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6. Die große Kluft 

 

Das «Sitzen» des Menschen 

 

 

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Christus wird schließlich ermordet, im Jahre 30. Nicht, weil er gut oder böse wäre; nicht, weil er ein Volks­verräter oder eine Herausforderung der Talmudisten im Hohen Rat wäre; nicht, weil seine Worte von einem eifersüchtigen Statthalter des Kaisers so mißverstanden worden wären, als sei er »König der Juden« oder weil er gegen die römische Herrschaft rebellierte; und auch nicht, weil er ja am Kreuz für die Sünde des Menschen sterben mußte. Auch ist er kein bloßer Mythos, erfunden von den Priestern des Christentums und aufrechterhalten, um deren «Herrschaft über die Seelen der Menschen» zu sichern.

Christus ist auch nicht Ergebnis ökonomischer Prozesse in einem bestimmten Entwicklungsstadium der menschlichen Gesellschaft. Er hätte zu jeder Zeit, an jedem Ort, unter allen Umständen und sozialen Bedingungen gelebt haben können; immer wäre er auf die gleiche Art ums Leben gekommen. Er hätte in jeder anderen Gesellschaft und zu allen Zeiten ebenfalls sterben müssen. Das ist die emotionale Bedeutung Christi.

Der Christusmythos bezieht seine Kraft aus schrecklichen, aber wohlverborgenen Realitäten im Leben des gepanzerten Menschen. Zweitausend Jahre lang hat der Mensch in Christus den Schlüssel zum Verständnis seiner selbst gesucht. Mit Christus hat er den Zugang zu einer möglichen Lösung seiner eigenen Tragödie gefunden. Lange bevor Christus überhaupt geboren wurde, war er schon ermordet worden. Und Christus wird seitdem in jeder Stunde jedes Jahres weiterhin ermordet. Solange das Schicksal Christi nicht vollständig und praktisch verstanden ist, wird das Morden unvermindert weitergehen. Sein Schicksal steht für das Geheimnis der Tragödie des Menschentieres.

Christus hat zu allen Zeiten sterben müssen, und er muß weiter sterben, weil er das Leben verkörpert. Und es gibt im Menschen heute wie damals eine tiefe und unüberbrückbare Kluft zwischen dem Traum vom Leben und der Fähigkeit, das Leben zu leben. Christus mußte sterben, weil die Liebe des Menschen zum Leben stärker ist als seine eigene Struktur. Der Mensch kann eben das Leben nicht einfach als von Gott geschaffen nehmen, den Gesetzen der kosmischen Lebensenergie unterworfen.

Eine häßliche Frau, die sich im Spiegel immer als so schön sieht, wie sie es sich erträumt und wie sie auch hätte sein können, wenn ihre Entwicklungsbedingungen anders gewesen wären, wird irgendwann einmal das Bild im Spiegel zerschmettern. Niemand, nicht eine einzige lebendige Seele, kann es ertragen, ein fürchterliches Leben zu führen, wenn sie ständig die voll entwickelten eigenen Möglichkeiten, in einer anderen Person verkörpert, leibhaftig vor sich sehen muß.

Man kann auf Erlösung hoffen, solange Erlösung eine trockene, abstrakte Sache der Interpretation des Talmuds ist oder bloß eine Zeile in einem Kirchenlied oder Gebet. Dann kann man sich sogar schon an der Hoffnung selbst erfreuen, an der aufregenden Erwartung einer weit in der Zukunft liegenden Zeit, in der alles so sein wird, wie man es sich jetzt erträumt. Hoffnung gibt einem Kraft, sie erzeugt eine angenehme innere Wärme, sie wirkt wie ein stärkendes Getränk während einer anstrengenden Bergtour.

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Wer seine Hoffnung in eine weit entfernte Zukunft setzt, ohne jedwede Verpflichtung, irgendetwas zu tun, um diese Hoffnung in kleinen Schritten hier und heute zu verwirklichen, Hoffnung also in wirkliches Leben zu verwandeln, der kann dort «sitzen» bleiben, wo er schon zwanzig oder dreißig oder fünftausend Jahre gesessen hat.

Das Sitzen auf der Stelle ist die logische Folge der Immobilisierung des Menschen. In frühester Kindheit bereitet sich jeder vor, sitzen zu bleiben, so bequem wie möglich. Das Mädchen durchläuft schnell eine Zeit, in der es von einem blonden Helden auf einem weißen Pferd träumt, der es vor der Sklaverei retten oder es aus tausendjährigem Schlaf erwecken und heiraten wird, damit es dann für immer glücklich bleibt. Jeder Film handelt von diesem Suchen nach einem sicheren Platz, auf dem man für immer sitzen bleiben kann. Niemals wird gezeigt, was nach dem Happyend geschieht. Niemals! Denn das würde starke Emotionen aufwühlen, Bewegung erzeugen.

Du bleibst auf der Stelle sitzen, ob du Büromensch, Landarzt oder Steuereintreiber bist, auch wenn du als chinesischer Wäschewascher nach Amerika gekommen bist oder als jüdischer Gastwirt heute in New York «gefilte Fisch» verkaufst wie einst in Minsk. Dieses Sitzen fördert Geschicklichkeit und handwerkliches Können, was wiederum größer Sicherheit dient. Das alles ist keineswegs schlecht, sogar äußerst notwendig. Ohne dieses Sitzen könnte der Mensch unter den gegenwärtigen Bedingungen wahrscheinlich gar nicht existieren und seinen Unterhalt bestreiten. Ohne im Leben auf der Stelle sitzen zu bleiben, würde niemand Brückenbauingenieur oder Konstrukteur.

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Ohne sich an dieses Sitzen zu gewöhnen, könnte wohl niemand ein Leben als Kohlenbergmann oder Totengräber, als Betonarbeiter oder Stahlbaumonteur ertragen. Die völlige Notwendigkeit und Rationalität des lebenslangen Sitzens auf einer Stelle zeigt sich klar in der Tätigkeit eines Fensterputzers in New York oder im Leben eines chinesischen Kulis, der seine Rikscha zieht.

Von daher ist es auch gut verständlich, daß bis jetzt alle soziale Entwicklung immer das Ergebnis einer von außen kommenden Erschütterung gewesen ist; immer waren es Kriege oder Revolutionen, die die Leute von ihren Plätzen rissen, auf denen sie unbeweglich saßen. Nicht eine einzige Entwicklung gab es bisher, die ihre Ursache in einer inneren Bewegung in der Menschen­masse hatte. Jede soziale Bewegung hatte einen politischen Charakter, d.h. sie war künstlich, von außen auferlegt, nicht aus eigener Kraft entstanden. Um sich zu bewegen, müßte der Mensch sich erst einmal ohne eine von außen verursachte Erregung innerlich in Bewegung setzen. Der Impuls zu Bewegung, Veränderung des Bestehenden, zum Beenden des endlosen Sitzens, müßte in der Struktur des Menschen von Anfang an fest verankert und als Grundmerkmal seiner Existenz sorgfältig weiterentwickelt werden, so wie es bei den amerikanischen Pionieren und den alten nomadischen Völkern gezwungenermaßen der Fall gewesen ist.

Kein Reh oder Bär, kein Elefant oder Wal, kein Vogel und keine Schnecke könnten jemals so auf der Stelle sitzen wie der Mensch. Sie würden austrocknen und bald sterben. Im Zoo kann man sehen, was das Sitzen aus wilden Tieren macht.

Die Immobilisierung mittels der körperlichen und gefühlsmäßigen Panzerung macht den Menschen nicht nur zu diesem Sitzen fähig, sondern läßt ihn sogar gerne sitzen. Bei Starrheit von Seele und Körper wird jede Bewegung schmerzvoll. Man kann in seiner Nachbarschaft beobachten, wie Leute über Jahre hinweg jeden Tag zur gleichen Zeit immer wieder dasselbe tun.

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Das Sitzen hält den Energiestoffwechsel auf niedrigster Stufe, erlaubt keine hochschlagende Begeisterung. So wird es leicht, alles «leicht zu nehmen», immer nett zu sein, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen, und in täglicher Routine zu erledigen, sich weder über kleine noch über große Dinge aufzuregen. Das Sitzen ist für den zivilisierten, gepanzerten Menschen ein «Segen». Das Sitzen auf der Stelle wird so zu einer der am meisten geschätzten Eigenheiten der Menschheit.

Aus dem Sitzen einzelner gepanzerter Menschen erwächst das Sitzen ganzer Nationen und Kulturen. So saß China über tausende von Jahren auf der Stelle, selbstzufrieden, ruhig wie ein Ozean, nur mit kleinen Wellen an der Oberfläche und ab und zu einmal einem Sturm mit vielleicht zwanzig Meter hohen Wellen. Doch was sind solche Wellen im Vergleich zu einer Tiefe von fünftausend Metern? Gar nichts. Nichts kann einen Ozean stören, und nichts kann eine Jahrtausende alte Kultur des gepanzerten Menschen stören oder wirklich aus der Ruhe bringen. Kulturen kommen und gehen zwar im Verlauf der Geschichte, Zivilisationen entstehen und versinken wieder, aber das bedeutet nicht viel, wenn man sie unter dem fundamentalen Aspekt der menschlichen Tragödie sieht, die im chronischen Christusmord kulminiert. Zwar verschwindet eine Zivilisation, wenn deren Söhne und Töchter des ständigen Sitzens überdrüssig geworden sind; sie machen dann eine kleinere oder größere Revolution, oder sie führen Krieg gegen andere Nationen. Aber letztlich kommt dabei nicht viel heraus, und zwar deshalb, weil die neue Kultur genauso aussieht und genauso funktioniert wie die alte, die sie zerstören wollte, indem sie mit viel Geschrei in ein oder zwei Dekaden tausend Jahre über den Haufen zu werfen gedachte. Man denke nur daran, wie wenig sich zwischen dem ersten und dem dritten Weltkrieg geändert hat.

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Die philosophischen Diskussionen über Wissenschaft und Moral im Rahmen irgendeines Podiumsgesprächs an einer Universität sind äußerst feinsinnig und wirklich großartig, was die Präzision des Denkens und der Formulierung angeht. Aber ihre Bedeutung für die Probleme der menschlichen Existenz, denen auszuweichen sie entschlossen ist, ist kaum der Rede wert. Der Unterschied zwischen sein und sollen ist sicher wichtig und gehört zu den vernichtenden, massenmordenden Problemen. Aber das Geheimnis der Geschichte Christi, die den Schlüssel zur kosmischen Existenz des Menschen birgt, ist unvergleichlich größer. In ihrem Licht sind die Probleme von sein und sollen nicht vorhanden. sein und sollen hängen von der Lösung des kosmischen Problems ab.

Diese Diskussionen unterscheiden sich kaum von den Gesprächen des Sokrates mit seinen Schülern in Platons Dialogen. Natürlich unterscheiden sie sich auch von diesen, weil sich in den letzten zweitausendfünfhundert Jahren so allerhand geändert hat. Doch im Grunde sind sie gleich geblieben, und man wird mit Erstaunen entdecken, daß seit Beginn der geschriebenen Geschichte alles auf ein und derselben' Stelle sitzen geblieben ist.

Sicher gibt es einen großen Unterschied zwischen einem Auto des Jahres 1950 in den USA und einem Kamel im Palästina des Jahres 30. Sicher lebten und dachten die Leute anders als heute; sicher hatten sie andere Probleme, andere Kleidung und andere Wohnungen. Aber das alles ist uns nicht so gänzlich fremd, wie es die Mondoberfläche wäre. Und sogar die Mondoberfläche sähe irgendwie den Dolomiten in Italien ähnlich.

Das Christusproblem ist weitaus umfassender. Es betrifft den Kampf von Bewegung gegen erstarrte Struktur. Nur Bewegung ist unendlich. Struktur ist endlich und abgeschlossen. Im Prinzip sind Handeln und Schicksal der Menschheit dasselbe. Irgendwie ist die Geschichte auf der Stelle geblieben, eben, weil der Mensch, der seine eigene Geschichte schreibt, auf der Stelle sitzen geblieben ist.

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Der Christusmord könnte heute genauso stattfinden wie damals, und er findet auch statt. Die ökonomischen und sozialen Konflikte von heute sind sogar exakte Neuauflagen der alten: Kaiser und Fremdherrscher, eine versklavte Nation, Steuerlasten und Fremdenhaß, religiöser Eifer und Kollaboration der Führer des unterworfenen Volkes mit den Eroberern, Taktik und Diplomatie, usw. usw. Um die Geschichte Christi voll zu verstehen, muß man anfangen, in kosmischen Dimensionen zu denken.

Irgendwie paßt Christus in all das nicht recht hinein. Er paßte auch damals nicht hinein und hätte weder vor sechstausend Jahren noch heute hineingepaßt. Kann man sich einen lebendigen Christus, so sprechend wie er sprach, lebend und essend mit Sündern und Huren wie er es tat, in den Kathedralen von St. Stephan oder St. Peter vorstellen? Einfach unmöglich. Doch diese Kathedralen wurden ihm zu Ehren gebaut. Warum könnte er dann nicht in solche Kathedralen gehen? Nicht, weil der Mensch entartet ist oder weil er Christus vergessen hat, wie immer gesagt wird, auch nicht, weil die Priesterschaft korrumpiert ist. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sich die Menschen und die Priester sowie ihre Hoffnungen, Gefühle und Ängste nicht wesentlich geändert haben, von damals, als sie den Körper Christi verehrten, bis heute, wo sie seinen Geist verehren. Auch das, und zwar alles, blieb sitzen.

Nein, es ist nicht eine spätere Entartung der Kirche, die den Menschen Christus vergessen ließ, sondern es ist heute wie vor tausend Jahren, Die grosse Kluft zwischen der großen Hoffnung und dem wahren, wirklichen Ich, zwischen der Phantasie vom Ich und der Wirklichkeit des Ich, zwischen beweglicher, produktiver Energie und erstarrter Energie. Als Christus seine Mission begann, war er dreißig Jahre alt und störte noch niemanden und nichts.

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Er bewegte sich nur anmutig unter ihnen, und sie schauten gern in diesen Spiegel, um darin ihre Hoffnung zu sehen. Der Mord bahnte sich an, als die Hoffnung Emotionen aufwühlte. Christus war zu beweglich; nicht zu beweglich im Sinne des lebendigen Lebens, man hat im Gegenteil manchmal den deutlichen Eindruck, daß er sogar etwas zu fordernd, zu prinzipientreu war, nach dem zu urteilen, was uns die Evangelien überliefert haben. So mußte er natürlich sein, und wir werden bald sehen, warum das lebendige Leben im Menschen strikte Prinzipien und eine forcierte Ernsthaftigkeit entwickelt, ja, entwickeln muß, um sich gegen die sitzende menschliche Natur behaupten zu können.

Aber Christus meinte es ernst, in seiner ganzen Naivität. Er nahm sich selbst genauso ernst, wie ein Reh sich ernst nehmen würde. «Natürlich bin ich das Leben! Was sonst sollte ich sein?» hören wir ihn sagen.

Christus mochte nicht zu Hause bei seinen Geschwistern und seiner Mutter sitzen bleiben, obwohl er alle sehr gern hatte. Er liebte es, durch die schöne Landschaft zu wandern und sich an der Sonne zu erfreuen, wenn sie in strahlendem Rot am Horizont emporstieg. Er liebte es, Leute aus verschiedenen Gegenden kennenzulernen, obwohl er Palästina niemals verließ. Rein gar nichts weist darauf hin, daß Christus sich zu Beginn seiner Wanderungen als Retter der Menschheit sah. Sowohl aus seiner Lebens­geschichte als auch aus unseren Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Organismus können wir reichlich Hinweise entnehmen, daß er sich in erster Linie von den anderen Menschen dadurch unterschied und unterschieden fühlte, daß er nicht auf der Stelle sitzen bleiben konnte. Er hatte nicht vor, den Rest seines Lebens als Zimmermann zu verbringen. Er hebte die Menschen und fühlte sich zu ihnen hingezogen. Der familiäre Bereich zuhause war seiner lebendigen Beweglichkeit und, was anzunehmen ist, auch seinen lebendigen Ansichten, zu eng.

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Wir wissen, daß ihm seine Mutter Vorwürfe machte, weil er nicht innerhalb des Familienkreises blieb. Auch mit seinen Geschwistern stand er nicht auf besonders gutem Fuß. Und später, als er schon in die Rolle des messianischen Führers hineingedrängt worden war, verlangte er von seinen Anhängern, daß auch sie ihre Geschwister und Eltern verlassen und ihm und seiner Mission folgen sollten. Er wußte, daß das Leben in der Zwangsfamilie kein Hinausgehen über deren enge Grenzen erlaubte.

Auch das ist auf dem Hintergrund des Widerspruchs zwischen dem Leben, das sich vorwärts bewegt, und dem Leben, das sitzen bleibt, gut zu verstehen. Wahres Leben bewegt sich nach vom in unbekannte Bereiche, aber es tut dies nicht gern allein. Es braucht keine Schüler, keine Anhänger, keine Ja-Sager, keine Bewunderer und keine Verehrer. Was es aber dringend braucht und nicht entbehren kann, ist Gesellschaft, Kameradschaft, Freundschaft, menschliche Nähe und das mitfühlende Verständnis einer anderen Seele, die Möglichkeit, sich auszusprechen und jemandem sein Innerstes anzuvertrauen. Darin liegt nichts Übernatürliches oder Außergewöhnliches. Es ist ein Ausdruck echten Lebens, natürlicher Sozialität. Niemand will oder kann ganz allein leben, ohne dabei Gefahr zu laufen, verrückt zu werden.

Dieser starke Drang nach Gesellschaft muß in Bitterkeit umschlagen, d.h. zu einer Forderung werden normalerweise mit dem lebendigen Leben unvereinbar wenn Freunde und Gefährten an ihre Familien, Frauen, Kinder und Berufe gebunden sind. Diese Bindungen hängen wie Ketten an ihnen. Immer wenn eigentlich ein weit ausholender Sprung nach vom notwendig wäre, werden sie zurückgehalten. Jeder große Menschenführer mußte mit diesem Problem fertig werden. Jeder große Volksführer fordert von seinen Anhängern, alles im Stich zu lassen und nur ihm zu folgen.

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Das traf und trifft ebenso für die katholische Kirche wie für den Glauben des Roten Faschismus zu. Es gilt auch für jeden Kapitän und seine Mannschaft und für alle militärischen oder sonstigen Gruppen, die Aufgaben zu erfüllen haben, bei denen sie beweglich bleiben müssen.

Der Unterschied zwischen den Forderungen Christi und denen aller anderen gerade erwähnten Führer ist der, daß die letzteren bereits vollständig etablierten, starr organisierten Zusammenschlüssen von Menschen angehören, die von ihnen Verzicht auf jegliches Sitzen verlangen, während Christus ursprünglich nicht die Gründung einer Kirche oder einer politischen Bewegung beabsichtigt. Er wünscht sich nur Freunde, mit denen er umherwandern kann; doch diese sind kleinkariert, lästig, behindern ihn und beeinträchtigen seine Lebensfreude. Das hätte noch keine allzu große Bedeutung, wenn sie ihn nicht schon bald zum künftigen Messias hätten machen wollen. Sie, die Freunde, sind es, die langsam seine Bewunderer und Anhänger werden. Es sind in erster Linie die Geführten, die die Art der Herrschaft ihrer Führer über sie bestimmen und niemals umgekehrt. Es gibt in dieser unserer sozialen Welt nichts, und es kann gar nichts geben, das nicht grundsätzlich vom Charakter und dem Verhalten der Menschen bestimmt wird. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme, ganz egal, was wir betrachten.

In erster Linie sind es also seine Freunde, die Christus durch ihre Bewunderung dazu bringen, daß er von ihnen verlangt, ihre Familien und ihre Arbeit zu verlassen.

Nicht, weil Christus in dieser Hinsicht außergewöhnlich ist, sondern weil das lebendige Leben zu jeder Zeit und unter allen sozialen bzw. kulturellen Verhältnissen so handeln müßte, wenn es bei seinem Vorstoß in unbekannte Bereiche nicht allein bleiben will.

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Auf diese Weise verwandelt sich überall das Leben in Führertum, Herrschaft, Vorschriften, Beschränkungen und Opfer, überall, wo es sich gegen das Sitzen der Masse zu bewegen beginnt, gegen die «Kultur», gegen etablierte wissen­schaftliche Lehrmeinungen, gegen erstarrte Routine in Technologie, Erziehung oder Medizin. Wären alle Menschen beweglich, gäbe es für all das keinen Grund. Sie selber würden gern vorangehen und die Last des Fortschritts würde von allen getragen, und nicht nur von einzelnen Führern oder kleinen Gruppen.

Die überwältigende Mehrheit aller Menschen, die je gelebt haben, kamen nicht weit über die Grenzen ihres Wohnorts hinaus. Einige ziehen nicht um, weil sie zu arm sind, die meisten aber, weil Bewegung ihnen Schmerz verursacht. Sie haben gerade so viel Lebensenergie, daß sie sich und ihre Kinder am Leben erhalten können. Nur ein paar Händler oder zigeunerhafte Menschen reisen umher. Erst ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Reisen zu einem Massenkonsumartikel, und die Menschen fingen an, ins Ausland zu fahren. Die große Mehrheit sitzt aber weiterhin bei drückender Sommerhitze in NewYork, Chicago oder ähnlichen Orten. Es ist falsch, davon zu sprechen, daß die Leute reisen, da es nur eine Minderheit tut und die große Mehrheit für alles verantwortlich ist. Und selbst, wenn die Mehrheit nun reisen würde, würde das allein ihre Grundstruktur auch nicht ändern.

Wer heute reist, tut es nicht, weil Reisen angenehm und gut ist, sondern weil «man heute reist» und der Nachbar auf einen herabschauen würde, wenn man noch nicht das gesehen hatte, was Müllers schon gesehen haben. Man reist auch, «weil man mit dem Dollar in Europa so günstig einkaufen kann». So sitzt man wieder.

Christus fährt nicht nach Europa, weil er in Europa mit dem Dollar mehr kaufen kann als in den USA. Er reist, weil er die Menschen in Europa kennenlernen möchte. Wie andere Leute auch, besucht er Museen, aber nicht, «weil man dort gewesen sein muß»

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oder weil man dieses oder jenes Gemälde «gesehen haben muß»; ergeht einfach hin, um eben ein Gemälde zu betrachten. Und sowas tut man normalerweise nicht, genausowenig, wie man eine Frau oder einen Mann wegen des Glücks umarmt, sondern, um Kinder zu zeugen. Für Christus ist das alles so fremd. Und deshalb wird und muß er schließlich ermordet werden.

Die Unbeweglichkeit und das Sitzen begleitet die Reisenden wohin sie auch gehen mögen. Deshalb bewundern und verehren sie den, der wirklich beweglich ist und bewegt. Obwohl Christus auf seinen Reisen vielen Leuten begegnet, bleibt er für sich. Er reist fast allein, nur begleitet von ein paar Gefährten. Auch wenn er mit diesen zusammen ist, hält er etwas Distanz, er geht ihnen ein ziemliches Stück voraus, oder er geht allein in den Wald, um zu meditieren. Seine Anhänger meditieren kaum; sie reden meist über ihren Meister, fragen sich, was er wohl gerade tut und wie er dies oder jenes möglicherweise gemacht haben würde. Sie folgen damit ihrem eigenen Wunschbild im Spiegel, dem sie so gerne gleichen würden, es aber nicht können.

Sie träumen von ihm als ihrem Führer, der mit seiner ganzen Macht und seiner gottgegebenen Dynamik die Römer eines Tages aus der heiligen Stadt vertreiben wird. Jetzt wartet er noch und bereitet sich vor. Aber der Tag der Rache wird mit Sicherheit kommen. Ist er nicht Führer? Ihr Führer? Sie sind bereit, ihm durchs Feuer zu folgen; schon der Gedanke daran versetzt sie in Erregung. Am Ende werden sie ihn im Stich lassen.

Sie versuchen ihn dazu zu überreden, Wunder zu vollbringen und so seine göttliche Macht zu demonstrieren. Für sie ist diese göttliche Macht Donner und Blitz, ein fürchterlicher Lärm aus lausenden von Fanfaren oder Kanonen, ein aufbrechender Himmel und ein zerrissener Vorhang im Tempel. Die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben und das größte aller Wunder wird geschehen: die Seelen werden in ihre Körper zurückkehren und sie werden wie vor tausend Jahren umherwandeln. Das ist doch das mindeste, was er für sie tun kann.

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In ihrer zukünftigen Religion wird der wahre Christus völlig verschwunden sein, nur Donner, Blitz und Erdbeben und die Wieder­kehr der Toten werden erhalten bleiben.

Von all dem weiß Christus nichts. Er sprach niemals von Donner und Blitz oder von Erdbeben oder zerrissenen Vorhängen. Er lebt und wandelt auf einer völlig anderen Ebene als sie. Er denkt überhaupt nicht an irgendeinen Aufstand. Das Reich, das er in sich fühlt, ist nicht von dieser Welt, und das wird er ihnen später sagen, wenn er mit dem Tode ringt. Aber niemand versteht, worüber er spricht. Sie nehmen ihn wörtlich. Ein Reich ist ein Reich, oder nicht? Und zu einem Reich gehört ein König, gehören Paraden und Trompeten, Belagerung und Eroberung von Städten. Ein Führer hat Macht und übt diese Macht über andere aus.

Das ist es, was sie von Christus erwarten. Er gibt sich nur noch nicht zu erkennen. Er hat sich nur noch nicht offenbart. Und sie drängen ihn, sich zu offenbaren, ihnen ein Zeichen zu geben, immer wieder und immer wieder.

Christus bittet sie, zu anderen nicht über seinen wohltuenden Einfluß auf Gesunde und Kranke zu sprechen. Er selbst spricht nie von Wundem. Aber schon hundert Jahre nach seiner Ermordung werden die Wunder die Szene beherrschen und nicht seine Ablehnung des Wunderwirkens.

Christus ist gegen einen bewaffneten Aufstand. Er lehnt es ab, einen solchen Aufstand zu führen. Er predigt eine Seelen­revolution, die das Tiefstinnere nach außen kehrt. Christus weiß, daß das jüngste Gericht schon auf seine Generation herabkommen wird, wenn es nicht gelingt, dieses Tiefstinnere nach außen und zu praktischer Wirksamkeit zu bringen.

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Christus fühlt mehr als daß er bewußt erkennt, daß der Mensch seinen Kern wiederfinden und lieben muß, wenn er überleben und das Himmelreich auf Erden errichten will. Christus fängt langsam an, den Abgrund zu erkennen, der zwischen seinem Weg und dem Weg der anderen liegt. Er beginnt mit Schmerzen zu erkennen, daß er in absehbarer Zeit sterben muß und bereitet seine Freunde auf dieses Ereignis vor. Er weiß, daß er sterben muß, weil es in dieser Welt, in der jeder Sperling sein Nest hat, keinen Platz gibt, wo der Sohn Gottes in Ruhe leben kann. Nähme er das Schwert, wie seine Anhänger es verlangen, würde er nicht getötet werden; oder er würde ehrenhaft getötet werden, im Kampfe, aber nicht unehrenhaft, am Kreuz, zusammen mit zwei Dieben. Christus weiß, daß er sterben muß, weil in den Herzen der Menschen kein Platz für ihn ist. Sie wissen einfach nicht, wovon er redet. Er spricht nicht in geheimnisvollen Parabeln; er spricht in klaren Worten von kristallklaren Tatsachen. Aber sie haben kein Ohr für diese Worte. Mehr noch, sie werden diese Worte falsch auslegen, und deshalb wird er sterben müssen.
Er führt Jesajas an, der sagte:

«Dies Volk ehrt mich mit seinen Lippen,
aber ihr Herz ist ferne von mir;
vergeblich dienen sie mir,
weil sie lehren solche Lehren,
die nichts als Menschengebote sind.»
(Matth. 15, 8.9)

 

Er weiß, daß bald ein großes Unheil hereinbrechen wird, ja — hereinbrechen muß. Und niemand, keine einzige Menschenseele wird da sein, ihm zu helfen, weil gilt, was ebenfalls schon Jesajas sagte:

«Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen;
und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und es nicht erkennen.»

Denn dieses Volkes Herz ist verstockt, und ihre Ohren hören übel,
und ihre Augen schlummern, auf daß sie nicht etwa mit den Augen sehen
und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen
und sich bekehren, und ich ihnen hülfe.

(Matth. 13, 14.15)

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Dies ist der Panzer: Nein, sie sehen und hören und fühlen nicht mit ihren Herzen, was sie sehen und hören und wahrnehmen. Nie und nimmer werden sie begreifen, und alle Worte der Propheten aller Zeiten waren umsonst für sie. Die Märtyrer sind vergeblich gestorben, die Heiligen sind umsonst verbrannt worden und das Christusmorden geht unvermindert weiter.

Alles, was Menschenherzen je gefühlt, was Menschenhirne je gedacht und was menschliches Leiden je offenbart haben über das tragische Geheimnis des Menschen, war umsonst. Die Bücher wurden weggelegt oder durch leere Bewunderung ihrer Wirkung beraubt. Die Menschen wollen nur aufgefüllt werden, sobald sie sich leer fühlen. Aber nichts kann sie auffüllen. Gott in ihnen wurde ein für alle Mal verschüttet. Er kann nur noch in ihren Neugeborenen wiedergefunden werden, wenn sie davon abgehalten werden können, ihren Nachwuchs zu schädigen. Und Christus muß sterben, weil er ihrem Geheimnis zu nahe gekommen ist, weil er es ablehnte, ihre verzerrte Vorstellung vom Himmelreich zu übernehmen, weil er standhaft blieb. Und so lieferten sie ihn schließlich seinen Feinden aus:

Er widerstand den Versuchungen des Bösen und des Teufels. Er widerstand den Verlockungen der Macht. Ihm brach das Herz, als er einen Ausweg aus dem Dilemma suchte, wie man ein Führer der Menschen sein könne, ohne die gewohnten Methoden zu benutzen. Er wußte nur zu gut, daß Gewalt nichts nützen würde, nichts nützen könne.

Gewalt ist letztlich die Konsequenz der Hilflosigkeit der Menschen. Macht über Menschen ist entweder gewaltsam von den Führern an sich gerissen worden, oder die Führer wurden vom Volke selbst in eine Machtposition über das Volk gedrängt. Ein Caligula oder Hitler oder Dschugaschwili reißt die Macht voller Menschenverachtung an sich, aus der Erkenntnis heraus, wie Menschen sind und handeln. Diese Art von Machtergreifung geschieht, weil die Menschen sie geschehen lassen, nichts dagegen tun oder sie gar bewundern.

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Die andere Art von Macht, das Überreden und Drängen von Führerpersönlichkeiten in Machtpositionen, ist aktives Werk der leeren und hilflosen Menschenmassen. Neue, befreiende Wahrheiten werden vom Menschen umgewandelt in neue Spielarten der Macht von Menschen über Menschen. Das klingt unglaublich. Es ist jedoch ganz offensichtlich, wenn man sich einmal von Mitleid und Idolisierung der Massen und des Menschen im allgemeinen frei gemacht hat. Genau dieses Mitleid und diese Idolisierung sind die hauptsächlichen Mechanismen zum Schutz der Massenpest. Solange man die Menschen bedauert, ihnen auf die Schultern klopft und sie nicht so sehen möchte, wie sie sind, solange wird man den verborgenen Pfad zum Verständnis gewaltiger, Jahrtausende alter Nöte nicht finden. Auch die Geschichte Christi enthüllt dieses Geheimnis nur deshalb, weil Christus sich nicht in eine Machtposition drängen ließ.

So führen die Menschen ihre großen Führer in die Irre, um sie dann zu bösartigem Mißbrauch zu verleiten: Erst begeistern sie sich für Ideen über das, was als «Fortschritt» bezeichnet wird und bejubeln deren Urheber. Sie selbst aber bleiben sitzen. Wenn sie die neue Idee nicht schon so auf direktem Wege erstickt haben, werden sie den Pionier vielleicht verleumden oder irgendwie zu Tode peinigen. Die Kluft zwischen ihrer Fähigkeit zu hoffen und ihrer Fähigkeit zu handeln wird die Menschenmassen in jedem Fall dazu zwingen, die neue Idee als Last zu empfinden, als ständige Erinnerung an ihre Unbeweglichkeit und Totheit. Dieses Gefühl des Zurückbleibens und Hinterherhinkens muß sich notwendigerweise zu Haß auf das Neue, das Bewegende, das Aufrührende entwickeln. Unter diesem Aspekt ist der Haß des zerstörten Menschen auf alles Lebendige durchaus rational.

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Die neue bewegende Idee rüttelt die Menschen aus ihrer emotionalen Sicherheit und Unbekümmertheit heraus. Hier wird die konservative Weltsicht rational. Diese Sicherheit ist für die Existenz des Menschen wesentlich, auch wenn sie ihn abtötet. Ohne sie würde er zugrunde gehen. Das laute Geschrei der Freiheitslümmel, der Freiheitskrämer, sollte nicht von dieser Einsicht ablenken. Der Freiheitslümmel, der aus völliger Unwissenheit und Verantwortungslosigkeit laut nach Freiheit schreit, nur weil er selbst sich im negativen Sinne ausleben will, würde voll und ganz versagen, überhaupt irgendein sinnvolles soziales Funktionieren aufrecht zu erhalten, nachdem er den konservativen Verteidiger des status quo beseitigt hätte. Allein, um seinen Kopf zu retten, würde er weitaus grausamer und zügelloser in der Unterdrückung lebendigen Lebens werden, als es sich irgendein Konservativer überhaupt nur vorstellen könnte. Das wurde durch die Geschichte mit einem entsetzlich hohen Preis an Menschenleben bewiesen, durch die russischen Imperialisten des zwanzigsten Jahrhunderts, die selbst aus den Reihen des Volkes kamen.

Unter ihren gegenwärtigen Lebensbedingungen sind die Menschen konservativ und müssen es auch sein. Es hat keinen Sinn, sich auf eine weite Reise in unbekannte Gebiete zu begeben, wenn man keine Decke gegen die Kälte und kein Brot gegen den Hunger mit auf den Weg nehmen kann. Dann ist es schon besser, an Ort und Stelle zu bleiben, wo man den kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus hat. Deshalb hassen die Menschen den, der ihre emotionale Unbekümmertheit stört, sie müssen ihn hassen. So zu reden, bedeutet natürlich, den advocatus diaboli zu spielen, aber es hat wenig Sinn, den Teufel zu bekämpfen, ohne erst einmal zu wissen, warum es in dieser Welt überhaupt Teufel gibt.

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Diejenigen, die die Sitzgewohnheiten der Menschen stören, können leicht den Jubelrufen auf ihre Größe und Bedeutung zum Opfer fallen und selbst sitzen bleiben. Dafür gibt es viele Beispiele. In solchen Fällen gibt es dann überhaupt keine Bewegung nach vorn. Es gibt nur eine kleine Erschütterung, etwas Erregung in den abgetöteten Genitalien einiger Männer und Frauen, aber es geschieht nichts weiter, was die Gemeinschaft gefährden könnte. Man beobachte nur einmal «sitzende» Orientalen, und man erkennt und sieht, was hier gemeint ist.

Es kann aber auch sein, daß der Störer der emotionalen Unbekümmertheit dem Druck der sitzenden Menschen nicht nachgibt. Dann wird er gejagt werden, muß er gejagt werden wie ein wildes Tier. Oder er stirbt und hört auf, dem ständigen Ziehen in die ausgefahrenen Gleise eines faden und erstarrten Lebens entgegenzuwirken. Aber auch hier wird sich an der gesellschaftlichen Situation nicht viel ändern, allenfalls wird etwas Staub aufgewirbelt, auf der Straße oder bei ein paar harmlosen Leuten in irgendeiner Kneipe.

Die echte Gefahr für die Existenz des Menschen erwächst erst, wenn der Erneuerer oder Prophet weder selbst sitzen bleibt noch stillschweigend wegstirbt. Die echte Gefahr entsteht, wenn der Prophet Erfolg hat. Das sind die Schritte auf dem Wege zur allgemeinen gesellschaftlichen Katastrophe:

  1. Die Masse der trägen Menschen greift die große Hoffnung auf, die in der neuen Botschaft von ein paar kleinen großen Männern enthalten ist.

  2. Diese kleinen großen Männer sind nicht so träge wie die große Mehrheit der Menschen, sie sind clever und aktiv, streben nach Erfolg und Macht, aber noch nicht nach Macht über Menschen.

  3. Die Propheten, die die sündhafte Existenz des Menschen ablehnten und neue Horizonte sahen, versprechen sehr viel, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß sie gerade damit die Grundlage für eine neue bösartige Macht legen, die sie selbst als erste wieder ablehnen würden. Wenn sie nicht einen Grad von Selbstverleugnung und Einsicht erreicht haben, der sie die Kluft zwischen Hoffen und Handeln im Menschen voll und ganz erkennen läßt, ist die soziale Katastrophe so gut wie sicher.

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4. Die neue Idee wird von den kleinen großen Männern aufgegriffen. Sie berauschen sich an den Möglichkeiten der großen Vision. Sie haben weder das Geschick noch die Geduld, die Gefahren zu erkennen oder sich das Wissen anzueignen, das für den Umgang mit der neuen Vision erforderlich wäre. Die große Vision berauscht sie unvermeidlich mit Phantasien der Macht: sie werden machttrunken. Diese kleinen großen Männer wollen nicht von vornherein Macht. Der Machtrausch ist das unbeabsichtigte, jedoch sichere Ergebnis der Mischung aus einer großen Vision und den unzureichenden Fähigkeiten, sie zu verwirklichen. Auf diese Weise ist aus einer großartigen Vision der Erlösung ein neues, noch schlimmeres Übel entstanden. Im Laufe der Zeiten nahm dieser Umschlag von der Vision zum Machtrausch erheblich an Umfang zu, denn es gab immer mehr Propheten; und immer mehr Leute aus der breiten Masse traten im sozialen Leben hervor. Das Sitzen des Menschen, die Vision des Propheten und der Umschlag der Vision in Machtrausch bei den Aposteln des großen Propheten sind die drei Faktoren des Systems, das das menschliche Elend laufend reproduziert.

 

Dieser Umschlag von Vision in Macht über Menschen läßt sich nicht vermeiden; das wird solange so sein, wie die Kluft zwischen dem großen Traum und der tatsächlichen Unfähigkeit des Menschen besteht. Johannes und Kaiphas, Christus und der Inquisitor, alle gehen sie aus dieser Kluft im Wesen des Menschen hervor.

Es ist dieser dynamische Teufelskreis, der jeden sozialistischen Führer in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in einen Bürokraten mit dirigistischer Macht über Menschen verwandelte. Solche Ereignisse werden solange immer wieder stattfinden, bis diese Kluft geschlossen ist.

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Schuld an dem Machtrausch hat niemand, aber jeder ist dafür verantwortlich. Es gibt keine größere Gefahr für die Zukunft der Völker als Mitleid und Bedauern. Mitleid wird die Kluft zwischen Traum und Tat im Menschen nicht beseitigen, es wird sie nur verewigen. In diesem Sinne der Verewigung menschlichen Elends sind Sozialisten Feinde des Menschen. Der Konservative gibt nicht vor, er wolle die Lage der Menschheit verbessern. Er sagt offen, daß er für Beibehaltung des Status quo ist. Der Sozialist erscheint als der «progressive Führer» der «Freiheit» entgegen. In Wirklichkeit errichtet er die Sklaverei; nicht aus böser Absicht heraus, sondern einfach, weil er sich in eine Führerposition drängen läßt; er leidet unter den mystisch hoffenden aber faktisch unfähigen Menschenmassen.

Sozialistische Gesinnung führt unweigerlich zu Dirigismus. Sie hat bereits überall zu Dirigismus geführt, und zwar in dem Ausmaß, in dem Sozialismus als Idee ernst genommen wurde. Wo Sozialismus nicht mehr als ein humanitäres Ideal war, da zwang er die Führer nicht zum Dirigismus, wie in den skandinavischen Ländern des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber in England richtete er schweren Schaden an, und für Rußland bedeutete er eine Katastrophe, genau dem Maß entsprechend, in dem das sozialistische Ideal ernst genommen wurde.

Niemand käme auf die Idee, den sozialistischen Führern die Schuld dafür zu geben, daß sie die Kluft nicht sehen, oder daß sie die Freiheitshoffnungen der Menschen für tatsächliche Freiheitsfähigkeit halten. Man muß ihnen jedoch die Schuld dafür geben, daß sie jeden, der auf die Kluft aufmerksam machte und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung ob sie gut oder schlecht waren, spielt hier keine Rolle vorgeschlagen hat, behindert, mißbraucht oder getötet haben. Das betrifft ganz besonders die russischen Imperialisten. Für sie ist das pathologische Sitzen der Menschen bewußte «Sabotage» von Staatsinteressen.

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Die abgrundtiefe Grausamkeit des russischen Imperialismus ist nicht zu verstehen, wenn man nicht den Schock berücksichtigt, den die damaligen Führer erhielten, als sie den «Himmel auf Erden» schaffen wollten und dabei mit der menschlichen Trägheit konfrontiert wurden. Nicht die Menschheitshoffnungen sind es, die den römisch-katholischen vom russisch-imperialistischen Glauben unterscheiden; es ist auch nicht der Zerfall einer großen Lehre zu einem billigen Schwindel. Was sie voneinander unterscheidet, ist ihre unterschiedliche Haltung gegenüber der menschlichen Schwäche. Im Mittelalter jedoch hatte der Katholizismus dieselbe Qualität und dasselbe Format wie der Faschismus des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das alles ist natürlich äußerst tragisch. Daß es für den Menschen besser sein soll, seine Ideale nicht ernst zu nehmen, als es doch zu tun, ist wiederum nur ein weiteres der vielen Paradoxa, die aus dem großen Widerspruch zwischen Sehnsucht und Trägheit in der menschlichen Struktur entspringen.

Christus erliegt dem Druck der Massen und ihrem Versuch, ihn zu einer Machtposition zu verführen, nicht. Zu seinen Lebzeiten schafft er keine große Bewegung; er gibt nicht einmal den Judaismus auf. Und er selbst verwandelt seine Prophezeiungen auch nicht in Machtrausch; das bleibt erst Paulus von Tarsus überlassen. In die heutige Zeit übertragen ist Stalin im Verhältnis zu Marx das, was Paulus in Bezug auf Christus war. Lenin braucht man nicht mitzurechnen, denn er wurde Opfer seiner eigenen Verzweiflung über den Verfall des russischen Traums, dessen Anfänge er miterlebt hat. Er erlitt einen Gehirnschlag, genau wie 1945 Franklin D. Roosevelt, als er merkte, welchen Dienst er dem Moskauer Modju* mit seinem Entgegenkommen geleistet hatte.

 

* siehe Kap. 11 (d. Übers.)

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Der wahre Paulus des Roten Faschismus ist Stalin, der gerissene Modju aus Georgien; er ist es bis in die letzten Einzelheiten von Sprache, Doktrinarismus und Grausamkeit, bis zur Konversion vom Saulus zum Paulus. Stalin hatte es nur leichter als Paulus, seinen Machtrausch zu bekommen. Auch waren zu Paulus' Zeiten nicht so viele Millionen von Menschen an der Katastrophe beteiligt. Aber die Grausamkeit, die in beiden Fällen entwickelt wurde, ist sich sehr ähnlich.

Christus gründet keine Organisationen in den verschiedenen Ländern. Er beabsichtigt nicht, die Heiden zu Christen zu machen. Er zählt die Heiden ebenfalls zu den Kindern Gottes, und der Gedanke, jemanden gegen seinen Willen von etwas zu überzeugen, liegt ihm fern. Er bringt das Christentum nicht zu den Menschen, er wartet, bis die Menschen zu ihm kommen. Dann sagt er ihnen einfach, daß das Himmelreich auf erden möglich ist und nahe bevor steht. Er glaubt, daß die Menschen gut sind und nur durch äußere Kräfte unterdrückt und davon abgehalten werden, ihrem guten Wesen entsprechend zu leben; genau, wie es zweitausend Jahre später Liberale und Sozialisten auch glauben werden. Er glaubt, wie viele nach ihm auch, daß das Reich Gottes kommen wird, wenn man nur lange genug, ernsthaft genug und inbrünstig genug bete. Wie so viele vor und nach ihm, erliegt er der irrigen Ansicht, daß die Vielen gegen ihren Willen von den Wenigen, den Kaisern und Talmudgelehrten, unterdrückt werden können. Er ahnt nichts von der Tatsache, daß die Unterdrückung des Lebens innerhalb der Menschen selbst stattfindet. Es werden Jahrhunderte vergehen müssen, voll von Grausamkeit, Tod, Verzweiflung, Irrtum und scheußlicher Verbrechen, bevor einigen Wenigen langsam das Bewußtsein von der emotionalen Erkrankung der Menschheit dämmert. Und auch dann noch werden die wenigen Wissenden an Fehlern festhalten und es ablehnen, der vollen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Sie werden glauben, daß die Geisteskranken schlecht sind infolge Vererbung, genau wie ihre Vorgänger glaubten, sie seien vom Teufel besessen und müßten auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.

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Das große Ausweichen vor Christus, der das Leben ist, erzeugt das milliardenfache Morden durch die Jahrtausende. Sie werden fremde Völker mit Gewalt zum Christentum bekehren, ohne daß sie eine Ahnung von dem haben, was Christus meinte, wenn er vom «Himmelreich in dir» sprach. Im Namen des Christentums, um Christus auszuweichen, wird Blut die Flüsse hinunterfließen, werden Leichen von den Bäumen baumeln, werden Schreie von dicken Gefängnismauern widerhallen und werden die Wahnsinnigen, die in Kontakt mit Christus sind, ein Leben in Ketten führen müssen, alles im Namen Christi.

Und dieser Alptraum wird unter einem anderen Namen weiterbestehen, diesmal unter der Maske des Antichristen, der vorgibt, das Christentum wegen seiner Grausamkeit und Ignoranz ausrotten zu wollen, wobei er sowohl in der Methode als auch im Ausmaß alles übertreffen wird, was ein Inquisitor nicht einmal geträumt haben mag. Um Giordano Bruno auf den Scheiterhaufen zu bringen, brauchte man acht Jahre; um heutzutage ein paar hundert unschuldige Männer und Frauen an die Wand zu stellen, braucht man nur noch ein paar Stunden.

Haß wird die Welt regieren, und aus den erstarrten Mündern werden Worte von Liebe und Frieden triefen. Christus weiß nichts von dem strukturellen Haß, der aus der Frustration im Menschen entsteht. Es werden hunderte von Jahren und hunderte von Heiligen und weisen Männern nötig sein, nur um die Tatsache zu verschleiern, daß man dem Alptraum ein Ende bereiten könnte, wenn es gelänge, den Christusmord im Uterus der unzähligen nach Liebe hungernden schwangeren Frauen zu verhindern.

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Die Katastrophe ist in ihrer Ungeheuerlichkeit zu groß, zu stupide und zu abscheulich, als daß selbst Christus sich ihres wahren Ausmaßes voll bewußt ist. Er liebt die Menschen zu sehr. Er glaubt zu sehr an sie. Mit solch tiefer und aufrichtiger Liebe im Herzen ist es nicht möglich, den Menschen als einen bösartigen Hasser anzusehen. Der Mensch zeigt seinen Haß nicht offen. Er versteckt ihn und lebt ihn auf meisterhafte Art heimlich aus. Dieser Haß ist so gut als Haß auf den ewigen Feind, den Kaiser oder den fremden Bösewicht, getarnt, daß keine treuherzige, liebende Seele jemals den Verdacht hegen würde, daß dieser Haß genau im Innern auch und gerade des anständigen Menschen steckt. Doch daran gibt es keinen Zweifel: Die klebrige Liebe der Mutter zu ihrem Kind ist in Wahrheit Haß; die starre Treue der Ehefrau ist in Wahrheit Haß, sie ist voller Sehnsucht nach anderen Männern; das dienende Umsorgen der Familie durch die Familienväter ist reiner Haß; die Bewunderung der geliebten Führer durch die Masse ist reiner Haß, potentieller Mord. Wenn der Erlöser seiner G emeinde den Rücken kehrt, bzw. der Hirte nur einen Tag lang seine Herde verläßt, werden sich die Schafe in reißende Wölfe verwandeln und den Hirten in Stücke reißen.

All das ist zu unglaublich, als daß es überhaupt erfaßt und verarbeitet werden könnte. Doch es ist wahr. Es ist in einem solchen Ausmaß wahr, daß man annehmen kann, daß es die Grundlage allen Ausweichens vor jeder Wahrheit ist, sei es eine kleine oder große. Um zur Wahrheit vorzudringen, muß erst einmal diese Riesenlüge aufgedeckt werden. Und das Aufdecken dieser Riesenlüge bedeutet für jede daran beteiligte Seele eine Katastrophe.

Der große Haß ist gut versteckt und nach außen hin so gut unter Kontrolle, daß er keinen sofort sichtbaren Schaden anrichtet. Das Kind, das in seinen ersten Monaten von seiner Mutter emotional unterdrückt wird, wird davon nichts merken, bis es zum Mann herangewachsen ist, der eine Frau lieben will, oder bis es zur Frau herangewachsen ist, die ein Kind erziehen will.

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Die Zerstörung der Anmut eines kleinen Mädchens durch eine frigide und häßliche Mutter wird sich nicht zeigen, bevor das Mädchen selbst zur Mutter herangewachsen ist und ihren Mann und ihre Kinder unglücklich fürs Leben macht. Der letzte Gedanke manch einer solchen Mutter auf dem Totenbett ist vielleicht die bange Sorge, ob sich ihre Tochter wohl die Jungfräulichkeit bewahrt habe.

Dies ist nur ein flüchtiger Blick hinter die Kulissen des menschlichen Elends. Der große Haß ist nur für jene Männer und Frauen erkenntlich, die darum kämpfen, daß ihre eigene Liebe und ihr eigenes Leben in einer ehrlichen Form erhalten bleiben. Er ist nur dem geschickten Therapeuten zugänglich, der es versteht, eine menschliche Seele zu öffnen, ohne dabei den Körper in einer Flut von Haß zu ertränken. Die äußere Erscheinungsform des Hasses ist sehr vielfältig und tritt in tausenderlei Variationen auf, aber der Haß selbst ist immer wohlverborgen.

In der Tat beruhen alle Anstandsregeln und alle Höflichkeit auf der Notwendigkeit, diesen Haß zu verbergen. Bestimmte Gesellschaftsschichten haben zu allen Zeiten besondere Umgangsformen entwickelt, um jedermann über die Existenz dieses strukturellen Hasses hinwegzutäuschen. Diplomaten der späten nachchristlichen Zeit gehen im vollen Bewußtsein, daß sie nur bitteren Haß zu erwarten haben, auf Friedenskonferenzen. Sie sind zu jedem Betrug bereit, weil sie wissen, daß Betrug die einzige Methode ist, mit dem großen Haß fertig zu werden. Keiner traut dem anderen, und jeder weiß genau, was im anderen vorgeht, aber niemand spricht darüber. Jeder einzelne Teilnehmer der großen Kongresse über Mentalhygiene kennt das Elend der Pubertät aus eigener Erfahrung und aus der täglichen Praxis als Massenelend.

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Jeder einzelne Erzieher weiß genau, warum es Jugendkriminalität gibt, und was dies im Grunde bedeutet: Ausgehungertsein in sexueller Hinsicht auf dem Höhepunkt der genitalen Entwicklung. Aber nicht ein einziger spricht davon. Der große Haß ist es, der zwischen der Jugendmisere und denen wirksam ist, die diese potentiell beheben könnten. Und jeder tut so, als wüßte er nichts von dem großen Haß, der hinter der falschen Höflichkeit und der Sozialitis steckt, weil jeder vor jedem Angst hat. Und dementsprechend bleibt es auch so, daß jeder jedem auf die Schultern klopft, so wie man wilde Tiere zu beschwichtigen versucht.

All das ist eine unausweichliche Konsequenz des chronischen Christusmordes.

Die Ermordung Christi ist unvermeidlich; nicht, weil sie ihn hassen, sondern, weil sie ihn zu sehr lieben, aber auf eine Art und Weise, die er unter keinen Umständen befriedigen kann.

Christus gesteht sich sein großes Anderssein nicht ein. Die Liebe, die er seinen Mitmenschen gegenüber empfindet, erlaubt es ihm nicht, zu erkennen, daß er sich so stark von ihnen unterscheidet; daß er das hat, was sie nicht haben; daß ihm leicht das gelingt, was sie vergeblich zu erreichen suchen. Das liegt daran, daß er das Leben so lebt und fühlt, wie es eben abläuft, während sie erst einmal das Leben in sich abtöten, um dann zu versuchen, es mit Gewalt wieder zurückzubekommen. Das Leben kann jedoch nicht gezwungen werden. Man kann einen Baum nicht zwingen zu wachsen. Das ist die Tatsache, die einem am meisten Hoffnung gegen alle bösen Diktatoren gibt.

Somit bleibt Christus seinen Mitmenschen nahe. Er bleibt weiterhin der große Geber. Sie dagegen, seine Mitmenschen, nehmen weiter von ihm, und sie gewöhnen sich so daran, daß es ihnen quasi zur zweiten Natur wird, um ihn herum zu sein. Daß er weiterhin in ihrer Nähe bleibt, ist genau der Grund, weshalb sie ihn dann töten werden. Bliebe er durch Hochmut und zur Schau getragene falsche Würde auf Distanz, dann wäre er vor ihnen sicher.

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Aber er ist in ihrer Nähe, einfach und bescheiden, für jeden von ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit leicht erreichbar, einfach einer von ihnen. Im geheimen fragen sie sich: Warum läßt uns der Meister wohl immer in seiner Nähe sein, wo wir doch so wenig von seiner Botschaft wissen und so wenig für sie tun? Er ist großartig, aber irgendwie doch sehr schwierig. Immer ernst zu sein und das Leben Gottes zu führen ist zwar ein sehr edelmütiges aber doch auch ein mühseliges Dasein. Der Meister will uns wohl auf den Arm nehmen, er will uns wohl foppen?

Wir wandern über Berge und durch Felder, und wir sehen viele Leute und Kinder zu uns kommen. Die Leute sind neugierig auf uns, aber wir sind nicht wirklich das, was wir vorgeben zu sein. Wir sind weder heilig noch vollkommen genug. Wir sind es nicht wert, seine Schüler zu sein. Hat man ihn jemals einen saftigen, derben Witz erzählen hören? Nie! Und doch tut er sich mit Kurtisanen und Steuereintreibern zusammen. Er ist zu jedermann so freundlich; ein bißchen distanziertere Würde wäre ganz angebracht. - Sicher wird es der distanzierteste von allen sein, der sein Nachfolger werden wird, um ihn nach seinem Tode zu vertreten.

Wir wissen nichts über sein Liebesleben. Er spricht niemals darüber, und man bekommt nicht heraus, mit wem er gerade geht. Die Frauen lieben ihn, er ist sehr männlich und attraktiv. Hat man ihn jemals gesehen, wie er eine Frau geküßt oder geliebt hat? Nie! Er muß doch vom Himmel kommen. Er kann kein gewöhnlicher Sterblicher sein. Sterbliche machen Witze, trinken, sind manchmal betrunken und erzählen sich gegenseitig kleine, dreckige Geschichten über ihre kleinen Bekanntschaften; sie werfen mit schmutzigen Worten um sich und haben ihre kleinen Geheimnisse, die jedermann kennt und über die jedermann spricht. Manchmal gehen sie in ein fernes Land und toben sich aus, um dann hinterher zuhause wieder eisern tugendhaft zu sein.

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Sie leben nur für ihre Frau und Kinder. Sicher wissen wir, daß viele dieses Dasein hassen, aber sie kleben an ihm, pflegen ihre Gärten und ernten ihre Früchte, und in der Winterzeit tun sie nichts Besonderes, quatschen, träumen und schlafen ein bißchen. Sie verachten und mißtrauen sich gegenseitig, sind aber immer freundlich zueinander. Manchmal steinigen sie eine Frau, die es gewagt hat, einen anderen als ihren Ehemann zu lieben; aber sonst leben sie ein ruhiges, geordnetes Leben.

Warum hat der Meister keine Frau? Er verließ seine Familie und verlangte von anderen, auch ihre Familien zu verlassen und ihm zu folgen. Durch sein Vorbild entfremdet er uns unserem alten Leben immer mehr. Es ist nicht so einfach, von dem gewohnten, wohl vertrauten Leben auf seine Welt umzuschalten. Wir mögen den Kitzel, den er uns vermittelt; aber wann wird er sich offenbaren, ein Zeichen geben, uns führen? Wann wird er unsere Feinde zerschmettern? Er sagt nie etwas darüber. Langsam sollte er anfangen, etwas zu tun, etwas Großes. Er sollte der Welt seine Größe bewußt machen. Dann wäre es auch viel leichter, sein Jünger zu sein, es würde besser unserer gewohnten Lebensart entsprechen. Wir können nicht immer durch die Felder wandern, den Armen helfen und hier und da den Kranken etwas Glück bringen. Man schaut uns schon als einen etwas seltsamen Haufen an. Wir brauchen etwas Großes, Aufsehenerregendes, etwas mit Fanfaren, Märschen, Bannern und Jubelgeschrei. Und laßt uns den Römern sagen, daß wir ihre Feinde sind!

Die beständige Liebe, das G eben, und das Füllen ihrer leeren Egos half nicht im mindesten. Sie wollen ihre Lebensart. Und Christus merkt das nicht. Es gelingt ihnen, ihm das Gefühl zu vermitteln, daß er etwas Großes, Aufsehenerregendes, Eindrucksvolles vollbringen müßte, um als Sohn Gottes anerkannt zu werden. Er, der allen Versuchungen der Sünde und der Macht widerstanden hatte, läßt sich einen «Marsch auf Jerusalem» aufschwatzen.

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Und weil Christus so grundverschieden von einem Mussolini ist, der zweitausend Jahre später einen Marsch auf Rom veranstaltet; weil ein solches Marschieren überhaupt nicht zum Wesen Christi paßt, deshalb wird er auf elende Weise am Kreuze sterben müssen.

Wegen seiner großen Liebe zu den Menschen erkennt er deren Wesen nicht voll und ganz. Er glaubt ein Führer zu sein, der seine Schar niemals im Stich lassen dürfe. Er hat nur eine leise Ahnung von dem drohenden Verhängnis. Er fühlt, daß sein Leben irgendwie unverträglich mit dem allgemeinen Geschehen ist. Er weiß nichts über die Pest im Menschen, und zweitausend Jahre lang wird niemand von der nicht zu bändigenden Pest im Menschen wissen. Also gibt er nach. Seine Feinde haben nur auf solch eine Gelegenheit gewartet, um ihn zu töten. Solange er das Leben des Lebens führte, war er sicher. Zum Untergang verurteilt war er, als er anfing, sein Leben mit ihrem Leben zu vermischen.

Bescheiden besteigt er einen Esel und reitet an der Spitze von ein paar Anhängern auf die große Stadt mit dem großen Tempel der mächtigen Priester und auf die Festung des römischen Statthalters zu. Er weiß, daß er sterben wird.

Siehe wir ziehen hinauf gen Jerusalem und des Menschen Sohn 
wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet 
werden; und sie werden ihn verdammen zum Tode. 
Und werden ihn überantworten den Heiden, zu verspotten und 
zu geißeln und zu kreuzigen; und am dritten Tage wird er 
wieder auferstehen. 
(Matth. 20:18,19) 

Er weiß es, aber er geht doch. Er sagt ihnen, daß er gefangen und getötet werden wird, aber sie wissen nicht, wovon er spricht. Es ist für sie wieder nur so ein angenehmer Kitzel, einer seiner geheimnisvollen Sprüche, der ihnen wieder für einen oder zwei Tage etwas prickelndes Lebensgefühl verschafft, bis der nächste Kitzel fällig ist. Niemand warnt ihn. Niemand hält ihn zurück. Er ist schon verlassen, obwohl es noch niemand merkt.

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Er hat nicht einen einzigen Freund, auf den er sich verlassen kann. Freunde hätten verstanden, was da geschieht; sie hätten das nicht gewollt. Freunde hätten gewußt, daß sein Wesen nicht zu dieser Welt des Talmudismus und der Eroberung paßt, daß das Leben eine große Stadt nicht auf einem Esel reitend erstürmt. Freunde hätten ihm gesagt, daß das lächerlich sein und auch jedermann so erscheinen würde; daß die Massen seinen Einzug nur aus pathologischer Neugier heraus betrachten würden, wie eine Zirkusvorstellung. Ein paar Leute werden «Hosianna in der Höhe» rufen, aber das wird nicht viel ändern.

Zweitausend Jahre später organisieren Politiker an kalten Wintertagen Hungermärsche der Armen in den großen Städten, um allen die zukünftigen proletarischen Herren der Gesellschaft vorzustellen. Einige singen Freiheitslieder, andere schreien: «Nieder mit der Bourgeoisie»; und auf den Bürgersteigen bildet sich eine spärliche Reihe von indifferenten Zuschauern, die sich diesen Umzug der Not, der Armut und des Elends ansieht. Die paar Hungermarschierer versuchen verzweifelt, die großen militärischen Marschkolonnen zu imitieren. Sie haben vielleicht sogar ein paar Ordner in schäbigen, uniformartigen Anzügen dabei, die ihnen vorausgehen, und ein paar Trommeln schlagen den Rhythmus eines miserablen Marsches. Gutbewaffnete Polizei auf beiden Seiten der Marschkolonne schützt die Elenden vor dem zornigen Haß der Vielen.

Eines Tages erfaßt das Mitleid mit den Elenden die ganze Nation.... und am Ende des Ganzen steht schließlich das:

 

  

Und so wie Christus sehr gut wußte, daß er seinem Tode entgegenging, so wissen diese «Befreier» der Menschheit in Lumpen (und sie sagen das auch in klaren Worten), daß ihr Weg nirgendwohin führt und daß sie nur ein anderes, noch grausameres und noch gottverlasseneres Herrschaftssystem errichten werden. Sie marschieren bei den Elendsmärschen mit vollem Bewußtsein von deren Wirkungslosigkeit mit. Sie marschieren mit, weil es sonst nichts gibt, was sie in Übereinstimmung mit den zu dieser Zeit herrschenden Verhaltensregeln tun könnten.

Sie sind zweitausend Jahre nach Christus gegen einen Aufstand, so wie es Christus zweitausend Jahre vor ihnen war. Sie wissen sehr gut, daß «es» in «ihrem Innern» ist, das von ihren unterdrückten Lebenskräften befreit werden muß, und daß dies nicht durch Märsche erreicht werden kann. Aber ihre Führer wissen keine bessere Lösung. Es wird weiterlaufen, wie immer: Äußerlichkeit statt Innerlichkeit.

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