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3.  Die Rassetheorie 

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1  Ihr Inhalt 

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Die theoretische Achse des deutschen Faschismus ist seine Rassetheorie. Das Wirtschaftsprogramm der sogenannten 25 Punkte erscheint in der faschist­ischen Ideologie nur als ein Mittel zur Höherzüchtung der germanischen Rasse und ihres Schutzes vor Rassenvermischung, die nach Ansicht der National­sozialisten immer den Niedergang der "höheren Rasse" bedeute. 

Mehr als das, auch der Niedergang einer Kultur sei auf Rassen­vermischung zurückzuführen. Die "Reinhaltung der Rasse und des Blutes" sei daher die vornehmste Aufgabe einer Nation, zu deren Erfüllung man jedes Opfer bringen müsse. Diese Theorie wird gegenwärtig in Deutschland in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt und wirkt sich solcherweise geschichtlich aus.

Die Rassetheorie geht von der Voraussetzung aus, dass als "ehernes Gesetz" in der Natur die ausschließliche Paarung jedes Tieres mit seiner eigenen Art gelte. Nur außerordentliche Umstände wie etwa Gefangenschaft vermögen dieses Gesetz zu durch­brechen und zur Rassenmischung zu führen. Die Natur räche sich aber und stemme sich mit allen Mitteln dagegen, entweder durch Unfruchtbarmachung der Bastarde oder durch Einschränkung der Fruchtbarkeit der späteren Nachkommen.

Bei jeder Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener "Höhe" müsse die Nachkommenschaft ein Mittelding darstellen. Die Natur erstrebe aber eine Höher­züchtung des Lebens, daher widerspreche die Bastardierung dem Willen der Natur. Die Auslese der höheren Art erfolge auch im Kampf ums tägliche Brot, bei dem die schwächeren, also rassisch weniger wertigen Wesen untergehen. Und das läge folgerichtig im "Willen der Natur", denn jede Weiterbildung und Höherzüchtung würde aufhören, wenn die Schwächeren, die zahlenmäßig in der Mehrheit sind, die zahlenmäßig schwächeren hochwertigen Arten verdrängen würden. Die Natur unterwerfe also die Schwächeren schwereren Lebensbedingungen, die ihre Zahl beschränken, den Rest aber lasse sie nicht wahllos zur Vermehrung zu, sondern treffe eine rücksichtslose Wahl nach Kraft und Gesundheit.

Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften übertragen. Die geschichtliche Erfahrung lehre, dass bei "Blutsvermengung" des Ariers mit "niedrigeren" Völkern als Ergebnis immer der Niedergang des Kulturträgers herauskäme. Die Folge wären Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse und körperlicher und geistiger Rückgang, damit aber auch der Beginn eines sicher fortschreitenden "Siechtums".

Der nordamerikanische Kontinent würde, heißt es bei Hitler, so lange stark bleiben, "solange nicht auch er der Blutschande zum Opfer fällt" (S. 314), das heisst, sich mit den nichtgermanischen Völkerschaften vermischt. "Eine solche Entwicklung herbeiführen, heisst denn aber doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers." (S. 314).

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Nach Hitler ist die Menschheit einzuteilen in kulturbegründende, kulturtragende und kulturzerstörende Rassen. Als Kulturträger komme nur der Arier in Betracht, denn von ihm stammen die "Fundamente und Mauern der menschlichen Schöpfungen". Die asiatischen Völkerschaften wie etwa die Japaner und Chinesen hätten als Kulturträger nur arische Kulturen übernommen und in eigene Formen gebracht. Die Juden dagegen seien eine kulturzerstörende Rasse. Für die Bildung hoher Kultur sei das Vorhandensein "niederer Menschen" erste Voraussetzung gewesen. 

Die erste Kultur der Menschen hätte auf dieser Verwendung niederer Menschenrassen gefusst. Zuerst hätte der Besiegte und erst viel später das Pferd den Pflug gezogen. Der Arier hatte sich als Eroberer die niederen Massen unterworfen und dann deren Tätigkeit unter seinem Befehl, nach seinem Wollen und für seine Ziele geregelt. Sobald sich aber die Unterworfenen die Sprache und Eigenart der "Herren" anzueignen begannen und die scharfe Schranke zwischen Herren und Knecht fiel, gab der Arier die Reinheit seines Blutes auf und verlor dafür "den Aufenthalt im Paradies". Dadurch verlor er auch seine kulturelle Fähigkeit.

"Die Blutsvermischung und die dadurch bedingte Senkung des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens alter Kulturen; denn die Menschen gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft die nur dem reinen Blute zu eigen ist." (Kampf, S 324).

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Eine sachgemässige Widerlegung dieser Grundauffassung vom fachlichen Standpunkt kommt hier nicht in Frage. Diese Auffassung entlehnt ein Argument der Darwinschen Hypothese der natürlichen Zuchtwahl, die in manchen Elementen ebenso reaktionär ist, wie der Darwinsche Nachweis der Abstammung der Arten aus niederen Lebewesen revolutionär war. Sie bildet die theoretische Verschleierung der imperialistischen Funktion der faschistischen Ideologie. Denn wenn die Arier das einzige kulturschöpfende Volk sind, so dürfen sie kraft göttlicher Berufung Ausspruch auf die Weltherrschaft erheben. Und eine der kardinalen Forderungen Hitlers ist in der Tat die Erweiterung der Grenzen des deutschen Reiches insbesondere "nach Osten", d.h. auf sowjetrussischem Gebiet. Die Verherrlichung des imperialistischen Krieges liegt demnach völlig im Rahmen dieser Ideologie:

"Das Ziel, für das im Verlaufe des Krieges aber gekämpft wurde, war das erhebendste und gewaltigste, das sich für Menschen denken lässt; es war die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes, die Sicherheit der Ernährung für die Zukunft und — die Ehre der Nation." ( "Mein Kampf" S. 194)

"Für was wir zu kämpfen haben ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf dass unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag." (S. 234).

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Uns interessiert hier ausschließlich die subjektive Herkunft und Formierung dieser objektiv den Interessen des Finanzkapitals gleichgerichteten Ideologien, vor allem das affektive Übersehen von Widersprüchen und Widersinnigkeiten innerhalb der Rassetheorie. So übersehen die Rassetheoretiker, die sich auf ein biologisches Gesetz berufen, dass die Rassezüchtung an Tieren ein Kunstprodukt ist. Es kommt nicht in Frage, ob Hund und Katze, sondern ob Schäferhund und Windhund eine "instinktive Abneigung" gegen Vermischung haben.

Die Rassetheoretiker, die so alt sind wie der Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen bei Völkerschaften, wo die Vermischung infolge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung gewinnt. Wir gehen hier nicht auf die andere Unsinnigkeit ein, als ob die rassische Beschränkung und nicht das Gegenteil, die promiskue Paarung, in der Natur das Gegebene wäre. Es kommt bei der vorliegenden Untersuchung der Rassetheorie, die statt von Tatsachen zu Wertungen von den Wertungen zu den Tatsachen gelangt, nicht auf ihren rationalen Gehalt an. Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten sondern mit gefühlsmässigen Wertungen operiert. Es ist also für die politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu wollen, dass die Neger und Italiener nicht weniger "rassisch" sind als die Germanen. 

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Er fühlt sich als der "Höhere", und damit ist Schluss. Es ist nur möglich, die Rassetheorie dadurch zu entkräften, dass man über die sachliche Widerlegung hinaus ihre verschleierten Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im Wesentlichen zwei: die objektive Funktion, den imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen, und die subjektive Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, unbewusster Strömungen im Fühlen des nationalistischen Menschen zu sein und bestimmte psychische Haltungen zu verdecken. Nur die letzte Funktion soll hier erörtert werden. Uns interessiert hier ganz besonders, dass Hitler von "Blutschande" spricht, wenn ein Arier mit einem Nichtarier sich vermischt, während man unter Blutschande üblicherweise gerade den Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten bezeichnet. 

Woher diese Dummheiten einer "Theorie", die sich anmaßt, die Grundlage einer neuen Welt, eines "dritten Reiches" zu werden? Wenn wir uns mit der Vorstellung vertraut machen, dass auch die irrationalen, affektiven Grundlagen einer solchen Hypothese letzten Endes bestimmten realen Seinsbedingungen ihr Dasein verdanken; wenn wir uns von der Idee freimachen, dass die Auffindung solcher auf rationaler Basis entstandener irrationaler Quellen von Weltanschauungen Verschiebung der Frage in die Metaphysik bedeuten, so eröffnen wir den Weg zur Quelle der Metaphysik selbst, erfassen wir nicht nur ihre historischen Entstehungsbedingungen, sondern auch ihre materielle Substanz. Die Ergebnisse mögen selbst für sich sprechen.

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   2  Objektive und subjektive Funktion der Ideologie    

 

Den häufigsten Anlass zu Mißverständnissen über die Beziehungen einer Ideologie zu ihrer historischen Funktion bietet die Nichtunterscheidung ihrer objektiven und ihrer subjektiven Funktion. Die Anschauungen der herrschenden Klasse sind zunächst nur zu verstehen aus der ökonomischen Basis, der sie entstammen. So haben die faschistische Rassetheorie und die nationalistische Ideologie überhaupt eine konkrete Beziehung zu den imperialistischen Zielen einer führenden Schichte, die Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur zu lösen versucht. 

Der deutsche und der französische Nationalismus des Weltkrieges appellierten jeweils an die "Grosse der Nation", hinter der wirtschaftliche Expansionstendenzen des deutschen und französischen Grosskapitals standen. Aber diese wirtschaftlichen Faktoren machen nicht das Substantielle der entsprechenden Ideologie aus, sondern nur den historischen und ökonomischen Boden, auf dem diese Ideologien sich bilden können, die Bedingungen, deren Vorhandensein für die Entstehung solcher Ideologien unerlässlich ist. Gelegentlich ist der Nationalismus objektiv gar nicht gesellschaftlich (seinem Gehalt nach) repräsentiert, noch weniger mit rassischen Gesichtspunkten in Einklang zu bringen. Im alten Österreich-Ungarn fiel der Nationalismus nicht mit der Rasse, sondern mit der "Heimat" Österreich-Ungarn zusammen. Als Bethmann-Hollweg 1914 das "Germanentum gegen das Slawentum" aufrief, hätte er folgerichtig gegen Österreich, diesen überwiegend slawischen Staat vorgehen müssen.

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Die ökonomischen Bedingungen einer Ideologie erklären also zwar ihre materielle Basis und ihre objektivgeschichtliche Rolle, aber sie sagen unmittelbar nichts über den subjektiven materiellen Kern dieser Ideologien aus. Dieser ist unmittelbar gegeben als psychische Apparatur der Menschen, die den betreffenden ökonomischen Bedingungen unterworfen sind und solchermassen den historisch-ökonomischen Boden in der Ideologie reproduzieren. Indem diese Menschen Ideologien bilden, formen sie sich selbst um; im Prozess der Ideologiebildung ist ihr materieller Kern aufzufinden. Die Ideologie erscheint somit doppelt materiell fundiert: mittelbar durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft, unmittelbar durch die typische Struktur der sie produzierenden Menschen, die selbst wieder durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft bedingt ist.

Die Struktur des Faschisten zeichnet sich durch metaphysisches Denken, Gottgläubigkeit, Beherrschtheit von abstrakten, ethischen Idealen und Glauben an die göttliche Bestimmung des "Führers" aus. Diese Grundzüge sind verknüpft mit einer tieferen Schichte, die sich kennzeichnet durch starke autoritäre Bindung an ein Führerideal oder die Nation. Der Glaube an ein "Herren­menschentum" wird zur stärksten Triebfeder sowohl der Bindung der nationalsozialistischen Massen an den "Führer" als auch zur psychologischen Grundlage der eigenen freiwilligen Einreihung in die Gefolgschaft. 

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Daneben wirkt aber entscheidend eine intensive Identifizierung mit dem Führer, die die eigene Unterwerfung als geführtes Massenmitglied verschleiert. Jeder National­sozialist fühlt sich in seiner psychischen Abhängigkeit als "kleiner Hitler". Auf die materielle Grundlage dieser Grund­haltungen kommt es aber nunmehr an. Es müssen die energetischen Funktionen aufgesucht werden, die, selbst durch Erziehung und gesamte soziale und gesellschaftliche Atmosphäre bedingt, die menschlichen Strukturen derart umbilden, dass in ihnen Neigungen derart reaktionären Charakters sich bilden können, dass sie sich vor Freiheitseifer heiser schreiend, die Fesseln nicht merken, die ihnen angelegt werden, dass sie in voller Identifizierung mit dem "Führer" befangen die Schmach nicht empfinden, die ihnen mit der Bezeichnung als "Untermenschen" angetan wird.

Stellt man die Blendung durch die weltanschauliche Phraseologie ab, fixiert man ihren affektiven Inhalt und versteht man, sie in richtige Beziehung zu den sexualideologischen Knotenpunkten des Prozesses der Ideologiebildung zu bringen, so fällt zunächst die stereotype Gleichsetzung von "Rassenvergiftung" und "Blutsvergiftung" auf. Was bedeutet das?

  

  3  Rassereinheit, Blutsvergiftung und Mystizismus 

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"Parallel der politischen, sittlichen und moralischen Verseuchung des Volkes lief schon seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzliche gesundheitliche Vergiftung des Volkskörpers durch die Syphilis",

schreibt Hitler (S. 269). Die Ursache läge in erster Linie...

"in unserer Prostituierung der Liebe. Auch wenn ihr Ergebnis nicht die fürchterliche Seuche wäre, wäre sie dennoch von tiefstem Schaden für das Volk, denn es genügen schon die moralischen Verheerungen, die die Entartung mit sich bringt, um ein Volk langsam, aber sicher zugrunde zu richten. Diese Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paarungstriebes werden früher oder später unseren gesamten Nachwuchs verderben ..." (S. 270).

"Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ergebenden Menschheit." (S. 272). 

Rassenvermischung führt also nach dieser Ansicht zur Blutsvermischung und derart zur "Blutsvergiftung des Volkskörpers".

"Die sichtbarsten Resultate dieser Massenverseuchung (durch die Syphilis) kann man ... finden in unseren — Kindern. Besonders diese sind das traurige Elendserzeugnis der unaufhaltsam fortschreitenden Verpestung unseres Sexuallebens; in den Krankheiten der Kinder offenbaren sich die Laster der Eltern" (S. 271).

Unter den "Lastern der Eltern" kann hier nur gemeint sein, dass diese sich mit fremdrassigem, also besonders jüdischem Blut vermengten, wodurch die jüdische "Weltpest" Eingang ins "reine" arische Blut fand. Es ist bemerkenswert, wie innig diese Vergiftungstheorie mit der politischen These von der Vergiftung des Deutschtums durch den "Weltjuden Karl Marx" verknüpft ist.

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In der so gefühlsbetonten Sphäre der Syphilisangst haben die politische Weltanschauung und der Antisemitismus des Nationalsozialismus eine ihrer stärksten Quellen. Erstrebenswert und mit allen Mitteln erkämpfenswert ist dann folgerichtig die Rassenreinheit, das heisst die Reinheit des Blutes.1)

Hitler betont an vielen Stellen, dass man der Masse nicht mit Argumenten, Beweisen und Bildung, sondern nur mit Gefühlen und Glauben kommen dürfe. Aber in der Sprache des Nationalsozialismus wie etwa bei Kayserling, Driesch, Rosenberg, Stapel usf. fällt das Nebelhafte und Mystische derart auf, dass sich eine Analyse dieser Eigenart gewiss lohnt. Was verbirgt sich also hinter dem Mystizismus der Faschisten, der die Massen derart faszinierte?

 

1)  Die "Times" schrieben am 23. August 1933: "Der Sohn und die Tochter des amerikanischen Gesandten in Berlin waren unter den Fremden, die sich am Sonntag, den 13. August, in Nürnberg aufhielten und sahen, wie ein Mädchen durch die Strassen geführt wurde; der Kopf war kahl geschoren und an den abgeschnittenen Zöpfen war ein Plakat befestigt, mit der Aufschrift: "Ich habe mich einem Juden hingegeben." Verschiedene andere Fremde waren ebenfalls Augenzeugen dieses Schauspiels. Zu jeder Zeit sind fremde Touristen in Nürnberg, und die Parade mit dem Mädchen wurde in einer solchen Weise ausgeführt, dass wenig Leute im Zentrum der Stadt versäumt haben können, sie zu sehn. Das Mädchen, das von einigen Fremden als schlank, zerbrechlich und, ungeachtet ihres geschorenen Kopfes und ihres Zustands, als ausnehmend hübsch beschrieben wird, wurde die Reihe der internationalen Hotels am Bahnhof entlang geführt, durch die Hauptstrassen, deren Verkehr vom Pöbel versperrt war, und von Restaurant zu Restaurant. Sie war eskortiert von Sturmtruppen, ihr folgte eine Menge, die von einem zuverlässigen Beobachter auf etwa 2000 Leute geschätzt wurde. Sie stolperte einige Male und wurde dann von den begleitenden starken SA-Leuten wieder auf die Füsse gestellt, manchmal auch in die Höhe gehoben, damit auch die entfernteren Zuschauer sie sehn konnten; bei diesen Gelegenheiten wurde sie vom Pöbel angebrüllt und verhöhnt und spasshafterweise eingeladen, eine Rede zu halten. 

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Die Antwort darauf gibt die Analyse der von Rosenberg im "Mythus des 20. Jahrhunderts" geführten "Beweise" für die Gültigkeit der faschistischen Rassetheorie. Rosenberg schreibt gleich im Beginne:

"Die Werte der Rassenseele, die als treibende Mächte hinter dem neuen Weltbild stehen, sind noch nicht lebendiges Bewusstsein geworden. Seele aber bedeutet Rasse von innen gesehen. Und umgekehrt ist Rasse die Aussenwelt der Seele." (Mythus, S. 22).

Hier haben wir eine der unendlich vielen, typisch nationalsozialistischen Phrasen vor uns, Sätze, die auf den ersten Blick keinen Sinn verraten, ja ihn absichtlich zu verhüllen scheinen, auch vor dem Schreiber dieser Sätze selbst. 

Man muss aber die massenpsychologische Wirkung gerade solcher mystisch verhüllter Sätze kennen und gebührend einschätzen, um auch ihre politische Wirkung zu begreifen.

In Neu-Ruppin, in der Nähe von Berlin, wurde ein Mädchen, weil es sich nicht erhoben hatte, als das Horst-Wessel-Lied gespielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen durch die Stadt geführt. Sie trug am Rücken und auf der Brust je ein Plakat mit der Inschrift: "Ich schamlose Kreatur habe es gewagt, sitzen zu bleiben als das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde und habe so die Opfer der Nationalen Revolution missachtet." Später wurde das Mädchen noch einmal durch die Strassen geführt. Die Zeit des Schauspiels war vorher in der Ortszeitung angegeben worden, sodass große Menschenmengen sich versammeln konnten."

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 Weiter:

"Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und Seelenmystik zugleich, die Geschichte der Religion des Blutes aber ist umgekehrt die grosse Welterzählung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler."

Die Anerkennung dieser Tatsache ziehe aber sofort die Erkenntnis nach sich, dass das Kämpfen des Blutes und die geahnte Mystik des Lebensgeschehens nicht zwei verschiedene Dinge seien, sondern ein und dasselbe auf verschiedene Weise darstellen. "Kämpfen des Blutes" ...... "geahnte Mystik des Lebensgeschehens" ...... "Aufstieg und Untergang der Völker" ...... "Blutsvergiftung" ...... "jüdische Weltpest" ....... dies alles liegt auf einer Linie, die beim "Kämpfen des Blutes" beginnt und weltanschaulich bei blutigem Terror gegen den "jüdischen Materialismus" von Marx und beim Judenboykott endet.

Man tut der Sache des historischen Materialismus nichts Gutes an, wenn man diese Mystik nur verlacht, statt sie zu entlarven und auf den ihr zugrundeliegenden materiellen Gehalt zu reduzieren. Wir nehmen vorweg: das meiste und praktisch wichtigste daran ist sexualökonomischer Energieprozess. Die Weltanschauung von der "Seele" und ihrer "Reinheit" ist die Weltanschauung der Asexualität, der "sexuellen Reinheit", also im Grunde eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu.

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"Auseinandersetzung zwischen Blut und Umwelt, zwischen Blut und Blut ist die letzte uns erreichbare Erscheinung, hinter der zu suchen und zu forschen, uns nicht mehr gegönnt ist," sagt Herr Rosenberg. Er irrt; wir sind unbescheiden genug, zu forschen und den lebendigen Prozess "zwischen Blut und Blut" nicht nur unsentimental aufzudecken, sondern sogar dadurch der nationalsozialistischen Weltanschauung einen Eckpfeiler zu zertrümmern.

Wir wollen Rosenberg selbst unsere These beweisen lassen, dass der Kern der faschistischen Rassetheorie Angst und Scheu vor der sinnlichen, körperlichen Sexualität ist.

Rosenberg versucht die Gültigkeit der These, dass Auf- und Niedergang von Völkerschaften auf Rassenvermischung, das heisst auf Blutsvergiftung zurückzuführen sei, an Hand der alten Griechen zu beweisen. Die Griechen seien ursprünglich die Repräsentanten nordischer Rassereinheit gewesen. Die Götter Zeus, Apollo und Athene wären "Zeichen echtester grosser Frömmigkeit", "Hüter und Schützer des Edlen und Frohen", "Wahrer der Ordnung, Lehrer der Harmonie der Seelenkräfte, des künstlerischen Masses" gewesen. Homer hätte gar kein Interesse für das "Extatische" gehabt. Athene repräsentiere

"das Sinnbild des dem Haupt des Zeus entsprungenen, lebensnagenden Blitzes, die weise besonnene Jungfrau, Hüterin des Helenenvolkes und treue Schirmerin seines Kampfes."

"Diese hochfrommen griechischen Seelenschöpfungen zeigen das geradwachsige innere, noch reine Leben des nordischen Menschen, sie sind im höchsten Sinne religiöse Bekenntnisse und Ausdruck eines Vertrauens in die eigene Art." (Mythus, S. 41ff.).

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Diesen Göttern des Reinen, Hohen, Religösen werden nun die vorderasiatischen Götter gegenübergestellt:

"Waren die griechischen Götter Heroen des Lichts und des Himmels, so trugen die Götter der vorderasiatischen Nichtarier alle erdhafte Züge an sich."

Demeter und Hermes wären die wesenhaften Erzeugnisse dieser "Rassenseelen"; Dionysos als der Gott der Extase, der Wollust, des entfesselten Mänadentums bedeute den "Einbruch der fremden Rasse der Etrusker und den Beginn des Unterganges des Griechentums."

Ganz willkürlich greift hier Rosenberg, nur um seine These von der Rassenseele zu stützen, die Götter heraus, die den einen der gegensätzlichen Prozesse der Kulturbildung der Griechen darstellen, stempelt sie als griechisch und die anderen, die ebenso dem Griechentum entstammen, werden als fremde Götter dargestellt. Schuld am Mißverständnis der griechischen Geschichte, meint Rosenberg, sei die Geschichtsforschung, die "rassisch verflachte" und das Griechentum falsch deutete.

"Mit Schauern der Verehrung erfühlt die grosse deutsche Romantik, wie immer dunklere Schleier vor die lichten Götter des Himmels gezogen werden und taucht tief unter in das Triebhafte, Gestaltlose, Dämonische. Geschlechtliche, Extatische, Chtonische, in die Mutterverehrung (v. Ref. gesp.). Dies alles aber noch immer als griechisch bezeichnend." ("Mythus", S. 43).

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Die idealistische Philosophie aller Schattierungen untersucht nicht die Bedingungen dieses Auftauchens des "Extatischen" und "Triebhaften" in bestimmten Kulturepochen; sie verstrickt sich vielmehr in der abstrakten Wertung dieser Erscheinung vom Standpunkt derselben Kulturbetrachtung, die sich so weit über das "Erdhafte" erhob, dass sie an dieser Erhebung selbst zugrundegeht. Auch wir gelangen zu einer Wertung solcher Erscheinungen, aber diese Wertungen leiten wir ab aus den Bedingungen des gesellschaftlichen Prozesse, der als "Niedergang" einer Kultur in Erscheinung tritt, um die vorwärtsdrängenden und die bremsenden Kräfte zu erkennen, die Erscheinung des Niedergangs als historisches Ereignis zu begreifen und nicht zuletzt die Keime der neuen Kulturformen zu sichten, denen wir dann zur Geburt verhelfen. 

Wenn Rosenberg im Angesicht des Niedergangs der kapitalistischen Kultur des 20. Jahrhunderts mit dem Schicksal der Griechen mahnt, so stellt er sich auf die Seite der konservativen Tendenzen der Geschichte, trotz seiner Beteuerungen über die "Erneuerung" des Deutschtums. Wir gewinnen festen Halt bei der Stellungnahme zur Kulturrevolution und ihres sexual­ökonomischen Kerns, wenn es uns gelingt, den Standpunkt der politischen Reaktion zu erfassen und seinen Zusammen­hang mit den Interessen der ihren Untergang sichtenden herrschenden Klasse zu begreifen. Für den bürgerlichen Kulturphilosophen, der seinen Klassenstandpunkt nicht ändern kann oder will, gibt es keine andere Möglichkeit, als entweder — trotz grosser wissenschaftlich-revolutionärer Taten — zu resignieren und skeptisch zu werden oder aber mit "revolutionären" Mitteln das Rad der Geschichte rückwärts drehen zu wollen.

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Hat man aber den Standort der Kulturbetrachtung gewechselt, im Zusammenbruch der alten Kultur nicht etwa den Untergang der Zivilisation überhaupt, sondern den einer bestimmten Zivilisation erkannt, die mit der neuen Zivilisationsform "schwanger geht", so ergibt sich selbsttätig auch ein Wechsel in der Wertbetrachtung derjenigen Kulturelemente, die man vorher als kulturpositiv bzw. — negativ einschätzte.

Es kommt nur darauf an, zu begreifen, welche Beziehung die wirtschaftliche Revolution und die Arbeiter­bewegung zu den Erscheinungen hat, die man vom Standpunkt des Bürgers als Niedergangssymptome betrachtete. Es ist zum Beispiel mehr als bloß eine Frage der Wirtschaftsform, wenn sich die politische Reaktion für die Vaterrechtstheorie, der Marxismus dagegen für die Mutterrechtstheorie in der Ethnologie ausspricht.

Abgesehen von den sachlichen Aussagen der Geschichtsforschung wirken bei dieser Stellungnahme affektive Interessen in den beiden konträren soziologischen Strömungen, die objektiven, bisher unerkannt geblichenen Prozessen der Sexualökonomie entsprechen. Das historisch nachgewiesene Mutter­recht ist nicht nur die Organisation des wirtschaftlichen Urkommunismus, sondern auch die der sexualökonomisch organisierten Gesellschaft.') Das Patriarchat hingegen ist nicht nur privatwirtschaftlich, sondern auch sexualmoralisch negativ organisiert.

1) Vergl. hierzu Morgan ("Urgesellschaft") und Engels ("Ursprung der Familie"), ferner Malinowski ("Das Geschlechtsleben der Wilden") und Reich ("Der Einbruch der Sexualmoral").

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Hatte die Kirche noch lange über die Zeit hinaus, da sie die wissenschaftliche Forschung in Händen hatte, die These von der sittlichen Natur des Menschen, seinem monogamen Wesen u.s.f. fest verankert, so drohten Bachofens Funde alles über den Haufen rennen. Die sexuelle Organisation des Mutterrechts verblüffte nicht wegen der so völlig verschiedenen Blutsverwandtschaftsorganisation, sondern wegen der mit ihr verbundenen Freiheit des Geschlechtslebens, dessen eigentliche Grundlage, den Mangel des Privateigentums an Produktionsmitteln, erst Morgan und nach ihm Engels erkannten. Rosenberg als der Ideologe des Faschismus muss konsequent die Herkunft der altgriechischen Kultur aus — nachgewiesenen — mutterrechtlichen Vorstufen leugnen und statt dessen zur Annahme greifen, dass "die Griechen hierin (im Dionysischen) physisch und geistig fremdes Wesen annahmen".

Die faschistische Ideologie trennt (wie wir später hören werden, im Gegensatz zur christlichen Ideologie) die erotisch-sinnlichen Bedürfnisse von den abwehrenden moralischen Gefühlen der im Patriarchat erzeugten menschlichen Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiedenen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein, dagegen "vorderasiatisch" gleich triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, extatisch. Daraus erklärt sich dann die Ablehnung der "romantisch-intuitiven" Forschung etwa Bachofens als der Theorie des nur "angeblich" altgriechischen Lebens.

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In der faschistischen Ideologie und Rassetheorie erscheint als deren Zentrum die eine Seite des patriarch­alischen "wirklichen Individuums", die patriarchalisch bedingte Reaktion auf die tieferströmende und die Ideologie unterbauende "mutterrechtliche Idee", verabsolutiert, verewigt, als "reine" Linie der anderen gegenübergestellt. Das Griechische, Rassische wird derart zur Emanation des Reinen, Asexuellen; das Fremdrassige dagegen, das "Etruskische" ist das "Tierische" und daher niedriger. Aus diesem Grunde muss dass Patriarchat an den Ursprung der menschlichen Geschichte des Ariertums gestellt werden:

"Auf dem Boden Griechenlands wurde weltgeschichtlich entscheidend der erste grosse Entscheidungskampf zwischen den rassischen Werten zu Gunsten des nordischen Wesens ausgetragen. Vom Tage, vom Leben trat nunmehr der Mensch ans Leben heran, aus den Gesetzen des Lichts und des Himmels, vom Geist und Wesen des Vaters aus entstand alles, was wir griechische Kultur als jenes grösste Erbe des Altertums für unser Selbst nennen." (Rosenberg.)

Die patriarchalische Geschlechtsordnung, aus den umwälzenden Prozesses des Spätmatriarchats hervorgegangen (ökonomische Verselbständigung der Familie des Häuptlings gegenüber der mütterlichen Gens, anwachsender Tauschverkehr zwischen den Stämmen, Entwicklung der Produktionsmittel etc.), wird zur Urgrundlage der patriarchalischen Ideologie, indem sie den Frauen, Kindern und Jugendlichen die geschlechtliche Freiheit raubt, die Sexualität in eine Ware verwandelt, richtiger die sexuellen Interessen in den Dienst der wirtschaftlichen stellt.

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Die Geschlechtlichkeit verzerrt sich nunmehr im Sinne des Teuflischen, Dämonischen, das zu bändigen ist. Im Lichte der patriarchalischen Forderungen erscheint die keusche Sinnlichkeit des Matriarchats als wollüstige Entfesselung finsterer Mächte, das Dionysische wird zum sündigen Begehren, das die patriarchalische Kultur nicht anders als chaotisch und schmutzig denken kann. Mit dem Eindruck der verzerrten, lüstern gewordenen menschlichen Sexualstrukturen in sich und vor sich, wird der patriarchalische Mensch zum ersten Male in die Fesseln einer Ideologie gelegt, für die sexuell und unrein, sexuell und niedrig oder dämonisch untrennbare Vorstellungen werden.

Diese Wertung bekommt aber auch sekundär eine rationale Berechtigung.

Mit der Einführung der Keuschheit werden die Frauen unter dem Drucke ihrer sexuellen Ansprüche unkeusch, an die Stelle der natürlichen, zarten Sinnlichkeit tritt die sexuelle Brutalität der Männer und dementsprechend auch die Auffassung bei den Frauen, dass der Geschlechtsakt für sie etwas entehrendes bedeute. Der aussereheliche Geschlechtsverkehr wird zwar nirgends aus der Welt geschafft, aber mit der Veränderung der Wertung und der Abstellung der Institutionen, die ihn zuvor im Matriarchat befürsorgten, gerät er in Widerspruch zur offiziellen Moral und solcherweise auf die Hintertreppe. Es verändert sich aber auch mit seiner Stellung in der Gesellschaft die innere Erlebnisweise im Geschlechtlichen.

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Der Widerspruch, der nunmehr geschaffen ist, stört die Befriedigungsfähigkeit der Individuen, das sexuelle Schuldgefühl zersplittert den natürlichen Ablauf der sexuellen Akte und schafft sexuelle Stauungen, die sich auf verschiedene Art und Weise Luft machen. Neurosen, Geschlechtsverirrungen und dissoziales sexuelles Verhalten treten nunmehr als soziale Dauererscheinungen auf. Die kindliche und jugendliche Sexualität, die im Matriarchat positiv gewertet wurde, verfällt systematischer, nur in den Formen je nach der Stufe des Patriarchats verschiedener Unterdrückung. Diese derart verzerrte, gestörte, brutalisierte und erniedrigte Sexualität stützt nun ihrerseits die gleiche Ideologie, der sie ihr Entstehen verdankt. Die verneinenden Wertungen der Sexualität können sich jetzt mit Recht darauf berufen, dass die Sexualität etwas Unmenschliches und Tierisches ist; dabei ist nur vergessen, dass diese unmenschliche und tierische Sexualität nicht die Sexualität "an sich", sondern eben die Sexualität des Patriarchats ist. Und die Sexualwissenschaft des späten Patriarchats im Kapitalismus ist dieser Wertung nicht minder unterworfen als die vulgären Anschauungen, was sie zur völligen Fruchtlosigkeit verurteilt.

Wir werden später hören, auf welchem Wege die Religion zur organisierten Konzentration dieser Wertungen und Ideologien wird. Hier ist nur festzuhalten: Leugnet die Religion das sexualökonomische Prinzip überhaupt, verurteilt sie das Sexuelle als eine internationale Erscheinungen des Menschentums, von dem nur das Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationalistische Faschismus das Sexuellsinnliche in die "fremde Rasse", sie so gleichzeitig erniedrigend.

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Die Herabwertung der "fremden Rasse", selbst aus allgemeinen Gesetzen jeder patriarchalischen Organisation entstanden, klingt nunmehr organisch zusammen mit den imperialistischen Tendenzen der herrschenden Klasse im Spätpatriarchat, Tendenzen, die besonderen und unmittelbar wirkenden ökonomischen Widersprüchen entstammen.

So wie in der christlichen Mythologie Gott nie ohne seinen Widerpart, den Teufel als dem "Gott der Unterwelt" erscheint und der Sieg des himmlischen über den unterirdischen Gott zum Sinnbild menschlicher Erhebung wird, so spiegelt sich im Göttermythus des Griechentums der Kampf zwischen den sinnlichen und den Keuschheit fordernden Strebungen wieder. Für den abstrakten Ethiker und den die Tatbestände mystifizierenden Philosophen erscheint dieser Kampf als Ringen zweier "Wesenheiten" oder "menschlichen Ideen", von denen die eine von vorneherein als niedrig, die andere von vorneherein als "eigentlich menschlich" oder "übermenschlich" gewertet wird. Führt man aber sowohl diesen "Kampf der Wesenheiten" als auch die herangetragenen Wertungen auf ihre materielle Ursprungsquelle zurück, reiht man sie an richtiger Stelle in das soziologische Gefüge ein, wobei der Sexualität als geschichtlichem Faktor der gebührende Platz eingeräumt wird, so ergibt sich folgender Tatbestand. Jeder Volksstamm, der sich aus der matriarchalischen in die patriarchalische Organisation entwickelt, muss, um die den privateigentümlichen Grundgesetzen entsprechenden Lebensformen im Sexuellen zu finden, die sexuelle Struktur seiner Mitglieder verändern.

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Dies ist deshalb dringend notwendig, weil sich die wirtschaftlichen Veränderungen, die Verschiebungen der Macht und des Reichtums aus der Gens in die Familie des Häuptlings und die Herausbildung der Klassen vorwiegend mit Hilfe der Unterdrückung der sexuellen Strebungen der Menschen dieser Epoche vollziehen.

Die Eheschliessung und das dabei gültige Heiratsgut wird zum Knotenpunkt der Verwandlung der einen Organisation in die andere.1) In dem gleichen Masse, in dem das Heiratsgut der Gens der Frau an die Familie des Mannes die Machtstellung der Männer und im besonderen die des Häuptlings fördert, wirkt das materielle Interesse der Männer der ranghöheren Gentes und Familien in der Richtung der Festigung der ehelichen Bindungen; denn in diesem Stadium ist nur der Mann an der Ehe interessiert, nicht aber die Frau. 

Dadurch verwandelt sich aber die einfache, jederzeit trennbare Paarungsehe in die monogame Ehe des Patriarchats. Die monogame Ehe wird zur patriarchalischen Kerninstitution, was sie heute noch ist. Zur Sicherung der Ehen bedarf es aber einer immer weiter fortschreitenden Einengung und Entwertung der natürlichen sinnlich - genitalen Strebungen. Das betrifft nicht nur die immer mehr in Ausbeutung geratende "untere" Klasse, sondern auch gerade die Schichten, die bis dahin keine Widersprüche zwischen Moral und Sexualität kannten, müssen nun einen solchen immer konfliktreicher in sich verspüren.

1) Der Nachweis hierfür wurde erbracht in: "Der Einbruch der Sexualmoral". (Verl. f. Sex. Pol. 1932).

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Wirkt doch die Moral nicht nur von außen her, sondern ihre eigentliche Wirksamkeit entfaltet sie erst dann, wenn sie verinnerlicht wurde, zur eigenen sexuellen Hemmung geworden ist. In verschiedenen Stadien dieses Prozesses werden jeweils verschiedene Seiten des Widerspruches dominieren. Im Anfangsstadium wird das sexuelle Bedürfnis, später die moralische Hemmung Oberhand gewinnen, sicher aber wird bei politischen Erschütterungen der gesamten gesellschaftlichen Organisation der Konflikt zwischen Sexualität und Moral an die Oberfläche und auf die Spitze getrieben werden, was dem einen als moralischer Untergang, dem anderen als sexuelle Befreiung oder "sexuelle Revolution" erscheinen wird, ohne es in Wirklichkeit noch zu sein. 

Jedenfalls ist der ideologische Gehalt der Vorstellung vom "Niedergang der Kultur" die Vorstellung des Durchbruchs der natürlichen sinnlichen Strebungen, als "Niedergang" nur deshalb empfunden, weil die eigene moralische Haltung dadurch bedroht ist. Objektiv geht nur das System der gesellschaftlichen Organisation unter, das im Interesse der Ehe und Familie die moralischen Instanzen in den Individuen aufrechterhielt und nährte. Bei den alten Griechen, deren geschriebene Geschichte ja erst mit dem vollentfalteten Patriarchat beginnt, finden wir in der sexuellen Organisation: Männerherrschaft, Hetärentum für die oberen, Prostitution für die mittleren und unteren Schichten, und daneben versklavte, ein elendes Leben führende, nur als Gebärmaschinen figurierende Ehefrauen. Die Männerherrschaft des platonischen Zeitalters ist durchaus homosexuell.1)

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Die Widersprüche der sexuellen Ökonomie des späten Griechenland kamen zum Vorschein, als das griechische Staatswesen sich politisch und wirtschaftlich im Niedergang befand. Für den Faschisten Rosenberg erscheint im dionysischen Zeitalter das "chronische" mit dem "appollinischen" vermischt, um unterzugehen. Der Phallus, schreibt Rosenberg, wird zum Symbol der spät­griechischen Weltauffassung. Für den Faschisten kehrt also das Sexuelle wieder als Niedergangserscheinung, als Lüsternheit, Geilheit und sexueller Schmutz der Niedergangsepoche.

Dies entspricht aber nicht nur der Phantasie des faschistischen Betrachters, sondern auch der realen Situation des brennenden Widerspruchs in der Erlebnisweise der Menschen dieser Epoche. Die dionysischen Feste entsprechen den verschiedenen Redouten und Maskenbällen unserer Bourgeoisie. Man muss nur genau wissen, was sich auf solchen Festen begibt, um nicht dem Fehler zu verfallen, der ganz allgemein begangen wird, in diesem "dionysischen" Tun den Gipfel sexuellen Erlebens zu erblicken. Nirgends enthüllen sich die im Rahmen dieser Gesellschaft unlösbaren Widersprüche zwischen gelockertem sexuellen Begehren und moralisch zersetzter Erlebnisfähigkeit gründlicher als auf solchen Festen. "Dionysos' Gesetz, der endlosen Geschlechtsbefriedigung bedeutet die hemmungslose Rassenmischung zwischen Helenen und Vorderasiaten aller Stämme und Varietäten" (Mythos, S. 52).

1) Das gleiche Prinzip beherrscht unbewusst die faschistische Ideologie der männlichen Führerschichte.

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Man stelle sich vor, ein Geschichtsschreiber des vierten Jahrtausends würde die sexuellen Feste der Bourgeoisie des zwanzigsten Jahrhunderts als hemmungs­lose Mischung der Deutschen mit den Negern und Juden "aller Stämme und Varietäten" darstellen!

Wir erkennen hier klar die ideologische Rolle der Vorstellung von der Rassenmischung. Sie ist die Spiegelung der Abwehr des Dionysischen, die selbst in den wirtschaftlichen Interessen der patriarchalischen Gesellschaft an der Ehe wurzelt. Daher tritt auch in der Geschichte des Jason die Ehe als Bollwerk gegen das Hetärentum auf.

Hetären sind Frauen, die sich dem Joch der Ehe nicht mehr beugen wollen und ihren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Geschlechtsleben geltend machen. Dieser Anspruch gerät aber in Widerspruch zur früher in der Kindheit genossenen Erziehung zur Ehe, die den psychischen Apparat sexuell erlebnisunfähig machte.

Daher stürzt sich die Hetäre in Abenteuer, um ihrer emporgetriebenen Homosexualität zu entgehen, oder sie lebt gestört und zerrissen beiden Richtungen zugleich. Das Hetärentum wird ergänzt durch die Homosexualität der Männer, die infolge des ihnen aufgezwungenen Ehelebens zur Hetäre und zum Wollustknaben flüchten und dort ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit zu restaurieren versuchen. Die sexuelle Struktur der Faschisten, die das straffste Patriarchat bejahen und aus ihrer Ideologie und familiären Lebensweise das Sexualleben des

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platonischen Zeitalters tatsächlich reaktivieren, d.h. "Reinheit" in der Ideologie, Zerrissenheit und Krankhaftigkeit im realen Sexualleben, muss begreiflicherweise an die sexuellen Zustände des platonischen Zeitalters anklingen. 

Rosenberg und Blüher erkennen den Staat nur als Männerstaat auf homosexueller Basis an. Sehr merkwürdig ist, wie sich aus dieser Ideologie die Anschauung von dem Unwert der Demokratie herausbildet. Pythagoras wird verneint, weil er als Prophet der Gleichheit Aller, als "Verkünder des demokratischen Tellurismus, der Gemeinschaft der Güter und der Weiber" auftrat. Die innige Verbindung der Vorstellung der Gemeinschaft der "Güter und der Weiber" spielt im antibolschewistischen Kampf eine zentrale Rolle. Die Demokratisierung der römischen Patrizierherrschaft, die bis zum 5. Jahrhundert aus 300 Adelsfamilien 300 Senatoren stellte, wird darauf zurückgeführt, dass vom 5. Jahrhundert an Mischehen zwischen Patriziern und Plebejern gestattet waren, was einen "rassischen Niedergang" bedeutete. So wird auch die Demokratisierung eines politischen Systems, die durch Mischehen zustande kommt, als Erscheinung des Niedergangs der Rasse gedeutet. An dieser Stelle enthüllt sich der politisch reaktionäre Charakter der Rassetheorie restlos. Denn nunmehr bedeutet der Geschlechtsverkehr zwischen Griechen oder Römern verschiedener Klassen verderbliche Rassenmischung. Angehörige der unterdrückten Klasse werden mit Fremdrassigen auf eine Stufe gestellt.  

An anderer Stelle spricht Rosenberg vom Proletariat und seiner Bewegung als dem "aufsteigenden Asphaltmenschentum der Weltstädte mit allen Abfallsprodukten des Asiatentums" (Mythos, S. 66).

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Hinter der Idee der Mischung mit fremden Rassen steckt also die Idee des Geschlechtsverkehrs mit Angehörigen der unterdrückten Klasse, und dahinter wieder wirkt die Tendenz der Bourgeoisie zur klassenmässigen Abgrenzung, die rein wirtschaftlich zwar scharf, sexualmoralisch aber durch die Sexualeinschränkung für die bürgerlichen Frauen vollends verwischt ist. Sexuelle Vermischung der herrschenden mit der beherrschten Klasse bedeutet aber gleichzeitig eine Erschütterung der zentralen ideologischen Stützen der Klassenherrschaft, in der Wirklichkeit die Möglichkeit einer "Demokratisierung", das heisst ideologischer, sexueller Proletarisierung der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend. Denn das Proletariat jeder gesellschaftlichen Ordnung produziert aus seiner Klassenlage heraus sexuelle Vorstellungen und Lebensweisen, die den Klasseninteressen der Bourgeoisie jeder Ordnung durchaus tödlich gefährlich sind.

Wenn hinter der Idee der Rassemischung letzten Endes die Idee der Mischung von Angehörigen der herrschenden mit Angehörigen der beherrschten Klassen wirkt, so haben wir hier offenbar den Schlüssel zur Frage, welche Rolle die Sexualunterdrückung in der Klassengesellschaft spielt. Hier können wir mehrere Funktionen unterscheiden und dürfen auf keinen Fall eine mechanische Zuordnung der Sexualunterdrückung analog der materiellen Ausbeutung zur unterdrückten Klasse annehmen. Die Beziehungen der Sexualunterdrückung zur Klassengesellschaft sind viel komplizierter.

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Wir wollen hier nur zwei dieser Funktionen herausheben:

1. Da die Sexualunterdrückung ursprünglich von den wirtschaftlichen Interessen des Erbrechts und der Heirat ausgeht, beginnt sie innerhalb der herrschenden Klasse selbst. Die Keuschheits- und Treuemoral gilt am schärfsten zunächst für die weiblichen Angehörigen der herrschenden Klasse. Dadurch soll die Erhaltung des gleichen Besitzes gesichert werden, der durch die Ausbeutung der unteren Klassen erworben wurde.

2. Im Frühkapitalismus und in den grossen asiatischen Kulturen feudalen Charakters ist die herrschende Klasse an einer moralischen Unterdrückung der beherrschten Schichten noch nicht interessiert. Mit dem Beginn der organisierten Arbeiterbewegung, der Erkämpfung sozialpolitischer Errungenschaften und der mit ihr einhergehenden kulturellen Hebung der breiten Volksmassen setzt zugleich ihre sexualmoralische Verbürgerlichung ein. Erst jetzt beginnt die herrschende Klasse, ein Interesse an der "Sittlichkeit" der Unterdrückten zu bekommen. Mit dem Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft setzt also gleichzeitig ein gegenteiliger Prozess ein, der in ideologischer Angleichung des Proletariats an die Bourgeoisie besteht.

Dabei gehen aber die der eigenen Klassenlage entsprechenden sexuellen Lebensformen nicht unter; sie bleiben neben den nunmehr sich immer mehr verankernden Ideologien der herrschenden Klasse bestehen und bilden den schon früher beschriebenen, für das Proletariat spezifischen Widerspruch zwischen bürgerlicher und proletarischer Struktur.

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Historisch fällt die Herausbildung dieses massenpsychologischen Widerspruchs zusammen mit der Ablösung des feudalen Absolutismus durch die bürgerliche Demokratie. Die Ausbeutung hat zwar nur ihre Formen verändert, aber diese Veränderung der Ausbeutungsform bringt gleichzeitig eine ideologische Veränderung des Proletariats mit sich. Das ist der Tatbestand, den Rosenberg mystisch betrachtet, wenn er schreibt, dass der uralte Erdgott Poseidon von Athene, der Göttin der Asexualität, zurückgedrängt unter ihrem Tempel im Boden in Schlangengestalt herrscht, ebenso wie der "pelasgische Pythondrache" in Delphi unter dem Tempel Apollos. "Nicht überall aber tötete der nordische Theseus die Untiere Vorderasiens; bei der ersten Erschlaffung des arischen Blutes entstanden immer wieder von neuem die fremden Ungeheuer, das heisst vorderasiatisches Mischlingstum und physische Robustheit der ostischen Menschen."

Aus dem Bisherigen allein geht schon klar hervor, was unter "physischer Robustheit" gemeint ist: jenes Stück sexueller Naturwüchsigkeit, das den Angehörigen der ausgebeuteten Klasse von dem der herrschenden unterscheidet und im Laufe der "Demokratisierung" allmählich zersetzt wird, ohne sich je ganz zu verlieren. Psychologisch bedeutet die Schlange Poseidon und der Pythondrache die als Phallus symbolisierte genitale Sinnlichkeit. Sie ist niedergedrückt, unterirdisch geworden in der sozialen Struktur der Gesellschaft und ihrer Menschen, aber sie ist nicht vernichtet.

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Die feudale Oberschicht, die ein unmittelbar wirtschaftliches Interesse an der Verleugnung der phallischen Sinnlichkeit hat, sieht sich umso mehr durch die naturnäheren sexuellen Lebensformen der unterdrückten Schichte gefährdet, als es ja selbst diese Sinnlichkeit nicht nur nicht überwunden, sondern im Gegenteil im eigenen Kreise in verzerrter und perverser Form wieder auftreten sieht. Die sexuellen Sitten des Proletariats bedeuten somit nicht nur eine psychologische, sondern auch eine soziale Gefahr für die herrschende Klasse, die sich vor allem in ihrer Familieninstitution bedroht sieht. Solange das Bürgertum ökonomisch stark ist, sich in der aufsteigenden Linie befindet wie etwa das Bürgertum Englands um die Mitte des 19. Jahrhunderts, vermag es auch die sexualmoralische Abgrenzung vom Proletariat zur Gänze aufrecht zu erhalten. In Zeiten der Erschütterung seiner Herrschaft, besonders aber in ausgesprochenen Krisen wie etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Mittel-Europa und England lockern sich die moralischen Fesseln der Sexualität innerhalb des Bürgertums selbst.

Die sexualmoralische Zersetzung beginnt mit der Liquidierung der familiären Bindungen in der Grossbourgeoisie, während zunächst das mittlere und kleinere Bürgertum in voller Identifikation mit dem Grossbürger und seiner Moral der eigentliche Träger der offiziell noch immer von der Grossbourgeoisie vertretenen sexuellen Moral wird. Das Geschlechtsleben des Proletariats muss gerade dann der Grossbourgeoisie als besondere Gefahr für den Bestand seiner sexuellen Institutionen erscheinen, wenn die wirtschaftliche Proletarisierung des Kleinbürgertums beginnt.

Da es sich zentral auf die Kleinbourgeoisie stützt, liegt ihm besonders viel an deren Sittlichkeit und Reinhaltung von den "Einflüssen des Unter­menschentums". Verlöre nämlich die Kleinbourgeoisie seine ideologische sexualmoralische Haltung im gleichen Masse wie seine wirtschaftliche Zwischenstellung zwischen Proletariat und Grossbourgeoisie, so gäbe es für das Kapital kaum eine ernstere Bedrohung. Denn auch im Kleinbürgertum lauert der "pythische Drache", jederzeit bereit, die ihm auferlegten Fesseln und damit auch die ideologische Panzerung durch die politische Reaktion zu sprengen.

Daher verstärkt das Kapital immer in Zeiten der Krise seine Propaganda für Sittlichkeit und Festigung der Ehe und Familie. Bildet doch die Familie die Brücke von der elenden ökonomischen Lage der Kleinbourgeoisie zur reaktionären Ideologie. Wird die Familie durch Wirtschaftskrisen und Proletarisierung des Mittelstandes erschüttert, so ist dadurch auch die ideologische Verankerung des herrschenden Systems auf das stärkste gefährdet.

Mit dieser Frage werden wir uns noch eingehend befassen müssen. Wir müssen also dem Münchener nationalsozialistischen Biologen und Rassenforscher Leng Glauben schenken, wenn er auf einer Tagung der nationalsozialistischen Gesellschaft "Deutscher Staat" 1932 behauptete, die Familie sei Kernpunkt der Kulturpolitik. Wir dürfen hinzufügen, der reaktionären ebensowohl wie der revolutionären, denn diese Feststellungen haben weittragende politische Konsequenzen.

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Reich, Massenpsychologie, Kapitel 3