein freimütiges Bekenntnis:

"Die Stimmung des Volkes war immer nur ein Ausdruck dessen, was man von oben in die öffentliche Meinung hineintrichterte." (1. c. S. 140).

Welche Strukturen in der Masse waren trotz alledem bereit, Hitlers Propaganda aufzusaugen?

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(3)  Zur Massenpsychologie DES KLEINBÜRGERTUMS 

 

Wir sagten, der Erfolg Hitlers sei weder aus seiner "Persönlichkeit", noch aus der objektiven Rolle, die seine Ideologie im zerrütteten Kapitalismus spielt, zu verstehen. Ebensowenig aus einer blossen "Vernebelung" der Massen, die ihm folgten. Wir stellten die Frage ins Zentrum, was in den Massen vorging, dass sie einer Partei Gefolgschaft leisteten, deren Führung objektiv sowohl wie subjektiv nur die Interessen des Grosskapitals vertritt.

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzuhalten, dass die nationalsozialistische Bewegung in ihrem ersten erfolgreichen Anlauf sich auf die breiten Schichten des sogenannten Mittelstandes stützte, also der Millionen privater und öffentlicher Beamter, der mittleren Kaufmannschaft und des mittleren und kleinen Bauerntums. Vom Standpunkt seiner sozialen Basis gesehen ist der Nationalsozialismus eine kleinbürgerliche Bewegung, und dies überall, wo er auftritt. Dieses Kleinbürgertum, das vorher im Lager der verschiedenen bürgerlich-demokratischen Parteien stand, musste also eine innere Wandlung durchgemacht haben, dass es seinen politischen Standort wechselte. Aus der sozialen Lage und der ihr entsprechenden psychologischen Struktur des Kleinbürgertums erklären sich sowohl die grundsätzlichen Gleichheiten wie die Verschiedenheiten der bürgerlich-liberalen und der nationalsozialistischen Ideologien.

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Das nationalsozialistische Kleinbürgertum ist das gleiche des kleinbürgerlichen demokratischen Liberalismus in einer anderen historischen Epoche des Kapitalismus. Der Nationalsozialismus bezog seinen Zuwachs in den Wahljahren 1930 bis 1932 fast ausschliesslich aus der deutschnationalen Partei, der Wirtschaftspartei und den kleineren Splitterparteien des deutschen Reiches. Nur das katholische Zentrum bewahrte sogar in der Preussenwahl 1932 seine Position.

Erst bei der Preussenwahl 1932 gelang dem Nationalsozialismus auch ein Einbruch in die Arbeitermassen. Doch nach wie vor blieb der Mittelstand die Kerntruppe des Hakenkreuzes. In der schwersten wirtschaftlichen Erschütterung des kapitalistischen Systems seit seinem Bestande trat in Gestalt des Nationalsozialismus der Mittelstand auf die politische Tribüne und hält den revolutionären Untergang der kapitalistischen Herrschaft auf. Die politische Reaktion weiss diese Bedeutung des Kleinbürgertums sehr richtig einzuschätzen. "Der Mittelstand ist für die Existenz eines Staates von entscheidender Bedeutung", hiess es in einen Flugblatt der Deutschnationalen vom 8. April 1932.

Die Frage nach der politischen Bedeutung des Mittelstandes spielte innerhalb der Linken in den Diskussionen nach dem 30. Januar eine grosse Rolle. Bis zum 30. Januar war die Beachtung des Mittelstandes beträchtlich zu kurz gekommen, weil alle Interessen von der Beachtung der Entwicklung der politischen Reaktion, der bürgerlichen Staatsführung gefesselt waren, und die massenpsychologische Fragestellung den Politikern fernlag. Nachher begann man an verschiedenen Stellen die "Rebellion des Mittelstandes" in den Vordergrund zu rücken.

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Verfolgt man die Diskussion über diese Frage, so kann man feststellen, dass sich zwei Hauptmeinungen herausbildeten: die eine vertrat den Standpunkt, der Faschismus sei "nichts anderes" als die Parteigarde der Grossbourgeoisie; die andere übersah diesen Tatbestand nicht, rückte jedoch die "Rebellion des Mittelstandes" in den Vordergrund, was ihren Vertretern den Vorwurf eintrug, dass sie die reaktionäre Rolle des Faschismus verwischten; man berief sich dabei auf die Berufung Thyssens zum Wirtschafts­diktator, auf die Auflösung der wirtschaftlichen Mittelstands­organisationen, auf das Abblasen der "zweiten Revolution", kurz auf den ab etwa Ende Juni 1933 immer mehr und offener hervortretenden nur reaktionären Charakter des Faschismus.

Man konnte einige Unklarheiten in der sehr heftigen Diskussion feststellen: Die Tatsache, dass der Nationalsozialismus sich nach der Machtergreifung immer mehr als imperialistischer Nationalismus des Grossbürgertums enthüllte, der eifrig bestrebt war, alles "Sozialistische" aus der Bewegung auszuschalten, und den Krieg mit allen Mitteln vorbereitet, widerspricht nicht der anderen Tatsache, dass der Faschismus, von seiner Massenbasis her gesehen, in der Tat eine Mittelstandsbewegung war. Ohne das Versprechen, den Kampf gegen das Grosskapital aufzunehmen, hätte Hitler die Mittelstandsschichten nie gewonnen. Sie verhalfen ihm zum Siege, weil sie gegen das Grosskapital waren.

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Unter ihrem Drucke mussten die führenden Stellen zu antikapitalistischen Massnahmen ansetzen, wie sie sie unter dem Drucke der Grossbourgeoisie wieder abstoppen mussten. Wenn man nicht die Interessen in der Massenbasis einer politischen Bewegung von der objektiven Funktion unterscheidet, die einander widersprechen und in der Ganzheit der Nazi-Bewegung zunächst vereinigt waren, muss man an einander vorbeireden, indem der eine die objektive Rolle des Faschismus, der andere die subjektiven Interessen der faschistischen Massen meint, wenn er von "Faschismus" spricht.

In der Gegensätzlichkeit dieser zwei Seiten des Faschismus sind sämtliche seiner Widersprüche begründet, ebenso wie ihre Vereinigung in der einen Form: "Nationalsozialismus", die Hitlerbewegung kennzeichnet. Sofern der Nationalsozialismus seinen Charakter als Mittelstandsbewegung hervorzukehren gezwungen war (vor der Machtergreifung und knapp nachher), ist er in der Tat antikapitalistisch; sofern er zur Festigung und Erhaltung der einmal errungenen Macht — da er das Grosskapital nicht entrechtet — immer mehr seinen antikapitalistischen Charakter abstreift und seine kapitalistische Funktion immer ausschliesslicher hervorkehrt, wird er zum extremen Verfechter und Festiger der grosskapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dabei ist völlig gleichgültig, ob und wieviele seiner Führer ehrlich oder unehrlich "sozialistisch" (in ihrer Auffassung!) gesinnt sind, ebensowenig wie, ob und wieviele Volksbetrüger und Machtjäger sind. 

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Darauf kann man gründliche antifaschistische Politik nicht basieren. Aus der Geschichte des italienischen Faschismus hätte man alles für das Verständnis des deutschen Faschismus und seiner Zwiespältigkeit lernen können, denn auch der italienische Faschismus zeigte die beiden genannten einander strikt widersprechenden Seiten oder Funktionen zu einem Ganzen vereint.1)

Diejenigen, die die Funktion der Massenbasis des Faschismus entweder leugnen oder nicht gebührend einschätzen, stehen gebannt in der grossen historischen Perspektive, dass der Mittelstand, weil er weder über die Hauptproduktionsmittel verfügt, noch an ihnen arbeitet, auf die Dauer keine Geschichte machen kann, daher zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin- und herschwanken muss. Über der grossen übersehen sie aber die kleine historische Perspektive, dass der Mittelstand wenn auch nicht auf die Dauer, so doch für geschichtlich kurz begrenzte Zeit "Geschichte machen" kann und macht, wie es der italienische und deutsche Faschismus lehren. 

1) In den Parteidiskussionen der Kommunisten herrschte ein grosser Streit über die Frage, ob der Faschismus ein Zeichen der Stärkung oder Schwächung des Kapitalismus sei: eine mechanische Fragestellung die unter anderem die revolutionäre Linke spaltete und schwächte. Hätte man auf die Wirklichkeit statt auf Kongressthesen geachtet, so hätte man leicht feststellen können: gerät der Kapitalismus in wirtschaftliche Schwierigkeiten, so gebiert er nationalistische Bewegungen — also als Zeichen der Schwäche zum Zwecke der Festigung der Macht; gelingt es ihm, den Faschismus gross zu machen, ihm schliesslich zum Siege zu verhelfen, dann hat sich die reaktionäre Massenbewegung aus einem Zeichen der Schwäche in ein Zeichen der Stärke verwandelt.

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Nicht nur die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen, die unzähligen Opfer, der Einbruch der Barbarei sind dabei gemeint, sondern vor allem die Verhinderung der Entwicklung der ökonomischen Krise zur politischen Umwälzung der Gesellschaft, zur sozialen Revolution. Es ist klar: Je grösser Umfang und Gewicht der Mittelstands­schichten in einer Nation sind, desto entscheidendere Bedeutung kommt ihnen als zeitlich begrenzt, aber doch entscheidend wirkender gesellschaftlicher Kraft zu.

Gegenwärtig ergibt sich das geschichtliche Paradoxon, dass der nationalistische Faschismus in den westlichen Ländern den internationalen Kommunismus selbst als internationale Bewegung zu überflügeln beginnt. Dies nicht sehen, Illusionen über das Fortschreiten der revolutionären Bewegung im Verhältnis zu dem der Reaktion haben, bedeutet schlechthin politischen Selbstmord vorbereiten, auch wenn die besten Motive zugrundeliegen. Diese Frage verdient die allergrösste Aufmerksamkeit, und es ist weiterhin einleuchtend, dass der Prozess, der sich gegenwärtig in den Mittelstands­schichten aller Länder abspielt, weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als die banale, bekannte Tatsache, dass der Faschismus extremste wirtschaftliche und politische Reaktion bedeutet. Mit dem letzten allein kann man politisch nichts anfangen, was ja auch die Geschichte zwischen 1928-1933 reichlich bewiesen hat.

Wenn der Mittelstand wirklich in Bewegung geriet, in der Gestalt des Faschismus als gesellschaftliche Kraft auf die Bühne der Geschichte trat, so kommt es weniger auf die reaktionäre Absicht der Hitler und Göring als auf die Interessen der Mittelstandsschichten an, wenn man sie gewinnen oder neutralisieren will.

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Dass eine faschistische Bewegung überhaupt existiert, ist zweifellos gesellschaftlicher Ausdruck der Angst der Grossbourgeoisie vor dem Bolschewismus in der Phase des drohenden Zusammenbruchs. Dass aber diese faschistische Bewegung zu einer Massenbewegung werden, ja an die Macht gelangen kann, was ihre objektive Funktion, das Grosskapital zu stützen und die Arbeiterbewegung niederzuschlagen erst erfüllt, ist nicht mehr eine Frage der Interessen der Grossbourgeoisie, sondern eine Frage der Massenbewegung des Mittelstandes, die das ermöglicht. 

Nur unter Beachtung dieser Gegensätze und Widersprüche, jedes zu seiner Zeit, kann man die einander widersprechenden Erscheinungen erfassen und nicht zuletzt müssige Diskussions­streitereien und Fraktionsbildungen ersparen.

Die Stellung des Mittelstandes ist bestimmt:
durch seine Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess,
durch seine Stellung im kapitalistischen Staatsapparat,
durch seine besondere familiäre Situation, 
die unmittelbar von der Stellung im Produktionsprozess bestimmt ist, aber den Schlüssel zum Verständnis seiner Ideologie abgibt. Das ist sofort daran zu sehen, dass die Stellung des Kleinbauerntums, des Beamtentums und der mittleren Kaufmannschaft wirtschaftliche Verschiedenheiten zeigt, sich aber durch eine in den Grundzügen gleichartige familiäre Situation kennzeichnet.

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Die rasche Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte, die stetig und rasch fortschreitende Mechanisierung der Produktion, die Zusammenfassung der verschiedenen Produktionszweige in monopolistische Syndikate und Trusts sind die Grundlage der fortschreitenden Proletarisierung der kleinbürgerlichen Kaufleute und Gewerbetreibenden. Der Konkurrenz der billiger und rationeller arbeitenden Grossindustrie nicht gewachsen, verfallen die kleinen Unternehmungen unrettbar.

 

"Der Mittelstand hat von diesem System nichts anderes zu erhoffen, als schonungslose Vernichtung. Darum also geht es: Ob alle in eine grosse, graue und öde Masse von Proletariat versinken, wo alle dasselbe haben, nämlich nichts, oder ob die Kraft und der Fleiss den Einzelnen wieder in die Lage versetzen sollen, sich in mühevoller Lebensarbeit ein Eigentum zu schaffen. Mittelstand oder Prolet! Darum geht es!" - .... mahnten die Deutschnationalen vor der Reichspräsidentenwahl 1932. Die Nationalsozialisten gingen nicht so plump vor, eine breite Kluft zwischen Mittelstand und Proletariat in der Propaganda aufzureissen, und hatten dabei mehr Erfolg.

Auch in der Propaganda der NSDAP spielte der Kampf gegen die grossen Kaufhäuser eine grosse Rolle. Doch der Widerspruch zwischen der Rolle, die der Nationalsozialismus für die Grossindustrie spielte, und den Interessen des Mittelstandes, auf die er sich stützte, kam etwa in Hitlers Gespräch mit Knickerbocker zum Ausdruck:

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"Wir werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht von einem Kramladen abhängig machen (gemeint war das Schicksal von Woolworth in Berlin) ... die Existenz derartiger Unternehmungen bedeutet eine Förderung des Bolschewismus ... Sie zerstören viele kleine Existenzen. Deshalb werden wir sie nicht billigen, aber Sie können versichert sein, dass Ihre Unternehmungen dieser Art in Deutschland um nichts anders behandelt werden sollen, als ähnliche deutsche Unternehmungen."1)

Die ausländischen Privatschulden belasteten den Mittelstand ungeheuer. Während aber Hitler für die Zahlung der Privatschulden war, weil er aussenpolitisch von der Erfüllung der Auslandsforderungen abhing, forderten seine Anhänger die Annulierung dieser Schulden. Das Kleinbürgertum rebellierte also "gegen das System", worunter es die "marxistische Herrschaft" der Sozialdemokratie verstand, für die wirklichen marxistischen Tatsachenfeststellungen aber war es unzugänglich.

Es begriff nicht, dass es als gesellschaftliche Schichte infolge der Entwicklung der Grossindustrie dem Untergang geweiht ist, es erwies sich dem Nachweis unzugänglich, dass es im Kommunismus zwar als Schichte oder Klasse untergeht, als Individuen aber in seiner materiellen Existenz gesicherter wäre, wenn auch in anderer Form. Aber gerade diese andere Form schreckte es ab. Es wusste nichts davon, verstand nicht, dass es anders werden muss, und die kommunistische Propaganda verstand es nicht — abgesehen von der Unterschätzung des Kleinbürgertums — die geeignete Form zu finden, ihm sein historisches Schicksal intensiv genug klar zu machen.

1) Nach der Machtergreifung in den Monaten März-April setzte auch ein Massensturm auf die Kaufhäuser ein, der von der Führung der NSDAP sehr bald abgebremst wurde (Verbot der eigenmächtigen Eingriffe in die Wirtschaft, Auflösung von Mittelstandsorganisationen etc.).

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So sehr nun diese Schichten des Kleinbürgertums in der Krise zum organisierten Zusammenschluss drängten, die wirtschaftliche Konkurrenz der kleinen Unternehmungen hatte sich doch gegen die Grundlegung eines dem des Proletariats entsprechenden Solidaritätsgefühls ausgewirkt. Schon infolge seiner sozialen Lage kann der Kleinbürger sich weder mit seiner sozialen Schichte, noch auch mit dem Proletariat solidarisieren; mit seiner eigenen Schichte nicht, weil da die Konkurrenz vorherrscht, mit dem Industrieproletariat nicht, weil er gerade die Proletarisierung am meisten fürchtet. Trotzdem bedeutete die faschistische Bewegung gleichzeitig einen Zusammenschluss des Kleinbürgertums. Auf welcher massenpsychologischen Basis?

Die Antwort darauf gibt die Stellung des kleinen und mittleren staatlichen und privaten Beamtentums. Der durchschnittliche Beamte ist wirtschaftlich schlechter gestellt als der durchschnittliche gelernte Industriearbeiter; die schlechtere Stellung wird zum Teil wettgemacht durch die geringfügige Aussicht auf Karriere, vor allem aber beim Staatsbeamten durch die lebenslängliche Versorgung. Derart von der obrigkeitlichen Autorität abhängig, bildet sich auch in dieser Schichte eine psychologische Konkurrenzhaltung gegenüber den Kollegen heraus, die der Entwicklung der Klassensolidarität entgegenwirkt.

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Das soziale Bewusstsein des Beamten ist nicht gekennzeichnet durch das Bewusstsein der Schicksals­gemein­schaft mit seinen Arbeitskollegen, sondern durch seine Stellung zur staatlichen Obrigkeit und zur "Nation". Diese besteht in einer völligen Identifizierung mit der Staatsmacht1), beim privaten Angestellten in einer Identifizierung mit dem Unternehmen, dem er dient. Er ist ebenso ausgebeutet wie der Industriearbeiter. Warum entwickelt er kein Solidaritätsgefühl wie dieser? Das beruht auf seiner Zwischenstellung zwischen Obrigkeit und Proletariat. Nach oben Untergebener ist er nach unten Vertreter dieser Obrigkeit und geniesst als solcher eine besondere moralische (nicht materielle) Schutzstellung. Die restlose Ausbildung dieses massenpsychologischen Typs finden wir in den Feldwebeln der verschiedenen Armeen.

Die Macht dieser Identifizierung mit dem Dienstgeber erkennen wir in krasser Form bei Angestellten adeliger Häuser. Kammer­dienern, etc., die sich durch Übernahme von Haltung, Denkart, Auftreten der herrschenden Klasse restlos verändern und sogar, um die proletarische Herkunft zu übertönen, dieses Wesen übertreiben.

1)  Unter ,,Identifizierung" versteht die Psychoanalyse den Tatbestand, dass eine Person sich mit einer anderen eins zu fühlen beginnt, Eigenschaften und Haltungen von ihr übernimmt, die sie früher nicht besass, in der Phantasie sich an ihre Stelle setzen kann; diesem Prozess liegt eine tatsächliche Veränderung der sich identifizierenden Person zugrunde, indem sie Eigenschaften des Vorbildes "in sich aufnimmt".

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Diese Identifizierung mit der Behörde, dem Unternehmen, dem Staat, der Nation etc., die sich in die Formel kleiden lässt: "Ich bin der Staat, die Behörde, das Unternehmen, die Nation", stellt eine psychische Realität dar und ist eines der besten Beispiele für eine zur materiellen Kraft gewordene Ideologie. Zunächst schwebt dem Angestellten und Beamten nur das Ideal, so wie der Vorgesetzte zu sein, vor, bis allmählich durch die chronische materielle Abhängigkeit sich das Wesen im Sinne der herrschenden Klasse umbaut. Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie. Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er tritt nach aussen repräsentativ auf, dies oft bis zur Lächerlichkeit übertreibend. Er ißt schlecht und ungenügend, aber er legt grossen Wert auf "anständige Kleidung". Der Zylinder und der Bratenrock werden die materiellen Symbole dieser Struktur. Und weniges ist für die massenpsychologische Beurteilung einer Bevölkerung auf den ersten Blick geeigneter als die Beobachtung ihrer Kleidung. Durch den "Blick nach oben" unterscheidet sich die kleinbürgerliche Struktur spezifisch von der Klassenstruktur des Industriearbeiters.

Wie tief reicht nun diese Identifizierung mit der Obrigkeit? Dass eine solche besteht, war, wenn auch anders formuliert, bisher bekannt. Die Frage ist aber, ob und in welcher Weise ausser unmittelbar wirkenden wirtschaftlichen Seinsfaktoren andere, indirekt ökonomisch bestimmte, gefühlsmässige Umstände die kleinbürgerliche Haltung unterbauen und derart festlegen, dass die kleinbürgerliche Ideologie auch in Zeiten der Krise, auch in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit die unmittelbare wirtschaftliche Basis zerstört, nicht ins Wanken gerät. Wir sagten früher, dass die wirtschaftliche Stellung der verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums eine verschiedene, ihre familiäre Lage aber in den Grundzügen die gleiche sei. Und in dieser familiären Lage haben wir den Schlüssel zum gefühls­mässigen Unterbau der früher beschriebenen Struktur.

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  (4)  Familienbindung und nationales Empfinden    

 

Zunächst ist die familiäre Lage der verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums nicht gesondert von ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Stellung. Die Familie bildet dort, wo die kapitalistische Krise noch nicht zugegriffen hat, — das Beamtentum ausgenommen — gleichzeitig den wirtschaftlichen Kleinbetrieb. In dem Unternehmen des kleinen Kaufmannes arbeitet die Familie mit, werden doch dadurch fremde und teurere Arbeitskräfte erspart. In der kleinen und mittleren Bauernwirtschaft ist dieses Zusammenfallen von Familie und Produktionsweise noch ausgesprochener. Darauf beruht im Grunde die Wirtschaftsweise des Grosspatriarchats (z.B. Zadruga). Und in dieser innigen Verflochtenheit von Familie und Wirtschaft liegt die Lösung der Frage, warum das Bauerntum "erdgebunden", "traditionell" und darum der politischen Reaktion so leicht zugänglich ist.

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Das nicht in dem Sinne, dass die Wirtschaftsweise allein die Erdgebundenheit und Tradition bedingte, sondern in dem Sinne, dass die Produktionsweise des Bauern eine strenge familiäre Bindung aller Familienmitglieder aneinander erfordert, und diese Bindung setzt weitgehende sexuelle Unterdrückung und Sexualverdrängung voraus. 

Erst auf dieser doppelten Basis erhebt sich dann das typische bäuerliche Denken, dessen Zentrum Verehrung des Privateigentums und die patriarchalische Sexualmoral bilden. Wir werden an anderer Stelle auf die Schwierigkeiten zurückkommen, denen die sowjetistische Regierung bei der Kollektivisierung der Landwirtschaft begegnete, und werden finden, dass es nicht nur die "Liebe zur Scholle", sondern ganz wesentlich die durch die Scholle vermittelte Familienbindung war, die so grosse Schwierigkeiten bereitete.

"Schon die Möglichkeit der Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation kann niemals hoch genug eingeschätzt werden Viele unserer heutigen Leiden sind nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Stadt und Landvolk. Ein fester Stock kleiner und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen. Dies ist aber auch die einzige Lösung, die eine Nation das tägliche Brot im inneren Kreislauf einer Wirtschaft finden lässt. Industrie und Handel treten von ihrer ungesunden führenden Stellung zurück und gliedern sich in den allgemeinen Rahmen einer nationalen Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft ein." 
Mein Kampf, S. 151

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Das ist die Stellungnahme Hitlers. So unsinnig sie wirtschaftlich ist, so wenig es der politischen Reaktion je gelingen kann, die Entwicklung der Grossindustrie und der maschinellen Grosslandwirtschaft und damit den Untergang des Kleinbürgertums und Kleinbauerntums auszuschalten, so bedeutungsvoll ist diese Propaganda massen­psychologisch, so sehr wirkt sie auf die familiär gebundenen Strukturen der kleinbürgerlichen Schichten.

Die innige Verflochtenheit von Familienbindung und bäuerlicher Wirtschaftsform musste nach der Machtergreifung durch die NSDAP ihren Ausdruck finden. Da die Hitlerbewegung ihrer Massenbasis und subjektiv-ideologischen Struktur nach eine Bewegung des Kleinbürgertums darstellt, ungeachtet ihrer objektiven Funktion, die Herrschaft des Grosskapitals zu festigen, war einer der ersten Schritte, die der Sicherung der Mittelschichten galten, der Erlass über die "Neuordnung der bäuerlichen Besitzverhältnisse" vom 12 Mai 1933, der auf uralte Formen zurückgreift und von der "unlöslichen Verbundenheit von Blut und Boden" ausgeht.

Hier der Wortlaut einiger kennzeichnender Stellen:

"Die unablösbare Verbundenheit von Blut und Boden ist die unerlässliche Voraussetzung für das gesunde Leben eines Volkes. Die bäuerliche Bodenverfassung früherer Jahrhunderte sicherte in Deutschland diese aus dem natürlichen Lebensgefühl des Volkes herausgeborene Verknüpfung auch gesetzlich. Der Bauernhof war das unveräußerliche Erbe des angestammten Bauerngeschlechts. Artfremdes Recht drang ein und zerstörte die gesetzliche Grundlage dieser bäuerlichen Verfassung. Trotzdem bewahrte der deutsche Bauer mit gesundem Sinn für seines Volkes Lebensgrundlage im Wege der Sitte in vielen Gauen des Landes den Bauernhof von Geschlecht zu Geschlecht ungeteilt.

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Unabweisbare Pflicht der Regierung des erwachten Volkes ist die Sicherung der nationalen Erhebung durch gesetzliche Festlegung der in deutscher Sitte bewahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und Boden durch das bäuerliche Erbhofrecht.

Der in der Anerbenrolle des zuständigen Amtsgerichts eingetragene land- und forstwirtschaftliche Besitzer (Erbhof) vererbt sich nach dem Anerbenrecht. Der Eigentümer dieses Erbhofes heisst Bauer. Mehrere Erbhofe hat ein Bauer nicht. Der Bauer hat nur ein Kind, welches den Erbhof übernehmen kann. Das ist der Anerbe. Die Miterben werden bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit vom Hof versorgt. Geraten sie unverschuldet in Not, so können sie auch in späteren Jahren noch auf dem Hof Zuflucht suchen (Heimatzuflucht). Ist der zur Eintragung in die Anerbenrolle geeinete Hof nicht eingetragen, so besteht das Recht zur Übernahme kraft Anerbenrechts.

Einen Erbhof kann als Bauer nur besitzen, wer deutscher Staatsbürger und deutschen Blutes ist. Deutschen Blutes ist nicht, wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamm oder wer unter seinen übrigen Vorfahren bis ins vierte Glied eine Person jüdischer oder farbiger Herkunft hat Deutschen Blutes im Sinne dieses Gesetzes ist aber selbstverständlich jeder Germane. Eine in Zukunft erfolgende Eheschliessung mit einer Person nicht deutschen Blutes macht die Nachkommen dauernd unfähig, als Besitzer eines Erbhofes Bauern zu sein.

Das Gesetz hat den Zweck, die Bauernhofe vor Überschuldung und schädlicher Zersplitterung im Erbgange zu schützen, um sie dauernd als Erbe in der Familie freier Bauern zu erhalten. Zugleich will das Gesetz auf eine gesunde Verteilung der landwirtschaftlichen Besitzgrossen hinwirken. Eine grosse Anzahl lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhofe, möglichst gleichmassig über das ganze Land verteilt, ist für die Gesunderhaltung von Volk und Staat notwendig."

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Die genaue Durchsicht des Gesetzes zwingt die Frage auf, welche Tendenzen sich in ihm ausdrücken. Das Gesetz steht in einigem Widerspruch zu den Interessen der Großagrarier, die auf Aufsaugung sämtlicher mittleren und kleineren Bauernwirtschaften zielen, auf eine immer größer werdende Teilung in Besitzer von Boden und besitzloses Landproletariat. Dieser Widerspruch oder Gegensatz wird aber reichlich wettgemacht durch ein zweites mächtiges Interesse der Grossbourgeoisie, den bäuerlichen Mittelstand zu erhalten, weil er die Massenbasis ihrer Herrschaft darstellt. 

Nicht nur ist der Kleinbesitzer mit dem Großbesitzer als Privateigentümer identifiziert; das hätte wenig Gewicht, wenn nicht mit dem Klein- und Mittelbesitz eine ideologische Atmosphäre erhalten bliebe, die der kleinwirtschaftenden Familie, aus der die besten nationalistischen Krieger hervorzugehen pflegen und die die Frauen im Sinne der nationalistischen und kirchlichen Ideologie strukturell verändert. Hier liegt der Hintergrund des vielgenannten "sittlich erhaltenden Einflusses des gesunden Bauerntums". Diese Frage ist aber eine sexualökonomische.

Die hier beschriebene Verflechtung von kapitalistischer Produktionsweise und kapitalistischer Familie im kleinen Bürgertum ist eine der vielen Quellen der faschistischen Ideologie von der "kinderreichen Familie". Doch diese Frage wird in anderem Zusammenhange noch wiederkehren.

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Der wirtschaftlichen Abgrenzung der kleinen Betriebe gegeneinander entspricht die familiäre Abkapselung und die Konkurrenz der Familien untereinander, die für das Kleinbürgertum typisch sind. Schon jetzt wird verständlich, dass das individualistische Denken, das dem Kollektivgedanken des Kommunismus so sehr entgegenwirkt, hier seine Quelle hat. Aber dieser Tatbestand bedarf einer viel ausführlicheren Begründung.1)

Diese wirtschaftliche und familiäre Situation wäre in Anbetracht der natürlichen Organisation der Menschen unhaltbar, wenn sie nicht durch weitere Tatbestände gesichert wäre. Dazu gehört ein bestimmtes Verhältnis von Mann und Frau, das wir als das patriarchalische bezeichnen, und eine bestimmte sexuelle Lebensweise.

In seinem Bestreben, sich vom Proletariat abzugrenzen, kann das städtische Kleinbürgertum, da es wirtschaftlich nicht besser gestellt ist, als das Industrieproletariat, nur auf seine familiären und sexuellen Lebensformen sich stützen, die es dann in bestimmter Weise ausbaut. Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muss moralisch kompensiert werden. Dieses Motiv ist beim Beamtentum das wirksamste Element seiner Identifizierung mit der Staatsmacht. Da man nicht so gestellt ist wie die Grossbourgeoisie, gleichzeitig aber mit ihr identifiziert ist, müssen die kulturellen Ideologien wettmachen, was die wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und die von ihnen abhängigen sonstigen kulturellen Lebensformen dienen im wesentlichen der Abgrenzung gegen unten.

1) Trotz der Ideologie "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" und dem "korporativen Gedanken" des Faschismus. Die Kernelemente der faschistischen Ideologie bleiben individualistisch, wie das "Führerprinzip", die Familienpolitik etc. Das Kollektivistische im Faschismus entstammt den sozialistischen Tendenzen aus der Massenbasis, wie das Individualistische den Interessen des Großkapitals und der faschistischen Führung entstammt.

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Die Summe dieser moralischen Haltungen, die sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren und gemeinhin als "Spiessertum" bezeichnet werden, gipfelt in den Vorstellungen — wir sagen Vorstellungen, nicht Taten — von Ehre und Pflicht. Man muss die Wirkung dieser beiden Worte auf das Kleinbürgertum richtig einschätzen, um es auch der Mühe wert zu halten, sich mit ihnen eingehend zu beschäftigen. Kehren sie doch auch in der faschistischen Ideologie und Rassetheorie immer wieder. Praktisch und wirklich zwingen ja gerade die kleinbürgerliche Daseinsweise und der kleinbürgerliche Warenverkehr vielfach das gerade gegenteilige Verhalten auf. In der privaten Warenwirtschaft gehört ein Stück Unehrenhaftigkeit sogar zur Existenz.

Kauft ein Bauer ein Pferd, so wird er es in jeder Weise entwerten. Verkauft er das gleiche Pferd ein Jahr später, so wird es jünger, besser und tüchtiger geworden sein als ein Jahr vorher. Die Pflicht beruht auf Geschäftinteressen und nicht auf nationalen Charakter­eigenschaften. Die eigene Ware wird immer die beste sein, die fremde immer die schlechtere. Auftreten und Benehmen der kleinen Geschäftsleute zeugen in ihrer Überhöflichkeit und in ihrer Unterwerfung unter den Kunden von dem grausamen Zwang der wirtschaftlichen Daseinsweise, die den besten Charakter auf die Dauer verbiegen muss.

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Trotzdem spielt der Begriff der Ehre und der Pflicht im Kleinbürgertum eine so entscheidende Rolle. Das lässt sich aus Verdeckungsabsichten grob materieller Herkunft nicht allein erklären. Denn bei aller Heuchelei, die psychische Ekstase dabei ist echt. Es fragt sich nur, aus welchen Quellen sie strömt.

Sie kommt aus Quellen des unbewussten Gefühlslebens, die man zunächst nicht beachtet, deren Zusammenhang vor allem mit jener Ideologie man typisch und gern übersieht. Die Analyse des Kleinbürgers lässt aber keinen Zweifel über die Bedeutung des Zusammenhanges seines sexuellen Lebens mit seiner Ideologie von Pflicht und Ehre.

Zunächst spiegelt sich die staatliche und ökonomische Stellung des Vaters in seinem patriarchalischen Verhältnis zur übrigen Familie wieder. Der autoritäre Staat hat als seinen Vertreter in jeder Familie den Vater, wodurch sie sein wertvollstes Machtinstrument wird.

Diese Stellung des Vaters gibt seine politische Rolle wieder und enthüllt die Beziehung der Familie zum autoritären Staat. Die gleiche Stellung, die der Vorgesetzte dem Vater gegenüber im Produktionsprozess einnimmt, hält er selbst innerhalb der Familie fest. Und seine Untertanenstellung zur Obrigkeit erzeugt er neu in seinen Kindern, besonders seinen Söhnen. Aus diesen Verhältnissen strömt die passive, hörige Haltung der kleinbürgerlichen Menschen zu Führergestalten. Und Hitler baut, ohne es in der Tiefe zu ahnen, auf diese Haltungen der kleinbürgerlichen Massen, wenn er schreibt:

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"Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüchterne Überlegung, vielmehr gefühlsmässige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt."

"Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, sondern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht viel Differenzierungen, sondern ein Positiv oder ein Negativ, Liebe oder Hass, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder teilweise usw." ("Mein Kampf", S. 201).

 

Es handelt sich nicht um eine "Veranlagung", sondern um ein typisches Beispiel der Reproduktion eines gesellschaftlichen Systems in den Strukturen seiner Mitglieder.

Diese Stellung des Vaters erfordert nämlich strengste Sexualeinschränkung der Frauen und Kinder. Entwickeln die Frauen unter kleinbürgerlichen Einflüssen eine resignierende Haltung, die unterbaut ist von verdrängter sexueller Rebellion, so die Söhne neben einer untertänigen Stellung zur Autorität gleichzeitig eine starke Identifizierung mit dem Vater, die später zur gefühlsbetonten Identifizierung mit jeder Obrigkeit wird. Es wird noch lange ein ungelöstes Rätsel bleiben, wie es möglich ist, dass Herstellung und Formierung der psychischen Strukturen der tragenden Schichte einer Gesellschaft so genau in das ökonomische Gefüge und zu den Zwecken der herrschenden Klasse passen wie die Teile einer Präzisionsmaschine. Was wir als massenpsychologische Reproduktion des ökonomischen Systems einer Gesellschaft beschreiben scheint jedenfalls der Kernmechanismus des ideologischen Prozesses zu sein.

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Zur Entwicklung der individualistischen Struktur des Kleinbürgertums trägt die wirtschaftliche und soziale Konkurrenzeinstellung erst sehr spät bei, und was hier an reaktionären Ideologien gebildet wird, baut sich sekundär auf psychischen Prozessen auf, die sich schon in der Psyche des Kleinkindes abspielen, das im Familienmilieu aufwächst. Da ist zunächst die Konkurrenz zwischen den Kindern und den Erwachsenen, ferner die weittragendere zwischen den Kindern ein und derselben Familie in ihrer Beziehung zu den Eltern.

Diese Konkurrenz, die später in der Erwachsenheit und im ausserfamiliären Leben eine überwiegend wirtschaftliche ist, spielt sich in der Kindheit hauptsächlich an den stark gefühls­betonten Hass-Liebesbeziehungen der Familienmitglieder ab. Hier ist nicht der Ort, diese Zusammenhänge weiter in ihre Details zu verfolgen. Das muss Spezialuntersuchungen vorbehalten bleiben. Hier genügt die Feststellung, dass die sexuellen Hemmungen und Schwächungen, die die wichtigsten Voraussetzungen des Bestehens der bürgerlichen Familie bilden und die wesentlichsten Grundlagen der Strukturbildung des kleinbürgerlichen Menschen sind, ausschlaggebend mit Hilfe der religiösen Angst durchgesetzt werden, die sich derart mit sexuellem Schuldgefühl erfüllt und gefühlsmässig tief verankert. Von hier zweigt das Problem der Beziehung der Religion zur Verneinung der sexuellen Lust ab. Die sexuelle Schwäche hat eine Herabsetzung des Selbstbewusstseins zur Folge, die in dem einen Falle durch Brutalisierung des Geschlechtlichen, im anderen durch besondere Charakterzüge wettgemacht wird. 

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Der Zwang zur sexuellen Selbstbeherrschung, d.h. zur Aufrechterhaltung der sexuellen Verdrängung führt zur Entwicklung krampfhafter, besonders gefühlsmässig betonter Vorstellungen von Ehre und Pflicht, Tapferkeit und Selbstbeherrschung.1) Die Krampfhaftigkeit und Affektbetontheit dieser psychischen Haltungen steht aber in seltsamem Widerspruch zur Wirklichkeit der persönlichen Verhaltungsweisen. Der genital befriedigte Primitive ist ehrenhaft, pflichtbewusst, tapfer und beherrscht, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Diese Haltungen sind in seiner Persönlichkeit organisch eingebaut. Der genital Geschwächte, in seiner Sexualstruktur Widerspruchsvolle, muss sich ständig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen, seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen Versuchungen zu sein u. s. f. Den Kampf gegen die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle diejenigen Strukturelemente des bürgerlichen Menschen, die seinen gefühlsmässigen Kern ausmachen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur am stärksten ausgebildet und am tiefsten verwurzelt. Aus diesen Quellen, die die zwangsmässige Unterdrückung des Geschlechtslebens schafft, bezieht die Mystik jeder Art ihre stärksten Energien und zum Teil auch ihre Inhalte. 

1)  Besonders lehrreich für die Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist das Buch des Nationalsozialisten Ernst Mann "Die Moral der Kraft".

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Sofern die proletarischen Schichten von den gleichen Einflüssen der bürgerlichen Gesellschaft erfasst sind, bilden auch ihre Angehörigen die entsprechenden Haltungen aus; doch sind im Proletariat infolge seiner speziellen, vom Kleinbürgertum unterschiedenen Daseinsweise die gegenteiligen sexualbejahenden Kräfte im Individuum weit deutlicher ausgeprägt und auch bewusster. 

Die affektive Verankerung dieser Strukturen mit Hilfe unbewusster Angst, ihre Verschleierung durch vollkommen asexuell aussehende psychische Gebilde und Charakterzüge sind dafür verantwortlich, dass man mit Argumenten des Verstandes allein an diese tiefen Schichten der Persönlichkeit nicht herankommt. Welche Bedeutung diese Peststellung für die praktische Sexualpolitik hat, werden wir im letzten Kapitel besprechen.

Der bewusste und der weit bedeutsamere un-bewusste Kampf gegen die eigenen sexuellen Ansprüche kann in seiner Bedeutung für die Umsetzung der materiellen Daseinsweise der Menschen in die verschiedenen Arten metaphysischen und mystischen Denkens hier nicht im einzelnen behandelt werden. Wir erwähnen nur eine solche Art, die für die nationalsozialistische Ideologie typisch ist. Immer wieder wird eine Reihe aufgezählt: persönliche Ehre, Sippenehre, Stammesehre, Volksehre. Sie ist folgerichtig aufgestellt nach der Reihenfolge der Stufen in der individuellen Ideologiebildung, sie unterlässt es nur, den ökonomisch-soziologischen Boden einzubeziehen: Kapitalismus bzw. Patriarchat — Eheinstitution — Sexualunterdrückung — persönlicher Kampf gegen die eigene Sexualität, persönliches kompensatorisches Ehrgefühl etc. Der äusserste Punkt der Reihe ist die Ideologie der "Volksehre". Sie ist identisch mit dem gefühlsmässigen Kern des Nationalgefühls. Zu seinem Verständnis bedarf es aber einer weiteren Ableitung.

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Der Kampf gegen die Sexualität der Kinder und Jugendlichen von Seiten der vaterrechtlichen Gesellschaft und der von ihr abhängige Kampf im eigenen Ich spielt sich im Rahmen der Familie ab, die sich bisher als die beste Institution erwies, diesen Kampf auch erfolgreich durchzuführen. Die sexuellen Ansprüche drängen natürlicherweise zu jeder Art Berührung mit der Welt, zu innigem Kontakt mit ihr in den verschiedensten Formen und Inhalten. Werden sie unterdrückt, so bleibt ihnen nur die Möglichkeit, sich im engen Familienrahmen zu betätigen. 

Sexuelle Hemmung ist ebenso die Grundlage der familiären Abkapselung der Individuen, wie sie die Grundlage des individualistischen Persönlichkeitsbewusstseins ist. Man muss streng beachten, dass metaphysisches, individualistisches und familiär sentimentales Verhalten nur verschiedene Seiten ein und desselben Grund­prozesses der Sexualverneinung sind, während materialistisches, der Wirklichkeit zugewandtes, unmystisches Denken mit lockerer Haltung zur Familie und zumindest Gleichgültigkeit gegenüber bürgerlicher Sexualideologie einhergeht. Wichtig ist hier, dass die sexuelle Hemmung das Mittel der Bindung an die Familie ist, dass die Versperrung des Weges in die sexuelle Wirklichkeit der Welt die ursprüngliche biologische Bindung des Kindes an die Mutter und auch der Mutter an die Kinder zur unlösbaren sexuellen Fixierung und zur Unfähigkeit, andere Bindungen einzugehen, gestaltet.1)  

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Im Kern der Familienbindung wirkt die Mutterbindung. Die Vorstellung von Heimat und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmässigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes im Bürgertum, wie die Familie seine "Nation im kleinen" ist. So wird verständlich, aus welchem Grunde der Nationalsozialist Goebbels als Motto zu seinen zehn Geboten im nationalsozialistischen Volkskalender 1932 folgende Worte wählte, zweifellos ohne Kenntnis der tieferen Zusammenhänge: "Die Heimat ist die Mutter Deines Lebens, vergiss das nie." Zum "Muttertag" 1933 hiess es im "Angriff":

"Muttertag. Die nationale Revolution hat alles Kleinliche weggefegt! Ideen führen wieder und führen zusammen — Familie, Gesellschaft, Volk. Die Idee des Muttertages ist dazu angetan, das zu ehren, was die deutsche Idee versinnbildlicht: Die deutsche Mutter! Nirgendwo fällt der Frau und Mutter diese Bedeutung zu. als im neuen Deutschland. Sie ist die Wahrerin eines Familienlebens, aus dem die Kräfte spriessen, die unser Volk wieder aufwärts führen sollen. Sie — die deutsche Mutter — ist die alleinige Trägerin deutschen Volksgedankens. Mit dem Begriff "Mutter" ist "Deutschsein" ewig verbunden — kann uns etwas enger zusammenführen, als der Gedanke gemeinsamer Mutterehrung?"

So unwahr diese Sätze wirtschaftlich und sozial sind, so sehr treffen sie ideologisch zu. 

1) Der "Ödipuskomplex", den Freud entdeckt hat, ist also nicht so sehr Ursache, als vielmehr Folge der gesellschaftlichen Sexualeinschränkung des Kleinkindes. Doch setzen die Eltern ganz unbewusst die Absichten der herrschenden Klasse und Kirche durch.

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Das nationale Empfinden ist demnach die direkte Portsetzung der familiären Bindung und wurzelt wie diese zuletzt in der fixierten1) Mutterbindung. Das ist nicht biologisch auszulegen. Denn diese Mutterbindung ist selbst, soweit sie sich zu familiärer und nationaler Bindung fortentwickelt, gesellschaftliches Produkt. Sie würde in der Pubertät anderen Bindungen — etwa erwachsenen Sexualbeziehungen — Platz machen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in dieser gesellschaftlich begründeten Verewigung wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des erwachsenen Menschen, erst hier wird sie zu einer reaktionären gesellschaftlichen Kraft. Wenn das Proletariat weit geringere nationale Einstellungen entwickelt als das Kleinbürgertum, so ist das seiner verschiedenen sozialen und dementsprechend lockereren familiären Daseinsweise zuzuschreiben.

Man komme jetzt nicht ängstlich mit dem Vorwurf, dass wir die Soziologie biologisieren, denn wir haben keinen Augenblick vergessen, dass diese verschiedene familiäre Daseinsweise des Proletariats selbst durch seine Stellung im Produktionsprozess des Kapitals bedingt ist. Man muss sich doch die Frage vorlegen, warum das Proletariat dem Internationalismus spezifisch zugänglich ist, das Kleinbürgertum dagegen so stark dem Nationalismus zuneigt. In der objektiven ökonomischen Lage lässt sich der unterschiedliche Faktor erst dann feststellen, wenn man die früher beschriebenen Beziehungen ihrer Ökonomie und ihres familiären Daseins einbezieht. Anders nicht.

1)  d. h, nie gelösten, unbewusst verankerten.

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Es ist nicht überflüssig zu sagen, dass das merkwürdige Sträuben mancher marxistischer Theoretiker, das familiäre Dasein als gleichwertigen, was die Verankerung des Gesellschaftssystems anlangt, sogar entscheidenden Faktor der Ideologiebildung anzusehen, auf die eigenen familiären Bindungen zurückzuführen ist. Man kann die Tatsache, dass die familiäre Bindung an die Klassengesellschaft die intensivste und affektvollste ist, nicht hoch genug einschätzen.1)

Die wesenhafte Einheit von familiärer und nationaler Ideologie lässt sich weiter verfolgen. Die Familien sind ebenso gegeneinander abgegrenzt wie die Nationen im Kapitalismus. Die Grundlagen hierfür sind in beiden Fällen letzten

1)   Wer seine eigene Bindung an Familie und Mutter nicht überwunden hat, oder sie zumindest durch Klarheit aus seinen Urteilen ausschaltet, der unterlasse es, die dialektisch-materialistische Methode auf dem Gebiete der Ideologiebildung anzuwenden. Wer diese Dinge als "Freudismus" abtun wollte, würde damit nur seinen wissenschaftlichen Kretinismus beweisen. Man soll argumentieren und nicht schwätzen, ohne Sachkenntnis zu besitzen. Freud hat den Ödipuskomplex entdeckt. Ohne diese Entdeckung wäre revolutionäre Familienpolitik unmöglich. Aber Freud ist von einer derartigen Auswertung und soziologischen Interpretation der Familienbindung ebenso weit entfernt, wie der mechanische Ökonomist vom Verständnis der Sexualität als geschichtlichen Faktors. Man weise etwaige falsche Anwendung des dialektischen Materialismus nach, aber man leugne nicht Tatsachen, die jeder klassenbewusste Arbeiter genau kannte, ehe Freud den Ödipuskomplex entdeckte. Und man erledige die nationalsozialistische Kulturfront nicht mit Schlagworten, sondern mit Wissen. Irrtümer sind möglich und korrigierbar, aber wissenschaftliche Borniertheit ist konterrevolutionär.

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Endes wirtschaftliche Motive. Die Familie des Kleinbürgers (Beamten, kleinen Angestellten usw.) steht unter dem ständigen Druck von Nahrungs- und sonstigen materiellen Sorgen. Die wirtschaftliche Expansionstendenz der kinderreichen Kleinbürgerfamilie reproduziert somit gleichzeitig die imperialistische Ideologie: "Nation braucht Raum und Nahrung". Deshalb muss der Kleinbürger der imperialistischen Ideologie besonders leicht zugänglich sein. Er vermag sich mit der personifiziert gedachten Nation voll zu identifizieren. Derart reproduziert sich der objektive staatliche Imperialismus ideologisch im subjektiven familiären Imperialismus.

In diesem Zusammenhang interessant sind Sätze von Goebbels aus der Broschüre "Die verfluchten Hakenkreuzler" (Eher-Verlag, München, S. 18 u. S. 16), die er als Antwort auf die Frage, ob der Jude ein Mensch sei, schrieb:

"Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch: <Danke schön! Er ist auch ein Mensch!>? Das ist kein Mensch, das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmeres hat der Jude unserer Mutter Deutschland (v. Ref. gesp.) angetan und tut es ihr heute noch an! Er (der Jude) hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault, unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen ... Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls ... beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den Völkern."

 

Man muss die Bedeutung der Vorstellung von der Kastration als der Strafe für sexuelle Vergehen und sexuelles Begehren kennen, man muss den sexual-psychologischen Hintergrund der Ritualmordphantasien wie des Antisemitismus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle Schuldgefühl und die sexuelle Angst des kleinbürgerlichen Menschen richtig einschätzen, um beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber unbewusst abgefassten Sätze auf das unbewusste Gemütsleben der Leser aus den Massen einwirken.

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 Hier liegt die psychologische Wurzel des Antisemitismus der Nationalsozialisten. Das sollten nur Vernebelungsaktionen sein? Gewiss, auch Vernebelung. Aber daneben übersah man leicht, dass der Faschismus ideologisch das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die schmerzhaften, aber entschiedenen Tendenzen des Bolschewismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit ist, einer Freiheit, bei deren blossen Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todesangst überkommt. 

Das heisst: mit der Herstellung der ökonomischen Freiheit durch den Kommunismus geht eine Auflösung der alten ideologischen und kulturellen sowie insbesondere sexuellen Einrichtungen einher, der der bürgerliche Mensch und auch der Proletarier, soweit er bürgerlich fühlt, nicht ohne weiteres gewachsen ist. Insbesondere die Angst vor der "sexuellen Freiheit", die sich in der Vorstellung des bürgerlichen Denkens als sexuelles Chaos und sexuelle Verlotterung darstellt, wirkt sich hemmend gegenüber der Sehnsucht nach Freiheit vom Joch der wirtschaftlichen Ausbeutung aus. Das gilt nur so lange, als eben diese Vorstellung vom sexuellen Chaos bestehen kann. Und sie kann nur bestehen infolge der Ungeklärtheit dieser so sehr entscheidenden Fragen in den Massen.

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Daher gehört die Sexualpolitik in das Zentrum der Politik überhaupt. Und je höher die Stufe des Kapitalismus, je weiter und tiefer die ideologische Verbürgerlichung des Proletariats somit gegriffen hat, desto entscheidendere Bedeutung gewinnt die revolutionäre Arbeit an der kulturellen Front, als deren Kernelement wir die sexualpolitische Arbeit erkennen.

In diesem Zusammenspiel der wirtschaftlichen und ideologischen Tatbestände stellt sich die bürgerliche Familie als erste und wesentlichste Reproduktionsstätte des kapitalistischen bzw. privatwirtschaftlichen Systems, als seine Ideologie und Struktur­fabrik dar. Der "Schutz der Familie" ist daher das erste Gebot der reaktionären Kulturpolitik. Wesentlich verbirgt sich dies ideologisch hinter der Phrase des "Schutzes des Staates, der Kultur und der Zivilisation."

In einem Wahlaufruf der NSDAP zu den Präsidentenwahlen 1932 (Adolf Hitler: "Mein Programm") hiess es:

"Die Frau ist von Natur und Schicksal die Lebensgefährtin des Mannes. Beide sind dadurch aber nicht nur Lebens-, sondern auch Arbeitsgenossen. So wie die wirtschaftliche Entwicklung der Jahrtausende die Arbeitsbereiche des Mannes veränderte, veränderte sie logisch auch die Arbeitsgebiete der Frau. Über dem Zwang zur gemeinsamen Arbeit steht über Mann und Frau noch die Pflicht, den Menschen selbst zu erhalten. In dieser edelsten Mission der Geschlechter liegen auch ihre besonderen Veranlagungen begründet, die die Vorsehung in ihrer urewigen Weisheit als unveränderlich den beiden gab. Es ist daher die höchste Aufgabe, den beiden Lebensgefährten und Arbeitsgenossen auf der Welt die Bildung der Familie zu ermöglichen. Ihre endgültige Zerstörung würde das Ende jedes höheren Menschentums bedeuten. So gross die Tätigkeitsbereiche der Frau gezogen werden können, so muss doch das letzte Ziel einer wahrhaft organischen und logischen Entwicklung immer wieder in der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste, aber wertvollste Einheit im Aufbau des ganzen Staatsgefüges. Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann. Das Kind aber adelt die Mutter."

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In dem gleichen Aufruf hiess es unter der Überschrift "Rettung des Bauernstandes heisst Rettung der deutschen Nation":

"Ich sehe weiter in der Erhaltung und Förderung eines gesunden Bauerntums den besten Schutz gegen soziale Erkrankungen sowohl als gegen das rassische Verkommen unseres Volkes."

Man darf hier an die traditionelle Familienbindung des Bauerntums keinen Augenblick vergessen, wenn man nicht fehlgehen will. Weiter:

"Ich glaube, dass ein Volk zur Erhöhung seines Widerstandes nicht nur nach vernunftmässigen Gründen leben soll, sondern dass es auch eines geistigen und religiösen Haltes bedarf. Die Vergiftung und Zersetzung des Volkskörpers durch die Erscheinungen unseres Kulturbolschewismus sind fast noch verheerender, als die Wirkung des politischen und wirtschaftlichen Kommunismus."

Als eine Partei, die sich ebenso wie der italienische Faschismus als die Vertreterin des Grossagrariertums betätigt, muss die NSDAP die Massen der Klein- und Mittelbauern gewinnen, sich in ihnen eine soziale Basis schaffen. Dabei kann sie natürlich nicht die Interessen des Grossagrariertums zur Propaganda herausstreichen, sondern sie kann nichts anderes, als an die Strukturen der Kleinbauern appellieren, wie sie durch Zusammenfallen der familiären und wirtschaftlichen Daseinsweise erzeugt wurden.

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Nur vom Standpunkt dieser Schichte des Kleinbürgertums gilt der Satz, dass Mann und Frau Arbeitgenossen sind. Das gilt nicht für das Proletariat. Es gilt auch für den Bauern nur formal, denn die Bauernfrau ist in Wirklichkeit die Magd des Bauern. Doch entscheidend ist, dass die faschistische Ideologie vom hierarchischen Aufbau des Staates in dem hierarchischen Aufbau der Bauernfamilie vorgebildet und verwirklicht ist. Die Bauernfamilie ist eine Nation im kleinen und jedes Mitglied dieser Familie ist mit dieser kleinen Nation identifiziert. Der Boden für die Aufnahme der ganz anders, nämlich in den Gesetzen des Kapitalismus begründeten grossimperialistischen Ideologie ist somit in der Bauernschaft und überall dort im Kleinbürgertum, wo wirtschaftlicher Kleinbetrieb und Familie zusammenfallen, geschaffen. Dabei fällt aber die Idealisierung der Mutterschaft auf. Wie hängt diese Idealisierung mit der politischen Sexualreaktion zusammen?

    

    (5)  Das nationalistische Selbstgefühl     

 

In der massenindividuellen Struktur des Kleinbürgers fallen nationale und familiäre Bindung zusammen. Diese Bindung wird besonders intensiviert durch einen Prozess, der ihr nicht nur parallel läuft, sondern sich vielmehr aus ihr ableitet. Der nationalistische Führer bedeutet massenpsychologisch die Verkörperung der Nation. Nur insofern dieser Führer die Nation entsprechend dem nationalen Fühlen der Massen verkörpert, entsteht auch eine persönliche Bindung an ihn.

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Sofern er in den Massenindividuen die historisch ausschlaggebenden familiären Gefühlsbindungen zu erwecken versteht, ist er gleichzeitig eine Vatergestalt, d.h. er konzentriert auf sich alle die affektiven Einstellungen, die seinerzeit dem strengen, aber auch schützenden und repräsentativen Vater (repräsentativ zumindest in der Vorstellung des Kindes) galten. Man hörte oft von national­sozialistischen Parteigängern, mit denen man über die Unhaltbarkeit des so widerspruchsvollen Programms der NSDAP sprach, Hitler verstünde das alles so viel besser, er würde schon alles schaffen. Hier kommt die kindliche Schutzeinstellung zum Vater deutlich zum Ausdruck. 

Noch wesentlicher ist aber die Identifizierung der Massenindividuen mit dem Führer. Sie ist von entscheidender Bedeutung bei der Taktik der revolutionären Partei, die die Loslösung der Anhänger einer anderen Partei von ihren Führern zum Ziele hat. Je hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung in Wirklichkeit ist, desto stärker prägt sich dann die Identifizierung mit dem Führer aus, desto mehr verkleidet sich das kindliche Anlehnungsbedürfnis in die Form des Sich-mit-dem-Führer-eins-Fühlens. Diese Identifizierungsneigung des kleinbürgerlichen Menschen ist die psychologische Grundlage seines nationalen Narzissmus, d.h. seines der "Grosse der Nation" entliehenen Selbstgefühls. 

Der Kleinbürger entdeckt sich selbst im Führer, im autoritären Staat, er fühlt sich aufgrund dieser Identifizierung als Verteidiger des "Volkstums", der "Nation", was nicht hindert, dass er gleichzeitig, ebenfalls aufgrund dieser Identifizierung, die Masse verachtet und sich ihr individuell gegenüberstellt. 

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Seine materielle und sexuelle Elendslage erstickt psychologisch in der ihn erhöhenden Idee des Herrentums und genialen Führertums, so sehr, dass er in geeigneten Augenblicken sein völliges Herabsinken und Herab­gedrückt­werden zur bedeutungslosen, kritiklosen Gefolgschaft nicht wahrnimmt. Im Gegensatze dazu ist der klassen­bewusste Arbeiter, also derjenige, der die kleinbürgerliche Struktur in sich ausser Funktion gesetzt oder durch Schulung und anderes vertilgt hat, mit seiner Klasse statt mit dem Führer, mit der internationalen werktätigen Masse statt mit der nationalen Heimat identifiziert. Er fühlt sich selbst als Führer, nicht aufgrund einer Identifizierung, sondern aufgrund dieses Bewusstseins, der notwendigerweise aufsteigenden Klasse anzugehören. Welche psychologischen Kräfte entscheiden dabei? Das ist nicht schwer zu beantworten. Die Affekte, die diesem so verschiedenen massenpsychologischen Typ zugrundeliegen, sind die gleichen wie die bei Nationalisten. Nur der Inhalt der Gefühlserregung ist verschieden. Der Drang zur Identifikation ist der gleiche, aber ihr Objekt sind der Klassengenosse anstelle des Führers, die eigene Klasse anstelle der herrschenden, die unterdrückten Völker der Erde anstelle der Familie. 

Hier steht Kollektivismus gegen Individualismus, was keineswegs bedeutet, dass der Arbeiter dadurch aufhört, sein Persön­lichkeits­bewusstsein zu nähren, wie ja auch der individualistische Kleinbürger in der Krise vom "Dienst an der Gemeinschaft", von "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" zu schwärmen beginnt.

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 Aber der verschiedene Inhalt dieses Persönlichkeitsbewusstseins macht es möglich, dass das kollektivistische Fühlen beim Arbeiter nicht in Gegensatz zum individualistischen tritt, sondern sich gerade aus diesem Kollektivbewusstsein ableitet. Es ist also falsch, wenn in manchen kommunistischen Theorien die Meinung zum Ausdruck kommt, als ob das kollektivistische Fühlen mit dem individualistischen in absolutem Gegensatz stünde. Das ist auch von Marx nie derart verstanden worden.

Wir müssen nun noch fragen, welcher Tatbestand der Energie der Identifizierung und Bindung eine so gänzlich verschiedene Richtung beim klassenbewussten Arbeiter gibt. Klassenmässig, im grossen Masstabe betrachtet, ist es in erster Linie die kollektive Produktionsweise in der Fabrik, die in krassem Gegensatz steht zur individuellen Arbeitsweise beim Bauer oder kleinen Kaufmann. Aber, wie immer, müssen wir auch hier fragen, mit welchen Mitteln sich diese verschiedene Daseinsweise verschieden umsetzt. Die soziale Lage ist ja nur die äussere Bedingung, allerdings die zuerst entscheidende, die den ideologischen Prozess im Massenindividuum bestimmt. Die Triebkräfte sind zu erforschen, mit deren Hilfe die verschiedenen Inhalte der politischen Welt zu ausschliesslicher Herrschaft im Gefühlsleben gelangen. Da steht nun zunächst fest: Der Hunger ist es nicht, er ist zumindest nicht der ausschlaggebende Faktor, sonst wäre die internationale Revolution längst da. So sehr diese Feststellung althergebrachte vulgäre Vorstellungen zu stürzen geeignet ist, an ihr ist nicht zu rütteln.

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Wenn soziologisch bornierte Psychoanalytiker die Revolution aus der infantilen Revolte gegen den Vater erklären, so haben sie den Revolutionär aus intellektuellen Kreisen im Auge, bei dem dieser Faktor in der Tat entscheidend ist. Das trifft aber nicht für die Arbeiterklasse zu. Die Unterdrückung der Kinder durch die Väter ist in der Arbeiterschaft nicht geringer, ja manchmal brutaler, als im Kleinbürgertum. Das kommt also nicht in Frage. Wollen wir diese Frage beantworten, so müssen wir nach dem spezifisch Unterscheidenden suchen, und das finden wir in der Produktionsweise dieser Schichten und in der von ihr abhängigen Einstellung zur Sexualität. 

Um keinem Missverständnis zu verfallen: Die Sexualität wird auch im Proletariat von den Eltern unterdrückt. Aber die Widersprüche, denen die Arbeiterkinder ausgesetzt sind, sind im Kleinbürgertum nicht vorhanden. Im Kleinbürgertum sehen wir nur Unterdrückung des Geschlechtslebens. Was in dieser Schichte als der Moral widersprechende Sexualbetätigung zum Vorschein kommt, ist reiner Ausdruck des Widerspruches zwischen sexuellem Drang und sexueller Hemmung. Beim Proletariat ist das anders. Neben der kleinbürgerlichen Ideologie enthält es hier mehr, dort weniger ausgesprochen seine eigenen sexuellen Anschauungen, die jenen gerade entgegengesetzt sind. Dazu kommt der Widerspruch aus der Wohnungsweise und dem kollektivistischen Dasein im Betrieb. Das alles wirkt der kleinbürgerlichen Sexualideologie entgegen.

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Der Durchschnittstypus des Proletariers unterscheidet sich demnach vom Durchschnittstyp des Kleinbürgers durch seine offene und selbstverständliche Haltung zur Sexualfrage, mag er ausserdem noch so unklar und verbürgerlicht sein. Er erweist sich immer sexualökonomischer Anschauung als unvergleichlich zugänglicher, als der typische Kleinbürger. Und das, was ihn zugänglicher macht, ist das Fehlen gerade derjenigen Haltungen, die wir in der nationalsozialistischen und kirchlichen Ideologie zentral finden: der Identifizierung mit der Staatsmacht, dem "obersten Führer", der Nation. Auch dies beweist, dass die Kernelemente der nationalsozialistischen Ideologie sexualökonomischen Ursprungs sind. Beide, sowohl nationalistische Ideologie, als auch die Art der Sexualökonomie, sind natürlich letzten Endes durch die verschiedene Klassenlage bedingt.

Dass das Kleinbauerntum infolge seiner individualistischen Wirtschaft und der so grossen Abhängigkeit von der familiären Isolierung zum Bewusstsein seiner Klassenlage so schwer gelangen kann, dagegen der Ideologie der politischen Reaktion so leicht zugänglich ist, dass dies der Grund der Schere zwischen sozialer Lage und Ideologie ist, haben wir bereits ausgeführt. Gekennzeichnet durch strengstes Patriarchat und dementsprechende Moral entwickelt es aber doch proletarische — wenn auch total verzerrte — Formen in seinem Sexualleben. Wie im Proletariat — im Gegensatz zum Kleinbürgertum — beginnt auch in der Bauernschaft die Jugend früh mit dem Geschlechtsverkehr; sie ist aber infolge der strengen patriar-

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chalischen Erziehung sehr gestört oder aber brutal, das Geschlechtsleben spielt sich heimlich ab, die Geschlechtskälte der Mädchen ist Regel, Sexualmorde und brutale Eifersucht sowie Knechtung der Frauen sind typische bäuerliche Sexual­erscheinungen. Die Hysterie wütet nirgends so sehr wie auf dem Lande. Die Ehe ist das wirtschaftlich streng diktierte Endziel der Erziehung.

In der Industriearbeiterschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten ein ideologischer Prozess abgespielt, den man in der sogenannten Arbeiteraristokratie in Reinkultur sehen kann, der aber auch die durchschnittliche Industriearbeiterschaft nicht verschont hat. Es handelt sich um die sogenannte Verbürgerlichung des Proletariats in der Epoche der bürgerlichen Demokratie. Um zu begreifen, auf welchem Wege der Faschismus in die Arbeiterschaft, wenn auch sehr spät, gewöhnlich dann, wenn das Kleinbürgertum bereits die Massenbasis gebildet hat, eindringen kann, muss man den ideologischen Prozess im Proletariat im Übergang von der bürgerlichen Demokratie zu den vorbereitenden Phasen der Diktatur der Notverordnungen, der Ausschaltung des Parlaments bis zur offenen faschistischen Diktatur verfolgen.

  

   (6)  IDEOLOGISCHE VERBÜRGERLICHUNG DES PROLETARIATS   

 

Der Faschismus dringt in die Arbeiterkreise von zwei Seiten ein: durch das sogenannte "Lumpenproletariat" (ein Ausdruck, gegen den sich alles sträubt) mithilfe direkter materieller Korrumpierung und durch die "Arbeiteraristokratie" sowohl mithilfe von materieller Korruption, als auch ideologischer Beeinflussung. Wenn von Irreführung des Proletariats gesprochen wird, so bleibt doch eine Reihe von Fragen ungelöst. Es ist zwar richtig, der Faschismus verspricht in seiner politischen Skrupellosigkeit jedem jedes: so zum Beispiel hiess es in einem Artikel von Dr. Jarmer "Kapitalismus" ("Angriff", 24.-9.-31.) :

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"Hugenberg hat sich auf dem deutschnationalen Parteitag in Stettin mit erfreulicher Deutlichkeit gegen den internationalen Kapitalismus gewandt. Er hat aber gleichzeitig betont, dass ein nationaler Kapitalismus notwendig wäre."

"Damit hat er zugleich erneut die Trennungslinie zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten gezogen: denn diese sind sich darüber klar, dass die jetzt auf der ganzen Welt zusammenbrechende kapitalistische Wirtschaftsordnung durch eine andere ersetzt werden muss, weil selbst beim nationalen Kapitalismus keine Gerechtigkeit herrschen kann."

 

Das klingt fast kommunistisch. Hier appelliert der faschistische Propagandist direkt und mit bewusst betrügerischer Absicht an das revolutionäre Klassenbewusstsein des Industriearbeiters. Die grosse Frage ist aber, warum die nationalsozialistische Industriearbeiterschaft nicht bald erkennt, dass der Faschismus jedem jedes verspricht. Es ist ebenso bekannt geworden, dass Hitler mit Grossindustriellen verhandelte, von ihnen Geld bekam und Streikverbot versprach. 

Es muss an der psychologischen Struktur des durchschnittlichen Arbeiters liegen, dass sich ein solcher Widerspruch in ihm nicht auswirkt, trotz intensiver kommunistischer Aufdeckungsarbeit.

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Im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Knickerbocker sagte Hitler zur Frage der Anerkennung der ausländischen Privatschulden:

"Ich bin überzeugt davon, dass die internationalen Bankiers bald einsehen werden, dass Deutschland unter einer national­sozialistischen Regierung ein sicherer Anlageort ist, dass ein Zinsfuss von rund 3% für Kredite bereitwilligst zugestanden werden wird."1

Wenn die revolutionäre Propaganda die kardinale Aufgabe hat, das Prolatariat zu "entnebeln", so kann das nicht einfach dadurch geschehen, dass man an sein notabene unentwickeltes bzw. unreines Klassenbewusstsein appelliert, auch nicht allein dadurch, dass man ihm die objektive ökonomische und politische Lage ständig vor Augen führt, gewiss nicht allein dadurch, dass man den an ihm geübten Betrug ständig entlarvt.

Die allererste Aufgabe der revolutionären Propaganda ist die verständnisvollste Rücksichtnahme auf die Widersprüche im Arbeiter, auf die Tatsache, dass nicht etwa ein klares Klassenbewusstsein überdeckt oder vernebelt ist, sondern dass die das Klassenbewusstsein bildenden Elemente der psychischen Struktur teils unentwickelt, teil durchsetzt mit gegenteiligen kleinbürgerlichen Strukturbestandteilen sind. Das Herausdestillieren des Klassenbewusstseins der breiten Massen ist wohl die Grundaufgabe der Propaganda.

1) "Deutschland so oder so", S. 211.  #  wikipedia  Notabene  nota bene  merke wohl; übrigens

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In Zeiten der "ruhigen" bürgerlichen Demokratie stehen dem beschäftigten Industriearbeiter zwei grundsätzliche Möglichkeiten offen: die Identifizierung mit dem ideologisch gesehen über ihm stehenden Kleinbürgertum oder die Identifizierung mit seiner Klasse, die schon im Kapitalismus eigene Lebensformen entwickelt, welche konträr sind zu den bürgerlichen. Das erste bedeutet den Kleinbürger beneiden, ihn nachahmen und, wenn die materielle Möglichkeit sich ergibt, seine Lebensgewohnheiten ganz aufnehmen. Das zweite bedeutet, diese Ideologien und Lebensgewohnheiten des Kleinbürgers ablehnen, sich von ihm abgrenzen, ihn verneinen und die eigene Lebensart betonen und zur Schau tragen. Infolge der gleichzeitig einwirkenden gesellschaftlichen und der klassenmäßigen Daseinsweise sind beide Möglichkeiten gleich stark, jedenfalls stehen beide offen.

Die revolutionäre Bewegung hat auch die Bedeutung der dem Anscheine nach nebensächlichen kleinen Gewohnheiten des Alltags nicht richtig eingeschätzt, ja sehr oft sie in falscher Weise ausgenützt. Das kleinbürgerliche Schlafzimmer, das sich der Prolet anschafft, sobald er Möglichkeiten dazu hat, auch wenn er sonst klassenbewusst ist, die dazugehörige Unterdrückung der Frau, auch wenn er Kommunist ist, die "anständige" Kleidung am Sonntag, der kleinbürgerliche Tanz und tausend andere "Kleinigkeiten" haben bei chronischer Wirkung unvergleichlich mehr konterrevolutionären Einfluss, als tausende von Versammlungsreden und Flugzetteln gutmachen können. 

Das kleinbürgerliche Leben wirkt unausgesetzt, dringt in jede Ritze des Alltags ein, die Fabriksarbeit und der Flugzettel wirken dagegen nur stundenweise. Es ist daher ein schwerer Fehler, wenn man den kleinbürgerlichen Instinkten der Arbeiterschaft Rechnung trägt, indem man, "um an die Massen heranzukommen", kleinbürgerliche Feste veranstaltet, ohne gleichzeitig das Kleinbürgerliche außer Funktion zu setzen und die keimenden proletarischen Lebensformen mit allen Mitteln hervorzutreiben. Mit allen Mitteln der Propaganda. 

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In dem "Abendkleid", das sich eine Arbeiterfrau zu einem solchen .Fest" anlegt, liegt mehr Wahrheit über die Psychologie des Arbeiters im Kapitalismus als in hundert Artikeln. Das Abendkleid oder das familiäre Biertrinken sind ja nur äusserer Ausdruck eines Vorganges in dem betreffenden Arbeiter, ein Zeichen dafür, dass die Anlage zum Empfang sozialdemokratischer oder nationalsozialistischer Propaganda bereits vorhanden ist. Wenn dann der Faschist noch dazu Abschaffung des Proletariats verspricht und damit Erfolg hat, so hat in 90 von 100 Fällen nicht sein Wirtschaftsprogramm, sondern das Abendkleid gewirkt. Wir müssen mehr, viel mehr, auf diese Dinge des Alltagslebens achten. An ihnen formiert sich das Klassenbewusstsein oder das Gegenteil konkret, nicht an den Phrasen und Worten, die nur augenblickliche Begeisterung wecken. Hier wartet wichtige und fruchtbare Arbeit. Die revolutionäre Massenarbeit in Deutschland beschränkte sich fast ausschliesslich auf die Propaganda gegen den Hunger, Wie es sich zeigte, war das eine zu schmale Basis, wenn auch das wichtigste Argument. Das Leben der Massenindividuen spielt sich in tausendfältigen Dingen hinter der Kulisse ab. Der jugendliche Arbeiter etwa hat tausend Sorgen sexueller und kultureller Natur, die ihn beherrschen, sobald er seinen Hunger nur ein wenig gestillt hat.

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Der Kampf gegen Hunger steht in erster Front, aber er darf nicht allein dastehen, die Kulissenvorgänge des menschlichen Lebens müssen in das grellste Licht der Bühne des Affentheaters, in dem wir Zuschauer und Mitwirkende gleichzeitig sind, energisch, ohne Rückhalt und bedenkenlos gerückt werden.

Es würde sich zeigen, dass das Proletariat schon im Kapitalismus unendlich schöpferisch wäre in den Versuchen, seine Lebensformen und Anschauungs­weisen zu demonstrieren. Ein Eindringen der Politik in die feinsten Ritzen des Alltags würde jene Affekte und Gefühle in die kleinbürgerlich durchseuchten Massen tragen, die den trockenen politischen Tatbeständen unüberwindlichen Schwung verleihen würden. Eine detaillierte, konkrete, sachgemäße Durcharbeitung dieser Fragen ist unerlässlich. Sie wird den Sieg der Revolution sichern und beschleunigen.

Man komme nicht mit dem öden Einwand, solche Vorschläge seien nur Mittel, Illusionen zu wecken, als ob sich der Mensch im Kapitalismus verändern könnte. Dieser Kampf um Hervorkehrung aller Ansätze proletarischer Lebensart bedeutet nicht Sich-bequem-machen im Kapitalismus, sondern kämpferische Abgrenzung gegen das Bürgerliche, bedeutet kämpferische Bejahung der Keime proletarischer Lebenskultur zu dem Zweck, dass der Scham, Proletarier zu sein, entgegengewirkt werde. Denn so lange im Arbeiter das kleinbürgerliche Element gegenüber dem klassenmäßigen überwiegt, wird er auch zum revolutionären Bekenntnis und dementsprechenden Verhalten schwer zu haben sein. Auf diese massenpsychologische Arbeit und Propaganda kann auch noch aus einem anderen Grunde nicht verzichtet werden.

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Die proletarische Scham, die das genaue Gegenteil des proletarischen Selbstbewusstseins und ein Kernelement der Neigung zur Imitation des Kleinbürgers ist, bildet auch diejenige massenpsychologische Grundlage, auf die sich der Faschismus stützt, sobald er in die Arbeiterschaft einzudringen beginnt. Der Faschismus verspricht Abschaffung der Klassen, das heißt Abschaffung des Proletarierseins und dadurch klingt er an die kleinbürgerlichen Einstellungen im Arbeiter an. Sofern Proletarier aus dem Dorfe der Stadt zugewandert sind, brachten sie noch frische bäuerlich-familiäre Ideologie mit, die, wie bereits gezeigt wurde, den besten Nährboden für die imperialistisch-nationalistische Ideologie darstellt. Dazu kommt noch ein ideologischer Prozess in der Arbeiterbewegung, dem bisher bei der Beurteilung der Chancen der revolutionären Bewegung in den Ländern mit niederer und solchen mit hoher industrieller Entwicklung allzu wenig Beachtung geschenkt wurde.

Als Kautsky noch nicht zum wütenden Hasser der Revolution herabgesunken war, stellte er fest, dass der Arbeiter im hoch­industriellen England politisch tiefer steht, als der Arbeiter im industriell niedrigen Russland (Soziale Revolution, 2. Aufl. S. 59-60). 

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Die politischen Ereignisse der letzten 15 bis 20 Jahre in den verschiedenen Ländern der Welt lassen keinen Zweifel darüber, dass in den Ländern mit niederer industrieller Entwicklung sich revolutionäre Erhebungen leichter ergaben, etwa in China und Indien, als in England, Amerika und Deutschland. Und dies trotz einer geschulteren, von Klassenbewusstsein erfüllteren, organisierteren, auf alte Traditionen zurückgreifenden Arbeiterbewegung in den zuletzt genannten Ländern. 

Zieht man die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung ab, die selbst ein krankhaftes Symptom ist, das erst aus der Geschichte zu erklären wäre, so ergibt sich die Frage nach der ausserordentlich starken Verwurzelung der Sozialdemokratie und des Trade­unionismus in den westlichen Ländern. Massenpsychologisch ist die Sozialdemokratie basiert auf den kleinbürgerlichen Strukturen ihrer Anhänger. Zu erklären bleibt historisch also die Wandlung, die das Proletariat im Hochkapitalismus durchmacht, derart durchmacht, dass die sozialdemokratische Ideologie trotz des Fiaskos der sozial­demokratischen Politik, trotz jahrzehntelangen, wiederholten und nachgewiesenen Irreführens zunächst nicht zum Wanken zu bringen war. Wie beim Faschismus liegt auch hier das Problem nicht nur und nicht so sehr an der Politik der Parteiführung, als an der massen­psychologischen Basis in der Arbeiterschaft. Auf keinen Fall kann hier auf einmal eine detaillierte Analyse dieser Beziehungen gegeben werden. Dazu fehlen noch alle Voraussetzungen.

Ich will nur auf einige, wie mir scheint, sehr bedeutsame Tatbestände hinweisen, die wahrscheinlich dem Politiker bei genauer Durchforschung manches Rätsel lösen werden.

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Und diese Tatbestände sind die:

Im Frühkapitalismus besteht neben der scharfen ökonomischen Grenze zwischen Bourgeoisie und Proletariat eine ebenso scharfe ideologische, insbesondere moralische Grenze. Der Mangel jeder Art Sozialpolitik, die entnervende sechzehn-, achtzehn- und mehrstündige Arbeit, das niedrige Lebensniveau der Industriearbeiterschaft, wie es klassisch in Engels "Lage der arbeitenden Klasse in England" geschildert ist, lassen keine ideologische Angleichung des Proletariats an die Bourgeoisie aufkommen. Die bürgerlichen Strukturen sind kaum angelegt, es sei denn in Form von demütiger Ergebenheit in das Schicksal. 

Die massenpsychologische Stimmung des Proletariats inklusive der Bauernschaft ist durch eine indifferente Stumpfheit ausgezeichnet. Da aber bürgerliches Denken fehlt, hindert diese Stumpfheit nicht, dass revolutionäre Empfindungen bei entsprechenden Anlässen wie unvermittelt hervorbrechen und sich zu einer unerwarteten Intensität und Geschlossenheit entwickeln können. Im Spätkapitalismus hingegen ist es anders. Hat die organisierte Arbeiter­bewegung einmal sozialpolitische Errungenschaften gebracht, wie beschränkte Arbeitszeit, Wahlrecht, Sozial­versicherung, so wirkt sich dies zwar einerseits in einer klassenmässigen Erstarkung aus, gleichzeitig aber setzt auch ein gegenteiliger Prozess ein: mit der Hebung des Lebensstandards die Angleichung an die Kleinbourgeoisie, mit der Entwicklung des proletarischen Solidaritätsgefühls der "Blick nach oben". In Zeiten der Prosperität intensiviert sich diese Verbürgerlichung, um dann, wenn die Krise hereinbricht, sich nachträglich im Sinne einer schweren Behinderung der Weiterentfaltung des klassenmässigen Fühlens zum revolutionären Bewusstsein auszuwirken.

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Die rein politisch unverständliche Stärke der Sozialdemokratie in den Krisenjahren ist der vollendete Ausdruck dieser bürgerlichen Durchseuchung des Proletariats. Es kommt nun darauf an, sie auch in ihren Grundelementen zu begreifen. Hier ragen zwei Tatbestände hervor: Die Führerbindung, d. h. die Unerschütterlichkeit des Glaubens an die Unfehlbarkeit des politischen Führers1) (trotz aller gleichzeitig bestehenden, jedoch nicht zur Aktion durchdringender Kritik) und die sexualmoralische Angleichung an die Kleinbourgeoisie. Diese Verbürgerlichung wird von der Grossbourgeoisie überall energisch gefördert.

1)  Im Sommer 1932 sprach ich nach einer Versammlung in Leipzig mit einigen sozialdemokratischen Arbeitern, die der Versammlung beigewohnt hatten, über die politische Situation. Sie gaben allen Argumenten gegen den von der Sozialdemokratie propagierten demokratischen Weg zum Sozialismus Recht und unterschieden sich auch sonst kaum von kommunistisch gesinnten. Ich fragte den einen, warum sie nicht die Konsequenzen zögen und sich von ihren Führern lösten. Die Antwort verblüffte mich, so sehr stand sie im Widerspruch zur bisher geäusserten Meinung: "unsere Führer werden ja doch wissen, was sie tun". Hier war der Widerspruch, in dem der sozialdemokratische Arbeiter steckt, fast handgreiflich zu fassen: Bindung an den Führer, die die gleichzeitig bestehende Kritik seiner Politik nicht zur Aktion kommen lässt. Man begriff besser den schweren Fehler, den man beging, wenn man den sozialdemokratischen Arbeiter durch Beschimpfen seines Führers zu gewinnen versuchte. Da er mit dem Führer identifiziert war, konnte er dadurch nur abgestoßen werden. 

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Hatte sie in ihren Anfängen den Knüppel buchstäblich geschwungen, so hält sie ihn jetzt — wo der Faschismus noch nicht den Sieg errang — in der Reserve, bringt ihn nur dem klassenbewussten Arbeiter gegenüber zur Anwendung; für die Masse der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hat sie dagegen ein gefährlicheres Mittel: die kleinbürgerliche Ideologie auf allen Gebieten.

Gelangt nun der sozialdemokratische Arbeiter in die Krise, die ihn zum Kuli degradiert, so leidet die Entwicklung seines Klassen­bewusstseins unter der Verbürgerlichung. Er bleibt entweder trotz aller Kritik und Auflehnung im Lager der Sozial­demokratie, oder er geht, unentschlossen und schwankend infolge der schweren Widersprüche von revolutionärer und kleinbürgerlicher Gesinnung, enttäuscht von seiner Führung zur NSDAP, dort besseren Ersatz suchend, der Linie des geringsten Widerstandes folgend. Es liegt dann nur mehr an der richtigen oder falschen Taktik der revolutionären Partei, ob er diese seine Neigung aufgibt und zur vollen Bewusstheit seiner wirklichen Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess kommt. Die kommunistische Behauptung, dass die sozialdemokratische Politik den Faschismus in den Sattel hebe, trifft also nicht nur politisch, sondern, was wesentlich ist, auch massenpsychologisch zu. Enttäuschung an der Sozialdemokratie bei gleichzeitig wirkendem Widerspruch zwischen Verelendung und bürgerlichem Denken muss ins Lager des Faschismus führen, wenn die revolutionäre Partei schwere Fehler begeht.

So begann etwa in England nach dem Fiasko der Politik der Labour-Party 1930-31 eine Faschisierung der Arbeiterschaft, die dann bei den Wahlen 1931 statt zum Kommunismus zur Rechten abschwenkte. Auch das demokratische Skandinavien ist von solcher Entwicklung aufs schwerste bedroht.

Wenn Rosa Luxemburg die Auffassung vertrat, dass revolutionärer Kampf mit "Kulis" nicht möglich sei (Ges. Werke, Bd. 4, S.647), so fragt sich, was für ein Kuli gemeint ist: der Kuli vor der Verbürgerlichung oder der nach erfolgter Verbürgerlichung.  

Vorher besteht eine schwer zu durchbrechende Stumpfheit, aber auch eine grosse Fähigkeit zu revolutionären Aktionen; nach der Verbürgerlichung haben wir einen enttäuschten Kuli vor uns. Wird er nicht schwerer zur Revolution zu haben sein? Wie lange kann der Faschismus seine Enttäuschung an der Sozialdemokratie plus seiner "Rebellion gegen das System" für seine eigenen Zwecke ausnützen? 

So wenig wir diese folgenschweren Fragen jetzt entscheiden können, so sicher ist, dass die internationale revolutionäre Strategie dies berücksichtigen muss, wenn sie die Hauptangriffspunkte bestimmen will.

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