5. Die sexualökonomischen Voraussetzungen der bürgerlichen Familie
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Da sich die privatwirtschaftliche Klassengesellschaft mit entscheidender Hilfe der Familie in Gestalt bestimmter massenindividueller Strukturen reproduziert, muss die Familie von der politischen Reaktion als die Grundlage des "Staates, der Kultur und der Zivilisation" angesprochen und verteidigt werden. Sie kann sich in dieser Propaganda auf tiefe gefühlsmäßige Faktoren bei den Massen stützen.
Dass die letzte Grundlage jeder Gesellschaft die ihr zugrundeliegende Produktionsform, die der bürgerlichen also der Privatbesitz an den Produktionsmitteln ist, kann der reaktionäre Politiker weder anerkennen noch für seine Zwecke verwenden. Denn in der politischen Propaganda, bei der es sich um massenpsychologische Wirkung handelt, hat man es nicht unmittelbar mit den ökonomischen Grundlagen und Prozessen zu tun, sondern mit ihrer psychischen Repräsentanz in den "Köpfen der Menschen", das heisst mit den von den Produktionsverhältnissen bestimmten menschlichen Strukturen. Dieser Gesichtspunkt diktiert bestimmte Verhaltungsweisen in der politischen Propaganda und seine Vernachlässigung kann zu massenpsychologischen Fehlern führen.
Die revolutionäre Sexualpolitik kann sich demnach nicht mit dem Herausstellen der objektiven Grundlagen der bürgerlichen Familie begnügen, sie muss darüber hinaus, wenn sie massenpsychologisch richtig vorgehen will, sich auf die Grundlage einer genauen Kenntnis derjenigen psychischen Prozesse stellen, mit deren Hilfe sich der Produktionsprozess des Kapitals verwirklicht, ideologisch reproduziert und konserviert.
Vom Standpunkt des historischen Materialismus kann die Familie nicht als die Grundlage des bürgerlichen Staates angesehen werden, sondern nur als eine seiner wichtigsten stützenden Institutionen. Wohl aber müssen wir sie als die zentrale ideologische Keimzelle ansprechen, das heisst als die wichtigste Produktionsstätte des bürgerlichen Menschen. Selbst aufgrund bestimmter Produktionsverhältnisse entstehend und sich wandelnd, wird sie zur wesentlichsten Institution der Konservierung des sie bedingenden Systems. Hier sind heute wie ehedem die Aufstellungen von Morgan und Engels voll gültig. Doch interessiert uns in diesem Zusammenhange nicht die Geschichte der Familie, sondern die aktuelle sexualpolitisch wichtige Frage, welche Gesichtspunkte sich die proletarische Sexualpolitik zu eigen zu machen hat, um der reaktionären Sexual- und Kulturpolitik, in deren Zentrum die Frage der Familie mit so viel Erfolg gestellt ist, fruchtbar entgegenzutreten. Eine genaue Erörterung der subjektiven Auswirkungen und Grundlagen der bürgerlichen Familie ist umso notwendiger, als in dieser Frage auch in revolutionären Kreisen grosse Unklarheit herrscht.
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Die bürgerliche Familie enthält einen Widerspruch, dessen genaue Kenntnis für eine durchschlagende Sexualpolitik von entscheidender Bedeutung ist.
Zur Erhaltung der Familieninstitution gehört nicht nur die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau und der Kinder vom Mann und Vater. Diese Abhängigkeit ist nur unter der Bedingung für die Unterdrückten erträglich, dass das Bewusstsein, ein geschlechtliches Wesen zu sein, bei Frauen und Kindern so gründlich wie möglich ausgeschaltet wird. Die Frau darf nicht als Sexualwesen, sondern nur als Gebärerin erscheinen.
Die Idealisierung der Mutterschaft, ihre Verhimmelung, die in so krassem Widerspruch steht zur Brutalität, mit der die Mütter des werktätigen Volkes in Wirklichkeit behandelt werden, dienen im wesentlichen als Mittel, in den Frauen das geschlechtliche Bewusstsein nicht aufkommen, die gesetzte Sexualverdrängung nicht durchbrechen, die sexuelle Angst und das sexuelle Schuldgefühl nicht untergehen zu lassen. Die Frau als Sexualwesen, dazu noch bejaht und anerkannt, würde den Zusammenbruch der gesamten familiären Ideologie bedeuten.
Die proletarische Sexualpolitik hat bisher den Fehler begangen, dass sie die Parole vom "Recht der Frau auf den eigenen Körper" nicht genügend konkretisiert, dass sie nicht eindeutig und unmissverständlich die Frau als sexuelles Wesen nannte und verteidigte, zumindest ebenso wie als Mutter. Sie hat fernerhin die Sexualpolitik überwiegend auf die Fortpflanzungsfunktion gestützt, statt die bürgerliche Einheit von Sexualität und Fortpflanzung aufzuheben. Dadurch konnte sie der Sexualreaktion nicht kräftig genug gegenübertreten.
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Zur Stütze der Familie gehört die Ideologie des "Segens des Kinderreichtums" nicht nur aus den objektiven Zwecken des kriegerischen Imperialismus, sondern auch ganz wesentlich aus der Notwendigkeit, die Sexualfunktion der Frau gegenüber ihrer Gebärfunktion in den Schatten zustellen.
Die bürgerliche Gegenüberstellung von "Mutter" und "Dirne", wie etwa beim bürgerlichen Philosophen Weininger, entspricht der realen Gegensätzlichkeit von Geschlechtslust und Fortpflanzung im bürgerlichen Menschen. Der Geschlechtsakt um der Lust willen entwürdigt nach dieser Auffassung die Frau und Mutter, und Dirne ist, wer sie bejaht und danach lebt. Die biologische Auffassung des Geschlechtslebens in dem Sinne, Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung wären identisch, jenseits der Fortpflanzung gäbe es nichts, das zu bejahen wäre, ist der wichtigste Grundzug der bürgerlichen Sexualpolitik. Diese Auffassung ist nicht weniger bürgerlich, wenn sie von Kommunisten, wie etwa Salkind und Stoliarow, vertreten wird.
Damit die objektiven kriegsimperialistischen Ziele des monopolistischen Kapitals mit Sicherheit erfüllt werden, ist eine Veränderung der Frauen in dem Sinne unerlässlich, dass in ihnen keinerlei Auflehnung gegen die ihnen aufgehalste Funktion, Gebärmaschine zu sein, aufkommen kann. Das heisst, die Funktion der Sexualbefriedigung darf die der Fortpflanzung nicht stören, und zudem würde eine sexualbewusste Frau niemals willig den reaktionären Parolen folgen, die ihre Versklavung beabsichtigen.
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Dieser Gegensatz von Sexualbefriedigung und Fortpflanzung gilt nur für das kapitalistische Wirtschaftssystem, nicht für den Sozialismus; es kommt derauf an, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich die Frauen zum Gebären bekennen sollen, unter günstigen, von der Gesellschaft betreuten Verhältnissen oder unter den Bedingungen des Kapitals, das keinen zureichenden Mutterschutz und Säuglingsschutz kennt. Wenn also die Frauen ohne irgendwelchen Schutz der Gesellschaft, ohne selbst mitbestimmen zu können, ohne Gewähr für die Sicherheit der Aufzucht ihrer Kinder willig gebären sollen, ohne selbst die Zahl der zu gebärenden Kinder bestimmen zu dürfen, willig, ohne Auflehnung gebären sollen, muss die Mutterschaft im Gegensatz zur sexuellen Funktion der Frau idealisiert werden.
Wenn wir also die Tatsache begreifen wollen, dass die Partei Hitlers sich vorwiegend auf Frauenstimmen stützte, ebenso wie das Zentrum, müssen wir ausser der objektiven Funktion der Frauenversklavung auch ihren psychologischen Mechanismus begreifen. Und dieser Mechanismus ist die Gegenüberstellung von Frau als Gebärerin und Frau als Sexualwesen.
Wir verstehen dann gründlicher Stellungnahmen des Faschismus, wie etwa die folgender Art:
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"Die Erhaltung der schon vorhandenen kinderreichen Familie ist eine Angelegenheit des Sozialgefühls, die Erhaltung der kinderreichen Familienform eine solche biologischer Auffassung und völkischer Gesinnung. Die kinderreiche Familie ist nicht zu erhalten, weil sie hungert, sondern sie ist zu erhalten als hochwertiger, unentbehrlicher Bestandteil des deutschen Volkes. Hochwertig und unentbehrlich nicht nur, weil sie allein die Erhaltung der Volkszahlen in der Zukunft gewährleistet (objektive imperialistische Funktion. — D. Autor), sondern weil Volkssittlichkeit und Volkskultur in ihr die stärkste Stütze finden ...
Die Erhaltung der lebenden kinderreichen Familien ist mit der Erhaltung des Typs der kinderreichen Familie verquickt, weil diese beiden Probleme tatsächlich nicht voneinander zu trennen sind. Die Erhaltung der kinderreichen Familienform ist eine Forderung staats- und kulturpolitischer Notwendigkeit. Diese Gesinnung widerspricht auch strikt der Aufhebung des § 218 und betrachtet empfangenes Leben als unantastbar. Denn die Freigabe der Schwagerschaftsunterbrechung widerspricht dem Sinn der Familie, deren Aufgabe ja gerade die Erziehung des Nachwuchses ist und diese Freigabe würde endgültige Vernichtung der kinderreichen Familie überhaupt sein."
So schrieb der "Völkische Beobachter" am 14.10.1931. Also auch in der Frage des Abtreibungsparagraphen ist die bürgerliche Familienpolitik der Schlüsselpunkt, weit wesentlicher als die bisher von der proletarischen Sexualpolitik in den Vordergrund geschobenen Faktoren des Interesses an industrieller Reservearmee und Kanonenfutter für den imperialistischen Krieg. Das Argument der Reservearmee hat in den Jahren der Wirtschaftskrise mit Erwerbslosenarmeen von vielen Millionen in Deutschland, 1932 etwa 40 Millionen in der ganzen kapitalistischen Welt, an Bedeutung fast völlig verloren.
Wenn die politische Reaktion uns immer wieder sagt, die Aufrechterhaltung des Abtreibungsparagraphen sei notwendig im Interesse der Familie und der sittlichen Ordnung, wenn der sozialdemokratische Sozialhygieniker Grothjan hier die gleiche Linie bezog wie die Nationalsozialisten, so müssen wir ihnen Glauben schenken, dass Familie und Sittlichkeit entscheidend wichtige Kräfte sind.
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Wir dürfen sie nicht als "ideell" beiseiteschieben. Es geht um die Bindung der Frauen an die Familie mithilfe der Unterdrückung ihrer sexuellen Bedürfnisse, es geht um den Einfluss, den diese Frauen auf ihre Männer im reaktionären Sinne ausüben, es geht um die Sicherstellung der Wirkung, die die antibolschewistische Sexualpropaganda auf die Millionen sexuell Unterdrückter und diese Unterdrückung duldender Frauen hat.
Man tut vom revolutionären Standpunkt aus unrecht, der Reaktion nicht überall dorthin zu folgen, wo sie ihre konterrevolutionäre Wirkung entfaltet. Man muss sie dort schlagen, wo sie ihr System verteidigt. Das Interesse an der Familie als staatserhaltender Institution steht also an erster Stelle in allen Fragen der reaktionären Sexualpolitik. Und es trifft zusammen mit dem gleichgerichteten Interesse aller Schichten des Kleinbürgertums, für die die Familie die wirtschaftliche Einheit bildet, oder besser, vor der Krise gebildet hat. Von diesem Standpunkt sieht die faschistische Ideologie Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Von diesem durch die alte Wirtschaftsweise des Kleinbürgertums bestimmten Standpunkt ist auch die reaktionäre Sexualwissenschaft beherrscht, wenn sie an den Staat mit der Vorstellung, er sei ein "organisches Ganzes" herantritt.
Das Proletariat, für das Familie und soziale Daseinsweise auseinanderfallen, in dem also die Familie nicht organisch wirtschaftlich verwurzelt ist, ist daher in der Lage, das Wesen des Staates als einer Zweiheit von Klassen zu sehen, für seine Sexualwissenschaft und seine Sexualpolitik gilt nicht der "biologische" Standpunkt, der Staat sei ein organisches Ganzes.
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Sofern das Proletariat sich dieser reaktionären Anschauung zugänglich erweist, beruht das auf dem Eindringen der kleinbürgerlichen familiären Daseinsweise in die Schichten der Industriearbeiterschaft. Und das Kleinbauerntum und Kleinbürgertum wäre der Einsicht seiner Zugehörigkeit zur Klasse der Ausgebeuteten zugänglicher, wenn nicht seine familiäre Situation bis zu einem bestimmten Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsordnung organisch mit seiner wirtschaftlichen verflochten wäre.
Wir sagen, bis zu einem bestimmten Stadium, denn in der Weltkrise zeigte sich, dass sich mit dem wirtschaftlichen Ruin der kleinen Wirtschaften dieser Zusammenhang von Familie und Wirtschaft lockerte. Aber das Wesen der vielgenannten Tradition des Kleinbürgertums, nämlich ihre familiäre Gebundenheit, wirkte sich nachträglich noch aus. Es musste daher der faschistischen Ideologie von der "kinderreichen Familie" viel zugänglicher sein, als der kommunistischen von der Geburtenregelung, vor allem deshalb, weil die kommunistische Propaganda keine Klarheit in diesen Fragen schuf und sie nicht in vorderste Front stellte.
So eindeutig dieser Tatbestand ist, wir würden fehlgehen, wenn wir ihn nicht im Zusammenhange mit anderen ihm widersprechenden Tatbeständen beurteilen würden. Und wir würden unausweichlich zu gar keiner oder zu einer falschen sexualpolitischen Perspektive gelangen, wenn wir diese Widersprüche im Leben des Kleinbürgers (und des Proletariats, soweit es kleinbürgerlich ist) übersehen würden.
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Zunächst ist der Widerspruch entscheidend zwischen dem sexualmoralischen Denken und Fühlen des Kleinbürgers und seiner konkreten sexuellen Daseinsweise. Ein Beispiel:
Im Westen Deutschlands gab es eine grosse Anzahl von proletarischen Geburtenregelungsvereinen vorwiegend "sozialistischen" Charakters. In der Wolf-Kienle-Kampagne 1931 gab es Abstimmungen über den Abtreibungsparagraphen, wobei die gleichen Frauen, die Zentrum oder NSDAP wählten, für die Abschaffung des Paragraphen waren, während ihre Parteien dagegen Sturm liefen.
Diese Frauen stimmten für die sozialistische Parole, weil sie sich ihren Geschlechtsverkehr sichern wollten, aber gleichzeitig stimmten sie für ihre Parteien, nicht weil sie ohne Kenntnis von deren bevölkerungspolitischen Absichten waren, sondern weil sie gleichzeitig, ohne sich des Widerspruchs bewusst zu sein, erfüllt waren von der reaktionären Ideologie der "reinen Mutterschaft", des Gegensatzes von Mutterschaft und Geschlechtlichkeit, vor allem von der familiären Ideologie.
Diese Frauen wussten zwar nichts von der soziologischen Rolle der Familie im Kapitalismus, aber sie standen unter dem Einfluss der antibolschewistischen Sexualpolitik der politischen Reaktion; sie bejahten die Geburtenregelung, aber sie wollten nicht das System, das diese Geburtenregelung praktisch für die Massen durchführen und auch ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen kann.
bing Wolf+Kienle+Kampagne+1931
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Die Sexualreaktion bediente sich ja auch aller Mittel, die familiäre Bindung insbesondere der Frauen für ihre Zwecke auszunützen. Ist einer durchschnittlichen christlichen oder nationalgesinnten Arbeiter- oder Kleinbürgerfrau die proletarische Familienpolitik unverständlich, um wieviel grösser musste dieses Unverständnis werden, wenn Propaganda folgender Art betrieben wird, ohne dass eine entsprechende sexualpolitische Gegenpropaganda von revolutionärer Seite einsetzte.
Schon im Jahre 1918 gab die "Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus" ein Plakat heraus, das folgendermassen lautete:
"Deutsche Frauen!
Ahnt Ihr, womit Euch der Bolschewismus bedroht? Der Bolschewismus will die Sozialisierung der Frauen:
1. Das Eigentumsrecht auf Frauen zwischen 17 und 32 Jahren wird aufgehoben.
2. Alle Frauen sind Eigentum des Volkes.
3. Die bisherigen Eigentümer behalten ausser der Reihe das Recht auf ihre Frauen.
4. Jeder Mann, der ein Exemplar des Volkseigentums benützen will, bedarf einer Bescheinigung vom Arbeitskomitee.
5. Der Mann hat kein Recht, eine Frau öfter als dreimal wöchentlich und länger als drei Stunden für sich in Anspruch zu nehmen.
6. Jeder ist verpflichtet, die sich widersetzenden Frauen anzuzeigen.
7. Jeder nicht zur Arbeiterklasse gehörende Mann hat für das Recht der Benutzung dieses Volkseigentums monatlich 100 Rubel zu zahlen."Die erste Regung der durchschnittlichen unpolitischen Frau ist eindeutig entsetzte Ablehnung, die Regung nahestehender Frauen aber etwa folgender Art:
Brief aus einer Arbeiterkorrespondenz
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"Ich gebe zu, da es nur einen Ausweg aus dem heutigen Elend gibt für uns Werktätige, und das ist der Sozialismus. Aber er muss in gewissen massigen Grenzen bleiben und nicht alles, was war, als schlecht und unnötig verwerfen. Sonst wird das zu einer Verwilderung der Sitten führen, die noch viel schrecklicher ist, als die heutige traurige materielle Lage. Und leider wird vom Sozialismus ein sehr wichtiges, hohes Ideal angegriffen: die Ehe. Man will da volle Freiheit, volle Zügellosigkeit fordern, gewissermassen den Sexualbolschewismus. Jeder Mensch soll sich dann frei und ohne Hemmung ausleben, austoben. Es soll nicht mehr die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau geben, sondern man ist eben heute mit dem beisammen, morgen mit jenem, wie es einem gerade die Laune eingibt. Das nennt man Freiheit, freie Liebe, neue Sexualmoral.
Aber diese schönen Namen können mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier grosse Gefahren lauern. Es werden die höchsten, edelsten Gefühle des Menschen dadurch beschmutzt: die Liebe, die Treue, die Aufopferung. Es ist ganz unmöglich, es ist naturwidrig, dass ein Mann oder eine Frau zur gleichen Zeit mehrere andere lieben kann. Die Folge davon würde nur eine unabsehbare Verrohung sein, die die Kultur vernichtet. Ich weiss ja nicht, wie diese Dinge in der Sowjetunion aussehen, aber entweder sind die Russen besondere Menschen oder sie haben diese absolute Freiheit doch nicht erlaubt und es gibt dort auch gewisse Zwangsmassnahmen. — —
So schön also die sozialistischen Theorien sind, und so sehr ich in allen wirtschaftlichen Fragen mit euch übereinstimme, in der Sexualfrage komme ich nicht mit und dadurch zweifle ich oft an der ganzen Sache."
Die revolutionäre Bewegung hatte bisher mit ihrer Sexualpolitik deshalb keinen Erfolg, im Verhältnis zu den Möglichkeiten einer konsequenten revolutionären Sexualpolitik, weil sie gegen die erfolgreichen Versuche der Reaktion, sich auf die sexualverdrängenden Mächte im Bürgertum zu stützen, nicht mit den gleichen Waffen reagierte. Hätte die Sexualreaktion ebenso wie die proletarische Sexualreformbewegung einzig und allein ihre bevölkerungspolitischen
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Thesen propagiert, sie hätte keine Katze hinter dem Ofen hervorgelockt. Sie arbeitete jedoch erfolgreich mit der Sexualangst insbesondere der Frauen und weiblichen Jugendlichen, sie verband geschickt die Durchsetzung der objektiven bevölkerungspolitischen Ziele des Kapitals mit den affektiven familiären und sonstigen moralischen Hemmungen der Bevölkerung, und dies nicht nur in reinen Kleinbürgerkreisen. Die Hunderttausende christlich organisierter Arbeiter beweisen das.
Hier noch ein Beispiel für die Propagandamethode der Reaktion. (1)
(1) Welt vor dem Abgrund, "Der Einfluss des russischen Kulturbolschewismus auf die anderen Völker", Deutscher Volkskalender, S. 47 --- * detopia-2005: Im Original: Bunge: "Die Ehe und die Lage der Frau", Teil III, (2), Seite 459 ff --- Reich hat hier schlecht zitiert. Er hätte nicht aus dem Volkskalender zitieren sollen, sondern aus dem Original. Iljin bei detopia
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"In ihrem zerstörenden Feldzuge gegen die ganze bürgerliche Welt hatten die Bolschewiken von Anfang an ihr besonderes Augenmerk auf die Familie, >diesen besonders starken Überrest des verfluchten, alten Regimes< gerichtet.
Die Vollversammlung des Komintern vom 10. Juni 1924 erklärte schon: "Die Revolution ist machtlos, so lange der Begriff Familie und Familienbeziehung bestehen." Infolge dieser Einstellung entbrannte auch sofort ein heftiger Kampf gegen die Familie.
Bigamie und Polygamie sind nicht verboten und somit erlaubt. Das Verhalten der Bolschewiken zur Ehe wird durch folgende Definition des Ehebündnisses gekennzeichnet, die Professor Goichbarg vorgeschlagen hatte: "Die Ehe ist ein Institut für bequemere und weniger gefährliche Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse."
Wie weit der Zerfall der Familie und Ehe unter den gegebenen Bedingungen geht, beweist die Statistik der allgemeinen Volkszählung 1927.
Die "Istwestija" schreibt: "In Moskau hat die Volkszählung zahlreiche Fälle der Vielweiberei und Vielmännerei festgestellt. Fälle, wo zwei, ja sogar drei Frauen denselben Mann als ihren Ehegatten bezeichnen, können als eine alltägliche Erscheinung angesehen werden."
Man darf sich nicht wundern, wenn der deutsche Professor Sellheim die Familienverhältnisse in Russland folgendermassen schildert: "Es ist ein vollkommener Rückfall in die Sexualordnung der grauen Vorzeit, aus der sich die Ehe und eine brauchbare Sexualordnung im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat."
Das Ehe- und Familienleben wird auch durch Verkündigungen der völligen Freiheit des geschlechtlichen Verkehrs angegriffen.
Die bekannte Kommunistin Smidowitsch(1) stellte ein Schema der sexuellen Moral auf , nach dem sich besonders die Jugend beider Geschlechter betätigt. Das Schema enthält etwa folgendes:
1. Jeder Student der Arbeiterfakultät, wenn auch minderjährig, ist berechtigt und verpflichtet, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
2. Wenn ein Mann ein junges Mädchen begehrt, sei es eine Studentin, eine Arbeiterin oder sogar ein Mädchen im schulpflichtigen Alter, so ist dieses Mädchen verpflichtet, sich dieser Begierde zu fügen, da sie sonst als Bürgerstochter angesehen wird, die nicht als echte Kommunistin gelten kann.
Die Prawda schreibt offen: "Zwischen Mann und Frau gibt es bei uns nur sexuelle Beziehungen, wir erkennen keine Liebe an, die Liebe ist als etwas Psychologisches zu verachten, bei uns ist nur die Physiologie existenzberechtigt". Infolge dieser kommunistischen Einstellung ist jede Frau oder jedes Mädchen verpflichtet, den sexuellen Trieb des Mannes zu befriedigen. Da das ja nun doch nicht immer ganz freiwillig geschieht, ist die Vergewaltigung von Frauen in Sowjetrussland geradezu zu einer Plage geworden."
1) Diese Bemerkungen der Smidowitsch waren in Wirklichkeit ironisch gemeint und wollten das Sexualleben der Jugendlichen kritisieren. (Wilhelm Reich)
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Diese Lügen der Reaktion können nicht dadurch außer Funktion gesetzt werden, dass man sie als Lügen entlarvt, gewiss auch nicht dadurch, dass man sich ihrer durch Beteuerungen erwehrt, man sei ebenso "sittlich" wie das Bürgertum, der Kommunismus zerstöre die Familie und die Sittlichkeit nicht - etc.
Tatsache ist, dass sich das Geschlechtsleben im Kommunismus verändert, dass sich die alte Sexualordnung auflöst. Diese Tatsache darf man nicht ableugnen und man kann auch die richtige politische Linie nicht finden, wenn man im eigenen Lager asketische Einstellungen zu diesen Fragen duldet und sich auswirken lässt.
Wir werden später noch genau darauf einzugehen haben.
Die proletarische Sexualpolitik unterliess es, die wirkliche Ordnung des Geschlechtslebens im Sowjet-Staat dauernd zu erklären und zu begründen, die Sexualangst der Frauen vor der geschlechtlichen Freiheit zu begreifen und zu bewältigen, vor allem aber in den eigenen Reihen Klarheit zu schaffen durch konsequente und dauernde Scheidung der bürgerlichen von den proletarischen Moralauffassungen.
Die Praxis lehrt, dass jeder durchschnittliche Kleinbürger der proletarischen Ordnung des Geschlechtslebens zustimmt, wenn man sie ihm genügend gründlich erklärt.
Von den familiären Weltanschauungen der politischen Reaktion, die ökonomisch durch die wirtschaftliche Daseinsweise des Kleinbürgertums und ideologisch durch die kirchliche und sonstige metaphysische Ideologie gehalten wird, strahlt die antibolschewistische Bewegung aus. Der Kern der Kulturpolitik der politischen Reaktion ist die Sexualfrage. Dementsprechend muss der Kern der revolutionären Kulturpolitik ebenfalls die Sexualfrage werden.
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