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3  Die genitale Umarmung  

Wie das Leben liebt  —  Verschmelzung zweier Lebewesen  —  Liebe «machen»  

 

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Die Sehnsucht nach Vereinigung mit einem anderen Organismus in der genitalen Umarmung ist beim gepanzerten Organismus ebenso groß wie beim ungepanzerten. Meist wird sie sogar größer sein, weil die volle Befriedigung gehemmt ist. Wo Leben einfach liebt, da «fickt» das gepanzerte Leben. In seinen Liebesbeziehungen funktioniert Leben ebenso unbehindert wie bei all seinen anderen Betätigungen; es läßt seine Funktionen langsam anwachsen, von den ersten Regungen bis zum Höhepunkt der glücklichen Erfüllung, gleichgültig, ob es sich nun um das Wachstum einer Pflanze vom Samenkorn bis zur Blüte und Fruchtreife oder um die organische Entwicklung eines befreienden Gedankensystems handelt. 

Ebenso läßt Leben seine Liebesbeziehungen langsam vom ersten vielsagenden Blick bis zur vollsten Hingabe bei der bebenden Umarmung anwachsen. Leben drängt nicht zur Umarmung. Es ist nicht in Eile, es sei denn, lange Abstinenz hat eine umgehende Entladung der Lebensenergie erforderlich gemacht. Der gepanzerte Mann jedoch, gefangen im Gefängnis seines Organismus, drängt zum «Fick». Schon seine gräßliche Sprache verrät das Gefühl des «Nehmens» der Frau gegen ihren Willen, mit Gewalt oder durch Verführung.

Dem gepanzerten Menschen erscheint es undenkbar, mit einer Person des anderen Geschlechts auch nur kurze Zeit allein in einem Raum zu sein, ohne daß er «probiert», ob er «sie haben» kann, bzw. ohne daß sie fürchtet, von ihm bedrängt zu werden. Deshalb gab es früher die Anstandsdamen, eine Schande für jegliche Menschenwürde. In unseren Tagen geht es damit langsam zu Ende, weil die natürliche Genitalität stärker ins öffentliche Bewußtsein gedrungen ist.

Leben kann sogar mit einem Partner zusammen im Bett liegen, ohne dabei an die Umarmung zu denken, wenn eine Entwicklung dahin nicht spontan in Gang kommt. Leben beginnt nicht mit der Erfüllung, es wächst in die Erfüllung hinein. Es tut es aus Liebe, für die Liebe, ebenso, wie es sich auch auf allen anderen Gebieten verhält. Leben schreibt Bücher nicht deshalb, um «auch» ein Buch geschrieben zu haben, es verrichtet seine Arbeit nicht, damit darüber sofort in den Zeitungen geschrieben wird, es schreibt nicht «für die Leute», sondern über Prozesse und Tatsachen. Leben baut eine sichere Brücke, um einen Strom zu überqueren, und nicht, um bei der nächsten Jahresversammlung der Ingenieursvereinigung einen Preis zu erhalten.

So denkt Leben auch nicht gleich am Anfang an die Umarmung, wenn es einen Partner trifft. Leben trifft sich mit ihm, einfach, um ihn zu treffen. Es kann sich auch wieder von ihm trennen; es kann zusammen mit ihm ein Stück des Weges zurücklegen und sich dann von ihm trennen; oder es kann den ganzen Weg mit ihm zusammen gehen bis zur vollen Verschmelzung. Leben hat keine festen Vorstellungen davon, was in der Zukunft geschehen wird. Leben läßt die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen. Die Zukunft erwächst aus dem ständigen Strom der Gegenwart, wie auch die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht. Sicherlich gibt es Gedanken, Träume und Hoffnungen für die Zukunft; aber die Zukunft beherrscht nicht die Gegenwart, wie dies beim gepanzerten Leben der Fall ist.

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Leben, das frei wächst, ist am Funktionieren an sich interessiert, und es entwickelt langsam bestimmte Fertigkeiten für ein gutes Funktionieren. Biologe oder Arzt wird man also, indem man mit der Zeit durch Handhabung bestimmter Funktionen auf natürliche Weise entsprechende Fähigkeiten erwirbt. Das gepanzerte Leben träumt davon, ein berühmter Arzt zu sein, mit großem Namen, von den Massen bewundertes bemüht sich um große Artikel in den großen Zeitungen seines großen Landes, um schließlich das große Geld zu verdienen. Das ist die Vorstellung des gepanzerten Menschen vom «Erfolg».

Man kann dieses Beispiel nach Belieben variieren; dann paßt es sowohl auf den großen Führer der Nation oder des Volkes als auch auf den großen Vater der großen Russen im noch größeren Rußland auf der größeren Hälfte der Erde. Es ist und bleibt immer dieselbe Leier, dieselbe Art, etwas hastig vorwegzunehmen, was sich organisch entfalten sollte, des Beginnens mit dem Ende. 

Die Krebspathologie begann mit der Absicht, das Rätsel des Ursprungs der Krebszelle zu lösen, und blieb bei den Luftkeimen stecken. Das Rätsel wurde genau dort gelöst, wo niemand gesucht hatte: durch Beobachtung von lächerlichen Grashalmen, die in lächerlichem, einfachen Wasser lagen. Leben beginnt nicht mit Titel und Vorwort, wenn es ein Buch schreibt. Vorwort und Titel sind das letzte, was geschrieben wird, denn sie sollen das Ganze umfassen, und man kann das Ganze nicht überblicken, bevor es fertig ist. Man beginnt den Bau eines Hauses nicht mit der Inneneinrichtung, sondern mit den Fundamenten. Aber dem Entwurf der Fundamente muß eine allgemeine Vorstellung, wie es innen später aussehen soll, vorausgehen.

Alle sentimentalen Hochzeitsträume beginnen mit der Defloration in der Hochzeitsnacht und enden im Sumpf der Ehemisere. Wieder ist es der Charakterpanzer, der die Menschen davon abhält zu erkennen, daß eine Ehe langsam vom Saatkorn zur Frucht wachsen muß. Und es braucht Jahre, bis ein Baum Früchte trägt.

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Eheliche Liebe hat mit dem Trauschein nichts zu tun. Das Wachsen ehelicher Liebe ist einfach und kostet keine Anstrengung. Das Wachsen selbst, das ständige Erleben neuer Entwicklungsstufen, die Entdeckung eines neuen Blicks, die Enthüllung einer neuen Eigenschaft des Partners, egal ob angenehm oder unangenehm, all das ist für sich allein schon eine große Freude. Es hält einen in Bewegung. Es hält einen offen für Veränderungen der eigenen natürlichen Entwicklungs­richtung. Es erhält einen schöner, als es je eine von der Reklame angepriesene Seife tun könnte, und es erhält dem Gesicht die Fähigkeit, im richtigen Moment zu erröten.

Es braucht viele Monate, manchmal auch Jahre, bis man den Körper seines Liebespartners kennengelernt hat. Die Entdeckung des Körpers des geliebten Menschen ist selbst eine Befriedigung höchsten Grades, genau wie das gelungene Überwinden der ersten Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anpassung zweier lebendiger Organismen. Er ist vielleicht nicht zärtlich genug in den Augenblicken höchster Erregung und sie mag etwas Angst vor den herrlichen Gefühlen haben, wenn sie dem Unwillkürlichen nachgibt. Er mag am Anfang «zu schnell» sein und sie «zu langsam» oder umgekehrt. 

Das Streben nach dem gemeinsamen Erlebnis des höchsten Genusses bei vollständiger Verschmelzung der beiden strömenden Energiesysteme, die wir Mann und Frau nennen, dieses Streben selbst und das wortlose Entdecken des eigenen Weges zu den Empfindungen des geliebten Menschen sowie das wahrhaft kosmische Erbeben sind reine Lust, so rein wie das Wasser in einem Gebirgsbach und so köstlich wie der Duft einer Blume an einem Frühlingsmorgen. Diese ständigen, herzerwärmenden Erlebnisse von Liebe und Kontakt, von gegenseitiger Hingabe und Körpergenuß sind der echte Zusammenhalt jeder natürlich wachsenden Ehe.

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Die genitale Umarmung erscheint als höchste Erfüllung dieses ständigen Genusses, wie ein Höhepunkt einer langen Bergwanderung, die einen immer wieder hinunter in die Täler führt, in dunkle Nächte und in stürmisches Wetter. Man weiß, daß man neuen Höhen entgegengeht, die hoch über die tiefen, dunklen Bergtäler hinausragen. Und immer, wenn man einen neuen Gipfel erreicht, ist diese Erfahrung anders als alle früheren, denn das Leben wiederholt sich nicht, nicht einmal in zwei aufeinanderfolgenden Sekunden ein und desselben Vorgangs. Man hat nicht den Ehrgeiz, «oben zu sein», in die Täler hinabzublicken oder andern zu erzählen, wieviele Gipfel man in zwei Wochen erobert hat. 

Die Grundstimmung ist Ruhe. Man ist einfach immer unterwegs, und man erfreut sich nach einem stetigen Aufstieg an jeder neuen Anhöhe. Die Vorbereitung des Aufstiegs macht ebenso Spaß wie der Aufstieg selbst. Die Rast nach Erreichen des Gipfels ist genau so schön wie die spannende Erregung, die man empfand, als man die Landschaft das erste Mal mit den Augen und dem ganzen Körper durchmessen hatte. Man peinigt sich während der Vorbereitungen und während des Aufstiegs nicht ständig mit Fragen, ob man den Gipfel jemals erreichen wird. Und man erfindet nicht extra einen Spezial-Taschenmotor, der einen sicher über die letzten Meter bringt. Man erstickt nicht den Freudenschrei in seinem Hals, wenn man den Gipfel erreicht hat, und man bekommt keine Krämpfe, wenn man das Hochkommen der Lust verspürt. Man erlebt einfach voll jeden einzelnen Schritt des Ganzen. Man weiß natürlich im Innersten, daß nicht viel dazu gehört, den Gipfel zu erreichen, wenn man ihm nur Schritt für Schritt entgegengeht. Man ist sich sicher, weil man schon viele Berge erklommen hat, und weiß, wie das ist. Man erlaubt niemandem, daß er einen auf den Gipfel trägt, und man denkt überhaupt nicht daran, was wohl der böse Nachbar denken oder sagen würde, wenn er wüßte, was man tut. Man hat sie alle weit hinter sich gelassen, und sie tun entweder dasselbe oder sehnen sich danach, dasselbe zu tun.

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Die volle, natürliche Umarmung ist wie eine solche Bergtour; sie unterscheidet sich nicht grundsätzlich von irgendeiner anderen Lebenstätigkeit, sei sie nun wichtig oder unwichtig. Volles Leben heißt volle Hingabe an jede Art von Tätigkeit. Es spielt dabei keine Rolle, ob dies Arbeit, ein Gespräch mit einem Freund, Kindererziehung, Zuhören, Malen oder irgendetwas anderes ist.

Die genitale Umarmung erwächst natürlicherweise aus einem sich langsam im ganzen Körper bemerkbar machenden Drang, mit einem anderen Körper zu verschmelzen. Man kann dieses Grundmerkmal sehr gut bei Vögeln, Kröten, Schmetterlingen, Schnecken, bei sich paarendem Wild oder anderen frei lebenden Tieren beobachten. Die Endlust der völligen Energieentladung beim Orgasmus ist das spontane Ergebnis eines länger dauernden Aufbaus von kleineren Lusterlebnissen. Diese kleinen Genüsse haben die Eigenschaft, ein Gefühl des Glücks zu vermitteln und dabei den Wunsch nach mehr Glück zu erzeugen. Nicht immer führen die kleinen Genüsse zur alles übertreffenden Endlust. Zwei Schmetterlinge, männlich und weiblich, können stundenlang miteinander spielen und sich dann ohne Vereinigung trennen. Sie können auch weiter gehen und sich ohne Penetration überlagern. Aber wenn sie erst einmal mit ihren Körperenergiesystemen verschmelzen, dann gehen sie auch bis zum Ende. Sie frustrieren sich nicht gegenseitig, es sei denn, sie werden durch einen Schmetterlingssammler oder einen hungrigen Vogel unterbrochen. Die vollständige organismische Erregung geht der speziellen genitalen Erregung voraus. Orgastische Potenz erwächst aus dieser Lust des ganzen Körpers, und nicht allein aus den Genitalien. Die Genitalien sind bloß ausführende Organe der physischen Durchdringung, nachdem die gegenseitige Verschmelzung der Orgonenergiefelder schon einige Zeit vor der schließlichen Erfüllung geschah.

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Die Kontakte sind zärtlich; es gibt kein Grapschen, Schnappen, Klammern, Drängen, Quetschen, Kneifen. Sie gehen so weit, wie es in der besonderen Situation angebracht ist, und nicht weiter. Ein Mann mag eine Frau monatelang zutiefst lieben, sie von ganzem Herzen begehren, sie jeden Tag treffen und doch nicht mehr als einen warmen Händedruck oder einen Kuß auf die Lippen mit ihr tauschen. Wenn die Vereinigung für beide notwendig wird, dann wird sie auch stattfinden, unausweichlich, und beide werden den richtigen Zeitpunkt wissen, ohne darüber mit Worten gesprochen zu haben. Doch dann wird die Natur bei der Vereinigung dieser beiden Lebewesen ihre schönsten Kräfte entfalten.

Genauso, wie diese Organismen ihre Liebe langsam und organisch wachsen ließen — soweit, wie es gehen wollte genauso, wie sie im richtigen Moment die richtige Bewegung zu machen wußten, genauso werden ihre Körper bei der Umarmung wissen, was sie zu tun haben. Sie werden nach den Empfindungen des Anderen suchen und selbst Lust dabei verspüren, wenn sie sie gefunden haben. Sie werden auf unbeirrbar sichere Art die sensiblen Körperstellen des Anderen finden und in jedem Augenblick das richtige Maß gegenseitigen Gebens wissen. Vielleicht werden sie das Gefühl haben, daß ihre Körper bei diesem ersten Mal nur bis zu einem bestimmten Punkt und nicht weiter gehen konnten. Wenn die genitale Verschmelzung nicht auf natürliche Art aus dem Vorhergehenden erwächst, werden sie sich nicht vereinigen und sich wieder trennen, für immer oder nur für ein paar Tage. Sie werden ihre gegenseitigen Erfahrungen «strukturalisieren», sich zur Vorbereitung größerer Erfüllungen mehr aneinander gewöhnen. Die Lust wird weder durch Besitzansprüche auf den Partner noch durch Potenzbeweiszwänge getrübt. Es gibt nichts, was zu «beweisen», zu «erreichen» oder zu «bekommen» wäre.

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Das herrliche Ineinander verschmelzen ist da, oder es ist nicht da. Es kann für Augenblicke kommen, und es kann wieder gehen. Es kann nicht erzwungen oder mit Gewalt festgehalten werden. Wenn es nicht da bleibt und wächst, wird sich die Umarmung nicht in eine genitale Verschmelzung weiterentwickeln. Wenn schließlich die genitale Verschmelzung ohne entsprechendes Wachstum der Gefühle des Verlangens und Verschmelzens auftritt, werden beide das später bedauern; ihre Lust wird dadurch getrübt und vielleicht für immer verdorben worden sein. Somit ist die Sicherung der vollsten und höchsten Lust die beste Sicherung der Selbstregulierung bei der orgonotischen Überlagerung von Mann und Frau.

Der Orgasmus selbst kommt dann, wann er zu kommen hat, und nicht, wann er oder sie es wünscht. Man kann einen Orgasmus nicht «wünschen» und «bekommen», wie man am Ladentisch eine Rasche Bier bekommen kann.

Der Orgasmus in seiner wahren, biologischen Bedeutung ist Ergebnis stetig wachsender Erregungswellen und nicht etwas, das man durch harte Arbeit erwerben kann. Er ist eine einheitliche Konvulsion eines Gesamtenergiesystems, das sich vor der Verschmelzung aus zwei Energieeinheiten gebildet hat, und das sich nach der Verschmelzung wieder in zwei individuelle Existenzen aufteilen wird. Bioenergetisch führt der Orgasmus zu einem tatsächlichen Verlust der eigenen Individualität und zu einem völlig anderen Daseinszustand: Es ist nicht so, daß sie einen Orgasmus von ihm bekommt und er einen von ihr, wie es die kranken Menschen sowohl im ersten als auch im zwanzigsten Jahrhundert meinten. Der Beweis dafür ist die Tatsache, daß ein solches «Bekommen» des Orgasmus nach medizinischer Behandlung vollkommen verschwindet, während die echte biologische Verschmelzung nicht verschwindet, sondern an Intensität sogar noch zunimmt. Dies sind sehr wichtige Tatsachen.

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Der Orgasmus ist ein Ereignis, das in zwei lebenden Organismen geschieht, nicht etwas, das man «erreichen» kann. Er ist etwas, wie das plötzliche Hervortreten des Protoplasmas bei einer sich bewegenden Amöbe. Einen Orgasmus kann nicht jedermann «haben». Ficken kann jeder, denn alles, was dabei erforderlich ist, ist genügend Reibung für das Genitalorgan, damit die Samenflüssigkeit entladen bzw. ein Gefühl starken Juckens erzeugt werden kann. Ein Orgasmus ist mehr und grundsätzlich verschieden von einem starken Jucken. Man kann einen Orgasmus nicht durch Kratzen oder Beißen «bekommen». Kratzende und beißende Männer und Frauen kämpfen verzweifelt mit allen Mitteln, um bioenergetischen Kontakt herzustellen. Orgastischer Kontakt geschieht dem Organismus. Man muß ihn nicht «herstellen». Es gibt ihn nur mit bestimmten anderen Organismen und fehlt in den meisten anderen Fällen. Somit ist er Grundlage wahrer Sexualmoral.

Der fickende Organismus hat es eilig, will immer schnell ans Ziel. Er «holt sich einen runter» oder «macht Liebe». Der liebende Organismus läßt sich vom Fluß der Gefühle überschwemmen und treibt als Herr jeder Bewegung auf der Strömung, so, wie ein guter Kanufahrer auch auf einem reißenden Bergbach die Kontrolle über sein Boot behält. Der gute Reiter eines Vollblutpferdes läßt sich davontragen und ist doch ganz Herr über das Pferd. Der verhärtete Organismus rackert sich ab, vergleichbar mit einem Läufer, dessen Beine durch einen Sack um die Füße behindert sind. Er kann mit großer Anstrengung doch nur herumhumpeln. Schließlich ist er erschöpft und hat nichts erreicht. Der tickende Organismus behält einen klaren Kopf während des «Akts» (das Wort «Akt» allein sagt schon, was geschieht). Er «macht es», ihm «gelingt es», er «schafft es» überall und zu jeder Zeit, wie ein rasender, frustrierter Bulle oder Hengst, der jahrelang von weiblichen Tieren getrennt war.

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Und es gibt besondere, raffinierte Techniken, wie man sich an eine Frau heranmacht und sie verführt. Der Wert solcher Aktivitäten im Verhältnis zur genitalen Umarmung ist vergleichbar der Situation, bei der man von einem Kranwagen abgeschleppt wird statt selbst Auto zu fahren.

Die innere Beschaffenheit der Liebesfunktion hat auf jede einzelne Teilfunktion auch aller anderen Aktivitäten des Individuums bestimmenden Einfluß. Der Ficker wird immer alles haben wollen, immer darauf drängen, es rein- oder wegspritzen; er wird immer ein paar spezielle Tricks haben, um schnell zum Ziel zu kommen. Der duldende Typ wird immer Opfer bleiben, dem Dränger mehr oder weniger ausgeliefert. Der genitale Charakter jedoch läßt den Dingen einfach ihren Lauf, läßt sie geschehen; er ist immer voll bei der Sache, ganz gleich, was er unternimmt, vom Lieben einer Frau bzw. eines Mannes bis zum Aufbau einer Organisation oder einer beruflichen Stellung.

Sowohl die Dränger als auch die Dulder scharen sich um den genitalen Charakter, weil sie lernen möchten, wie er zu sein. Aus diesem anfänglichen Impuls, dem unbehindert von inneren Zwängen lebenden Christus nachzueifern, folgt die spätere Tragödie mit unerbittlicher Logik. Weder für Christus noch für die Dränger und Dulder gibt oder gab es je ein Ausweichen vor dieser letztendlichen Tragödie, zu keiner Zeit, in keinem Land und in keiner sozialen Schicht; und das wird so bleiben, solange sich diese beiden Lebensformen einander gegenüberstehen werden. Die «Kinder der Zukunft» werden notgedrungen im Niemandsland zwischen diesen beiden Lagern aufwachsen müssen. Für jedes zukünftige vernünftige Erziehungskonzept ist es daher von vordringlicher Wichtigkeit, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie diese Kinder vor der emotionalen Pest zu schützen sind, die sich aus dieser Tragödie ergeben hat. Es gibt kein Erziehungsproblem, das in seiner Struktur und in seinem Ergebnis nicht mehr oder weniger von genau den Bedingungen abhängig ist, die auch zum Mord an Jesus Christus geführt haben.

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Für den orgonomischen Charakterologen des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Christus alle Eigenschaften des genitalen Charakters. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, Kinder, Menschen und Natur auf so wunderbare Weise geliebt, das Leben so intensiv gefühlt und mit solch herrlicher Anmut gewirkt zu haben, wenn er unter genitaler Frustration gelitten hätte. Die wohlbekannten Zeichen genitaler Frustration — schmutzige Gedanken, Lüsternheit, unverhüllte oder moralistische Grausamheit, falsche Güte usw. — würden zu dem Christusbild, das uns überliefert wurde, so sehr im Widerspruch stehen, daß unsere Aufmerksamkeit spontan auf das Rätsel gelenkt wird, warum wohl dieser Sachverhalt bisher noch von niemandem verstanden worden ist. Dies paßt auch vollkommen dazu, daß bisher kein Biologe jemals die wellenartige, orgonotische Pulsation in den Lebewesen erwähnt hat und kein Mentalhygieniker jemals von den fürchterlichen Schäden sprach, die durch genitale Frustration in der Pubertät entstehen.

Christus hätte niemals so rein wie Quellwasser und so sinnesscharf wie ein wildes Tier sein können, wenn er mit dem Schmutz pervertierter Sexualität belastet gewesen wäre, der aus der Frustration natürlicher Sexualität entsteht. Daran kann es keinen Zweifel geben: Christus kannte die Liebe des Körpers und der Frauen, wie er so viele andere natürliche Dinge auch kannte. Die Güte Christi, seine strahlende Kontaktfähigkeit, sein Verständnis für menschliche Schwächen, für Ehebrecherinnen, Sünder, Huren und die Armen im Geiste würden überhaupt zu keinem anderen biologischen Christusbild passen. Wir wissen, daß die Frauen Christus geliebt haben, aufrichtige, schöne und leidenschaftliche Frauen.

Auch das ist wichtig für ein Verständnis der schließlichen Ermordung Christi. Ein anderes Denken scheint hier völlig fehl am Platz. Unabhängige Autoren, wie Renan, haben diesen Gedanken klar ausgedrückt, und jeder klar sehende Kenner der Geschichte Christi kennt dieses Geheimnis.

Umso größer ist dann aber das Rätsel, wieso sich auf der Grundlage seines Lebens eine Religion entwickelte, die im Gegensatz zu ihrem Urheber den Kern natürlichen Funktionierens aus ihrem Bereich verbannt und nichts mehr verfolgt hat als die körperliche Liebe. Aber auch das läßt sich einleuchtend erklären.

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Wilhelm Reich 1953