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2  Das Himmelreich auf Erden   - Reich-1952

  

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Der Mythos von Jesus Christus beschreibt auf beinahe vollkommene Art und Weise die Eigenschaften «Gottes», mit anderen Worten, der angeborenen, naturgegebenen Lebensenergie. Was dieser Mythos nicht weiß und auch nicht akzeptiert, ist, daß das Böse, der Teufel, ein pervertierter Gott ist, entstanden aus der Unterdrückung des Göttlichen.

Das Fehlen dieser Erkenntnis ist einer der Eckpfeiler der menschlichen Tragödie.

Im orgonomischen Zentrum zur Erforschung des Kleinkinds haben wir diese natürlichen, «göttlichen» Eigenschaften bei kleinen Kindern beobachtet, Eigenschaften, die bis heute das idealisierte, unerreichbare Ziel jeder Religion und jeder Ethik geblieben sind. Andersherum hat jede der Religionen, die in einer der großen asiatischen Gesellschaften entstanden ist, das Menschentier als sündig, schlecht und bösartig dargestellt; und alle Religionsphilosophen der Menschheitsgeschichte hatten nur ein einziges Ziel: den Nebel zu durchdringen, die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen und ein Mittel gegen das Böse im Menschen zufinden. Alles philosophische Streben und Denken war im Grunde auf das Rätsel des Bösen und dessen Beseitigung gerichtet.

  Wie kann das Böse der Schöpfung Gottes entstammen? 

Gott war in jedem Neugeborenen, damit es fühlen, sehen, riechen, lieben kann, damit es durch ihn geschützt sich entwickeln kann. Und bis auf den heutigen Tag wurde in jedem einzelnen Neugeborenen Gott erdrückt, bestraft und mit Schrecken bemerkt. Das ist nur einer von vielen Bereichen des chronischen Christusmordes. Die Sünde (das Böse) wird vom Menschen selbst geschaffen. Das blieb verborgen.

Das Reich Gottes ist in dir selbst. Es wurde mit dir geboren. Aber alle Religionen sagen dir, daß du vor Gott versagst; du erkennst ihn nicht; du verrätst ihn; du betrügst ihn; und du bleibst solange sündig, bis du zu Gott zurückgekehrt bist. Solange bleibt auch der Teufel eine Versuchung für dich; und du mußt zu Gott beten, um der Versuchung zu widerstehen. Wie ist es möglich, daß der Mensch Gott direkt vor seinen Augen nicht zu erkennen vermag?

Die Eigenschaften des frei funktionierenden, orgonotischen Lebenssystems und Beobachtungen an Kindern, die mit ihren natürlichen Rechten ausgestattet frei aufwachsen, bestätigen diese mystifizierte religiöse Ahnung einer Grundwahrheit. Erinnern wir uns, daß wir hier weder an der Exegese religiösen Glaubens noch an der Billigung religiösen Lebens interessiert sind; vielmehr sind wir lebhaft daran interessiert zu erfahren, wieviel von der biologischen Wahrheit dem Menschen im Laufe der Zeit bekannt gewesen ist und wieviel von ihr er angesichts seiner von Angst und Haß geprägten Haltung gegenüber dem Leben zu erkennen wagte. Christus steht stellvertretend für diese Erkenntnis, und deshalb muß er sterben.

 

 Die «Kinder der Zukunft» werden der Vergangenheit entwachsen 

Geschwindigkeit und Wirksamkeit der Veränderungen werden in großem Maße davon abhängen, inwieweit eine glücklichere Zukunft in den Träumen der Menschheit schon vorweggenommen ist, aber auch davon, inwieweit diese im Verlaufe des Konflikts zwischen Teufel und Moral schon hintertrieben worden ist.

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Für die Kindererziehung gibt es überhaupt keinerlei Hoffnung, wenn nicht eine derartige grundsätzliche Orientierung zustandekommt. Will man den Menschen erkennen, muß man sich über das Geheimnis des gepanzerten Menschen im klaren sein: den Haß auf alles Lebendige.

Jesus wußte, daß die Kinder «es» haben. Er liebte Kinder und war selbst wie ein Kind; er war wissend und dennoch naiv; er war voller Vertrauen und dennoch vorsichtig; er strahlte Liebe und Güte aus und konnte dennoch fest zuschlagen; er war sanft und dennoch stark; so wird auch das «Kind der Zukunft» sein. Das ist keine Idealisierung. Wir sind uns der Tatsache voll bewußt, daß auch nur die geringste Idealisierung dieser Kinder bedeutete, die Wirklichkeit in einem Spiegel zu sehen, jedem Zugriff entrückt.

Das Gottähnliche ist also weder bloß rachsüchtig und streng, noch ist es bloß gut und sanft, dem Feinde auch noch die andere Wange darbietend. Es kennt sämtliche Ausdrucksformen des Lebens. Orgonotische Emotionen sind gut und sanft, wo Güte und Sanftheit angebracht sind; sie sind hart und schlagen hart zu, wo das Leben verraten und verletzt wird. Das Leben ist durchaus zu unerbittlichem Zorn fähig, wie wir bei der Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel sehen können. Es verdammt den Körper nicht und hat sogar Verständnis für die Hure oder die untreue Ehefrau; es verfolgt und verdammt weder die Hure noch die untreue Ehefrau. Wenn es von «Ehebruch» spricht, dann meint es nicht dasselbe wie die sexuell ausgehungerten, bösartigen, verhärteten und unbeweglichen Menschentiere in irgendeiner übervölkerten Großstadt.

Gott ist das Leben. Das Symbol für beides im christlichen Glauben ist Jesus Christus, ein Mensch mit starker Ausstrahlung. Er zieht die Menschen an, sie umschwärmen ihn in Massen, und sie lieben ihn. In Wirklichkeit ist diese Liebe ein Hunger nach Liebe, der sich dann, wenn er nicht befriedigt wird, leicht in Bösartigkeit verwandelt.

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Menschen mit starker Ausstrahlung und voller Leben sind geborene Führer. Sie sind ganz automatisch Führer, ohne Anstrengung und ohne sich selbst zum Führer auszurufen, wie das die Führer der emotionalen Pest tun. Kinder, die aus innerem Glück heraus strahlen, sind ebenfalls geborene Führer anderer Kinder. Diese umschwärmen sie, lieben sie, bewundern sie und suchen Lob und Rat von ihnen.

Eine solche Beziehung zwischen führenden und geführten Kindern erwächst spontan aus ihren Spielen. Das «Kind der Zukunft» ist sanft und zärtlich, es gibt freiwillig und gern; seine Bewegungen sind harmonisch, seine Augen strahlen und schauen freundlich, ruhig und tief in die Welt. Seine Hände sind weich; es kann so streicheln, daß der andere beginnt, eigene Lebensenergie auszustrahlen. Darin besteht die völlig mißverstandene «Heilkraft» Christi. Die meisten Menschen, die gepanzerten Kleinkinder eingeschlossen, sind kalt oder klamm und haben ein eingeengtes Energiefeld. Sie strahlen nicht und geben anderen keine Kraft. Sie brauchen selbst Kraft und saugen sie auf, wo immer sie sie auch bekommen können. Sie füllen sich mit der Kraft und der strahlenden Schönheit Christi wie Verdurstende mit Wasser aus einem Brunnen.

Christus gibt großzügig. Er kann großzügig geben, weil seine Fähigkeit, Lebensenergie aus dem Universum aufzunehmen, unbegrenzt ist. Christus meint nicht, daß er etwas Besonderes tut, wenn er anderen von seiner Kraft gibt. Er macht es gem. Mehr noch: er selbst braucht dieses Geben, denn er ist voller Kraft, bis zum Überfluß. Er verliert nichts, wenn er reichlich gibt. Im Gegenteil, er wird stärker und reicher, wenn er anderen gibt; nicht nur durch die Freude am Geben. Er lebt auf von diesem Geben, denn seine Energie wandelt sich nun schneller um.

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Je mehr Kraft und Liebe er abgibt, desto mehr neue Kraft bekommt er aus dem Universum, desto größer und inniger ist sein Kontakt mit der Natur um ihn herum und desto klarer ist sein Bewußtsein von Gott, der Natur, der Luft, den Vögeln, den Blumen und den Tieren. Zu all dem hat er engen Kontakt, er nimmt es mit seinem orgonotischen Ersten Sinn wahr, sicher in seinen Reaktionen, harmonisch in seiner Selbst­regulation und unabhängig von irgendeinem veralteten «du sollst» oder «du sollst nicht». Er ist sich nicht bewußt, daß noch manch anderes «du sollst» und «du sollst nicht» später auf tragischste Weise hereinbrechen und Christus in jedem einzelnen Kind töten wird.

Die «Heilkraft» Christi, die später vom gepanzerten Menschen so fürchterlich verdreht und geschäftlich ausgebeutet wird, ist eine heute gut verstandene und leicht beobachtbare Fähigkeit, die bei allen Männern und Frauen vorhanden ist, die mit natürlichen Führungsqualitäten ausgestattet sind. Ihre starken Orgon­energiefelder sind in der Lage, die trägen und «toten» Energiesysteme der «Elenden» zu erregen. Diese von außen bewirkte Erregung des schwachen Lebenssystems wird aufgrund der damit verbundenen Ausdehnung des Nervensystems als Linderung von Spannung und Angst erlebt; sie erzeugt sogar ein ruhiges, angenehmes Strömen echter Liebe in einem ansonsten haßgeladenen Organismus. Die erregte Bioenergie des schwachen Organismus vermag die Blutgefäße zu erweitern, die Gewebe besser mit Blut zu versorgen, die Heilung von Wunden zu beschleunigen und den degenerativen Auswirkungen unbeweglicher Lebensenergie entgegenzuwirken.

Christus selbst bildet sich auf seine Fähigkeiten als Heiler nichts ein. Kein großer Arzt stolziert als Heiler durch die Gegend. Kein gesundes Kind denkt je über seine wohltuenden Kräfte nach. Hier ist einfach lebendiges Funktionieren am Werk, ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Lebensausdrucks Christi im Kind, im wirklichen Arzt, in Gott selbst.

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Christus ermahnt seine mystischen Anhänger und verblüfften Bewunderer sogar, niemandem von seinen Heilkräften zu erzählen. Von einigen späteren Historikern des Christentums wird dies als «Feigheit vor dem Feind» mißdeutet werden, als «Angst davor, der Zauberei bezichtigt werden zu können». Nein, dies hat mit Feinden oder Zauberei überhaupt nichts zu tun, obwohl Christus später auch aus diesen Gründen der Pest zum Opfer fällt. Es ist tatsächlich so, daß Christus seinen Heilkräften nicht viel Aufmerksamkeit schenkt. Sie gehören zu ihm und sind so sehr ein Teil von ihm, daß sie gar keine besondere Aufmerksamkeit verdienen; sie sind genauso wenig ein Grund, um stolz zu sein, wie Gehen, Lieben, Essen, Denken oder Geben. Sie sind selbstverständlicher Bestandteil seiner selbst. Sie sind eines der grundlegenden Merkmale des genitalen Charakters.

Christus sagt seinen Mitmenschen: Das Himmelreich ist im Innern eines jeden von euch. Es ist auch außerhalb von euch, bis in alle Ewigkeit. Wenn ihr euch dessen bewußt seid und gemäß seinen Gesetzen und seinen Funktionen lebt, werdet ihr Gott fühlen und erkennen. dies ist eure Erlösung, dies ist euer Erlöser.

Sie jedoch verstehen Christus nicht. Worüber spricht er eigentlich? Wo sind die «Zeichen»? Warum sagt er uns nicht, ob er der Messias ist? Ist er der Messias? Er sollte es beweisen, indem er Wunder vollbringt. Er sagt ja gar nichts. Er ist selbst ein Geheimnis. Er muß entlarvt werden; sein Geheimnis muß gelüftet werden.

Christus ist überhaupt kein Geheimnis. Er verrät es ihnen nicht, weil es überhaupt nichts zu verraten gibt, was ihre mystischen Sehnsüchte zufriedenstellen könnte. Christus ist. Er lebt einfach sein Leben. Aber er ist sich nicht von vornherein bewußt, daß er so ganz anders ist als sie alle.

Für Christus, der selbst ganz Natur ist, sind Natur und Gott eins. Er sagt seinen Freunden, daß Kinder dies wissen. Und er glaubt, daß sie alle Kinder Gottes sind.

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Für ihn ist Gott Wachstum und Wachstum ist Gott. Sie wissen noch immer nicht, wovon er spricht. Sie stellen sich Gott als bärtigen, zornigen und strafenden Vater vor. Deshalb scheint Christus ihnen in verhüllenden Parabeln zu sprechen. Für sie macht Gott das Wachstum. Sie glauben nicht, daß sie Kinder Gottes sind, sondern Subjekte, die einem zornigen Gott unterworfen sind. Für sie wurde die Welt von Gott in sieben Tagen aus dem Nichts geschaffen. Wie kann Gott dann selbst Natur sein?

Christus weiß von der eingeborenen Moral und von der natürlichen Sozialität des Lebens. Er predigt von der natürlichen Güte der Armen und Elenden. Die Armen sind wie Kinder. Glaube ist Kraft. Glaube kann Berge versetzen. Glaube gibt Stärke. Glaube ist das Gefühl von Gott oder vom Leben in einem selbst. Glaube ist Selbstsicherheit, Stärke und Bewegungskraft.

Sie wissen nicht, wovon er spricht. Sie sind von der Natur in sich selbst ganz erbärmlich abgeschnitten. Sie müssen durch Drohungen in Schach gehalten werden, damit sie die Gesetze der Moral und der Sozialität befolgen. Sie haben das Reich Gottes verloren und sehnen sich immerfort nach dem Paradies. Sie stellen sich das Paradies als ein Land vor, in dem man keine Bienen mehr halten muß, um Honig zu bekommen. Der Honig fließt in großen Honigflüssen vorbei, und man braucht nicht einen Finger krumm zu machen. Auch für die Milch braucht man selbstverständlich nicht zu arbeiten; auch sie fließt in großen Flüssen vorbei.

Wenn es wahr ist, daß Gott sich um jeden Spatz im Universum kümmert, dann würde er sich im Paradies ebenso um sie kümmern. Keine Arbeit, keine Anstrengungen, keine Sorgen, nur Milch und Honig, die in Flüssen vorbeifließen. Und Manna würde auch vom Himmel fallen. Sie brauchten sich nur zu bücken, es aufzuheben und in den Mund zu stecken.

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Aber aus irgendwelchen Gründen fällt kein Manna vom Himmel, und für Milch und Honig muß hart gearbeitet werden. Das ist so, weil Gott seinen Messias noch nicht geschickt hat, um sie zu erlösen. Moses hatte das Land versprochen, in dem Milch und Honig in großen Strömen fließen. Aber das entpuppte sich als Traum, der bald zum Alptraum wurde:  römische Herrschaft mit Soldaten, Steuern, Unterwerfung und Verfolgung. Doch der Messias kommt ja. Christus ist so grundsätzlich anders als sie. Er spricht eine Sprache und lebt ein Leben, das sie nicht verstehen können. Das bestätigt ihre Überzeugung, daß er der Messias ist, der sie erlösen wird. Was sie nicht verstehen können, das fürchten oder bewundern die Menschen. Sie fühlen sich wohl er, wenn sie ihm nahe sind. Die Kinder mögen ihn und scharen sich um ihn, als wäre er Gott selber. Damals war es noch nicht Brauch, kleine Kinder in weißen Kleidern den Staatsmännern Blumen bringen zu lassen. Das kam erst rund zweitausend Jahre später auf.

Christus erfaßt nicht ganz, was mit ihm geschieht. Er offenbart sich nicht, weil er nichts zu offenbaren hat. Er lebt ihnen einfach voraus. Und weil erfühlt und sieht, wie elend sie sind, so anders als er, versucht er ihnen zu helfen. Er versucht, ihnen seine eigenen Empfindungen der Einfachheit, Unmittelbarkeit und Naturnähe zu vermitteln. Er liebt Frauen. Er umgibt sich mit Frauen wie mit Männern; und er lebt seinen Körper «im Körper», wie Gott ihn geschaffen hat. Nicht das Fleisch lebt er, sondern den Körper. Er fühlt und erlebt Gott so grundsätzlich anders als die Schriftgelehrten und Talmudisten. Diese haben Gott in sich verloren; nun suchen sie verzweifelt nach ihm, versuchen ihn sozusagen aus ihren Litaneien zu quetschen; sie flehen den niemals erkannten Gott an, sich zu offenbaren. Vergebens: sie schaffen es nicht. Daher hassen sie alles, was sie an Gott, so wie er wirklich ist, erinnert.

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Sie müssen den Glauben predigen, weil sie keinen Glauben mehr haben. Sie müssen Gehorsam gegenüber den Gesetzen Gottes predigen, weil die Menschen ihre Gottähnlichkeit verloren haben. Für sie ist Gott ein fremder, zorniger und hartherziger Gott. Er hatte sie schon einmal gezüchtigt und aus dem Paradies vertrieben. Er hat seinen Engel mit dem flammenden Schwert an den Eingang gestellt, um ihre Rückkehr zu verhindern. Sie wurden Opfer des Teufels.

Der Teufel ist Krankheit und Fleischeslust, Gier und Mord, Verrat am Mitmenschen, Betrug, Lüge und Geldgier. Sie haben Gott verloren und erkennen ihn nicht mehr Jahrhundertelang haben viele Propheten sie ermahnt, zu Gott zurückzukehren; aber keiner von ihnen wagte es, Gott so zu erkennen, wie er im Menschen lebt und wirkt. Das Fleisch hatte den Körper vollständig verdrängt. Sogar die Neugeborenen waren nicht mehr gottähnlich, sondern schon im verkrampften, kalten und schalgewordenen Mutterleib blaß, krank und elend geworden.

Selbstverständlich war Gott noch immer in ihnen; aber er war verschüttet und derart verunstaltet, daß ihn niemand mehr zu erkennen vermochte. Gott in sich selbst zu fühlen war untrennbar mit schwerer Angst verbunden. Von daher kam ihre Überzeugung, man dürfe Gott nicht erkennen. Sie kamen zur Überzeugung, Gott nicht erkennen zu dürfen, obwohl die Gebote fordern, ihn zu erkennen und gemäß seinem Willen zu leben. Wie kann man gemäß dem Willen eines Wesens leben, das man nicht erkennt und niemals erkennen soll? Niemand sagt es ihnen. Niemand kann es ihnen sagen. Alles, was mit Gott zu tun hat, wird in eine weit entfernte Zukunft verlegt, in eine große, ehrfurchtgebietende Hoffnung, in eine Illusion, der sie in Verzweiflung ihre Arme entgegenstrecken. Und dennoch: Gott ist in ihnen, allerdings unerreichbar und vor ihrem unheilvollen Zugriff durch Angst und Schmerz geschützt. Ein furchterregender Engel schützt die Engel vor ihnen selbst.

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Christus weiß, daß die Menschen erbärmlich sind; jedoch kann er gar nicht wissen, wie sie tatsächlich sind, weil er selbst so grundverschieden von ihnen ist und dies aber selbst nicht weiß. Er glaubt, daß sie so sind wie er. Ist er nicht ihr Bruder? Ist er nicht mit ihnen zusammen aufgewachsen? Hat er nicht als kleiner Junge mit ihnen gespielt, die gleichen Freuden und Sorgen erlebt? Wie konnte er da wissen, daß er so grundverschieden von ihnen war? Hätte er es gewußt, so hätte ihn das getrennt von ihnen, isoliert, in die Einsamkeit getrieben; es hätte ihn daran gehindert, sich in seinen kleinen Freuden und Sorgen mit allen Kindern Gottes eins zu fühlen.

Jedoch war er so grundverschieden von allen anderen, daß allein deren auffallender Mangel an dem, was er im Überfluß besaß, es ermöglichte, sein Anderssein zu erkennen.

Christus trat nicht als Heiliger auf. Er lebte einfach auf eine Art, wie seine Mitmenschen sie sich als die eines wahrhaft Heiligen erträumten. Lebt eine Blume, «als ob» sie eine Blume sei, ein Reh, «als ob» es ein Reh sei? Ernennen sich Blume oder Reh zu Blume oder Reh? Sie sind, was sie sind. Sie leben es. Sie funktionieren. Sie existieren in ihrer stetigen Realität ohne weiteres Grübeln oder Fragen. Würde jemand zu Blume oder Reh sagen: «Hör zu, du bist so herrlich, du bist eine Blume, ein Reh!», würden sie den Sprecher äußerst erstaunt anschauen. Was meinst du ? Ich verstehe dich nicht. Selbstverständlich bin ich eine Blume, ein Reh. Was sonst soll ich sein? Und die mystischen Bewunderer würden nicht verstehen, was Reh oder Blume ihnen damit sagen würden. Sie würden staunend vor dem Wunder verharren. Sie würden weiterhin sein wollen wie die Blume oder das Reh. Letztendlich pflücken sie die Blume und töten das Reh. Dies ist unausweichlich bei der Lage der Dinge, wie sie nun einmal ist.

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Sie lieben Jesus, weil er das ist, was sie nicht sind, und niemals sein können. Sie versuchen, von seiner Kraft, seiner Einfachheit und spontanen Schönheit etwas aufzusaugen. Aber es gelingt ihnen nicht. Sie können weder sein wie Christus noch ihn in sich aufnehmen. Sie können sich besser, stärker, weiser und anders fühlen als sie es waren und sind, allein dadurch, daß sie ihn reden hören, ihn anschauen, die eigenartig einfachen Wahrheiten anhören, die er ihnen erzählt und mit denen er jedesmal den Nagel auf den Kopf trifft und nie am Wesentlichen vorbeigeht.

Christus verfehlt nie das Wesentliche, weil er mit allem, was um ihn herum geschieht, einen vollkommenen Kontakt hat. Er sieht, was sie niemals sehen, weil er nicht wie sie die Fähigkeit zu sehen verloren hat. Er schaut in eine Landschaft hinein und sieht die Einheit von allem. Er sieht nicht wie sie einzelne Bäume und einzelne Berge und einzelne Seen. Er sieht die Bäume und die Berge und die Seen als das, was sie wirklich sind: Bestandteile eines einheitlichen Flusses kosmischer Ereignisse. Er sieht und hört und berührt mit seinem ganzen Wesen; er läßt seine Lebenskraft in alles fließen, was er berührt. Und er bekommt dieselbe Kraft von den Bäumen und Blumen und Seen in hundertfachem Maße zurück. Er behält diese Kraft nicht bei sich, sondern gibt sie großzügig weiter, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob er durch das Geben ärmer werden könnte. Das Geben macht ihn nicht ärmer sondern reicher. Das Leben bringt in reichlich fließendem Stoffwechsel das zurück, was es bekommt. Es gibt keine Einbahnstraße im Geben oder Nehmen. Es ist Geben und Nehmen, hin und zurück.

Wieder wissen sie nicht, wovon er spricht. Für sie ist Geben gleichbedeutend mit ärmer werden. Nehmen bedeutet stärker werden, eine Leere füllen, einen gähnenden Abgrund in sich selber überwinden. Sie können nur nehmen, sie können nicht geben. Der Gebende ist für sie entweder ein Narr oder jemand, der ausgesaugt, ausgenutzt werden kann. Also richten sie viele gebende Menschen zugrunde, treiben sie so manche zarte Seele in die Einsamkeit. Und die Welt ist wieder etwas ärmer.

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Christus, der die Menschen liebt, lebt allein. Die, die sich selbst und andere hassen, leben einsam und verlassen in der großen Masse. Sie haben tödliche Angst voreinander. Sie klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und grinsen sich mit freundlichen Grimassen an; sie müssen einander täuschen, damit sie sich nicht die Kehlen durchschneiden. Und jeder einzelne von ihnen weiß, daß jeder jeden betrügt. Heute wie vor zweitausend Jahren halten sie Konferenzen ab, um den «endgültigen Frieden» zu erreichen, obwohl sie ganz genau wissen, daß sie einander mit Ausflüchten und Formalitäten betrügen. Niemand sagt, was er wirklich denkt. Christus sagt, was er denkt. Er ist nicht formell, er betrügt nicht, und er bemüht sich nicht, nicht zu betrügen. Er betrügt einfach nicht. Er kann zu einer Sache schweigen, aber er lügt nicht mit Absicht oder aus bösem Willen. Sie jedoch können die Wahrheit nicht sagen, einfach, weil die Wahrheit nicht gesagt werden kann; das Organ, um die Wahrheit zu sagen, ist ihnen ausgetrocknet, als sie das Strömen des Lebens und die Fähigkeit, aufrichtig zu leben, verloren haben.

So kommt es, daß sie die Wahrheit anbeten und die Lüge leben. Die Wahrheit ist untrennbar verbunden mit den Lebensströmen innerhalb des Organismus und deren Wahrnehmung. Das Leben ist nicht ehrlich, weil es so sein soll oder weil es dafür gehalten wird. Es sagt mit jeder Bewegung die Wahrheit. Der Körperausdruck kann nicht lügen. Man kann die Wahrheit erkennen, wenn man die Ausdruckssprache der Bewegung aus Gesicht und Körperhaltung eines beliebigen Menschen lesen kann. Der Körper sagt die Wahrheit, auch wenn er sagen muß, daß er gewohnheitsmäßig lügt und den Schein aufrichtigen Verhaltens wahren muß, um die Lüge zu vertuschen.

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Deshalb «liest» das Leben die «Zeichen», genauso wie der Mensch davon träumte, daß Jesus Christus die Zeichen lesen konnte. In bestimmten größeren Zusammenhängen jedoch, bei denen das Überleben der Art auf dem Spiel steht, mag es leicht passieren, daß die Wahrheit nicht ausgedrückt wird und verborgen bleibt.

Der Affe im Menschen wird selten ausgedrückt, ebenso seine Herkunft von abschnittsweise wurmartig funktionierenden Lebewesen. Obwohl die Geschichte eines Ereignisses immer auf irgendeine Art im jeweiligen Augenblick vorhanden ist, muß man sich schon gut in Anatomie und Physiologie auskennen, um bestimmte Wahrheiten zu erfahren, die weit über den menschlichen Bereich hinausweisen. Die kosmische Bedeutung Christi, die ihm vom Menschen in mystischerweise zugeschrieben wird, liegt in seinem wahren Ausdruck des Lebendigen, in seiner vollkommenen Koordination von Körper und Emotionen und in der Unmittelbarkeit seines Kontaktes mit den Dingen. Deshalb liegt sie außerhalb der Reichweite des Menschen, der wegen seiner Panzerung auf den ausschließlich «menschlichen» Bereich beschränkt ist. Es ist diese Beschränkung auf rein menschliche Angelegenheiten, eine Folge der Panzerung, die dafür verantwortlich ist, daß der Mensch keinen Kontakt mit dem Universum bekam, daß er das Leben um sich herum und in seinen Neugeborenen nicht zu verstehen vermag und daß er seine Gesellschaft nicht im Einklang mit einem solchen, weit über seine eigene Biologie hinausreichenden, Wissen gestalten kann. Derart beschränkt ist er dazu verurteilt, Träume und Utopien jenseits jeder Verwirklichungsmöglichkeit zu entwickeln.

Der Mensch muß nun alles aus dieser Beschränktheit heraus erleben; und er wird nicht in der Lage sein, seine Existenz in anderen Begriffen zu beurteilen, als in denen einer elenden Wirklichkeit, die im Gegensatz zu einer mystischen Jenseitigkeit steht. Und er wird auch nicht in der Lage sein, die erstere zu ändern bzw. das wahre Wesen der letzteren zu begreifen. Das Leben jenseits seiner Beschränktheit wird er automatisch als unbegreiflich und unerreichbar auffassen.

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Aus charakteranalytischen Studien der Tiefenstruktur des Menschen wissen wir, daß es seine grundlegende genitale Störung ist, seine orgastische Impotenz, die ihn beschränkt bleiben läßt. Es ist deshalb völlig konsequent, wenn er nichts stärker verfolgt und bestraft, nichts ausgiebiger und entschiedener haßt als die anmutigen Erscheinungen orgastischer Potenz, wie z.B. das lebendige Leben oder Christus oder seinen eigenen kosmischen Ursprung und seine gegenwärtigen Möglichkeiten. Das erste mißdeutet er mit zielsicherer Logik als lieblose Schweinereien, den Rest entrückt er für immer in den Bereich unerfüllbarer Träume.

Aus dieser hoffnungslosen Verstrickung folgt konsequent der Christusmord. Der Weg bis zum schließlichen Mord ist lang, die Formen, in denen sich dieser Mord jeweils vollzieht, zählen in die Millionen. Jedoch bis ins heutige 20. Jahrhundert hinein fehlte am Ende der Mord nie. Daß er so geheimnisvoll und unzugänglich geblieben ist, ist selbst eines seiner grundlegenden Merkmale.

Der bioenergetische Kern des Lebens und dessen kosmischer Bedeutung ist die Orgasmusfunktion, d.h. die unwillkürliche Konvulsion des gesamten lebenden Organismus bei der beiderseitigen bioenergetischen Entladung während der genitalen Umarmung von Mann und Frau. Gäbe es nicht noch andere Möglichkeiten, die Lebensfunktion mit der Orgasmusfunktion gleichzusetzen, so genügte die Identität ihrer Schicksale im Verlauf der geschriebenen Geschichte der Menschheit.

Versetzung bis in Bereiche jenseits aller Verständnismöglichkeit, Verfolgung und Bestrafung ihrer Erscheinungsformen, mystische Umwandlung des Bewußtseins von ihrer Wichtigkeit und Angst und Schrecken bei näherer Begegnung sind sowohl die typischsten als auch die am wenigsten akzeptablen Arten der Behandlung dieser Funktion durch den gepanzerten Menschen.

Eine synoptische Betrachtung der Verhaltensweisen des ungepanzerten und des gepanzerten Lebens während der genitalen Umarmung ist weit besser als irgendetwas anderes geeignet, die Bedeutung des Hasses und des daraus folgenden Christusmordes zu vermitteln.

Christus beschrieb das Himmelreich mit folgender Parabel, deren tiefe biologische Bedeutung jedem klar sein sollte, der mit den bioenergetischen Tiefenschichten des Menschen zu tun hat:

Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen,
die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen.
Aber fünf unter ihnen waren töricht und fünf waren klug.
Die törichten nahmen ihre Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich.

Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen.
Da nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.

Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen! 

Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig.
Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. 

Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es
für uns und euch nicht genug sein; gehet aber hin zu den
Krämern und kaufet für euch selbst. 

Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die
bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür
ward verschlossen. 

Zuletzt kamen auch die ändern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf!
Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.
Darum wachet! Denn ihr wisset weder Tag noch Stunde (in welcher der Menschen Sohn kommen wird).

(Matthäus 25. 1-13) 

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Wilhelm Reich 1953