4. Verführung zum Führer
<Sohn Gottes> — <Der Lehrer> — Das Verbot, Gott zu erkennen
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In voller Übereinstimmung mit der Harmonie seines ganzen Organismus besitzt Christus auch die Kraft des Glaubens; er verläßt sich auf seine Sinne. Mit allem, was um ihn herum geschieht, hat er Kontakt. Er fühlt seinen Körper voll und ganz und hat keine frustrierte, bösartige Fleischeslust heimlich mit sich herumzutragen. Er «versucht» nicht, etwas zu tun, er tut es. Er hat in sich die volle Kraft der gottgegebenen Lebensenergie. Er versteht die Vögel, und er weiß, wodurch sich ein Roggenkorn von einem Weizenkorn unterscheidet.
Christus kennt das Reich Gottes, das das Reich des Lebens und der Liebe auf Erden ist. Es ist hier, genau hier, in jeder Blume, in jedem Spatz, in jedem Baum, in jedem Olivenzweig. Seine Mitmenschen sind sich der Allgegenwart Gottes nicht bewußt. Sie fühlen das Leben nicht. Sie wechseln Geld und huren widerlich herum, weil sie nicht wissen, was Liebe ist. Sie zahlen hohe Steuern und gehorchen dummen, gierigen, angeberischen, widerlichen Herrschern. Sie sind ausgepreßte und emotional abhängige Gestalten, Spielzeug in der Hand eines jeden beliebigen Gauners; oder sie sehen das Leben als chauvinistische Herausforderung an, es selbst einmal zum Herrscher zu bringen. Christus sieht dies, weiß dies und leidet sehr unter allem.
Er selbst kommt aus der Schicht der Armen, die wie die Kinder sind, Gott noch näher, noch nicht vollständig entstellt und zerstört; sie kennen noch die Liebe. Die Armen sind wie die Kinder, und sie denken und fühlen wie die Kinder. Sie leben weitab vom großen Lärm und nehmen daran nicht teil, obwohl dieser nur deshalb überhaupt weiterbestehen kann, weil sie sich darum nicht kümmern oder kümmern können.
Da gibt es Leute wie Barabbas und Makkabäus. Sie sind notwendige Übel; man kommt nicht ohne sie aus. Es sind diejenigen, die die Herrscher mit dem Schwert von fremdem Boden vertreiben. Wer sonst sollte auf dem Schlachtfeld kämpfen und sterben? Christus kämpft nicht gegen die Herrscher. Er gibt Cäsar, was Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist. Christus möchte nicht gegen Cäsar kämpfen. Er weiß, daß er Cäsar unmöglich besiegen kann. Aber er weiß auch, daß Cäsar längst vergessen sein wird, wenn die Welt einst zum Wohle aller Menschen von dem regiert wird, was er, Christus, in seinem Körper fühlt und was in seinen Sinnen in Harmonie mit dem Universum schwingt. Das Reich Gottes auf Erden, was gleichbedeutend ist mit diesem Gefühl und dem Schwingen des lebendigen Lebens in Christus und in allen Menschen, wird mit Sicherheit kommen. Es gab einmal eine Zeit, zu der es schon da war. Es wird unweigerlich wiederkommen. Das ist in der Tat so fraglos, daß es eigentlich schon vor der Tür stehen müßte. Eher erscheint es wie ein böser Traum, daß das Himmelreich auf Erden nicht schon längst da ist. Dafür muß es doch einen Grund geben, zumal es ganz klar auf der Hand liegt, wie es beschaffen sein müßte, wie herrlich und einfach das Leben darin wäre.
Christus betrachtet sich deshalb nicht von vornherein als etwas Besonderes. Er ist eben wie er ist. Aber warum sind nicht alle anderen auch so? Du hast es in dir, du mußt nur tief genug in dich gehen, um es wiederzufinden. Warum hast du es verloren? Wie war das möglich? Nicht Gott hat seine Kinder verlassen.
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Es muß der Mensch gewesen sein, der sich von Gott abgewandt hat. Aber warum? Wie? Wann und wo geschah es? Wir wissen es bis heute noch nicht. Aber Jesus weiß genau, was sie verloren haben. Doch sie wissen nicht, was sie tief in ihrem Innersten noch immer besitzen. Jesus weiß es nicht, aber er wird es auf schmerzliche Art erfahren, daß sie Gott deshalb nicht fühlen, weil sie ständig dabei sind, ihn zu töten, in jeder einzelnen Sekunde jeder einzelnen Minute jeder einzelnen Stunde jedes einzelnen Tages, und durch die Jahrtausende. Diese Tatsache ist zu absurd, als daß man an ihre wirkliche Existenz glauben könnte. Warum sollte der Mensch das Leben in sich abtöten? Welch ein ungeheuerlicher Gedanke, der so etwas für möglich hält!
Doch diese Ungeheuerlichkeit ist genau das, was das Reich des Widersachers von Gott=Leben ausmacht, das Reich ohne Religion, das Reich der teuflischen Sünde. Vor langer Zeit muß der Mensch irgendwie gefangen worden sein. Aber er selbst zieht die Fesseln seiner Unfreiheit immer weiter an; dabei stöhnt er jedoch über sein schweres Los und träumt von der Ankunft des Messias.
Sowie die Menschen das Gefühl für Gott in ihrem Innern verloren hatten, begannen sie sich um Leute zu scharen, die zwar Leben ausstrahlten, aber nicht diese volle Kraft Christi besaßen. Sie scharten sich um die mißratenen Christusse, um die Politiker aller Zeiten, damit sie von ihnen Kraft bekommen. Die mißratenen Christusse wurden so nach oben gespült und begannen es zu genießen, daß die Massen sich um sie scharten. Sie freuten sich über die Bewunderung, die ihnen entgegengebracht wurde, und sie liebten es, die Lobreden, Lieder und Tänze entgegenzunehmen, die ihnen zu Ehren vorgeführt wurden; der Ruf, die heruntergekommenen Menschen zu führen, schmeichelte ihnen.
Auf diese Weise entstanden die ersten Häuptlinge, Könige, Herzöge, Führer, Generäle, Feldwebel, Stalins, Hitlers und Mussolinis; und sie
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wurden aus völlig vernünftigen Gründen vom Volke selbst mit ihrer Machtfülle ausgestattet: Sie brauchten Kraft von außen, um das zu ersetzen, was sie an innerer Kraft, an Glauben und Sicherheit, verloren hatten. Da sie die innere Spontaneität lebendigen Funktionierens verloren hatten, brauchten und bekamen sie äußere Krücken. Das ist bis heute so geblieben. Aber warum mußte dies so viele Jahrtausende andauern? Warum fanden sie die Ursache ihres Elends nicht eher? Ja, warum war es sogar so streng verboten, diese Geißel zu bekämpfen? Du darfst Gott nicht erkennen; du darfst das Leben nicht erkennen. Das wurde das heiligste und mächtigste Gesetz, und es versklavte die Menschheit. Unglaublich, lächerlich, aber wahr...
Die kleinen Führer haben das Gefühl für das Leben in einem solchen Ausmaß verloren, daß sie auf diese Forderung der Massen hereinfallen. Im Gegensatz zu Christus stehen sie nicht fest genug im Leben und erkennen somit auch nicht voll und ganz die Verkommenheit des bestehenden Systems, um auf eine solche Führerposition zu verzichten. Sie übernehmen eine Führerposition, die für das kurzfristige Weiterexistieren wichtig und notwendig ist. Die hohen Steuern müssen bekämpft werden, die alten religiösen Bräuche müssen aufrechterhalten und beschützt werden, mit dem heidnischen Kaiser müssen Vereinbarungen getroffen werden, um die Gottesdienste in den Tempeln weiterführen zu können, auch wenn diese nur noch wie tote Schatten einer einst blühenden, lebendigen Religion wirken. Und diese Religion ist für ihr Überleben von entscheidender Bedeutung. Ohne sie verlören sie Gleichgewicht, Orientierung und Hoffnung, die Stützen ihrer unglücklichen Seelen. Der Teufel, der nun zwar herrscht, aber durch Moralgesetze eingeschränkt wird, würde sonst unangefochten herrschen.
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All das fühlt Christus mehr, als daß er es bewußt erkennt. Auch er wurde dazu bestimmt, ein Führer zu werden, ein Retter, ein Kämpfer für das Glück der Massen. Das Tragische dabei ist, daß das, was Christus wünscht und lebt, so völlig verschieden von dem ist, was die Leute wollen, und daß überhaupt keine Chance besteht, daß diese beiden Lebensauffassungen sich irgendwo treffen könnte.
Wenn Christus vom Himmelreich auf Erden spricht, so meint er damit die innere Freiheit des Tieres Mensch, die Teil der gesetzmäßigen Freiheit der gesamten Schöpfung ist. Wenn Christus ihnen sagt, er sei der Menschensohn, was gleichbedeutend ist mit Gottessohn, so meint er etwas sehr Reales, etwas Wahres, Existierendes, Entscheidendes: Er sei ein Kind des Lebens, der kosmischen Kraft, die ihm so vertraut ist, und die er so klar in sich fühlt. Sie verstehen ihn jedoch nicht. Sie drängen ihn, sich zu offenbaren und seine göttliche Kraft zu demonstrieren. Sie fragen nach Zeichen seiner Göttlichkeit. Hier liegt der Ursprung der späteren Mystifikation Christi.
Nach ihren pestverseuchten Vorstellungen sollte Gottes Sohn anders aussehen als Jesus. In Wirklichkeit würde natürlich Gottes Sohn immer wie Jesus sein: gütig, sanft, verständnisvoll, immer gebend, bereit zu helfen, mitfühlend mit den Armen, kinderlieb und von Kindern geliebt. Er würde anmutig wie Christus einherschreiten und dessen tiefen und ernsten Blick haben. Niemals würde er einen schmutzigen Witz erzählen; nicht wegen irgendeines Prinzips, sondern weil ihm einfach nicht danach zumute wäre.
Sein Haupt würde wie das von Jesus mit einem zarten, unsichtbaren Schein umgeben sein, der dann später auf Ikonen als scheußlicher, knallgelber Viertelmond um seinen Kopf abgebildet werden würde, ganz in Übereinstimmung mit dem, wie die mystischen, pestverseuchten Menschen das Orgonenergiefeld des Körpers erleben. Nur wirklich große Künstler zukünftiger Jahrhunderte würden die bebende, zarte und feine Gestalt dieser orgonotischen Erstrahlung erfühlen und mit geringem Erfolg versuchen, diese in ihren Gemälden wiederzugeben.
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Der Ausdruck Christi ist mit dem Ausdruck einer sonnendurchfluteten Wiese an einem Frühlingsmorgen vergleichbar. Man kann ihn nicht sehen, aber man fühlt ihn durch und durch, wenn man nicht pestverseucht ist. Man liebt ihn, wird durch ihn sanft angeregt und verlacht ihn nicht als kleinbürgerliche Sentimentalität, wie es das ausgetrocknete, emotionslose und verschlagene Hirn des Roten Faschisten tut. Kann man sich Motolow oder Makenlow in der Morgensonne eines Frühlingstages auf einer Wiese vorstellen, wie sie das äsende Wild beobachten? Völlig unmöglich!
Christus ist wie eine strahlende Blume; er weiß das, und er liebt das, und er versucht anfangs, seinen Mitmenschen dieses Gefühl zu vermitteln, denen es ganz offensichtlich fehlt. Er weiß, daß sie schlimm dran sind, weil es ihnen fehlt, und er weiß, daß sie es in sich abgetötet haben. Aber er ist sich der Tatsache nicht bewußt, daß sie es genauso stark hassen wie sie sich danach sehnen, mehr als irgendetwas anderes im Leben. Er weiß auch nicht, daß sie es in jedem Neugeborenen gleich nach der Geburt abtöten, durch Verstümmelung des Genitals, durch Säuretropfen in die Augen und durch einen kräftigen Schlag auf den Hintern als lieben ersten Gruß von dieser Welt. Um ihnen auch nur eine Ahnung von all dem zu geben, wird es Jahrtausende des Elends brauchen, Unmengen von auf Scheiterhaufen verbrannten Heiligen, und Berge von Leichen auf allen möglichen Schlachtfeldern. Schicksal Christi ist es, daß er von all dem nichts weiß. Er glaubt, daß seine Mitmenschen nur unwissend oder abgestumpft sind von Hunger und harter Arbeit. Er glaubt, daß seine Mitmenschen seine Erkenntnisse aufnehmen werden wie ein Verdurstender das Wasser. Schließlich werden, ja müssen sie ihn töten.
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Seine Mitmenschen drängen zu seiner Lebenskraft wie Durstige zum Brunnen. Sie trinken sie in gierigen Zügen, mit herausgequollenen Augen und roten Gesichtern. Sie fühlen sich belebt, strahlen sanft und ruhig und haben sogar ein paar gute Gedanken; sie stellen kluge Fragen, sodaß der Meister mehr von seinem Überfluß geben kann. Sie trinken alles und trinken immer weiter. Und der Meister schüttet weiter in sie hinein, weil sie sich immer und immer wieder um ihn scharen und ihm seine kristallklaren Worte von den Lippen trinken; und von seinem Körper nehmen die die strahlende Kraft; und sie brauchen seinen Trost, seinen Rat und seine große Weisheit. Sein Ruhm als großzügiger Geber verbreitet sich schnell über das ganze Land. Und immer mehr durstige Männer und Frauen füllen ihre ausgetrockneten Leiber mit dem reinen Saft des Lebens, der strahlenden Anmut seiner Einfachheit und Lebensfülle.
Sie begleiten ihn auf seinen Morgenspaziergängen durch die Felder und hören ihn Schönes über Gottes Schöpfung sagen. Er scheint den Gesang der Vögel zu verstehen, und die Tiere haben keine Angst vor ihm. Nicht eine Spur der Art, wie sich ein Killer bewegt, ist ihm eigen. Seine Stimme ist klangvoll und ausdrucksstark; sie kommt direkt aus dem Bauch und nicht aus einem versteiften Mund oder einer verhärteten Brust wie bei ihnen. Er kann vor Freude lachen und jauchzen. Sein Ausdruck der Liebe ist ungehemmt.
Wenn er sich seinen Mitmenschen widmet, verliert er dabei nichts von seiner natürlichen Würde. Wenn er geht, so setzt sein Fuß voll auf den Boden auf, so, als wolle er bei jedem Schritt Wurzeln schlagen, um dann nach einem zeitweisen Auseinandergehen wiederum Wurzeln zu schlagen. Er hat nicht den Gang eines Propheten, eines weisen Mannes oder eines Mathematikprofessors. Er geht einfach. Wer ihn gehen sieht, fragt sich: Was ist er? Wer ist er? Er ist so grundverschieden von allen ändern. Jeder seiner Jünger drückt mit seinem Gang etwas aus, das mit Gehen nichts zu tun hat.
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Der eine geht bescheiden einher. Der andere geht in tiefem Nachdenken versunken. Der dritte geht, als laufe er vor etwas Schrecklichem davon. Der vierte geht wie ein König, der fünfte wie ein gehorsamer Gefolgsmann seines Meisters. Der sechste geht wie ein Reh und der siebte wie ein Fuchs. Der Meister geht einfach, nicht einmal wie ein Reh. Er geht einfach.
Allein sein Gang ist eine Herausforderung an jede Art von Scholastik, sei es nun Sophismus, Solipsismus, Talmudismus oder Existenzialismus. Sein ganzes Verhalten ist so weit entfernt von allen Ismen, daß niemand, der gewohnheitsmäßig Leute «einordnet», sagen könnte, wohin er gehöre. So etwas stört das gemeine Volk sehr, denn jeder gehört irgendwo hin, hat irgendwo hinzugehören, wenn er nicht subversiver Aktivitäten verdächtigt werden will. Man hat irgendwo Mitglied zu sein, bei einer Zunft, im Sanhedrin, in der Priesterkaste, bei der Legion zur Rettung des Vaterlandes oder der Liga der Helden des Mutterlandes. Christus ist als Lehrer und Redner überall bekannt. Aber auch dabei fällt er aus dem Rahmen. Zunächst stellt er zu einfache und zu offene Fragen. Das ist unangenehm. Ergibt sehr einfache Antworten auf äußerst komplizierte Fragen; Fragen, über denen Tausende von weisen Männern über Jahrtausende hinweg gebrütet haben ohne eine Antwort zu finden. Somit ist er der geborene Führer der Menschen; die Leute spüren, daß er das ist. Sie stellen ihm immer wieder die gleichen Fragen: Wer bist du? Was bist du ? Wurdest du von Gott gesandt? Bist du der Messias? Wenn du es bist, dann sag' es uns! Wir werden dich verehren. Wir werden dir zur Macht über unsere Feinde verhelfen. Offenbare dich! Gib' uns ein Zeichen! Zeig' uns durch ein Wunder, wer du bist!
Der Meister schweigt über sein Woher und sein Wohin. Er geht weiterhin mit ihnen durch die Felder und besucht mit ihnen verschiedene Orte. Er gibt weiter einfache Antworten auf komplizierte Fragen, um ihnen die Kraft zu geben, Weisheit zu verbreiten, ohne je ein gelehrtes Buch auch nur zu berühren.
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Sie glauben, daß er vom Himmel gesandt sein muß. Nicht nur, daß er so anders ist, er schweigt auch geheimnisvoll über sein wahres Wesen und seine Mission. Er muß irgendeine Mission haben! Er ist gekommen, um sein Volk, die Armen, das Land aus der Sklaverei zu erretten. Auf diese Art errichten sie ihr verzerrtes Bild vom Gottessohn, der in Wirklichkeit Sohn einer unverfälschten kosmischen Lebenskraft ist. Er aber schweigt, weil er auf ihre Fragen über Wesen, Mission, Visionen, Zeichen und Macht nichts zu sagen hat.
Er fühlt natürlich, daß er anders ist, denn sonst würden sie sich auch nicht so verhalten. Aber er versteht nicht, warum sie wollen, daß er ihnen Zeichen des Himmels gibt und das Geheimnis seines Daseins offenbart, das für ihn selbst überhaupt kein Geheimnis ist. Er fühlt sich zwar wie ein Sohn des Himmels, aber nicht als gottgesandt. Zumindest sagt er nichts darüber. Er fühlt sich nicht so, als hätte er eine Mission. Dieser Gedanke wird ihm langsam von außen eingepflanzt, durch seine Bewunderer, Jünger und Schüler.
Am Anfang träumt er nicht einmal von irgendeiner Mission. Er arbeitet als Zimmermann oder am Mikroskop; oder er heilt die Wunden der Leute oder bestellt Felder. Es sind jene, die nach Erlösung lechzen und nach Liebe hungern, die dann die Keime des Mythos in ihm pflanzen, welcher schließlich ihn und viele, viele Männer, Frauen und Kinder nach ihm töten wird. Er ist nur anders, in seiner Arbeit, seinem Leben, seinen Gesprächen und seinen Bewegungen. Das ist alles. Und er liebt die Menschen. Er kennt ihre Beschwerden und lernt sie mit jedem Tag klarer zu erkennen. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie man sie heilen könnte. Aber mit der Zeit merkt er, daß er ihnen bereits hilft, daß er eine Kraft hat, die die Menschen aufheitert und tröstet. Dies wird langsam zu einer Verpflichtung. Wenn die Leute leiden, mußt du ihnen helfen!
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Tu' dein bestes! Gib ihnen von seinem Überfluß! Lebe bescheiden, nur mit dem Lebensnotwendigsten! Was du als göttliche Gnade in dir fühlst, ist so leicht zu fühlen und zu leben, es gibt dir so viel und befruchtet alles, was du berührst, in einem Ausmaß, daß es unerträglich wäre, es nicht an deine Brüder und Schwestern weiterzugeben. Auf diese Weise treffen göttliche Gnade und menschliches Verlangen nach Trost zusammen. Die eine Seite gibt ständig, während die andere ständig nimmt, trinkt, saugt, sich füllt.
Der Grundgedanke des Trägers der göttlichen, natürlichen Anmut, d.h. des unverdorbenen Lebens, ist einfach: Jede einzelne Seele hat die gottgegebene Anmut in sich. Laß sie in ihrem ausgehungerten Zustand von meinem Überfluß trinken; sie wird erstarken und beginnen, anderen von ihrer Stärke zu geben; und diese anderen, aus ihrem emotionalen Elend geretteten Menschen werden ebenfalls wieder anderen geben. Hier begeht unser Meister seinen ersten fatalen Fehler. Vom Standpunkt seines eigenen Lebens aus konsequent, glaubt er, daß der Nehmer, wenn er einmal aufgefüllt ist, selber zum Geber wird. Der Meister weiß nicht, daß die chronische Aushungerung den Nehmer unfähig gemacht hat zu geben. Sie sind wie Einbahn-Sackstraßen geworden. Sie sind echte Parasiten. Und das ist genau das, was den Meister später töten wird.
Gute schwarze Erde bringt Getreide hervor. Sie bekommt die Saat und läßt diese zu neuem Getreide heranwachsen, indem sie jede einzelne Faser ständig mit Nahrung, Salz, Wasser und Lebensenergie versorgt. Die Erde selbst reichert sich an, indem sie etwas vom Stroh zurückbehält, nachdem die Saat gereift und entweder durch den Wind weggeweht oder durch Mensch oder Tier genommen worden ist. So angereichert gibt die Erde neuem Getreide neues Leben. Und neues Getreide gibt anderem Leben neues Leben.
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Ein Tier nimmt die Saat durch die gottgegebene Vereinigung des Männchens mit dem Weibchen auf und erzeugt Nachwuchs, der den Eltern ähnlich und doch von ihnen verschieden ist. Es gibt seine Lebenskraft solange an die Kinder weiter, bis diese es nicht mehr brauchen. Wenn diese dann selbst erwachsen sind, werden sie auf gleiche Art leben und handeln.
Das ganze Universum funktioniert nach diesem Zyklus des Gebens und Nehmens, Absorbierens und Reflektierens, Wachsens und Sterbens, und des Konzentrierens und Zerstreuens von kosmischer Kraft aus dem großen kosmischen Ozean.
Wenn ein Brunnen während einer heißen, sommerlichen Dürreperiode ausgetrocknet ist, kann er sich nur dann wieder mit Wasser füllen, wenn es regnet. Wenn er dann bis oben voll ist, läuft er über und gibt Wasser an die umgebende Erde und an entferntere Bäche ab - der Saft des Lebens fließt zurück zum Leben.
Auf diese Weise reproduziert sich das Leben, unterhält es sich selbst und wächst ohne aufzuhören. Beim gepanzerten Menschen ist das nicht so. Er wurde zur Einbahn-Sackstraße, als er Gott in sich abtötete, als er aus dem Paradies vertrieben wurde. Oft ist es gerade der Repräsentant Gottes auf Erden, der den Zugang zu dem Bereich blockiert, wo die Antwort auf die Frage, warum der Mensch das Paradies verlor, zu finden wäre. Dieses Verbot ist Bestandteil der Pest, die die Menschheit schon so lange und so gnadenlos ruiniert hat. Du darfst einfach nicht Gott oder das Leben als das Verlangen deines Körpers erkennen. Das würde dich unausweichlich dahin führen, daß du erkennst, warum du Gott verloren hast. Deshalb darfst du Gott niemals erkennen. Und dieser Unsinn wird von tüchtigen Meistern der Ausflucht in allen Teilen der Welt und an Tausenden von Universitäten gepredigt.
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Wiederholen wir:
Du sollst Gott und das Leben suchen, Gott und das Leben verehren, Gott und dem Leben gehorchen, Gott und dem Leben Opfer bringen, Tempel und Paläste für Gott und das Leben bauen, Gedichte und Musik über Gott und das Leben schreiben — aber du darfst niemals, bei Androhung des Todes, Gott als Liebe erkennen. Von dieser Regel gab es in den letzten Jahrtausenden nicht eine einzige Ausnahme. Mehr noch: Nicht ein einziger Mann, nicht eine einzige Frau hat jemals laut und vernehmlich irgendwelche Fragen zu diesem Unsinn gestellt.
Wäre Gott als Liebe erkannt, so wäre auch seine Existenz bestätigt; er wäre zugänglich gemacht, und der Mensch wäre in die Lage versetzt, tatsächlich so zu leben, wie er es jetzt überhaupt nicht kann: Es könnte jede Forderung jeder Religion erfüllt werden, auch die Forderungen aller Verfassungen, Gesetze, moralischen bzw. ethischen Systeme, alle Wertvorstellungen, Ideale und Träume. Aber nein! Du darfst Gott oder das Leben niemals als körperliche Liebe erkennen.
Dies alles ist so wie es ist, weil es nur einen einzigen Zugang zu Gott und damit zum Leben gibt: die genitale Umarmung; ein geächteter Zugang jenseits aller gängigen Vorstellungen. berühre es nie! Jedes Kind durchlebte diese Agonie. Berühre es nicht - nämlich das Genitale.
So ist es dazu gekommen, daß der Mensch sich immer wieder nach Gott und dem Leben sehnt, Gott und das Leben überall trinkt, wo es sich anbietet, Gott und das Leben aussaugt, Gott und das Leben tötet, wo er es trifft, in sich und außerhalb. Aber nie und nimmer kann der Mensch Gott oder das Leben nach außen weitergeben. Er weiß nicht, wie es wäre, wenn Gott und das Leben aktiv in ihm wirken würden. Er kann sie nur passiv erfahren, sie in sich aufnehmen, sich mit ihnen auffüllen, sich an ihnen erfreuen und sie für verschiedene Zwecke benutzen: um sich besser zu fühlen, sich zu heilen, mit ihrer Hilfe reich zu werden, Macht zu gewinnen, Leute zu beeinflussen und zu betrügen. Aber nie und nimmer kann der erstarrte Mensch Gott oder das Leben nach außen weitergeben; denn das ist unlösbar verknüpft mit Liebe geben, genitale Liebe in der Umarmung, was schon im Säugling verboten, verflucht und getötet wird.
Deshalb kann der Mensch Liebe nur nehmen und nicht geben. Die Lebenskraft, die er in sich aufnimmt, wird Mittel zu einem anderen Zweck als liebendes Geben. Sowie sie in seinen Körper kommt, wird sie zu «Fleischeslust», weil der Körper schon seit langem starr und unbeweglich geworden ist. Göttliche Liebe verwandelt sich in gierige Lust, die Umarmung in einen gräßlich grinsenden Fick, einen Ausdruck des Hassens, des Schaffens, des Ergreifens, Festhaltens, Besitzens, des Aufreißens und Reinrammens, des ruckartigen Reibens und Es-ihr-besorgens. Sie wird eine Sache der ehelichen Pflicht, mit Rechtsanwälten, Reportern, öffentlichen Verleumdungen, des Auseinanderreißens der Liebe der Kinder, eine Sache der Rache, der Alimente, der Bitterkeit.
Von hier ab folgt alles andere mit einer gnadenlosen, grausamen Logik bis zur schließlichen Kreuzigung Christi.
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Wilhelm Reich 1953