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1. Die Falle  

Der Mensch wird frei geboren, und dennoch liegt er in Ketten.  
Man wähnt sich Herr der anderen und ist doch oft mehr Sklave als sie. 
Wie kam es zu dieser Veränderung? Ich weiß es nicht.  (Rousseau) 

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Jean Jacques Rousseau hat diese Frage vor mehr als zweihundert Jahren am Anfang seines «Gesell­schafts­vertrag» gestellt. Solange wir die Antwort auf diese grundlegende Frage nicht gefunden haben, nützt es wenig, neue Gesellschaftsverträge zu entwerfen. Seit Jahrtausenden schon gibt es in der menschlichen Gesellschaft etwas, das buchstäblich jeden Versuch im Sande verlaufen ließ, das große Rätsel zu lösen, das allen großen Führern der Menschheit in den letzten Jahrtausenden wohlbekannt war: Der Mensch ist frei geboren, und doch geht er als Sklave durchs Leben.

Bis jetzt wurde noch keine Antwort gefunden. Es muß in der menschlichen Gesellschaft etwas geben, das uns hindert, die richtige Frage zu stellen, um die richtige Antwort zu bekommen. Alle menschliche Philosophie steht unter dem Alpdruck vergeblichen Suchens.

Etwas Wohlverborgenes ist am Werk, das es nicht zuläßt, die richtige Frage zu stellen. Dementsprechend ist es etwas, das ständig mit Erfolg die Aufmerksamkeit von dem sorgfältig getarnten Zugang ablenkt, auf den wir unser Augenmerk richten sollten. Das Mittel, dessen sich dieses gut getarnte Etwas bedient, um die Aufmerksamkeit von dem Haupträtsel abzulenken, ist die Tendenz des Menschen, den Problemen des lebendigen Lebens auszuweichen. Das verborgene Etwas ist die emotionale Pest des Menschen.

Von der korrekten Formulierung des Rätsels wird es abhängen, ob unsere Aufmerksamkeit auf die richtige Stelle gelenkt wird, und davon wiederum wird es abhängen, ob wir schließlich die richtige Antwort auf die Frage finden werden, wie es möglich ist, daß der Mensch überall frei geboren wird und sich dennoch überall in Sklaverei wiederfindet.

Ganz gewiß sind Gesellschaftsverträge Aufgaben von entscheidender Bedeutung, wenn sie in der ehrlichen Absicht geschlossen werden, das Leben in der menschlichen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Aber kein wie auch immer gearteter Gesellschaftsvertrag wird je das Problem des menschlichen Elends lösen. Der Gesellschaftsvertrag ist bestenfalls ein Notbehelf, um den Gang des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten. Es wurde damit bis heute nicht erreicht, das Elend des Lebens zu beseitigen. Das große Rätsel setzt sich wie folgt zusammen: Die Menschen werden gleich geboren, aber sie entwickeln sich nicht gleich.

Der Mensch hat große Lehren hervorgebracht, aber jede noch so einfache Lehre diente schließlich seiner Unterdrückung. Der Mensch ist «Sohn Gottes», nach dessen Bild geschaffen; dennoch ist er «sündig», eine Beute des «Satans». Wie kann es Satan und Sünde geben, wenn Gott der alleinige Schöpfer alles Seienden ist?

Der Menschheit ist es nicht gelungen, die Frage zu beantworten, wie das Böse überhaupt möglich ist, wenn ein vollkommener Gott die Welt und den Menschen erschaffen hat und über sie herrscht.

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Der Menschheit ist es nicht gelungen, ein moralisches Leben nach dem Willen ihres Schöpfers zu führen. Die Menschheit wurde seit Beginn der Geschichtsschreibung immer wieder durch Krieg und Mord aller Art ins Verderben gestürzt. Kein Versuch, diese Pest zu beseitigen, hat je zum Erfolg geführt.

Die Menschheit hat viele verschiedene Religionen geschaffen. Jede dieser Religionen ist zu einer neuen Form von Unterdrückung und Elend geworden. Die Menschheit hat viele Denksysteme entworfen, um in ihrem Kampf mit der Natur bestehen zu können. Aber die Natur, die in Wirklichkeit funktional und nicht mechanisch ist, ist ihr durch die Finger geglitten.

Die Menschheit ist auch der kleinsten Spur von Hoffnung und Erkenntnis hinterhergelaufen. Aber nach dreitausend Jahren des Suchens voller Sorgen und Leiden, nach Ketzerermordungen und Verfolgung vermeintlicher Irrlehren hat sie wenig mehr erreicht als ein paar Annehm­lichkeiten für einen kleinen Teil der Menschheit in Form von Autos, Flugzeugen, Kühlschränken und Radios.

Nachdem die Menschheit sich jahrtausendelang auf das Rätsel der menschlichen Natur konzentriert hat, befindet sie sich heute genau dort, wo sie anfing, beim Eingeständnis absoluter Unwissenheit. Die Mutter ist noch immer hilflos, wenn ein Alptraum ihr Kind quält. Und der Arzt ist noch immer hilflos bei einer so geringfügigen Sache wie einer laufenden Nase.

Man ist sich allgemein darüber einig, daß die Wissenschaft keine ewigen Wahrheiten enthüllt. Newtons mechanisches Universum stimmt nicht mit dem wirklichen Universum überein, das nicht mechanisch sondern funktional ist. Das Weltbild des Kopernikus mit seinen «vollkommenen» Kreisen ist falsch.

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Keplers elliptische Bahnen existieren nicht. Auch die Mathematik hat nicht gehalten, was sie so selbst­gewiß versprochen hat. Der Raum ist nicht leer; und niemand hat je Atome oder die Luftkeime von Amöben gesehen. Es stimmt nicht, daß die Probleme der lebenden Materie durch die Chemie zugänglich sind; auch die Hormone haben nicht gehalten, was sie versprochen haben. 

Das unterdrückte Unbewußte, vermutlich das letzte Wort in der Psychologie, erweist sich als künstliche Konstruktion in einer kurzen Periode mechanisch-mystischer Kultur. Geist und Körper in ein und demselben Organismus sind im Denken des Menschen noch immer voneinander getrennt. Die völlig exakte Physik ist gar nicht so sehr exakt, genau wie Heilige gar nicht so heilig sind.

Auch wenn wir noch viele Sterne, Kometen und Galaxien entdecken, wird uns das nicht weiterhelfen, ebenso wenig wie noch mehr mathematische Formeln. Das Philosophieren über den Sinn des Lebens nützt nichts, solange wir nicht wissen, was das Leben ist. Und weil «Gott» das Leben ist — das ist für alle Menschen unmittelbare Gewißheit — hat es wenig Zweck, Gott zu suchen oder ihm zu dienen, wenn man nicht weiß, was man sucht bzw. wem man dient.

Alles scheint auf eine einzige Tatsache hinzudeuten: Etwas ist grundsätzlich falsch an dem gesamten Verfahren, das der Mensch anwendet, um sich selbst zu erkennen. Die mechanisch-rationalistische Sicht der Dinge hat endgültig ausgedient.

Locke und Hume, Kant und Hegel, Marx und Spencer, Spengler und Freud und all die anderen waren sicher große Denker, aber irgendwie hinterließen sie am Ende doch eine — leere Welt, und die Masse der Menschheit blieb von all der philosophischen Tiefschürferei unberührt. Bescheidene Zurückhaltung beim Verkünden der Wahrheit würde auch nichts nützen. Sie ist oft nur eine Ausflucht, die verbergen soll, daß man dem entscheidenden Problem ausweicht.

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Es hat sich herausgestellt, daß Aristoteles irrte, der viele Jahrhunderte lang das Denken beherrscht hatte, und mit den Weisheiten eines Plato oder Sokrates kann man auch nicht mehr viel anfangen. Auch Epikur scheiterte, ebenso wie alle Heiligen.

Die Versuchung, sich dem katholischen Standpunkt anzuschließen, ist groß nach der schrecklichen Erfahrung mit der letzten großen Anstrengung, die die Menschheit in Rußland unternommen hat, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Das vernichtende Ergebnis solcher Bemühungen hat sich zu drastisch gezeigt. Wohin wir uns auch wenden, wir sehen den Menschen im Kreis umherlaufen, wie in einer Falle, deren Ausgang er in Verzweiflung vergeblich sucht.

Es ist aber möglich, aus einer Falle herauszukommen. Um jedoch aus einem Gefängnis ausbrechen zu können, muß man erst einmal zugeben, daß man in einem Gefängnis sitzt. Die Falle ist die emotionale Struktur des Menschen, seine Charakter­struktur. Es hat wenig Sinn, Denksysteme über das Wesen der Falle zu entwerfen, wenn das einzige, was man zu tun hätte, um aus der Falle herauszukommen, darin besteht, daß man die Falle erkennt und ihren Ausgang findet.

Alles andere hat überhaupt keinen Sinn: Hymnen darüber zu singen, wie sehr man in der Falle leidet, wie es der versklavte Neger tut; oder Gedichte über die Schönheit der Freiheit außerhalb der Falle zu schreiben, von der man in der Falle träumt; oder ein Leben außerhalb der Falle nach dem Tode zu versprechen, wie es der Katholizismus seinen Gläubigen verspricht; oder sich zu einem semper ignorabimus zu bekennen, wie es resignierte Philosophen tun; oder ein philosophisches System um die Verzweiflung am Leben in der Falle zu errichten, wie es Schopenhauer getan hat; oder sich einen Übermenschen zu erträumen, der sich von dem Menschen in der Falle total unterscheidet, wie es Nietzsche getan hat, bis er, selbst in der Falle eines Irrenhauses gefangen, endlich die volle Wahrheit über sich selber schrieb — zu spät...

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Allererste Aufgabe ist es, den Ausgang aus der Falle zu finden. Wie die Falle beschaffen ist, interessiert überhaupt nicht, abgesehen von dieser einen entscheidenden Frage: Wo ist der aus Gang aus der Falle?

Man kann eine Falle ausschmücken, um das Leben darin angenehmer zu gestalten. Das haben z.B. Michelangelo, Shakespeare und Goethe getan. Man kann sich irgendwelche Hilfsmittel ausdenken, um das Leben in der Falle zu verlängern. Das haben die großen Naturwissenschaftler und Ärzte getan, z.B. Meyer, Pasteur und Fleming. Man kann auch eine große Kunstfertigkeit im Heilen von gebrochenen Knochen entwickeln, für die, die in die Falle stürzen.

Doch der entscheidende Punkt ist und bleibt: den Ausgang aus der Falle zu finden, wo ist der Ausgang in den freien, ENDLOSEN RAUM?

Der Ausgang bleibt verborgen. Das ist das größte aller Rätsel. Das Lachhafteste und zugleich Tragischste aber ist dies: Der Ausgang ist für alle in der Falle deutlich sichtbar, und dennoch scheint niemand ihn zu sehen. 

Jedermann weiß, wo der Ausgang ist, und DENNOCH SCHEINT NIEMAND AUF IHN ZUZUGEHEN. 

MEHR NOCH: 

WER IMMER AUCH AUF DEN AUSGANG ZUGEHT ODER AUF IHN ZEIGT, WIRD FÜR VERRÜCKT ERKLÄRT, ODER MAN NENNT IHN EINEN VERBRECHER ODER EINEN SÜNDER, DER IN DER HÖLLE BRATEN SOLLTE.

 

Es zeigt sich, daß das Problem nicht die Falle ist, und auch nicht die Schwierigkeit, den Ausgang zu finden. Das Problem liegt BEI DENEN, DIE IN DER FALLE SITZEN.

All dies ist — von außen gesehen — für ein schlichtes Gemüt schier unverständlich. Es ist sogar irgendwie verrückt. Warum erkennen sie den deutlich sichtbaren Ausgang nicht und gehen zu ihm hin? Sobald sie in die Nähe des Ausgangs kommen, fangen sie an zu schreien und laufen weg. Sobald einer unter ihnen versucht, ins Freie zu gelangen, schlagen sie ihn tot. Nur ganz wenige schlüpfen in dunkler Nacht, wenn alles schläft, aus der Falle heraus.

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Das ist die Situation, in der sich Jesus Christus befindet. Und so verhalten sich die Opfer in der Falle, wenn sie ihn töten. Das lebendige Leben wirkt in allem um uns herum, in uns, in unseren Sinnen, vor unserer Nase, klar sichtbar in jedem Tier, in jedem Baum, in jeder Blume. Wir fühlen es in unserem Körper, in unserem Blut. Und dennoch bleibt es für die, die in der Falle sitzen, das größte und unzugänglichste aller Rätsel.

Aber nicht das Leben ist das Rätsel, sondern eher, wie das Wesen des Lebens so lange verborgen bleiben konnte. Das große Problem der Biogenese und der Bioenergetik ist durch direkte Beobachtung leicht zugänglich. Das große Problem des Lebens und seines Ursprungs ist ein psychiatrisches Problem. Es ist ein Problem der Charakterstruktur des Menschen, dem es gelungen ist, der Lösung so lange auszuweichen. Die Geißel des Krebses ist kein so großes Problem wie es scheint. Das Problem liegt in der Charakterstruktur der Krebspathologen, die es auf so meisterhafte Art vernebelt haben.

Das GRUNDSÄTZLICHE AUSWEICHEN VOR DEM WESENTLICHEN ist das Problem des Menschen. Dieses Ausweichen bzw. diese Tendenz, immer auszuweichen, ist Teil der Tiefenstruktur des Menschen. Das Weglaufen vom Ausgang der Falle ist eine Folge dieser Struktur. Der Mensch fürchtet und haßt den Ausgang der Falle. Grausam bekämpft er jeden Versuch, den Ausgang zu finden. Das ist das große Rätsel.

Das alles klingt sicher verrückt für die, die in der Falle sitzen. Es würde für den, der so verrückte Dinge sagt, den sicheren Tod bedeuten, wenn er mit ihnen zusammen in der Falle säße: wenn er Mitglied einer wissenschaftlichen Akademie wäre, die viel Zeit und Geld dafür verwendet, die Wände der Falle in allen Einzelheiten zu studieren;

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oder wenn er einer Kirchengemeinde angehörte, die voller Resignation oder Hoffnung darum betet, aus der Falle hinauszu­gelangen; wenn er der Ernährer einer Familie wäre, deren einzige Sorge ist, nicht in der Falle zu verhungern; oder wenn er Angestellter eines Industriekonzerns wäre, der sich bemüht, das Leben in der Falle so angenehm wie möglich zu machen. 

Es würde für ihn den Tod in dieser oder jener Form bedeuten: Man würde ihn ächten, wegen Verletzung irgendeines Gesetzes ins Gefängnis werfen oder bei entsprechenden Voraussetzungen auf den elektrischen Stuhl bringen. Verbrecher sind Menschen, die den Ausgang aus der Falle finden und darauf zustürzen, wobei sie gegen ihre Mitmenschen Gewalt anwenden. Geisteskranke, die in Anstalten dahinsiechen und wie die Hexen im Mittelalter gequält werden, indem man sie z.B. unter Elektroschocks zusammenkrampfen läßt, sind ebenfalls Menschen in der Falle, die den Ausgang gesehen haben, aber das Grauen nicht überwinden konnten, das sie erfaßt hat, als sie sich ihm genähert haben.

Außerhalb der Falle, ganz in nächster Nähe, existiert das lebendige Leben um einen herum in allen Dingen, die das Auge sehen, die das Ohr hören und die die Nase riechen kann. Für die Opfer in der Falle bedeutet das ewige Qualen, ähnlich denen des Tantalus. Sie sehen es, sie fühlen es, sie riechen es, und sie sehnen sich unablässig danach, aber sie können nie und nimmer durch den Ausgang der Falle hinaus. Es ist einfach unmöglich geworden, aus der Falle hinauszukommen. Sie erleben es in Träumen und bei Gedichten, beim Anhören großer Musik oder beim Betrachten von Gemälden, aber es ist nicht mehr in ihnen selbst, in ihrer eigenen Motilität. Die Schlüssel zum Ausgang sind in den eigenen Charakterpanzer und die mechanische S teifheit ihrer Körper und Seelen einbetoniert.
       Dies ist die große Tragödie. Und es war Christus, der dies erkannte.

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Wer zu lange in einem dunklen Keller gelebt hat, haßt die Sonne. Es kommt sogar vor, daß das Auge das Licht nicht mehr ertragen kann; so entsteht der Haß auf das Sonnenlicht.

Um ihre Nachkommen an das Leben in der Falle gewöhnen, haben die Falleninsassen ausgefeilte Techniken entwickelt, das Leben straff auf einem niedrigen Niveau in Gang zu halten. Für große Gedankenflüge oder außergewöhnliche Taten ist kein Raum in der Falle. Jede Bewegung ist nach allen Seiten hin gehemmt. Das hat im Laufe der Zeit dazu geführt, daß gerade die Organe des lebendigen Lebens verkümmerten. Die Menschen in der Falle haben jedes echte, volle Lebensgefühl verloren.

Geblieben ist jedoch eine tiefe Sehnsucht nach Lebensglück und die Erinnerung an ein glückliches, längst vergangenes Leben vor dem Zuschnappen der Falle. Aber Sehnsucht und Erinnerung können im wirklichen Leben nicht gelebt werden. Aus solcher Einengung und Verklemmung ist daher Haß gegen das Leben entstanden.

Wir wollen alle Manifestationen dieses Hasses gegen das Lebendige unter dem Begriff Christusmord zusammenfassen. Jesus Christus ist dem Haß auf das Lebendige, der seine Zeitgenossen erfüllte, zum Opfer gefallen. Sein tragisches Schicksal sollte uns eine Lehre dafür sein, womit künftige Generationen zu rechnen haben, wenn sie die Gesetze des Lebens wieder einführen. Ihre Hauptaufgabe wird darin bestehen, mit der menschlichen Bösartigkeit («Sünde») fertig zu werden. Verfolgen wir diesen Gedanken, und versuchen wir, auch nur eine Ahnung zukünftiger Möglichkeiten zu bekommen — in positiver wie in negativer Hinsicht — so bekommt die Geschichte Christi eine tragische Bedeutung.

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Das Geheimnis, warum Christus sterben mußte, ist noch immer ungelöst. Wir werden erkennen lernen, daß diese zweitausend Jahre alte Tragödie, die einen so ungeheuren Einfluß auf das Geschick der Menschheit hatte, in einer Gesellschaft gepanzerter Individuen eine logische Notwendigkeit war. Die Frage, worum es bei dem Mord an Christus wirklich ging, ist über zweitausend Jahre hinweg unberührt geblieben, trotz all der zahllosen Bücher, Studien, Forschungen und Untersuchungen darüber. Das Rätsel des Mordes an Christus blieb in einem Bereich verborgen, der dem Denken und den Augen vieler fleißiger Männer und Frauen völlig entrückt ist; und eben diese Tatsache ist Teil des Geheimnisses. Der Mord an Christus ist ein Rätsel, das die menschliche Existenz mindestens seit Beginn der Geschichtsschreibung in Aufruhr gehalten hat. Es ist das Problem der gepanzerten Charakterstruktur des Menschen, nicht nur das Problem Christi.

Christus wurde Opfer dieser menschlichen Charakterstruktur, weil er Eigenschaften und Verhaltensweisen entwickelte, die auf die gepanzerte Charakterstruktur wie ein rotes Tuch auf das emotionale System eines wilden Stiers wirken. So kann man sagen, daß Christus das Prinzip des Lebens an sich verkörpert. Die äußere Form wurde durch die Epoche der jüdischen Kultur unter römischer Herrschaft bestimmt. Es spielt keine Rolle, ob sich der Mord an Christus im Jahre 3000 v.Chr. oder im Jahre 2000 n.Chr. ereignet hat. Christus wäre mit Sicherheit zu jeder Zeit und in jeder Kultur ermordet worden, wenn der Zusammenstoß zwischen dem Lebensprinzip und der emotionalen Pest unter ähnlichen, gesellschaftlichen Bedingungen wie im alten Palästina stattgefunden hätte.

Es ist ein grundsätzliches Kennzeichen der Ermordung des Lebendigen durch das gepanzerte Menschentier, daß diese auf verschiedenste Art getarnt ist. Der Überbau der gesellschaftlichen Existenz des Menschen — also Wirtschaft, Kriegsführung, irrationale politische Bewegungen und soziale Organisationen, die der Unterdrückung des Lebens dienen — überschwemmt mit einer wahren Flut von dem, was wir Rationalisierungen, Vertuschungen und Umgehungen des wahren Problems nennen können, die grundsätzliche Tragödie, die dem Menschentier unablässig zu schaffen macht.

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Außerdem kann sich dieser Überbau auf eine vollkommen logische und zusammenhängende Rationalität verlassen; diese gilt allerdings nur innerhalb des Rahmens: Gesetz gegen Verbrechen, Staat gegen Volk, Moral gegen Sexus, Kultur gegen Natur, Polizei gegen Verbrecher usw., dort aber auf der ganzen Linie menschlichen Elends. Man hat nicht die geringste Chance, jemals durch diesen Sumpf hindurch­zukommen, wenn man sich nicht aus diesem Gemetzel herausgehalten hat und sich dort befindet, wohin der große Lärm nicht dringt. Dem Leser sei versichert, daß wir diesen Lärm und diese leere Geschäftigkeit keineswegs als bloß irrational, als ziel- und sinnlose Aktivität betrachten. Es ist vielmehr ein entscheidendes Merkmal der Tragödie, daß dieser Unsinn logisch, sinnvoll und notwendig ist, wenn auch nur innerhalb eines eigenen Bereichs und unter bestimmten Bedingungen menschlichen Verhaltens; doch steht die Irrationalität der Pest hier auf festem Grund. Selbst das Schweigen, das jahrtausendelang die Orgasmusfunktion, die Lebensfunktion, den Christusmord und ähnlich entscheidende Themen der menschlichen Existenz umgab, kann der verständige Erforscher menschlichen Verhaltens sinnvoll einordnen.

Die Menschheit sähe sich ihrer schlimmsten und verheerendsten Katastrophe gegenüber, würde sie die Lebensfunktion, die Orgasmusfunktion oder das Geheimnis des Christusmordes schlagartig erkennen. Es liegt eine tiefgründige Rationalität in der Tatsache, daß die Menschheit sich geweigert hat, die Dimensionen und die wahre Dynamik ihres chronischen Elends zu erkennen. Solch plötzlicher Einbruch von Erkenntnis würde alles lähmen und zerstören, was die menschliche Gesellschaft trotz Kriegen, Hungersnöten, emotionalem Massenmord, Kinderelend usw. noch immer irgendwie in Gang hält.

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Es würde an Wahnsinn grenzen, so große Projekte wie «Die Kinder der Zukunft» oder «Weltbürgerschaft» in Angriff zu nehmen, ohne begriffen zu haben, wie es möglich war, daß all dies Elend jahrtausendelang unvermindert, unerkannt und unangefochten bestehen konnte; daß nicht ein einziger der vielen glänzenden Versuche zur Erklärung der Situation und zur Linderung der Leiden Erfolg hatte; daß mit jedem Schritt hin zur Erfüllung des großen Traums das Elend nur schlimmer und tiefer wurde; daß es trotz bester Absichten nicht einer einzigen Religion gelungen ist, ihre Ziele zu verwirklichen; daß jede große Errungenschaft sich bald in eine Bedrohung der Menschheit verwandelte, wie z.B. Sozialismus und Brüderlichkeit, die zu Dirigismus und Unterdrückung schlimmster Art wurden. Kurz, solch schwerwiegende Projekte ins Auge zu fassen, ohne sich zuerst umzusehen und sich klar zu machen, was die Menschheit seit Jahrtausenden dahingemordet hat, wäre ein Verbrechen. Das schon bestehende Elend würde dadurch nur vergrößert.

Gegenwärtig ist eine sorgfältige Untersuchung des Christusmordes weit wichtiger als die wunderbarsten Kinder, die wir vielleicht aufziehen könnten. Jede Hoffnung, jemals den Sumpf unserer Erziehungsmisere zu durchdringen, wäre unwiderruflich verloren, wenn dieser neue und so hoffnungsvolle Versuch, Kinder auf bessere Art zu erziehen, sich festfahren und in sein genaues Gegenteil verkehren würde, so wie es allen früheren, hoffnungsvollen Unterfangen des Menschen auch ergangen ist.

Und darüber sollten wir uns voll im klaren sein: Die Umformung der menschlichen Charakterstruktur durch eine radikale Änderung der gesamten Theorie und Praxis der Kindererziehung rührt an das Leben selbst. Die tiefsten Emotionen, die das Menschentier empfinden kann, übertreffen alle anderen Lebensfunktionen in Bezug auf Umfang, Tiefe und Schicksalhaftigkeit.

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Deshalb wäre auch das Elend entsprechend tiefer und größer, wenn dieser Versuch mißlingen bzw. entarten sollte. Es gibt nichts Verheerenderes als Leben, das erst durch eine Hoffnung erregt und dann frustriert wird. Vergessen wir das nie!

Wir können dieses Problem keineswegs auf eine perfektionistische, akademische, ins Detail gehende Weise anpacken. Wir können nichts weiter tun, als das Terrain zu erkunden, um herauszufinden, wo Wertvolles für die Zukunft versteckt liegt, wo wilde Tiere durchs Land streifen, wo versteckte Fallen aufgestellt sind, um den Eindringling zu töten, und wie das alles zusammenhängt. Wir wollen nicht durch eigene Schuld scheitern, nicht durch unsere tägliche Routine oder gar durch Interessen, die überhaupt nichts mit dem Erziehungsproblem zu tun haben.

Vor einigen Jahren wurde auf einer Konferenz orgonomischer Erzieher die Tatsache genannt, daß die Erziehung ein Problem für die nächsten Jahrhunderte sei. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die ersten Generationen der «Kinder der Zukunft» noch nicht in der Lage sein werden, den vielfachen Einflüssen der emotionalen Pest zu widerstehen. Sicher werden sie hier und dort nachgeben müssen; wie, wissen wir jetzt natürlich nicht genau. Aber es besteht die Hoffnung, daß sich in diesem neuen Kindertyp langsam ein allgemeines Bewußtsein vom echten Leben entwickeln wird, das sich dann über die ganze menschliche Gesellschaft ausbreiten würde. Jener Erzieher, für den Erziehung nichts als ein lukratives Geschäft ist, würde sich dann, wenn er an eine solche Entwicklung glauben würde, erst gar nicht für Erziehung interessieren. Hüten wir uns vor solchen Erziehern!

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Der Erzieher der Zukunft wird systematisch (nicht mechanisch) das auch tun, was schon heute jeder gute Erzieher tut: Er wird die Qualitäten des lebendigen Lebens im Kinde erfühlen, wird dessen spezifische Begabungen erkennen und deren Entwicklung voll und ganz fördern. 

Solange die gesell­schaft­liche Tendenz so bleibt, wie sie es heute in überwältigendem Maße ist, d.h. wenn sie sich gegen die angeborene Fähigkeit zu lebendigem, emotionalem Ausdruck richtet, solange wird der echte Erzieher eine doppelte Aufgabe haben: Er wird die natürlichen, emotionalen Ausdrucksformen, wie sie von Kind zu Kind variieren, erkennen und lernen müssen, was zu tun ist, wenn sich die engere und weitere soziale Umgebung des Kindes gegen diese lebendigen Eigenschaften richtet. Erst in ferner Zukunft, wenn eine solche bewußte Erziehung von Kindern den krassen Gegensatz zwischen Kultur und Natur ausgeglichen haben wird, wenn bioenergetisches und gesellschaftliches Leben des Menschen sich nicht widersprechen, sondern sich ergänzen und gegenseitig fördern werden, erst dann wird diese Aufgabe ihre Gefährlichkeit verlieren. Wir müssen auf einen langsamen und schmerzvollen Prozeß gefaßt sein, der viele Entbehrungen fordern wird. Viele werden dabei der emotionalen Pest zum Opfer fallen.

Unsere nächste Aufgabe besteht darin, einerseits die grundlegenden, typischen Kennzeichen der angeborenen und sehr vielfältigen emotionalen Ausdrucksformen des Kleinkindes zu umreißen und andererseits auch die Merkmale der mechanisierten, gepanzerten menschlichen Struktur zu beschreiben, die diese Ausdrucksformen haßt und bekämpft.

Trotz der unzähligen Variationen im menschlichen Verhalten ist es der Charakteranalyse doch gelungen, Grundmodelle und gesetzmäßige Abfolgen der menschlichen Reaktionen zu umreißen. Ausführlich ist dies auf dem Gebiet der Neurosen und Psychosen geschehen. Wir wollen nicht versuchen, das gleiche in Bezug auf die typische Dynamik der emotionalen Pest zu tun.

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Spezifische Beschreibungen der individuellen Pestreaktionen werden noch in großem Umfang notwendig sein, um den Erzieher und den Arzt mit dem notwendigen Detailwissen auszurüsten.

In der christlichen Welt und den direkt oder indirekt vom Christentum beeinflußten Kulturen besteht ein scharfer Gegensatz zwischen dem «sündigen Menschen» und seinem «Gott». «Gott» schuf den Menschen «nach seinem Bilde». Der Mensch wurde als «Ebenbild Gottes» geboren. Er wird aufgefordert, «Gott ähnlich» zu werden. Trotzdem ist er «sündig». Wie ist es möglich, daß die «Sünde» in diese Welt kam, wo diese doch von «Gott» erschaffen wurde? In seinem tatsächlichen Verhalten erweist sich der Mensch sowohl als gottähnlich wie auch als sündig. Das «Gottähnliche» war zuerst da, dann brach die «Sünde» in seine Existenz ein. Der Konflikt zwischen dem Ideal Gottes und der Realität der Sünde rührt von einer Katastrophe her, die das Göttliche in das Teuflische verwandelt hat. Dies gilt ebenso für die vergangene Geschichte der menschlichen Gesellschaft wie für die Entwicklung eines jeden Kindes, seit eine mechanistischmystische Kultur die «gottähnlichen» Eigenschaften des Menschen zu ersticken begann. Der Mensch entstammt dem Paradies, und er sehnt sich ständig nach dem Paradies.

Irgendwie ist der Mensch aus dem Universum aufgetaucht, und er sehnt sich danach, dorthin zurückzukehren. Dies sind reale Gegebenheiten, wenn wir lernen, die emotionale Ausdruckssprache des Menschen zu verstehen. Der Mensch ist im Grunde gut; aber er ist auch ein Scheusal. Der Umschwung von «gut» nach «scheußlich» geschieht tatsächlich in jedem einzelnen Kind. Gott ist daher im Innern des Menschen und nicht allein außerhalb von ihm zu suchen. Das Himmelreich ist das Reich der inneren Anmut und Güte und nicht das mystische «Jenseits» mit seinen Engeln und Teufeln, in das das Scheusal im Menschen das verlorene Paradies verwandelt hat.

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Der grausame Verfolger und Christusmörder Saulus von Tarsus, der später zu Paulus, dem Kirchengründer, wurde, unterschied ganz klar — jedoch ohne Erfolg zwischen dem «Körper» als von Gott gegeben und gut und dem «Fleisch» als vom Teufel besessen und böse, das dann auch tausend Jahre später auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte. In der Unterscheidung zwischen «Körper» und «Fleisch» in der frühen Christenheit wurde unsere heutige orgonomische Unterscheidung zwischen den «primären», natürlichen und angeborenen Trieben («Gott») und den «sekundären», pervertierten und bösen Trieben («Teufel», «Sünde») vorweggenommen. Demnach war sich die Menschheit immer irgendwie ihrer schwierigen biologischen Lage bewußt, ihrer natürlichen Gaben wie auch ihrer biologischen Degeneration. In der christlichen Ideologie ist die Tragödie dieser scharfen Antithese von «Gott» (dem spiritualisierten Körper) und «Teufel» (dem zu «Fleisch» degenerierten Körper) klar erkannt und direkt zum Ausdruck gebracht worden. Im wirklichen Menschen ist die «gottgegebene» genitale Umarmung zu einem porno­graphischen «Verkehr» zwischen Mann und Frau geworden.

 

    Die Erbsünde  — Ein Mysterium    

 

Das Leben ist plastisch; es paßt sich mit oder ohne Protest, mit oder ohne Deformation, mit oder ohne Aufbegehren jeder Umweltbedingung an. Diese Formbarkeit des lebendigen Lebens, an sich eine seiner wertvollsten Eigenschaften, wird dann zur Sklavenfessel werden, wenn die emotionale Pest es gelernt hat, sie ihren eigenen Zwecken nutzbar zu machen. Ein und dasselbe Leben ist in der Tiefsee anders als auf einem hohen Berg; es ist anders in einer dunklen Höhle und wieder anders in den Blut­gefäßen.

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Das Leben im Garten Eden war anders als in der Falle, in der die Menschheit gefangen ist. Im Garten Eden weiß das Leben nichts von Fallen; es lebt einfach paradiesisch, unschuldig, froh und ohne irgendeine Ahnung, daß es ein andersgeartetes Leben geben könnte. Es würde sich weigern, einen Bericht über das Leben in der Falle auch nur anzuhören; und würde es ihn anhören, so würde es ihn nur mit seinem «Hirn» und nicht mit seinem Herzen begreifen. Das Leben im Paradies ist eben den Bedingungen im Paradies voll angepaßt.

Innerhalb der Falle lebt das lebendige Leben ein Leben in Gefangenschaft. Es paßt sich schnell und vollständig den Bedingungen in der Falle an. Diese Anpassung geht so weit, daß nur noch ein schwacher Erinnerungsrest an das Leben im Paradies bleibt. Rastlosigkeit, Hetze, Nervosität, ein unbestimmtes Sehnen, ein längst vergangener Traum, der dennoch irgendwie weiterlebt, all das wird als gegeben hingenommen. Nicht die leiseste Ahnung, daß dies Zeichen einer verschwommenen Erinnerung an ein längst vergangenes Leben im Paradies sind, stört den Seelenfrieden der Gefangenen. Die Anpassung ist vollständig; sie hat Dimensionen jenseits aller Vernunft erreicht.

 

Das Leben in der Falle ist bald so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, wie man es vom Leben in Gefängnissen kennt. Gewisse Charaktertypen entwickeln sich, die zum Leben in der Falle gehören und die dort, wo das Leben sich frei entfaltet, völlig fehl am Platze wären. Diese durch das Leben im Gefängnis geformten Charaktere unterscheiden sich stark voneinander. Sie streiten und bekämpfen sich untereinander. Sie verkünden, jeder auf seine Art, die absolute Wahrheit. 

Nur eins haben sie alle gemein: Sie rotten sich zusammen, um gemeinsam jeden zu töten, der es wagt, die entscheidende Frage zu stellen: «Wie, im Namen des barmherzigen Gottes, sind wir in diese entsetzliche Situation, in diesen Alptraum einer Falle geraten?»

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WARUM HAT DER MENSCH DAS PARADIES VERLOREN?
WAS HAT ER EIGENTLICH VERLOREN, ALS ER DER SÜNDE ZUM OPFER FIEL?

Der Mensch in der Falle hat in Jahrtausenden ein großes Buch geschaffen: die Bibel. Dieses Buch enthält die Geschichte seiner Kämpfe und Nöte, seiner Siege und Hoffnungen, seiner Sehnsüchte, Leiden und Sünden in der Gefangenschaft. Es ist von vielen Menschen in vielen Sprachen erdacht und geschrieben worden. Einige der Grundgedanken sind auch in anderen, weit entfernten Orten in der schriftlichen und mündlichen Überlieferung der Menschen zu finden. Daß die Dinge einst vor langer Zeit ganz anders waren, daß der Mensch irgendwie dem Teufel, der Sünde und der Bösartigkeit verfallen sei, ist allen Berichten aus ferner Vergangenheit gemein.

Die Bibeln der Welt sind die Berichte vom Kampf des Menschen gegen die Sünde des Menschen.

In der Bibel steht so viel über das Leben in der Falle und so wenig darüber, wie die Menschen in die Falle hineingeraten sind. Es liegt auf der Hand, daß der Ausgang der Falle auch ihr Eingang ist, durch den die Menschen aus dem Paradies in die Falle hineingetrieben wurden. Warum aber wird nur in ganz wenigen Abschnitten der Bibel darüber gesprochen, und dann in einer Sprache, die absichtlich die Bedeutung der Worte verschleiert?

Der Sündenfall von Adam und Eva ist ganz offensichtlich und ohne jeden Zweifel etwas, was sie auf genitalem Gebiete gegen Gottes Gebote getan haben:

Und sie waren beide nackt,
der Mensch und sein Weib,
und schämten sich nicht.
(1. Mose 2.25)

Hieraus folgt, daß Mann und Frau im Paradies sich ihrer Nacktheit nicht bewußt waren, daß sie sich ihrer nicht schämten und daß dies Gottes Wille und völlig selbstverständlich war.

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Doch was geschah dann? In der Bibel heißt es:

Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde,
die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe:
Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten?

Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt:
Esset nichts davon, rühret's auch nicht an, daß ihr nicht sterbet.

Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset,
so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott, und wissen,
was gut und böse ist.

Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre,
und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre,
weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß,
und gab ihrem Mann auch davon; und er aß.

Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr,
daß sie nackt waren; und flochten Feigenblätter zusammen,
und machten sich Schürze.

Und sie hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging,
da der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte
sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn
unter die Bäume im Garten.

Und Gott der Herr rief Adam, und sprach zu ihm:
Wo bist du?

Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten, und fürchtete mich;
denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.

Und er sprach: Wer hat dir's gesagt, daß du nackt bist?

Hast du nicht gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?
Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.
Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum hast du das
getan?
Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich also, daß ich aß.

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Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du solches getan hast,
seist du verflucht vor allem Vieh und vor allen Tieren auf dem Felde.
Auf deinem Bauche sollst du gehen, und Erde essen dein Leben lang.

Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe,
und zwischen deinem Samen und ihrem Samen.
Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.

Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst;
du sollst mit Schmerzen Kinder gebären;
und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein;
und er soll dein Herr sein.

Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorcht der Stimme deines Weibes,
und gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach:
Du sollst nicht davon essen, - verflucht sei der Acker um deinetwillen;
mit Kummer sollst dich darauf nähren dein Leben lang.

Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,
bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.
Denn du bist Erde, und sollst zu Erde werden.

Und Adam hieß sein Weib Eva, darum daß sie eine Mutter ist aller Lebendigen.
Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen, und kleidete sie.

Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner,
und weiß was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand,
und breche auch von dem Baum des Lebens, und esse, und lebe ewiglich!

Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld baute,
davon er genommen ist; und trieb Adam aus,
und lagerte vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen,
hauenden Schwert, zu bewahren den Weg.

(1.Mose 3.1-24)

Es gab eine Schlange im Paradies, die war «listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte». Nach christlicher Auslegung ist die Schlange im Garten Eden kein kriechendes Reptil.

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Die Schlange war ursprünglich «das schönste und listigste aller Geschöpfe». Spuren dieser Schönheit sind ihr trotz der (späteren) Verfluchung geblieben. Jede Bewegung der Schlange ist anmutig, und viele Arten haben wunderschöne Farben. In Gestalt der Schlange erschien der Satan zuerst als ein Engel des Lichts. Die Schlange ist also ein Symbol des Lebens selbst und des männlichen Phallus.

Dann kommt plötzlich irgendwie, sozusagen aus dem Nichts, die Katastrophe. Niemand weiß, niemand hat je gewußt, niemand wird je herausfinden, wie und warum es geschah: Die wunderschöne Schlange, der «Engel des Lichts», das «listigste aller Geschöpfe», «dem Menschen Untertan», wird verflucht und zu Gottes «Beispiel für die Wirkung der Sünde»; ursprünglich das «schönste und listigste der Geschöpfe» wird sie zu einem «ekelhaften Reptil».

Und als ob ein besonderes Gremium zusammengetreten wäre, um das dramatischste, teuflischste und katastrophalste Ereignis in der Geschichte der Menschheit zu verschleiern und auf ewig einem Verständnis durch Hirn oder Herz zu entziehen, wird diese Katastrophe mystifiziert und unantastbar gemacht; sie wird zu einem Teil des großen Geheimnisses, wie der Mensch in die Falle geriet. Zweifellos enthält sie die Lösung des Rätsels, weshalb der Mensch in der Falle sich weigert, die Falle einfach durch den Ausgang zu verlassen, durch den er einst hereinkam. Die Bibelauslegung sagt an dieser Stelle: «Das tiefste Geheimnis des Sühnopfers Christi ist hier angedeutet», d.h. in der Verwandlung der Schlange vom «schönsten und listigsten der Geschöpfe in ein ekelhaftes Reptil».

Aber warum das alles? Hören wir weiter:

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Es war da ein besonderer Baum im Garten Eden, 
und Gott hatte zum Menschen im Paradies gesagt:
«Du sollst nicht von jedem Baum im Garten essen!»

Da sprach das Weib zur Schlange: 
Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten
hat Gott gesagt: 
Esset nichts davon, rühret's auch nicht an, 
daß ihr nicht sterbet. 
(1.Mose 3.2-3) 

Hat irgendwann im Laufe von sechstausend Jahren irgendjemand diesen Baum erklärt? Nicht ein einziger. Warum? Das Geheimnis des Baumes ist ein Teil des Geheimnisses, wie der Mensch in die Falle geriet. Die Enträtselung des Geheimnisses dieses Baumes könnte vielleicht auch das Problem lösen, warum der Mensch überhaupt in der Falle ist. Sicherlich würde eine Enträtselung des Geheimnisses des verbotenen Baumes auf den Eingang der Falle weisen, der, in umgekehrter Richtung benutzt, zu einem Ausgang würde. Deshalb hat nie jemand daran gedacht, das Rätsel des verbotenen Baumes zu lösen; und jedermann in der Falle war über Jahrtausende hinweg eifrig bemüht, über die schlimme Situation in der Falle mit Unmengen von Bücher und Worten zu scholastizieren, talmudisieren und exorzieren, aber all das nur mit dem einen Ziel: Die Lösung des Rätsels vom verbotenen Baum zu verhindern.

Die Schlange, noch schön und listig, wußte es besser:

Da sprach die Schlange zum Weibe:
Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset,
so werden eure Augen aufgetan,
und werdet sein wie Gott,
und wissen, was gut und böse ist.
(1. Mose 3.4-5)

Was aber, um alles in der Welt, soll das nun bedeuten, daß die Schlange so den Sündenfall des Menschen herbeiführte?

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Wenn der Mensch, der im Paradies glücklich nach dem Willen Gottes lebt, von einem bestimmten Baum ißt, wird er wie Gott, die Augen werden ihm geöffnet, und er wird wissen, «was gut und böse ist». Aber wie kommt solch ein teuflischer Baum überhaupt erst einmal in Gottes Garten?

Und wenn man von einem solchen Baum ißt, der die Frucht der Erkenntnis trägt, und man wie Gott selber wird, warum verliert man dann das Paradies? Soweit ich weiß, sagt die Bibel darüber nichts. Und es ist zu bezweifeln, daß irgendwer jemals diese Frage gestellt hat. Die Legende scheint keinen Sinn zu haben: Wenn der Baum ein Baum der Erkenntnis ist, der den Unterschied zwischen gut und böse erkennen läßt, was ist dann schlimm daran, von seinen Früchten zu essen? Wenn man von diesen Früchten ißt, müßte man Gottes Wegen doch besser und nicht schlechter folgen können. Auch das ergibt keinen Sinn.

Oder ist es etwa auch im Paradies verboten, Gott zu erkennen und wie Gott zu sein, was ja bedeutet, gemäß Gottes Willen zu leben?

Oder sind das alles nur zusammengebraute Phantastereien der Menschen in der Falle, die sich eine schwache Erinnerung an das vergangene Leben außerhalb der Falle bewahrt haben? Es ergibt keinen Sinn. Durch die Jahrtausende hindurch ist der Mensch von dem Verlangen getrieben worden, Gott zu erkennen, Gottes Wegen zu folgen, Gottes Leben und Gottes Liebe zu leben; und wenn er sich dann ernsthaft darum bemüht, indem er vom Baum der Erkenntnis ißt, so wird er bestraft, aus dem Paradies vertrieben und zu ewigem Elend verdammt. Das ergibt einfach keinen Sinn, und es ist anzunehmen, daß kaum je ein Vertreter Gottes auf Erden diese Frage gestellt oder auch nur in diese Richtung zu denken gewagt hat.

Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre,
und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre,
weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß,
und gab ihrem Mann auch davon; und er aß.
Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr,
daß sie nackt waren; und flochten Feigenblätter zusammen,
und machten sich Schürze.
(1. Mose 3.6-7)

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Als der Mensch somit das erste Mal in die Falle geriet, verwirrte sich sein Geist. Er verstand nicht, warum er in die Falle geraten war. Er hatte das Gefühl, daß er etwas Unrechtes getan haben mußte, aber er wußte nicht, was. Er hatte sich seiner Nacktheit nicht geschämt, und dann schämte er sich plötzlich seiner Geschlechtsorgane. Er hatte vom Baum der verbotenen «Erkenntnis» gegessen, was in der Sprache der Bibel heißt, daß er Eva «erkannte», daß er sie genital umarmte. Deshalb wurde er aus dem Garten Eden vertrieben. Gottes eigene so überaus schöne Schlange hatte beide verführt; das Symbol des pulsierenden, lebendigen Lebens und des männlichen Geschlechtsorgans hatte sie beide verführt.

Von hier bis zum Verständnis des Lebens in der Falle klafft ein breiter und tiefer Abgrund. Bei der Anpassung an die Falle hat das Leben neue Daseinsformen entwickelt, Formen und Mittel, die im Garten Eden nicht nötig waren, die für das Leben in der Falle aber unentbehrlich sind.

Eine schweigende und leidende, träumende und sich abrackernde Menschheit, abgeschnitten von Gottes Leben, war das Fundament, auf dem sich die Priester und die Propheten gegen die Priester etablieren konnten; die Könige und die Rebellen gegen die Könige; die großen Heiler des menschlichen Elends in der Falle und mit ihnen auch die großen Quacksalber und medizinischen «Autoritäten», die Traumaturgen und Okkultisten. Mit den Herrschern kamen die Freiheitskrämer, und mit den großen Organisatoren der Falleninsassen kam die politische Korruption, kamen die Barabbasse und das kriechende Gewürm der Mitläufer. Es entstanden Sünde und Verbrechen gegen das Gesetz und natürlich die Richter von Sünde und Verbrechen und ihre Henker.

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Es kam zur Unterdrückung von Freiheiten, die in einer Falle nicht zu leben waren, und zu den Verbänden, die für bürgerliche Freiheiten in der Falle kämpften. Aus dem Morast erwuchsen auch große politische Körperschaften, die «Parteien». Da gab es die sogenannten «Konservativen», die das aufrechtzuerhalten suchten, was sie den Status quo innerhalb der Falle nannten, und die für das Gesetz und die Ordnung eintraten, die man geschaffen hatte, um das Leben in der Falle einigermaßen in Gang zu halten.

 

In Opposition zu ihnen standen die sogenannten «Progressiven», die kämpften, litten und am Galgen starben, weil sie mehr Freiheit in der Falle forderten. Hier und dort gelang es solchen Progressiven, Oberhand über die Konservativen zu gewinnen, und sie begannen, die «Freiheit in der Falle» oder «Brot und Freiheit in der Falle» zu organisieren.

Weil aber niemand da war, der der großen Masse der Menschen Brot und Freiheit «geben» konnte, weil sie dafür ja arbeiten gemußt hätten, wurden die Progressiven bald selbst zu Konservativen, denn sie sahen sich gezwungen, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, genau wie vor ihnen ihre ewigen Widersacher, die Konservativen. Später entstand dann eine neue Partei, die wollte, daß die Massen der leidenden Menschen über das Leben in der Falle bestimmen sollten und nicht Priester, Könige und Herzöge.

Sie gab sich größte Mühe, die Volksmassen aufzurütteln und zu aktivieren; aber abgesehen von einigen Morden und der Zerstörung der Häuser einiger Reicher in der Falle geschah wenig. Die breite Masse der Menschheit wiederholte nur, was sie jahrtausendelang von oben gehört und gesehen hatte, und nichts änderte sich. Das Elend vergrößerte sich noch, als eine sehr geschickte Partei hervortrat, die der Menschheit die «Freiheit des Volkes in der Falle» versprach und hier und da das Leben zur Hölle machte und dabei die alten, abgedroschenen Schlagworte der Könige, Herzöge und Tyrannen benutzte.

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Diese Parteien, die für die Freiheit des Volkes eintraten, hatten zunächst großen Erfolg. Doch bald kam man ihnen auf die Schliche. Die Kombination ihres Schlagwortes von der Freiheit des Volkes in der Falle — im Unterschied zu anderen Freiheiten in der Falle — mit den alten Methoden der Könige war deshalb so wirksam, weil die Führer dieser Parteien, diese kleinen Freiheitskrämer, selbst aus der Masse der Gefangenen stammten. Als sie dann die Macht über einen kleinen Bereich erlangt hatten, stellten sie verwundert fest, wie leicht es ist, Polizisten, Soldaten, Diplomaten, Richter, Wissenschaftler und Vertreter fremder Mächte auf einen kleinen, energischen Knopfdruck hin springen zu lassen.

Die kleinen Freiheitskrämer fanden nun so viel Gefallen an diesem Spiel der Knopfdruckmacht, daß sie darüber die Freiheit des Volkes in der Falle ganz vergaßen und sich nur noch ein Vergnügen daraus machten, in den Palästen der alten Herrscher, die sie ermordet hatten, möglichst oft auf möglichst viele Knöpfe zu drücken. Durch die Begeisterung am Spiel an den Schalttafeln der Machtmaschinerie wurden sie machttrunken. Sie konnten sich nicht lange halten und wurden bald von anderen Machtknopfdrückern verdrängt, den guten, alten Konservativen, die sich in ihrer Seele noch etwas Anstand und Haltung bewahrt hatten, schwindende Erinnerungen aus den Tagen im Paradies.

Sie alle kämpften und stritten miteinander, stießen sich gegenseitig hin und her und töteten ihre Gegner mit oder ohne Deckung durch das Gesetz, kurz, sie boten ein getreues Bild der Sünde des Menschen und der Erfüllung des Fluchs im Garten Eden. Die Masse der gefangenen Menschheit nahm an diesen Gemetzeln des pestkranken Lebens in der Falle nicht wirklich Anteil. Nicht mehr als ein paar Tausend von etwa zwei Milliarden menschlicher Seelen nahmen an all dem Tumult teil. Die andern litten nur, träumten und warteten ... auf was?

Auf den Erlöser oder darauf, daß sich irgendetwas Außergewöhnliches ereignen und sie befreien würde; auf Befreiung ihrer Seelen aus der Falle, die sie Körper nennen; auf Wiedervereinigung mit der großen Weltseele oder auf die Hölle. Die Hauptbeschäftigung der Mehrheit der Menschheit, weit entfernt vom politischen Tumult, war jedoch Träumen, Warten und Sichabrackern. Als in der Falle die großen Kriege ausbrachen, kam es auch zum großen Sterben; wer Feind war, änderte sich dabei von Jahr zu Jahr, wie das Publikum an den Bankschaltern. Alles war ziemlich bedeutungslos, auch wenn es weh tat. Die Masse der leidenden Menschheit wartete ohnehin auf Befreiung von diesem sündigen Leben, und die paar Krachmacher waren, aus der Perspektive des Lebens oder «Gottes» gesehen, kaum von Bedeutung.

 

Und Gottes Leben wurde in Milliarden von Kindern überall in der Falle geboren. Aber es wurde von den Menschen in der Falle sofort wieder abgetötet, denn sie erkannten entweder Gottes Leben in ihren Kindern nicht, oder sie erschraken zu Tode beim Anblick des lebendigen, beweglichen, anständigen, einfachen Lebens. Und so kam es dazu, daß der Mensch immer in der Falle geblieben ist. Hätte man die Kinder, so wie Gott sie geschaffen hat, sich selbst überlassen, sie hätten gewiß den Ausgang der Falle gefunden. Das aber ließ man nicht zu. Besonders streng war das verboten, als in der Falle die Partei der «Freiheit des Volkes» regierte. Allen, die sich nicht voll und ganz der Falle, sondern den Neugeborenen verpflichtet fühlten, drohte die Todesstrafe im Namen des «Großen Führers und Freundes aller Gefangenen in der Falle».

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Wilhelm Reich 1953