5. Die Mystifizierung Christi
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Man lese das <Gebet auf dem Berge> langsam und aufmerksam. Man setze für «Vater», was hier für «Gott» steht, «Kosmische Lebenskraft». Man betrachte als das «Übel» die tragische Fehlentwicklung der natürlichen Triebe des Menschen. Man sei sich stets der Verquickungen der primären, natürlichen Triebe mit den sekundären, pervertierten, grausamen Trieben bewußt.
Man sehe immer die Tatsache klar vor Augen, daß die sogenannte «menschliche Natur» auch das «teuflische» Übel enthält, d.h. Grausamkeit infolge Frustration des Grundbedürfnisses nach Liebe und Befriedigung der Liebe in der geschlechtlichen Umarmung. Man betrachte genau dieses «Übel» als den Wächter, der den Zugang zur göttlichen Liebe im Menschen versperrt und lese nun das «Gebet auf dem Berge»:
Unser
Vater in dem Himmel
Unser
täglich Brot gib uns heute. |
Unser
Liebesleben von dem Himmel
Unser
täglich Brot gib uns heute.
|
Gottvater ist die kosmische Urenergie, aus der alles Sein entspringt, und die deinen Körper und alles andere durchströmt. Man könnte aber auch sagen: Gottvater ist die unerreichbare Wirklichkeit der körperlichen liebe, mystifiziert und in den Himmel versetzt. Mystifizierung besteht in der Anbetung des Spiegelbildes einer unerreichbaren, nicht leb- und faßbaren, quälend-verlockenden und deshalb unerträglichen Realität im eigenen Innern.
Was die Menschen nicht tun:
1. Die Menschen unterscheiden nicht zwischen ihrer primären und ihrer sekundären Natur.
2. Die Menschen begreifen das teuflische Böse («Emotionale Pest», «Sünde») nicht als die Hauptkonsequenz aus der Frustration des Guten (Gott-Leben-Liebe) einschließlich der genitalen UMARMUNG.
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3. Die Menschen wissen dementsprechend nicht, wie das Böse überhaupt in die Welt kommen konnte, wo deren Schöpfer doch gut ist.
4. Die Menschen haben nicht die Kraft, sich vom Teufel und der mechanistisch-mystischen Dichotomie zu lösen.
5. Die Menschen bringen keine Gesetze zustande, die die primäre, göttliche, körperliche Liebe gegen die emotionale Pest, «Sünde» genannt, schützen; sie schützen nur die Moralvorstellungen.
6. Die Menschen gelangen nie zu Gott, zum Guten, zur brüderlichen Liebe, weil sie den Ausgang aus der Falle nicht öffnen, in der die biologische Grundlage des Menschen gefangen ist.
7. Die Menschen hören nicht auf, das Böse, die emotionale Pest, zu schützen.
8. Die Menschen machen ihren biologischen Kern nicht zugänglich, wodurch die «mittlere Schicht» und damit auch die emotionale Pest nicht mehr wirksam sein könnten. Sonst würde sich das obige Diagramm wie folgt vereinfachen:
Ist die aus dem biologischen Kern gespeiste Liebe erst einmal unerreichbar geworden, so bildet sie den wesentlichen Bestandteil der Mystifizierung Gottes. Daraus folgt mit unerbittlicher Logik die Ermordung Christi, der für die göttliche Liebe im Körper steht, durch alle Zeiten, bis auf den heutigen Tag.
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Seither kann Leben nur noch als göttlich und unerreichbar, als jenseitig und unerkennbar aufgefaßt werden. Seither wird jede einzelne Erfahrung des Menschen, falls sie sein lebendiges Leben betrifft, wie in einem Spiegel angesehen, wie eine Fata Morgana. Seither verwendet der Mensch all seine Kraft, seinen Geist, seine Geschicklichkeit und seine Schöpferkraft dazu, um die Realität des Lebens von sich fern zu halten. Jede einzelne Tatsache (mit Ausnahme von allem, was leblose Mechanismen betrifft) setzt er in eine mystische Vorstellung um, damit er sie ja nicht begreifen muß.
Er fühlt das Leben, aber er fühlt es nur ganz schwach, wie durch eine Wand oder durch Nebel hindurch. Er weiß, daß irgendetwas Göttliches existiert, ob er es nun Gott, Ewigkeit, Bestimmung der Menschheit, Äther, das Absolute oder Weltgeist nennt; aber er verriegelt fest jeden Zugang dazu, es zu erkennen, zu handhaben und weiterzuentwickeln.
Die Beseitigung des wahren, wirklichen, lebendigen Christus geschah nicht nur dieses eine Mal zu Beginn der christlichen Ära. Es geschah schon lange bevor der Name Christus in der menschlichen Geschichte auftauchte, und es setzte sich fort, nachdem Christus ermordet worden war. Christus war lediglich der prominenteste Vertreter der chronischen Tragödie. Mehr noch: Weil niemand vor ihm und niemand nach ihm die Eigenschaften des lebendigen Lebens so klar verkörpert hat und dafür auf derart gräßliche und schändliche Art ermordet worden ist, wurde Christus zum Symbol für Leiden und Erlösung des Menschen von der Sünde. Mit der Christuslegende hat der Mensch vergeblich versucht, das Rätsel seiner elenden Existenz zu verstehen und zu lösen. Das ist ihm nicht gelungen, weil er, wie schon vor und nach dem eigentlichen Mord an Christus, nicht dorthin fand, wohin er schon immer am meisten wollte: zu sich selbst. Mit Christus hat er sich das Symbol seines Mysteriums und seines Elends geschaffen; gleichzeitig hat er sich durch die Mystifikation Christi den Zugang zu einem Verständnis Christi für immer verriegelt und versiegelt.
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Indem er Christus nur wie in einem Spiegel sieht, zwar als wirklichkeitsgetreues Abbild, aber unerreichbar, hat sich der Mensch den Zugang zu sich selbst versperrt. Nun wird es verständlich, wieso tausende von Büchern über Christus geschrieben werden konnten, ohne daß auch nur in einem einzigen davon ein Hinweis auf die Tatsache zu finden ist, daß es der Mensch selbst war, der Christus getötet hat, eben weil Jesus das Leben verkörperte.
Irgendwie jedoch muß derselbe Mensch, der Christus ermordet und ihn später zu seinem so sehr geliebten Gott gemacht hat, seinen sich durch alle Zeiten ziehenden tragischen, aber auch logischen Irrtum geahnt haben. Dies zeigt sich nicht nur in den großartigen Kirchenbauten, in den großen Kunstwerken, in der wunderbaren Musik und in den bis ins Feinste ausgearbeiteten Gedankengebäuden, die zu Ehren Christi geschaffen worden sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß all das große Aufsehen, daß um Christus gemacht wurde, nur dem einen Zwecke diente, den begangenen Mord zu vertuschen und jede Spur auch nur des geringsten Verdachts auf einen solchen Mord zu verwischen. Vor allem sollte damit die Weiterführung des Mordens gesichert werden, von der Zeit direkt nach der Kreuzigung über das Mittelalter hin bis zu den brennenden Kreuzen und dem Mord an sanftsinnlichen Negern im Süden der Vereinigten Staaten und der Ermordung von sechs Millionen hilfloser Juden, Franzosen und anderer in Hitlerdeutschland.
Der lange Zeitraum von der tatsächlichen Ermordung Christi und dem, was dazu geführt hat, bis zu der Ermordung von Negern in Cicero, USA, von Pazifisten in der UdSSR und von Juden in Hitlerdeutschland ist voller Ereignisse ersten Ranges. Keine noch so detaillierte Erforschung all dieser einzelnen Ereignisse wird jedoch jemals auch nur ein bißchen vom wahren Wesen des Christusmordes enthüllen, denn es ist ja gerade das Hauptkennzeichen der Pest, den Mord und die Motive dafür zu verschleiern.
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Die Opfer des Mordes wechseln. Die Gründe, die hinterher für den Mord genannt werden, wechseln. Die Methoden des Mordes wechseln von Land zu Land und von Zeit zu Zeit. Es spielt keine Rolle, ob Danton unter die Guillotine muß oder Lincoln eine Kugel in den Kopf bekommt, ob Gandhi erschossen wird oder Wilson und Lenin durch Gehirnblutung enden, nachdem sie unter Qualen ihre Lebensträume haben schwinden sehen. Es ist grundsätzlich immer der gleiche rote Faden, der die versteckte Methode kennzeichnet, nach der ein Dreyfus für fünf Jahre aus dem Weg geräumt wird, für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat; oder nach der ein unschuldiger Mann in Amerika durch einen kriminellen Richter für zwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt wird und hinterher dafür auf wahrhaft christliche, vergebende Art «Dankeschön» sagt, während der Richter und der kriminelle Bezirksstaatsanwalt ohne Strafe davonkommen; oder wenn Millionen einfacher Leute, die das wissen haben, nicht einen Ton sagen, nur weil jemand in der Stadt ist, der bösartiges Geschwätz und Verleumdungen verbreitet. All das fängt tatsächlich schon mit der ersten Mystifizierung Christi durch seine eigenen Jünger an.
Die Jünger verstehen nicht wirklich, wovon er spricht. Sie haben nur eine blasse Ahnung von der großen Verheißung. Sie spüren sie, trinken von ihr in großen Zügen, aber sie können sie nicht verdauen. Es ist, als ob man Wasser in ein Faß ohne Boden gießt. Leere Menschen saugen das Wasser auf wie trockener Sand; sie trocknen sofort wieder aus und wollen mehr. Das bedeutet natürlich ständig neue Frustration. Christus, der Erlöser, steht vor ihnen, nährt sie, tröstet sie, begeistert sie, erzählt ihnen vom Reich Gottes auf Erden, mehr noch, er zeigt ihnen die Zeichen der Herrschaft Gottes hier und jetzt, und doch ... alles bleibt unerreichbar, unzugänglich, frustrierend; sie können nur ein Abbild davon aufnehmen, aber nicht die Substanz selbst.
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Sie können die reine Flüssigkeit nur gierig schlucken, aber sie bleibt nicht in ihnen. Sie läuft schnell durch sie hindurch, wie ein Zucken durch die Nerven, aber sie bleibt nicht in ihnen, schlimmer noch, sie bewirkt überhaupt nichts. Sie lauschen seinen Worten mit Spannung. Aber diese Worte erzeugen nicht mehr als etwas Aufregung in ihnen. Sie versuchen, diese Worte nachzuahmen, aber das gelingt nicht richtig. Oder, wenn es gelingt, klingt es hohl, bedeutungslos, wie ein mechanisches Echo von einem entfernten Berg. Wenn aus seinem Munde keine worte mehr kommen, hört auch das Echo des Berges auf. sie sind völlig leer. nichts, aber auch gar NICHTS IST IN IHNEN, DAS DIESE WORTE AUFNEHMEN UND SCHÖPFERISCH ANWENDEN KÖNNTE.
Sie erkennen sich als Wüste, als völliges Ödland. Diese Erkenntnis ist nicht klar, sie ist wohl verborgen, wie die meisten Erfahrungen, die sie über sich selbst machen. Aber sie sind sich dieser schrecklichen Situation bewußt, schmerzhaft und unverkennbar.
Sie strengen sich an, so gut sie können, um von Christus zu lernen und um ihn nachzuahmen. Aber sie merken bald, daß sie ihn einfach nicht verstehen, nicht verstehen können. Deshalb scheint es ihnen, als spreche er in geheimnisvollen Parabeln. Christus ist ganz und gar nicht geheimnisvoll. Er erzählt ihnen einfach gute und einprägsame Geschichten. Aber weil sie unzugänglich wie geschlossene Muscheln sind, erscheint er ihnen geheimnisvoll, irgendwie unergründlich, weit weg, fremdartig, so ganz anders als sie, wie durch Nebel oder Dunst. Dieser Nebel und Dunst gehören in Wirklichkeit zu ihnen und nicht zu ihm. Doch dies zu erkennen, hieße unausweichlich auch, ihr eigenes lebendiges Totsein zu erkennen. Deshalb erscheint ihnen der Nebel, als wäre er um ihn und nicht um sie.
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Je tiefer Christus sie mit seinen scharfen Bemerkungen trifft, desto weiter entfernt erscheint er ihnen. Und hier stellt sich etwas ein, was man bei jeder Stadtversammlung in allen Ländern, wo Stadtversammlungen noch abgehalten werden, beobachten kann: Je einfacher der Redner spricht, je klarer seine Worte sind, und je leerer Ausdruck und Worte der Diskussionsteilnehmer aus dem Saal sind, desto größer wird die Distanz zwischen Podium und Publikum und desto mehr neigt das Publikum zu einer hilflosen, mystischen Bewunderung des Redners.
Es öffnet sich eine breite Kluft, die sich nie mehr schliessen wird: die breite Kluft zwischen der tatsächlichen Unfähigkeit der Masse und ihrer mystischen Identifikation mit dem Redner. In dieser Kluft entfalten die Hitlers und Stalins, die Mussolinis und Barabbasse, die Übeltäter aller Zeiten und aller Länder ihren Einfluß auf die Menschen. Natürlich wissen sie nicht, wie sie es tun. Dies und genau dies ist die Stelle, aus der das Elend des zwanzigsten Jahrhunderts bis an die Grenze des Erträglichen erwuchs. Doch das wird von niemandem je erwähnt.
Die Mystifizierung Christi, die sie damit beginnen, daß sie ihn in immer weitere Feme entrücken, bedeutet nicht, daß sie ihn nicht wahrhaft lieben oder ihn nicht aufrichtig bewundern oder nicht bereit sind, für ihn zu sterben. Sie bedeutet zunächst einmal nur, daß sie meinen, sie könnten nie und nimmer sein wie Christus, während Christus davon überzeugt ist, daß sie sein können wie er. Nicht Christus ist es, der sich von ihnen entfernt, sondern sie selbst sind es, die ihn langsam und unmerklich von sich fortrücken. Das ist der erste Schritt in Richtung auf den Sockel, auf den er schließlich gestellt werden wird, für immer unerreichbar, unmöglich, ihm gleich zu werden. Er ist «seiner Zeit um tausend Jahre voraus», sagen sie gewöhnlich und berauben ihn damit jeglicher Wirkung. Sie versuchen zu sein wie er. Sie leiden sehr darunter, daß sie sich so anstrengen und trotzdem scheitern.
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Und je mehr sie sich anstrengen, desto größer wird ihr Gefühl der eigenen Wertlosigkeit, das tief in ihrem Innern sitzt. Und damit entwickelt sich langsam der Haß, niemals offen, niemals ihre Liebe zu Christus überdeckend oder verdrängend, niemals voll ins Bewußtsein dringend; aber der Haß ist da und bleibt durch alle Zeiten erhalten. Christus stellt ihre ganze Existenz in Frage, emotional, sozial, ökonomisch, sexuell, kosmisch. Und sie sind aufs äußerste unfähig, ihre bisherige Lebensart zu ändern, ja, sie auch nur in Frage zu stellen. Sie sind starr gepanzert, emotionell steril und unbeweglich gemacht, ohne jede Weiterentwicklung.
Sie sind in der Tat ohne jeglichen Kontakt, und auch zu seinen Lehren können sie keinen Kontakt herstellen. Sie fühlen nur die prickelnde Wärme seiner Worte. Seine Lehren sind für sie nur Mittel, sich in ihrer kalten Wüste aufzuwärmen. Sie bedeuten nichts weiter. Die Worte und Taten Christi dienen ihnen nur als ein weiteres hervorragendes Mittel, der Erkenntnis ihres wahren Selbst, ihrer Nichtigkeit und Leere, zu entkommen. Keine spätere Glorifizierung, die im Nachhinein von «einfachen Fischern und Bauern» oder Steuereintreibern spricht, kann die Tatsache der Leerheit dieser einfachen Leute vertuschen, und was es für jeden einzelnen von ihnen bedeutet, einem Menschen wie Christus begegnet zu sein.
Die Augen vor diesem entscheidenden Problem der emotionalen Leere der Menschen und ihrem Leben im immer gleichen Trott zu verschließen, bedeutet auch die Aufgabe der Hoffnung, daß dieses Los der Menschheit jemals zu ändern wäre. Es ist tragisch zu erkennen, was die Massen ihren potentiellen Führern antun und wie die Führer sich dann rächen, indem sie mit gleicher Münze zurückzahlen: Mystifizierung, Idealisierung, Schulterklopfen, Verherrlichung des Leidens, falsche Hochschätzung der Einfältigkeit. Auf diese Art verlocken die Führer die Massen dazu, das zu bleiben, was sie sind, anstatt sie in Bewegung zu setzen; genauso wie
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die Massen ihre Führer zum Abrücken in eine Distanz verlocken, wo sie als echte Veränderer und Gestalter grundsätzlicher Verbesserungen harmlos werden — denn solche Verbesserungen sind immer unangenehm und schmerzhaft, und sie müssen es auch sein. Von dieser gegenseitigen Anbiederung zwischen Masse und Führer, dem gegenseitigen Schmieren von Honig ums Maul, kommt alle Scheußlichkeit der Politik, ihre innere Leere, ihre unnütze Gestik und schließlich der Krieg, der wiederum Christusmord ist — im Massenmaßstab.
Da die Geführten durch und durch unfähig gemacht worden sind, sich selbst zu helfen, muß der Führer umso mächtiger gemacht werden, damit er ihnen helfen kann. Da er meist selbst ein gewöhnlicher Sterblicher ist, muß er erst zu großer, wenn auch falscher, Macht und Herrlichkeit emporgehoben werden. Diese falsche Macht und Herrlichkeit in Form von überdimensionalen Bildern, Uniformen, Orden und ähnlichem sind notwendige Ergänzungen zur Hilflosigkeit und Leere der Massen. Führer und Geführte schaukeln sich so gegenseitig empor in die großen Höhen falscher Staatsmacht und falscher nationaler Stärke. Man denke nur an die zehn Jahre von Hitlers «tausendjährigem Reich» oder auch an die achtzig Jahre des Deutschen Reichs verglichen mit einem einzigen biologischen Ereignis. Das Geheimnis ist nicht die Macht der Männer im Kreml, sondern die gähnende Nichtigkeit und Leerheit, auf der sie beruht.
Der Unterschied zwischen einem Jesus Christus und einem Hitler oder Stalin in dieser tragischen Beziehung zu den Massen ist folgender: der Diktator mißbraucht die Hilflosigkeit der Massen bis aufs äußerste. Er zögert nicht, dies geradeheraus zu sagen, und die Leute jubeln ihm weiter zu — sogar gerade dafür. Er sagt ihnen, daß sie zu nichts anderem taugen, als zum Sterben für den Ruhm des Vaterlandes — und er gewinnt sie damit.
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Nicht deshalb, weil er ihnen sagt, sie sollten sterben, sondern weil er der richtige Mann ist, so faszinierend, daß sie sich mit seiner zur Schau gestellten Kraft und Stärke auffüllen können. Sie trinken von ihm, und er gießt in sie hinein, soviel sie wollen. Sie werden davon niemals wirklich aufgefüllt, weil alles sofort wieder versickert, aber es kitzelt sie hoch zu Freudenschreien, zum Marschieren, zum Jubeln und zur Identifikation mit der Größe der Nation. Bis jetzt hat es noch kein Soziologe dieses Jahrhunderts gewagt, in diesen tiefen Abgrund der Verhaltensstruktur der Massen zu blicken. Das alles ist deshalb so, weil die Pest den Ausgang aus dieser Falle verschlossen und getarnt hat.
Stalin macht das gleiche, aber subtiler, auf raffiniertere Art. Er bleibt im Hintergrund und manipuliert auf äußerst gerissene Art hinter den Kulissen. Er läßt nur seine Bilder sprechen. Er selbst tritt bescheiden auf und trägt keine Orden; doch ist gerade diese Bescheidenheit der Betrug bei der Parade auf dem Roten Platz in Moskau. Er hat eine andere Herkunft als Hitler, und diese Herkunft von der großen Revolution von 1917 bestimmt sein Verhalten. Im Innersten bewundert er die größere und schnellere Schlagkraft eines Hitlers, wie sein Pakt mit ihm von 1939 zeigt. Er ersetzt die großen Auftritte durch schlaues Handeln im Hintergrund. Und das macht er sehr geschickt. Aber er bewirkt damit das gleiche wie Hitler: Er schafft den hilflosen Massen das Bild eines Führers, mit dem sie sich identifizieren können, von dem dem sie falsche Kraft trinken können, die sofort versickert.
Solange sie den Massen die Möglichkeit geben, vom Mysterium der Führerschaft zu trinken, sind sie sicher und werden nicht ermordet. Aber so mancher Christus wird ermordet werden, quasi mit Selbstverständlichkeit.
Bei Christus ist dies anders. Erfällt nicht sofort auf die Mystifizierung herein. Er nimmt die Führerrolle nicht sofort an, und als er den Massen schließlich doch als Führer zum Opfer fällt, geschieht dies so, daß die schließliche Ermordung unausweichlich ist.
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Er nimmt die Führerrolle an, ohne jedoch gleichzeitig sein wahres Wesen aufzugeben; deshalb muß ersterben. Das kennzeichnet seine wahre, kosmische Größe.
Zweitausend Jahre vergehen, bis menschliches Denken den Kern des Problems des Christusmordes erkennt, so sorgfältig ist er durch Millionen von Seiten voller Bewunderung, Erbitterung, Schmeichelei, Deutelei, Mitleid, Erlösungserwartung und Erregung aus dem Blickfeld geräumt und versteckt worden. Zweitausend Jahre vergehen, bis zu einsamer, nächtlicher Stunde in einer abgelegenen Ecke der Welt ein einsamer Mann den Alptraum versteht und spricht:
Der Sauger
Ich bin reich wie die schwarze, fette Erde.
Ich nähre alles, was da saugt.
Der Sauger weiß nicht, was er bekommt.
Jedoch:
Die gute alte Erde hat sich nicht aufgelehnt,
als sie das Land verwüsteten,
den Boden zerfraßen
und alle Bäume schlugen im Wald.Als der Boden zerstört war,
war das Land mit Sand bedeckt.
Sie gaben dem Land nichts zurück.
Gibt der Moder zurück, was er saugte?Sie nahmen mein Wissen, die Seelen der Kranken zu heilen,
und das Werkzeug, das ich schuf, das Wesen Gottes zu fassen.
Und sie umwickelten sich mit meinem Namen,
zum Schutz vor der eisigen Kälte,
die ihr schmerzendes Fleisch biß.
Die Anmut von Liebe und Sorge, die nahmen sie nicht.
Sie hatten nicht Augen zu sehen, noch Hände zu fühlen;
keinen Sinn, die Anmut zu leben.Sie verwüsteten bloß das Land, und Mutter Erde lehnte sich nicht auf,
und schüttelte das Gesindel nicht ab.Sie bedeckte sich nur mit Gram
dort wo die Meute gehaust.
Der gute und reiche Boden,
einst fett und ergiebig,
ist fort.Weil sie die Anmut niemals zurückgaben.
Sie hatten keine Seelen:
Sie gaben um zu nehmen -
Sie lernten um zu kassieren -
Sie verehrten um zu gewinnen -
Nie griffen sie aus in den Raum,
weder mit Armen, noch Herz oder Hirn.Die Sehnsucht
war nicht mehr in ihrer Brust,
es sei denn: zu nehmen.
Ihre Lippen konnten nicht küssen.
Ihr Lächeln war erstarrtes Gegrins.
Das nannten sie ihre «Sünde»,
von der zu befreien
sie einst ihren Erlöser
ans Hexenkreuz genagelt.
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Die universelle Bedeutung der Ermordung Christi liegt in folgendem: Zweihundertfünfzig Jahre experimentelle Naturwissenschaft, und davon fünfzig Jahre Technologie, haben den Menschen vom Pferdewagen zur Rakete gebracht. Achttausend Jahre voller schwerwiegender menschlicher Probleme haben den Menschen nicht ein Jota näher zu einem Verständnis seiner selbst geführt.
Es ist offensichtlich, daß der Mensch sich deshalb nicht verstand, weil er sich nicht zu verstehen wagte; er hatte alle Zugänge zu einem Verständnis seiner selbst verrammelt. Dafür muß es einen Grund geben. Wir sahen einige der Dinge, die der Mensch vor sich verborgen hält. Aber wie schafft er es, sie so LANGE UND SO WIRKSAM ZU VERBERGEN?
Es hat überhaupt keinen Sinn, die entscheidende Bedeutung, die dem Verständnis des Wesens des Menschen zukommt, zu verkünden, große Gesellschaften zum Studium des Wesens des Menschen zu gründen und sich zu diesem Zweck auf großen Kongressen zu treffen, wenn wir nicht zuvor erkennen, dass der Mensch alles tut, ein Verständnis des Wesens des Menschen zu umgehen.
Zu den Dingen, die der Mensch tut, um der Erkenntnis seiner selbst zu entgehen, gehören auch die wichtigtuerischen Konferenzen über das Wesen des Menschen. Und seine soziale Zukunft hängt gänzlich davon ab, ob er weiterhin vor den Problemen davonläuft und weiterhin in unvermindertem Maße Christusmorde begeht.
Durch den ständigen Christusmord sägt sich der Mensch den bioenergetischen Ast ab, auf dem er sitzt; und erhält sich damit vom Ursprung seiner gesamten Existenz fern. All das ist sehr gut bekannt, seit die junge Sexualökonomie, als sie in den späten zwanziger Jahren gewisse psychoanalytische Theorien widerlegte, die menschliche Charakterstruktur als den entscheidenden soziologischen Faktor der Geschichte in den Vordergrund rückte.
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Dieses Wissen ist heute keine Neuigkeit mehr, aber es gebietet auch dem Christusmord keinen Einhalt, denn einige Soziologen haben die Theorien über die Charakterstruktur übernommen, sie aber wieder einmal ihres Kerns, der Bio-Genitalität des Menschen, vollständig beraubt. Dafür werden sie nun als die großen Soziologen unserer Zeit bejubelt.
Wir wissen heute, daß der Motor der gesamten Existenz des Menschen mit Bio(genitaler)-Energie betrieben wird. Wir wissen auch, daß die Fähigkeit zur Konvulsion des ganzen Körpers beim Menschen dadurch zerstört wird, daß jedes Kind, das in diese Gesellschaft hineingeboren wird, gezwungen wird, sich abzupanzern. Damit hat der Mensch sich aber auch das einzig wirksame Ventil für eine soziale Selbstregulierung und den einzigen emotionalen Zugang zu seinem eigenen Wesen zerstört. Wir haben auch viele andere, weniger wichtige Dinge erkannt, z.B., daß die späteren Vorstellungen von Göttern und Göttinnen davon bestimmt werden, auf welche Weise das Kleinkind seine frühe elterliche Umgebung erfährt.
All das bleibt jedoch akademischer Kram, solange wir nicht zu den Ursachen des Schreckens vordringen, der offensichtlich den Menschen davon abhält, sich selbst zu erkennen und sein eigenes Leben genauso perfekt zu beherrschen, wie er seine künstlich geschaffene, mechanische Umwelt zu beherrschen gelernt hat. Bevor irgendetwas zur Beendigung des Christusmordens unternommen werden kann, muß aufgedeckt werden, auf welche Weise der Mensch dieses Morden verborgen hält. Andernfalls wird trotz allen Wissens, das in Büchern und auf Kongressen über das Wesen des Menschen zusammengetragen wurde und wird, das Christusmorden unbehindert weitergehen.
Dies wäre zu vergleichen mit dem Fall, daß man die allerletzten Details eines Motors kennen würde, aber nicht wüßte, wie man ihn einschaltet. Und um zu erkennen, wie es möglich war, daß das Christusmorden so lange geschehen konnte, wird es von entscheidender Bedeutung sein zu wissen, wie die Kosmische Lebensenergie arbeitet und was es für den Menschen bedeuten würde, wenn sie unbehindert durch den Charakterpanzer frei in ihm funktionieren könnte.
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Es ist entscheidend zu wissen, warum der Mensch den Eingang zum Paradies durch einen Engel mit einem flammenden Schwert bewachen läßt. Um ins Paradies zu gelangen, muß man nicht nur wissen, was das Paradies ist, sondern man muß auch in der Lage sein, in dessen Allerheiligstes zu gelangen. Aber dieses Allerheiligste zu sehen, ist irgendwie verboten; niemand außer den Hohenpriestern Gottes darf jemals das Heiligste des dreigeteilten Tempels Gottes betreten. Moses darf Gottes Antlitz nicht sehen; Gott ist im katholischen Glauben mystifiziert. Gott ist dem konkreten Kontakt mit dem menschlichen Organismus entrückt und mit drohenden, flammenden Schwertern bewacht. Der wirkliche Wächter ist natürlich der Mensch selbst. Er schützt sein Leben geGEN DROHENDES UNHEIL; DENN GEWALTIGES UNHEILWÜRDE ÜBER DIE MENSCHHEIT KOMMEN, WENN DER MENSCH, WIE ER JETZT BESCHAFFEN IST, GOTT FINDEN UND ERKENNEN WÜRDE. Er würde aus Gott das machen, was er vorher schon immer aus Liebe, aus Wissen, aus seinen Neugeborenen, aus dem Sozialismus und aus dem Austausch von Gütern gemacht hat: Dreck, scheußlichen Dreck des Kleinen Mannes.
Dies klingt ziemlich sonderbar und unsinnig. Warum sollte die Erkenntnis und der Kontakt zu Gott mit Leib und Seele eine soziale Katastrophe bedeuten? Wenn Gott gleichbedeutend ist mit der Lebensenergie, die alles Lebendige und vor allem Lebendigen das gesamte Universum geschaffen hat, warum sollte deren Erkenntnis und der Kontakt mit ihr, was der sicherste Wegwäre, ein Leben nach Gottes Willen zu leben, warum sollte dies katastrophal und streng verboten sein? Bevor wir darüber mehr erfahren können, müssen wir noch einige Ergebnisse der Methode betrachten, mit der der Mensch Christus ermordet.
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Die Christusmörder werden gegen die wahren Lehren Christi und seine Absichten siegreich bleiben. Sie werden die Bedeutung seines Daseins durch Mystifikation zerstören. Diese fängt an mit dem Verschwinden seines Körpers aus dem Grab, in das er nach der Kreuzigung gelegt worden ist. Nur zwei Frauen, Maria Magdalena und Maria, Mutter des Jakob, haben gesehen, wohin er gelegt wurde. Als sie am nächsten Morgen zum Grab zurückkehren, um ihn zu salben, ist er verschwunden.
Die christliche Religion hätte auch allein aus der Art, in der ein geistiger Führer wie Christus gekreuzigt worden ist, entstanden sein können: von seiner Ausstrahlung und seinen einfachen, weisen Aussprüchen; von seinem Kampf gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer; von seiner Neuinterpretation des Alten Testaments, wie sie uns in den Evangelien überliefert worden ist; von seiner großen Liebe zu Erwachsenen und Kindern und von der Hilfe, die er den Kranken gab. Es wäre nicht nötig gewesen, mit der Heilung kranker Seelen durch einen Mann mit starker Ausstrahlung so etwas wie Wundertaten zu verbinden. Jeder gute Psychiater des zwanzigsten Jahrhunderts vollbringt solche «Wunder», wenn er jemanden aus emotionaler Bedrängnis oder manchmal auch von körperlichen Schmerzen befreit. Es gab zur damaligen Zeit also eine Reihe von sensationellen Ereignissen, die zur Entwicklung einer Religion günstig waren.
Stellen wir uns einmal für einen Moment vor, wie ein solcher religiöser Glauben ausgesehen hätte, wenn die mystische Umsetzung Christi nach seinem Tod nicht stattgefunden hätte.
Seine Grundelemente würden mit denen des heutigen christlichen Glaubens übereinstimmen: den Nächsten zu lieben und ihm zu vergeben, d.h. die Motive des Feindes zu verstehen; Gutes zu tun, wie in den meisten anderen Religionen auch; Gott, der das Leben ist, zu verehren und dem Schöpfer allen Seins gegenüber treu und ergeben zu sein; die lebendigen Bestandteile der alten jüdischen Religion zu erneuern, die durch eine korrupte Priesterschaft versteinert war; ein moralisches Leben zu führen und den Verlockungen des Bösen nicht zu erliegen; den Kranken zu helfen und den Armen zu geben.
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Die moralischen Grundsätze würden genau dieselben gewesen sein, wie wir sie heute in so vielen reformierten und modernisierten christlichen Glaubensrichtungen finden. Auch dann noch hätte Christus als Gottes Sohn betrachtet werden können, wie Mohammed oder Buddha. Die gewaltige Dynamik der christlichen Kirchen liegt jedoch nicht in diesen Glaubenselementen, die auch den meisten anderen Religionen eigen sind und sich jeweils nur unwesentlich voneinander unterscheiden. Die große Kraft des christlichen Glaubens, wie sie besonders im Katholizismus hervortritt, kommt aus der Mystifizierung Christi.
Diese Mystifizierung, ganz gleich in welcher Form, hat ein deutliches Wirkungszentrum, aus dem alle Einzelheiten hervorgehen und von dem diese ihre typisch christliche Eigenart beziehen: DIE ENTKÖRPERUNG CHRISTI UND DESSEN VOLLSTÄNDIGE VERGEISTIGUNG.
Die Häßlichkeit des Körpers Christi in der letzten Agonie war ein schreiender Widerspruch zu seiner gewaltigen Glaubenskraft. Die Achtung vor dem Körper brach zusammen, der Geist stieg umso höher, bis in Gottes Himmel hinauf. Die Christen wollten nicht erkennen, daß es ein Mensch war, der hier grausam verstümmelt worden ist. Deshalb wurde der entstellte Körper spiritualisiert.
Die Erben Christi waren sich der Existenz einer kosmischen, körperlichen Liebe bewußt. Diese aber war eingesperrt wie in einem Gefängnis, und sie warnten eine sehnsüchtige Menschheit davor, zu ihrem eingekerkerten Gott vorzudringen.
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«Laß Deinen Gott in Deinem Körper, aber berühre ihn niemals!» verkünden sie der Menschheit. Mit der völligen Entkörperlichung und Vergeistigung Christi war die reine körperliche Liebe, die er gelebt hatte, unwiederbringlich verloren. Würde die katholische Kirche die reine körperliche Liebe, unmißverständlich abgegrenzt von der pervertierten «Sünde des Fleisches», wieder in ihre Lehre aufnehmen, würde sie damit sofort fast alle ihre inneren Widersprüche hinsichtlich ihrer kosmischen Aspekte auflösen. Viele der unmöglichen Erfindungen der Lehre, wie z.B. die «unbefleckte Empfängnis» und die Verdammung der körperlichen Liebe, die nur der Abwehr der reinen körperlichen Liebe dienen, wären dann überflüssig.
Die tiefe Kluft zwischen den kosmischen Aspekten des Christentums einerseits und der Verhinderung des Zugangs zu einem Verständnis des kosmischen Ursprungs des Menschen andererseits ist ein schriller Mißklang und ein unlösbarer, gefährlicher Widerspruch zugleich. Wäre es von den Erben des Christentums zuviel verlangt, die Pforten des Himmels wieder zu öffnen? Andernfalls, wenn der Himmel weiterhin verschlossen bleibt, wird auch die «Sünde» weiterbestehen, und unzählige menschliche Seelen werden weiterhin aufgrund eines gewaltigen Irrtums ein qualvolles Dasein fristen. Und die Pest wird noch auf lange Sicht ihre verheerende Wirkung auf das Leben der Menschen ausüben.
Das ist für jeden offenkundig, der jemals den Prozeß der Transformation körperlichen Verlangens in geistige Ideen von Reinheit aus der Nähe beobachten konnte, sei es bei Geisteskranken oder bei Normalen, die unter dem Einfluß akuter Frustration standen: Die mystische Verklärung Christi entspringt dem ungeheuer starken Bedürfnis, die gewaltigen biophysikalischen Implikationen der irdischen Existenz Christi und seiner Lehren um jeden Preis zu vertuschen.
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Allein die Tatsache, daß im katholischen Glauben — als dem am meisten orthodoxen — die Sünde der Fleischeslust der Angelpunkt für die gesamte Moraltheologie und christliche Geistigkeit ist, zeigt uns klar, warum und auf welche Weise die Lehren Christi mystifiziert werden mußten.
Wäre seinerzeit eine christliche Religion begründet worden, die mit dem wahren biologischen Wesen Christi in Übereinstimmung gestanden hätte, so hätte dies auf geradem Wege in die Richtung geführt, in die auch heute das orgonomische Wissen tendenziell weist.
Dies ist eine allgemeine und weitreichende Aussage von solch gewaltigen Dimensionen, daß es noch einiger sehr einfacher Überlegungen bedarf, um ihre Richtigkeit nachzuweisen.
Wie schon des öfteren festgestellt wurde, führte Christus das Leben eines einfachen Mannes mit großer emotionaler Kraft inmitten einfacher Leute in einer ländlichen Umgebung. Jeder Sozialarbeiter, Arzt oder Erzieher, der praktisch mit sogenannten «einfachen Leuten» und deren täglichen Nöten zu tun hat oder zu tun hatte, weiß, daß sich ihre Sorgen und Nöte hauptsächlich um ihre genitale Misere drehen. Diese Sorgen stehen nicht nur im Rang weit vor den wirtschaftlichen, sondern sie sind in der westlichen Welt auch weitaus verbreiteter; und in den asiatischen Gesellschaften sind sie unmittelbarer Grund und ständige Quelle von deren ökonomischem Elend.
Das gewaltige ökonomische Elend der asiatischen Massen wird oder kann durch keine auch noch so große Anstrengung gemindert werden, wenn nicht vorher deren emotionales und genitales Elend gemindert werden kann. (siehe mein Buch «Die Sexuelle Revolution»). Genau dieses Elend ist es, was diese Millionenmassen so unfähig macht, irgendetwas gegen ihr materielles Elend zu tun oder auch nur darüber nachzudenken.
Für sie bedeutet es ständige Qualen, in einer Gesellschaft leben zu müssen, die seit undenklichen Zeiten von Sklaverei geprägt ist, gefesselt durch die Mystifizierung ihrer körperlichen Liebe. Das bedeutet neues Unheil für heute, und die Freiheitskrämer stehen schon bereit, es auszunutzen. Aber angesichts einer untergehenden Zivilisation wird es kein Staatsmann wagen, dies beim Namen zu nennen. Die Blindheit gegenüber diesen Tatsachen selbst ist wiederum ein Grundbestandteil des allgegenwärtigen Christusmordes. Und der Vater, die Mutter, der Lehrer oder der Jugendliche, der einem geradeheraus sagen würde, daß dies nicht so sei, wäre in der Tat eine Seltenheit.
Die ungeheure ökonomische Misere der riesigen asiatischen Menschenmassen kann nicht angegangen werden, ohne daß auch deren genitale Misere (Übervölkerung wegen fehlender Geburtenkontrolle, grausame Morallehren usw.) mit klaren, gründlichen und entschlossenen Maßnahmen angegangen wird, denn dort liegt die Grundlage ihrer großen sozialen Misere. Die patriarchalische Gesellschaftsstruktur bildet nur den Rahmen, in dem diese Misere gedeihen kann und ständig neu geschaffen wird.
Und nirgendwo sonst ist der Christusmord so offensichtlich wie in diesen großen asiatischen Gesellschaften. Demzufolge ist auch kaum ein anderer Teil der Welt so gefährdet, dem Roten Faschismus zum Opfer zu fallen. Denn der Rote Faschismus ist der mechanistische Christusmord per se, lediglich maskiert mit einem veralteten, rationalistischen Gedankensystem, das von der kosmischen Natur der menschlichen Emotionen überhaupt nichts weiß.
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Wilhelm Reich 1953