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7. Der Marsch auf Jerusalem     

 

 

Märtyrerideologie  —  Vergib deinem Feind  —  Hosianna in der Höhe  — 
Ozean des menschlichen Lebens  —  Die kleine Welle  —  Gott erkennen 

 

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Der Marsch auf Jerusalem soll die ständige Unruhe dämpfen, die die Lebensart Christi in ihrem Innersten erzeugt. Zweitausend Jahre später schließlich sind die Körperströmungen von Liebe und Leben erkannt und verstanden. Die Leute sammeln sich um den, der um das strömende Leben weiß. Sie versuchen, von ihm orgastische Potenz zu erhalten, sie aus Fässern in sich hinein­geschüttet zu bekommen, sie allein aufgrund seiner Anwesenheit in sich aufzusaugen, sie vermittels dessen zu kriegen, was «Therapie» genannt wird.

Aber in Wirklichkeit weiß niemand, wovon er überhaupt spricht, denn niemand hat so etwas je gespürt; und wenn er eine Lebensregung in sich verspürt haben mag, dann mit Schrecken. Deshalb wollen sie es gerne haben, möchten es sich aber nicht langsam aus ihrem gesamten Lebenszusammenhang entwickeln lassen. Sie mühen sich im Bett, es zu «kriegen»; sie studieren Bücher, es zu finden; sie suchen in vielen Umarmungen voller Haß und Ekel danach; sie bringen sich um, weil sie nicht in der Lage sind, es zu kriegen; aber die wahre Liebe töten sie in dem Moment, wo sie sie zu fühlen beginnen; oder sie ersticken sie, wenn sie sie in neugeborenen Kindern sehen. Mütter rufen beim Anblick ihrer Neugeborenen mit Entsetzen aus: «Oh Schreck! Es bewegt sich, es bewegt sich wirklich!»

All das ist denen, die nach Jerusalem marschieren, irgendwie und irgendwo genauso bekannt, wie es zweitausend Jahre später in den großen europäischen Städten bekannt sein wird. Es ist jedem einzelnen von ihnen bekannt, weil es nichts anderes gibt, dessen Mangel sie derartig elend macht; es gibt nichts anderes, das sie als ihren Gott, als Leben und Christus bezeichnen. Aber sie fahren fort, es umzubringen, es zu fürchten, es wegzureden oder wegzumarschieren, es zu erschießen oder zu erhängen. Es ist eine ständige Erinnerung an ihr wirkliches Elend, und deshalb muß es sterben. 

Die Amerikanische Medizinische Gesellschaft hat das noch nicht begriffen, und der Talmudist im Hohen Rat sucht noch immer in den Worten der Propheten, um den Sinn des Lebens im Jahre 1950 zu ergründen. Aber sie werden Ja, sie müssen das Leben töten, das gerade in diesem Moment auf einem Esel gen Jerusalem reitet; es wurde zu etwas überredet, das der etablierten Lebensart entspricht, einer mörderischen Lebensart. Der Mensch hat sich der Wege Gottes bemächtigt, und von nun an wird er sie verschlossen halten, weit weg und sicher vor jedem Verständnis, sei es durch Körper oder Geist, weggebetet in mechanischen Litaneien, umgewandelt in tote Kreuze und himmelragende Kathedralen.

Der lächerliche Ritt auf dem Esel muß für alle Zeiten ausgelöscht werden.

Sie überreden Christus nicht deshalb zu dem Marsch auf Jerusalem, weil sie ihn so sehen, wie er wirklich ist, und auch nicht deshalb, weil sie etwa verstünden, was seine bloße Existenz bedeutet. Sie überreden ihn wegen ihrer eigenen VORSTELLUNGEN DAVON, WAS EIN PROPHET SEIN UND TUN SOLLTE. Steht nicht in den Büchern der Propheten geschrieben, was erfüllt werden muß?

»Saget der Tochter Zion:
Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig
und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.»
  (Matth. 21:5)

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Das ist nicht die Art Christi. Es ist ihre Art. Und hinterher verkünden sie der Welt die Lüge, daß es seine Art war. Sogar ihre Träume sind für sie eine zu große Last. Jemand anderes muß wohl für sie geträumt haben, damit sie sich dafür nicht verantwortlich fühlen brauchen. Christus träumte nie davon, Jerusalem zu erobern. Er hatte so etwas nie vor. Er hat die Barabbasse und Kaiser des öfteren getadelt, aber vergeblich. Für ihn gibt es keinen Ausweg mehr.

Zweitausend Jahre später wird schließlich die kosmische Lebensenergie entdeckt und der Menschheit nutzbar gemacht. Dieses Ereignis wirft Jahrtausende menschlichen Denkens um. Es füllt die Lücken, die im alten menschlichen Denken klafften, das voller Fehler war. Es enthüllt die Bedeutung Gottes, die durch Chemie und frommen Fanatismus gleichermaßen unzugänglich gemacht worden war. Es füllt den kosmischen Raum, den man für leer erklärt hatte. Es stellt die gesetzmäßige Harmonie des Universums her. Es öffnet die Seelen der Menschen für die in ihnen selbst liegenden Quellen von Selbstvertrauen und Wohlbefinden. Es ermöglicht, einfach und wirkungsvoll zu heilen. Es begründet neue Denkweisen, die weder mystisch noch mechanistisch, sondern lebendig sind, entsprechend dem Platz des Menschen in der allgemeinen Weltordnung.

Aber sie lassen das nicht zu. Sie schleppen den Entdecker sinnloserweise zur bakteriologischen Abteilung einer Universität und wollen dort seine Funde bestätigt haben. Sie laufen zu den Physikern, die ihr ganzes Leben damit beschäftigt sind, jede Spur der Existenz solch einer kosmischen Energie zu verwischen, und bitten sie, die Entdeckung der Lebensenergie durch Kontrollversuche zu bestätigen. Sie wollen große Artikel gerade in den Zeitungen haben, mittels derer die Lebensfeinde die Öffentlichkeit in Unwissenheit über das Leben halten.

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Die «Befreier der Arbeiterklasse» tun der Öffentlichkeit kund, daß der Entdecker nicht Mitglied in eben der psychiatrischen Vereinigung ist, die im Mutterland aller Proletarier so in Verruf ist. Sie fragen, warum der Entdecker nicht im «Who's Who» steht, und warum irgendein Kühlschrankhersteller noch nie von ihm gehört hat. Sie bitten ihn, einen großen Vortrag vor der Medizinischen Akademie zu halten, wo man sonst nur etwas von «Dolson» hört, der Chemikalie, die im Radio als Allheilmittel angepriesen wird.

Kurz, sie wollen nur ein Abbild einer Änderung und sich das erhalten, was sie hassen. Sie begraben ihre große Hoffnung, bevor sie geboren ist, genauso, wie sie das Leben in den Kindern schon vor der Geburt abtöten, damit sie ruhige, ordentliche und leicht zu handhabende Babys bekommen.

Sie wollen Erlösung, aber ohne die Beschwerlichkeiten einer Änderung ihres Lebens und ohne die Last, sich selbst kennenlernen zu müssen. Jedes Wort wird zu einer leeren Phrase, und jede Bewegung eines lebendigen Körpers ist nur die Summe von mechanischen Bewegungen. Sie reden nichts anderes als Wortleichen, und sie denken nichts als Gedankenleichen. So wie in den Kontenbüchern ist auch im leeren Raum des Universums Null gleich Null, und über die tatsächlichen Probleme des Menschen ist damit gar nichts gesagt.

Weil die Liebe nur immer in sie hineinfließt, aber nichts aus ihnen herauskommt, müssen sie den Geber und Erlöser schließlich hassen. Die Quelle zu verlieren, die sie mit Kraft erfüllt, bedeutet für sie, das Leben selbst zu verlieren. Ein Zurückfallen in die eigene Leere und in ihr ödes Dasein ist nach dem Kontakt mit dem Meister unerträglich geworden. Aus diesen Gründen sind viele der weitverbreiteten und für den Menschen so schädlichen Ideen entstanden und über lange Zeiten erhalten geblieben.

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Da gibt es die vielgepriesene Idee, daß jeder gewöhnliche Mensch das Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes, der freien Berufswahl haben solle und daß er sich frei bewegen können soll. Aber genau derselbe gewöhnliche Mensch wird dasselbe Recht den arbeitenden Menschen nicht zugestehen, wenn er Diktator würde; und als kleiner Mann wird er dieses Recht seinem Führer verweigern. Der Führer, egal, ob es eine Behörde, ein Chef im Büro oder ein militärischer Vorgesetzter ist, darf unter keinen Umständen sich von seinen Leuten entfernen oder sie sich selbst überlassen. Er muß sich damit abfinden, ihr öffentlicher Diener zu sein; und der Kapitän darf das sinkende Schiff nicht verlassen. Jeder andere, vor allem der Held der Straße, kann natürlich alles und jeden verlassen.

Aus genau diesem schmarotzerhaften Bedürfnis erwächst die Märtyrer-Ideologie. Das Bedürfnis nach Märtyrern ist über die Jahrhunderte hinweg gewaltig angewachsen. Der Entdecker muß für das Gute leiden, das er den Leuten bringt. «Das war schon immer so!» Das heißt natürlich auch, daß es immer so bleiben soll. Braucht nicht «Das Volk» jemanden zum Bewundern, etwas zum Verehren, jemanden als Vorbild? Das Leiden des Märtyrers muß für alle zu hören und zu sehen sein. Wenn es ein stilles Leiden ist, mögen zwar viele davon wissen, aber keiner wird sich auch nur einen Deut darum kümmern. Um ein Held zu werden, muß ein Kind in einen engen Brunnenschacht fallen und tagelang dort eingeklemmt sein, um dann von einer großen Mannschaft von Ingenieuren gerettet zu werden. Die ganze Nation nimmt daran Anteil. Aber wenn Tausende von Kindern die leisen Qualen ihrer wachsenden und frustrierten Triebwünsche erleiden, schert sich kein Mensch darum; es ist sogar verboten, dies in Schulen und Universitäten zu erwähnen, dort, wo die zukünftigen Eltern und Erzieher zu Tausenden ausgebrütet werden.

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Der große Mann muß leiden. Niemals wird jemand dem emotionalen Schweinehund etwas vorwerfen, wenn er die Leiden großer Menschen verursacht. Der große Geber muß leiden und darf sich dieser unangenehmen Lage nicht entziehen, da er sonst öffentlicher Verdammung zum Opfer fällt. Die Öffentlichkeit braucht ihren Helden, um die leeren Seelen mit der Glut der Bewunderung zu füllen. Kann man sich den amerikanischen General vorstellen, der es ablehnt — nachdem er den zweiten Weltkrieg gewonnen hatte — die lästige Aufgabe zu übernehmen, die europäischen Spitzfindigkeiten zur Vorbereitung eines dritten Krieges beizulegen? Das ist unmöglich! Er darf sich nicht ausruhen, nicht zurückziehen, er muß der Öffentlichkeit dienen. Wenn er es nicht tut, ist es sicher, daß er in Ungnade fällt und verleumdet wird.

Ein anderes Ideal, das aus diesen Quellen kommt, heißt:  «Liebet Eure Feinde!» Das ist sehr praktisch und nützlich — für den Feind. Christus liebt seine Feinde nicht. Er verflucht die Schriftgelehrten und Pharisäer mit unzweideutigen Worten. Er geißelt die Geldwechsler und wirft ihre Tische um, so daß alles Geld weitverstreut am Boden liegt.

 

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen!
Ihr gehet nicht hinein, und die hineinwollen, lasset ihr nicht hineingehen.

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr der Witwen Häuser fresset und verrichtet zum Schein lange Gebete!

Darum werdet ihr ein desto schwereres Urteil empfangen.

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchziehet,
damit ihr einen Judengenossen gewinnet; und wenn er's geworden ist, machet ihr aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr, als ihr seid!

Weh euch, ihr blinden Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwöret bei dem Tempel, das gilt nicht;
wenn aber einer schwöret bei dem Gold am Tempel, das bindet.

Ihr Narren und Blinden! Was ist größer: das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt?

Oder: wenn einer schwöret bei dem Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Opfer, das daraufist, das bindet.

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Ihr Blinden! Was ist größer: das Opfer, oder der Altar, der das Opfer heiligt?

Darum, wer da schwört bei dem Altar, der schwört bei demselben und bei allem, was darauf ist.
Und wer da schwört bei dem Tempel, der schwört bei demselben und bei dem, der darin wohnt.
Und wer da schwört bei dem Himmel, der schwört bei dem Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt.
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel und lasset dahinten das wichtigste im Gesetz, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben!
Dies sollte man tun und jenes nicht lassen.
Ihr blinden Führer, die ihr Mücken seiet und Kamele verschluckt!
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig rein haltet, inwendig aber sind sie voll Raub und Gier!
Du blinder Pharisäer, reinige zum ersten, was inwendig im Becher ist, auf daß auch das Auswendige rein werde!
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid gleich wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat!
So auch ihr: von außen scheinet ihr vor den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Übertretung.
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Grabmäler bauet und schmücket der Gerechten Gräber.
Und sprechet: Wären wir zu unserer Väter Zeiten gewesen, so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden an der Propheten Blut!
So gebt ihr über euch selbst Zeugnis, daß ihr Kinder seid derer, die die Propheten getötet haben. Wohlan, erfüllet auch ihr das Maß eurer Väter! Ihr Schlangen, ihr Otterngezüchte! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?
Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und deren werdet ihr etliche töten und kreuzigen, und etliche werdet ihr geißeln in euren Synagogen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zu der ändern, auf daß er euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, von dem Blut des gerechten Abel an bis auf das

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Wahrlich, ich sage euch, daß solches alles wird über dies Geschlecht kommen.

Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst,
die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder
versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein
unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!
Siehe, «euer Haus soll euch wüste gelassen werden»
Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen,
bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

(Matth. 23:13-39)

 

Das wohlgemeinte Wort Christi «Vergib deinem Feinde» (was heißen soll: «Verstehe Deinen Feind!»), wurde verdreht, wie alles verdreht und entstellt wird, was den leeren Seelen in die Finger kommt. Die Pest wird ihren Feinden nie vergeben. Je sicherer und je unbehinderter sie den schon am Boden liegenden Mitmenschen treten kann, desto öfter wird sie es tun; und der Getretene soll dann seinen Feind lieben.

Ein pestilenter Bezirksstaatsanwalt wird einen Unschuldigen hinter Gitter bringen, auch wenn er genau weiß, was er damit tut. Er steckt einfach einen Vater oder Ehemann für zwanzig Jahre in ein Verließ mit vergitterten Fenstern; irgendjemand entdeckt nach zwanzig Jahren den Fehler; und manchmal kommt es dann vor, daß das unschuldige Opfer entlassen wird. Nach der Entlassung hat er öffentlich zu sagen, daß er niemandem böse ist; das wird von ihm erwartet, wenn er sich nicht weiterer Verfolgung durch das Gesetz aussetzen will. Derpestilente Charakter jedoch bleibt unbehelligt und kann sich ein neues Opfer suchen, das dann wiederum seine Feinde lieben und niemandem böse sein soll.

So wurde eine große Idee einer großen Seele in ein Mordwerkzeug verwandelt. Aus der Forderung, der Führer dürfe seine hilflose Schar niemals verlassen, wird, nachdem der Führer ans Kreuz genagelt worden ist, die noch weitaus ungeheuerlichere Idee entwickelt, daß er sterben mußte, um alle Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen.

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Der Grund dafür liegt auf der Hand, und genau deshalb wird niemals davon gesprochen, traut sich niemand diese kleine Perle der Wahrheit anzurühren: Sie können weitersündigen, und der Gekreuzigte wird in seiner unendlichen Großmut immer barmherzig sein und ihre Sünden auf sich nehmen.

Welch Alptraum einer Moral! Einen unschuldigen Mann zu kreuzigen, um dadurch von seinen eigenen Sünden befreit zu sein! Christus ahnt das alles, als er in Jerusalem einzieht. Aber seine Liebe zu den Menschen fesselt ihn. Er ist ihr Gefangener. Sie machen mit ihm, was sie wollen. Ein Führer sollte auch für sie sterben. Das ist nicht die Art Christi. Es hat überhaupt nichts mit Christus, seiner Mission oder seiner Lebensart zu tun. Es ist ihre Art. Aber ihn wird es töten.

Auch wenn er alles über die Pest gewußt hätte, wie sie funktioniert und wie sie sich ihre Opfer aussucht, er hätte nichts dagegen tun können. Er hätte bald gemerkt, daß die Pest genau weiß, wie sie sich gegen jeden Angriff zu schützen hat; daß sie jeden Zugang zu dem ihr eigenen Bereich der Bösartigkeit von innen fest verschlossen hat. DIE PEST WIRD GERADE DURCH JENE IN SCHUTZ GENOMMEN, DIE IHRE OPFER SIND.

Über Tausende von Jahren weiß niemand etwas von der Pest, von der jede lebende Seele betroffen ist; sie tötet, verleumdet, klatscht, mordet offen und heimlich, verursacht Kriege, diffamiert, verstümmelt Kinder, verdreht große religiöse Ideen, fickt, furzt, klaut, betrügt, stürzt sich gierig auf die Früchte der Arbeit anderer, lügt, ersticht von hinten, beschmutzt alles Klare und Saubere, zieht jeden guten Gedanken in den Dreck; sie eignet sich jeden einzelnen Versuch, die Lage der Menschheit zu verbessern, an und zerstört ihn; sie zieht plündernd und geißelnd über das Land, macht aus freien Menschen Sklaven und bringt sie zum Schweigen, damit sie sich nicht beklagen können; sie macht Gesetze zum Schutz ihrer eigenen Existenz und ihrer Missetaten, stolziert herum, trägt Uniformen und Orden, verleiht Titel und verkehrt diplomatisch klar sichtbar vor den Augen eines jeden Einzelnen und doch von niemandem gesehen.

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Leere Seelen nehmen große Gedanken niemals deshalb auf, um die Welt zum Besseren zu verändern. Sie saugen die großen Gedanken nur auf, um sich damit zu füllen. Niemals werden sie wirklich etwas gegen das Elend tun. Wenn sie sie nicht töten, dann ehren sie ihre Weisen und Propheten, aber nicht dafür, daß sie vielleicht ihre Lage verbessert hätten, sondern weil sie ihnen Hoffnung geben, die ihre kalten und öden Seelen wärmt. Niemals beschuldigen sie die Pest, die das Land und ihr eigenes Leben direkt vor ihnen zerstört. Sie klagen den Tyrannen an, aber niemals das Volk, das dem Tyrannen die Macht gibt. Sie klagen den an, der die Gesetze macht, nicht aber das Volk, dessen ewiges Sitzen auf der Stelle schlechte Gesetze erst möglich macht. Sie verdammen den Wucherer zwar, aber sie rühren keinen Finger, um ihm das Handwerk zu legen. Was soll's? Sie jubeln Christus zu, weil er die Geldwechsler angreift, aber sie selbst gingen Jahrhunderte an den Ständen der Geldwechsler vorbei ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Die Menge breitete ihre Gewänder auf der Straße aus; sie schnitten Zweige von den Bäumen und streuten sie auf die Straße, auf der Christus nach Jerusalem zog. Und die Masse rief: «Hosianna dem Sohn Davids! Gesegnet sei er, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!» Nicht eine einzige Seele wird «Hosianna in der Höhe» singen, wenn Christus nach Golgatha gehen wird. warum? warum in Gottes Namen ist das so, und warum, zum Teufel, hat nie jemand diesen Widerspruch hervorgehoben, ja überhaupt nur erwähnt? Weil es den Leuten leicht fällt, Hosianna zu rufen, und dann, wenn das Opfer ihrer Hosianna-Rufe im Staube hegt, ihm den Rücken zukehren. Das ist unverständlich, und nur der Verteidiger der Pest wird es ziemlich normal finden.

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Sowohl emotional als auch rational sollte es doch genau umgekehrt sein:

Wenn ein Führer auf dem Weg zu einem möglichen Sieg ist, sollte man ruhig bleiben. Man sollte abwarten und sehen, wer er ist und wie er in schwierigen Situationen handelt. Wenn derselbe Führer gezeigt hat, daß man sich auf ihn verlassen kann, dann aber in Schwierigkeiten gerät, sollte dann nicht «das Volk» ihm zu Hilfe eilen, dann hosianna in der hohe rufen, ihn befreien, ihn unterstützen? nein! warum? Niemals sind sie da, wenn der Führer, dem sie zugejubelt hatten, als es sicher genug war, in Schwierigkeiten kommt. Und das ist die Pest im Innern des Menschen. So zu sein ist ihnen selbst zum Nachteil. Es schädigt ihr eigenes Leben, nicht nur den Führer.

Auf diese Weise ist die Pest vor jeder Art von Angriff geschützt. Und weil die Pest im Innern des Menschen wohnt und wirkt, ist es ganz logisch, daß man die Menschen nicht kritisieren darf. Hat manjemals jemanden die Menschen kritisieren hören? Nein. Oh ja, man kann sich auf der Bühne oder im Film über sie lustig machen; man kann sagen, daß die Menschen im allgemeinen böse sind, genauso wie man ganz allgemein über die Sünde empört sein kann. Aber man fange nur einmal an, konkret zu werden, man sage den Leuten im Detail, wie sie wirklich sind und warte ab, was passiert. In diesem Zeitalter der Verehrung des «Volkes» darf man die Menschen nicht kritisieren. Die Menschen selbst mögen es nicht, und die Politiker haben genügend Macht, den Kritiker zu bestrafen. Dabei gibt es für das Leben der Menschen nichts Wichtigeres, nichts Entscheidenderes, als zu wissen, in welch schlechter Verfassung sie sich befinden. Sie und sonst niemand sind dafür verantwortlich, was mit ihnen geschieht.

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Christus wollte sein Anderssein nicht zur Kenntnis nehmen und den Menschen nicht sagen, was sie in Wirklichkeit sind, und deshalb mußte er sterben. Er wählte keinen anderen Ausweg aus der mißlichen Situation des Führers, in die er hineingedrängt worden war. Es gibt da folgende Möglichkeiten:

Die Menschen zu verachten, sich schon von Anfang an keine Hoffnungen über sie zu machen und eine echt Macchiavellische Herrschaft über sie auszuüben, wie es Dschingis Khan, Hitler, Nero oder Stalin taten. Oder: Nachdem man anfangs eigene Wege eingeschlagen hat, auf den Weg der Leute einzuschwenken und das zu machen, was sie wollen. Oder: Auf jeden Versuch von Verbesserungen zu verzichten und nur als Verwalter für die Leute zu arbeiten.

Christus blieb stattdessen seinen Grundsätzen treu, ohne jedoch dabei das Wesen der Menschen anzugreifen, und so starb er wegen seines Mitleids mit ihnen. Er starb und er mußte sterben, weil er die schreckliche Tatsache nicht wahrhaben wollte, daß nicht nur Judas, den er beim letzten Abendmahl herausgriff, sondern jeder einzelne seiner Jünger wollte, daß er getötet würde, eine Tatsache, die durch sein späteres völliges Verlassensein ganz klar bekräftigt wird. Die Menschenmassen, die noch ein paar Tage vorher «Hosianna in der Höhe» geschrien hatten, standen da und schauten zu, ohne nur einen Finger zu seiner Rettung zu rühren, als er das Kreuz den Kalvarienberg hinauftragen mußte. Ihm gaben sie nicht das, was sie Barabbas zubilligten: aktive Unterstützung.

Die Geschichte kennt bis heute noch kein Beispiel für einen anderen Weg, dem lähmenden Einfluß des Sitzens der Leute zu entkommen. Aber es hat bis jetzt auch noch niemand versucht, den Menschen die volle Wahrheit über sie zu sagen und es gleichzeitig abzulehnen, die Rolle ihres Führers zu akzeptieren, mit anderen Worten: ihrer zwanghaften Mystifikation zum Opfer zu fallen, die immer gleichbedeutend ist mit Christusmord. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens wird ohne Zweifel zu gegebener Zeit klar erkennbar sein und für sich selbst sprechen.

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Die meisten Menschentiere töten die Führer nicht deshalb, oder ziehen sie nicht deshalb dahin zurück, wo sie selbst sitzen, weil sie bewußt böse sind oder vorsätzlich töten wollen. Mit wenigen Ausnahmen sind die Leute im allgemeinen nicht sadistisch. Sie sind verdrossen, unbeweglich oder matt und schlaff, aber nicht sadistisch. Sie haben jedoch ihren entscheidenden Einfluß auf die menschliche Entwicklung dadurch ausgeübt, daß sie jeden Angriff auf ihre Art der emotionalen Existenz zu unterbinden wußten. Es war nun einmal der Mensch selbst, der seine Religionen geschaffen hat. Das Sitzen auf der Stelle, das Aufsaugen von Kraft und Hoffnung und das latente Wissen um die eigene Tiefe sind nicht irgendwie etwas Gemachtes, es ist strukturell, automatisch. Es ist alles in allem das Ergebnis dessen, daß der Mensch noch ein Tier ist, aber durch seinen Panzer unbeweglich wurde. Im allgemeinen reflektieren die Menschen nicht über ihre Taten, allenfalls das für ihr Dasein notwendige Minimum. Sie sind ganz allgemein die Quelle allen Konservativismus! Der konservative Führer kann sich auf sie besser verlassen als der, der Vorstellungen über eine möglicherweise bessere Zukunft hat. Zar und Kaiser sind der wirklichen Lebensart des Volkes näher als der Prophet; ihrem Sitzen näher. Die Propheten spiegeln nur heimliche Träume und Hoffnungen der Menschen wider. So ist es klar, warum der Prophet und nicht der Zar derjenige ist, der getötet wird.

Erstes Erfordernis jedes sinnvollen Versuches, soziale Angelegenheiten zu verstehen, ist es, all dies klar zu sehen und jede Lobhudelei und Schönfärberei in Bezug auf das Volk zu unterlassen. Es ist typisch für Autoren, die über soziale Themen schreiben, daß sie entweder nur die Wirklichkeit der Menschen oder nur ihre Träume sehen. Selten sehen sie beides zusammen.

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Die sozialen Theoretiker sehen im allgemeinen die Menschen entweder als ideale, gute und aufrichtige Wesen, die von außen her unterdrückt werden: Sozialismus. Oder die Menschen werden als passive formbare Masse angesehen, die nach Belieben gestaltet werden kann: Faschismus. Der Liberalismus weiß wenig über die Wirklichkeit der Menschen, hält aber den großen Traum am Leben.

Die Menschen sind der bestimmende Faktor für alles, was im sozialen Prozeß geschieht. Es gibt überhaupt nichts, was geschehen kann oder geschehen wird, das nicht grundsätzlich im Wesen der Menschen verwurzelt ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Leu te den Verlauf der sozialen Vorgänge durch Dumpfheit und Sitzen, d.h., durch passives Erdulden, oder durch aktives Verhalten wie Umstürze bestimmen. Jedes soziale Ereignis hat seinen Ursprung in der großen Masse und kehrt zu ihr zurück. Die Volksmassen sind wie die Wassermassen eines Ozeans, auf dessen Oberfläche die Herzöge und die korrupten Politiker, die Zaren und die Reichen, die sozialen Spinner und die Freiheitskrämer nur ein paar kleine Wellen erzeugen. Diese Wellen mögen bis zu zwanzig Meter hoch werden und sogar ein paar kleine Schoner zum Kentern bringen, aber im Verhältnis zum Ozean bedeuten sie nicht viel. Die Wellen kommen aus dem Ozean und fallen in ihn zurück. Ohne den Ozean können sie weder entstehen noch existieren. Die Tiefe des Ozeans ist an der Entstehung einer solchen kleinen Welle überhaupt nicht beteiligt. Trotzdem: ohne den Ozean gibt es keine Wellen an der Oberfläche, und seine Tiefe ist in der kleinsten Welle wirksam.

Erst vor etwa hundert Jahren begann es im Ozean des menschlichen Lebens etwas zu brodeln. Die Ruhe des Ozeans des menschlichen Lebens wurde von den kleinen Wellen in der Weise mißdeutet, daß sie annahmen, der Ozean existiere überhaupt nicht. Die Wellen waren wie Fliegen, die auf einem Elefantenrücken herumkrabbeln. Die Fliege ist sich des Elefanten nicht bewußt, insbesondere dann nicht, wenn er schläft.

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Die sozialen Umstürze der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sind nur die ersten Regungen der Haut eines Elefantenbabys. Es ist eine dicke Haut, durch die die Fliegen gar nicht wahrgenommen werden können. Sie spielen einfach keine Rolle. Ein einziges Zucken eines kleinen Punktes auf dieser Haut kann unter den Riegen ein Chaos verursachen. Und das Elefantenbaby wird zu einem riesigen, wilden Elefanten heranwachsen. Der Elefant wird in einer großen Elefantenherde leben. Und die großen Elefantenherden werden die Landschaft durchstreifen, auf Nahrungssuche oder zum Spaß, auf Suche nach Wasser oder nach Feigen, oder nur um des Umherstreifens willen. Und kaum jemand wird etwas dagegen tun können.

Niemand wird je voraussagen können, welches die nächsten Ziele der Elefanten sein werden. Vielleicht haben sie überhaupt kein Ziel; sie wollen vielleicht nur in der Landschaft umherstreifen, ohne Rücksicht auf die winzigen Zunderhütten eigenartiger menschlicher Philosophen. Die Elefanten werden weiden und Wasser durch ihre Rüssel saugen, sie werden brüllen und sich paaren, ihre Jungen füttern und Tiger töten, sie werden riesige Bäume entwurzeln und die Hütte so manches Philosophen in Grund und Boden trampeln. Und wiederum wird kein Philosoph und kein Sozialtheoretiker irgendetwas dagegen tun können. Es ist höchste Zeit, folgende Tatsache zur Kenntnis zu nehmen: der Ozean des menschlichen Lebens hat zu brodeln begonnen, das ist sicher; und niemand kann irgendetwas tun, um diesen Prozeß zu lenken oder ihn rückgängig zu machen. Es kann sich auch niemand mit Berechtigung darüber beschweren, daß der Ozean unruhig zu werden begann. Es sind nicht die Kommunisten, die die Unruhe machen. Es ist die Unruhe, die die Kommunisten und die Faschisten und all das verrückte Gesindel hervorruft. Die Faschisten wurden durch dieselbe Unruhe hinweggefegt, und die Kommunisten, die sich für

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die wahren Weltgestalter halten, werden sich eines Tages als zertrampelter Dreckfladen unter dem Fuß eines Elefanten wiederfinden. Es steckt weit mehr, unendlich viel mehr, in einem Elefanten oder einem Ozean, als irgendein Schreiberling in einem kleinen Büro in Moskau oder Chicago vermuten mag. Sie sind total lächerliche Figuren und erscheinen einem nur dann als die Beweger des Ozeans oder der Elefantenherde, wenn man die falsche Perspektive hat. Zwischen den kleinen Fliegen mit ihren Messingmedaillen im Kreml oder sonstwo und den Massen von Tausenden von Millionen Menschen ist kein größerer Unterschied wie der zwischen einem Boot, das auf den Wellen des Ozeans schwimmt, und dem Ozean selbst. Im und um den Ozean herum gibt es Kräfte, angesichts derer das Boot oder die Fliege bis zur völligen Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Das kann der gerissene, geschäftstüchtige Rechtsanwalt an der Spitze des Komitees für unamerikanische Aktivitäten nicht begreifen. Er fördert die Macht des Gesindels, indem er dies selbst zum Ozean erklärt. Es ist aber nicht der Ozean; und der Vorsitzende des Komitees war nicht der richtige Mann, diese Fehleinschätzung des Gesindels von vornherein zu verhindern.

Die katholische Kirche wuchs und ruhte auf einem schlafenden Elefanten und einem ruhenden Ozean. Die Priester meinten, sie beherrschten den schlafenden Ozean und den ruhenden Elefanten und waren sich dessen nicht bewußt, daß der Elefant und der Ozean überhaupt nicht merkten, daß sie auf ihnen saßen. Wegen ihres Ursprungs in der Person Christi hatte die katholische Kirche eine leise Ahnung von der Tiefe des Ozeans und der Gewalt der Elefantenherde. Doch alles endete wieder einmal als Produkt des Kleinen Mannes, als mechanisierte Litanei. In jedem einzelnen Gebet einer Litanei geschieht ein Christusmord.

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Die kommunistische Bewegung entstand aus einer kleinen Welle an der Oberfläche eines winzigen Teils des Ozeans. Sie wurde durch einen Impuls vorwärtsgetragen, entstanden aus einem Traum, der bald verblaßte. Und die Kleinen Männer, die damals in dem Boot saßen, denken heute noch, daß sie es waren, die den Aufruhr verursachten; schlimmer noch, sie bringen die Philosophen dazu, zu glauben, daß sie es sind, die auch heute noch mit «wahrhaft bolschewistischem Mut, mit Zielbestimmtheit und Geschick» die Unruhe verursachen.

Und diese schwachsinnige Ansicht wird von vielen amerikanischen Radio­kommentatoren über den ganzen Erdball verbreitet, genauso wie der amerikanische Zeitungsmann Ehrfurcht vor dem längst verstorbenen Kaiser von Österreich zu haben scheint. Das ist alles kalter Kaffee, du großer Nachfahr der tapferen Pioniere in den Wäldern Neuenglands und den Weiten des Westens. Hör auf, im Radio über die verrückten Kleinen Männer im Kreml zu berichten, aber laß nicht nach, den Menschen genau zu sagen, was diese Kleinen Männer tun. Und hör auf, über den Thronfolger des österreichischen Kaisers zu berichten. Konzentriere dich lieber auf den amerikanischen Elefanten und den gewaltigen Ozean der amerikanischen Möglichkeiten. Andernfalls wirst du hinweggefegt, ohne eine Spur zu hinterlassen, etwas, das allerdings nicht viel bedeuten würde, egal, wer du bist und wie du heißt.

Christus glaubte nicht, daß er Unruhe in den Ozean bringen würde. Er sagte, er sei der Menschensohn, was er ja auch wirklich war. Er fühlte, was drin war im großen Ozean, in der Elefantenherde, in seinem Blut und seinen Sinnen, und er sagte das offen. Es waren die Fliegen, die das nicht verstanden und ihn dazu brachten, nach Jerusalem zu gehen, wo er den Kaiser bekämpfen sollte. Christus wußte genau, was passieren würde, weil er spürte, daß es nicht seine Sache war, den Kaiser zu bekämpfen. Gib dem Kaiser, was immer er will. Verachte den Steuereintreiber nicht. Es spielt keine große Rolle, ob die Kaiser regieren oder die Eintreiber Steuern kassieren.

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Die Kaiser und die Steuern werden längst vergessen sein, wenn das Reich, von dem Christus wußte, kommen und sich den Platz erobern wird, von dem es das Schicksal der menschlichen Rasse lenken kann. Und das wird dann sein, wenn der Mensch Gott fühlen und erkennen wird; wenn die kleine Welle an der Oberfläche des Ozeans sich dessen bewußt wird, daß sie nur ein Tropfen des riesigen Ozeans ist, aus ihm hervorgehend und in ihn zurückkehrend, ein schönes, vergängliches Ereignis, aber eben nicht mehr. Der Sinn des Daseins einer Welle auf der Oberfläche eines Ozeans entspricht genau dem, was sie macht: eine Welle sein, d.h. vorwärts rollen, einen schönen überschäumenden Kamm bilden und wieder verschwinden. Doch das Prinzip der Welle bleibt, solange es den Ozean gibt. So wollen wir auch den Sinn unseres eigenen Daseins betrachten.

Christus weiß genau, daß er eine solche Welle ist, die aus dem großen Ozean kommt und in ihn zurückkehren muß. Er weiß dies tatsächlich mit derart vollkommener Klarheit, daß allein dies Grund genug ist, ihn zu töten. Die Fliegen auf dem Elefantenrücken mögen das nicht. Es stört ihre Lebensphilosophie. Hätte Christus nicht den verhängnisvollen Fehler begangen, für einen kurzen Zeitraum den Fliegen auf dem Elefantenrücken nachzugeben, er hätte wahrscheinlich bis zu seinem natürlichen Tod leben können.

Christus ist wahrhaftig der Menschensohn und sollte als Gottessohn verstanden werden. Er ist beides, weil der Mensch Sohn Gottes und Gott der kosmische Energieozean ist, von dem der Mensch ein kleiner, vergänglicher Teil wie eine kleine Welle ist, aus ihm hervorgehend und zu ihm zurückkehrend zurück zum Großen Vater. Christus sah die tiefe Bedeutung, die darin steckt, eine Welle des Ozeans, d.h. Gottes Sohn, zu sein. Ihr alle seid Kinder Gottes und Kinder in Gott, sagte er ihnen; und sie töteten ihn, weil sie glaubten, daß sie die Erde beherrschten, daß sie Gott bestechen könnten; mit

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blutigen Tieropfern oder mit abgeschnittenen Vorhäuten der neugeborenen Knaben; mit nichtssagenden Handwaschungen (wobei sie ihre schmutzigen Seelen beibehalten können) oder mit krankhaften Versuchen, die Bedeutung Gottes in einem I-Punkt zu finden, wie sie es heute noch immer tun. Noch immer zwingen sie ihre zwei- bis dreijährigen Kinder, in ihren Schulen Gott in einem I-Punkt zu suchen und bestrafen sie brutal mit Stockschlägen. Es ist in der Tat ein widerliches Pack. Ihre Taten haben weiß Gott nichts mit Religion zu tun, sondern nur mit sadistischer Zwangsneurose, erwachsen aus ihren abgetöteten Becken. Mit der Religion hat der Kleine Mann das getan, was er mit allem anderen auch getan hat: Er hat sie für sich zurechtgebogen. Aber einmal wird es einen Propheten geben, der das erkennen wird, der sich nicht darum scheren wird, ob sie ihm glauben oder nicht, ob sie das Reich Gottes betreten oder ob sie über die Jahrhunderte zu Milliarden dahingemetzelt werden. Dieser Prophet wird nur eines im Sinn haben: das Reich Gottes in ihnen erkennen und sich davon nicht abbringen lassen. Er wird nur dem Prinzip der Welle als wiederkehrendem Ereignis treu bleiben und nicht einzelnen Wellen oder etwa Gruppen von einzelnen Wellen. Und die Welle wird für ihn nicht mehr sein als ein winziges Ereignis im ganzen Ozean; und der Ozean wird es sein, der zählt, und nicht die lächerliche, kurzlebige Welle.

Dieser Prophet weiß, daß diese kleinen Wellen ihn als Riesenwogen verschlingen würden, wenn er sich zu sehr mit ihnen beschäftigte. Er entdeckte den Ozean in ihnen und schert sich nicht einmal darum, ob sie davon wissen oder nicht. Das rettet ihn vielleicht vor ihrer Fliegenwut. Wie Christus in Jerusalem, so fragen sie auch ihn: «Mit welchem Recht tust du solche Dinge, und wer hat es dir erlaubt?» Er stellt ihnen keine Gegenfrage, die sie nicht beantworten könnten.

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Er sagt ihnen nicht: «Ich werde euch keine Auskunft geben, mit welchem Recht ich diese Sachen mache.» Er sagt ihnen ganz klar und offen die Meinung. Er sagt ihnen, daß sie das überhaupt nichts angehe; daß er sich selbst das Recht erworben habe, das zu tun, was er tut; daß sie ihm lästig seien; daß es ihm egal sei, ob sie ihm glauben oder nicht, ob sie ihn anerkennen oder ob sie seine Lehren in ihre Schulen und Tempel nehmen, ob sie ihn als Propheten «anerkennen» oder ihm einen Ehrenorden verleihen; er sagt ihnen, daß er es nicht darauf anlege, irgendjemanden zu überzeugen, und daß ihn nur das Eine interessiere: mit dem Ozean innerhalb und außerhalb des Menschen in Kontakt zu bleiben.

Und da jede winzige Fliege den Ozean auch in sich hat, wird sie ihn respektieren und . .. vielleicht... leben lassen, bis er eines natürlichen Todes stirbt.

Wie Christus weiß er aus eigener Erfahrung, aus dem lebendigen Leben, aus voller Überzeugung, daß nicht die Pharisäer, sondern die Steuereintreiber und Huren ins Himmelreich kommen werden. Christus verachtet die Huren nicht. Er weiß, daß sie den Menschen eine leise, wenn auch verzerrte und dreckige, Ahnung vom großes Liebesozean vermitteln. Aber die Christusmörder verbrennen die Huren als Hexen auf den Scheiterhaufen, und weit Schlimmeres geschieht.

Wenn du den Ozean kennst, sei es in Ruhe, brodelnd oder in voller Aktion, dann kennst du Gott und weißt, wovon alle Christen der Menschheitsgeschichte gesprochen haben. Wenn du den Ozean nicht kennst, bist du einfach verloren, egal, wer du bist. Vielleicht hast du den Ozean nur wie in einem Spiegel wahrgenommen, weil du Angst hast, in ihm zu ertrinken; aber du kannst nichts daran ändern, daß du ein Teil des Ozeans bist, der aus dessen Tiefen heraustrat und in dessen Ruhe zurückkehren wird. Und indem du aus dem Ozean hervorgehst und zu ihm zurückkehrst, trägst du seine Tiefe mit dir.

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 Das ist nicht nur ein bißchen Tiefe verglichen mit der großen Tiefe des Ozeans, nicht ein Milligramm Tiefe verglichen mit Tausenden Tonnen von Tiefe. Tiefe ist Tiefe, egal, ob in einem Gramm oder einer Tonne. Sie ist Qualität, keine Quantität. Sie wirkt in einem Glühwürmchen ebenso uneingeschränkt wie in einem Elefanten. Der winzige Nerv eines Schmetter­lings tut im Prinzip dasselbe wie der riesige Nerv eines Wals.

Und du erkennst Gott. Du willst nicht glauben, daß es so etwas gibt: Gott nicht zu erkennen oder gar, es nicht zu wagen, Gott zu erkennen. Es war der kranke, gottverlassene und vertrocknete Mensch, der das Märchen erfunden hat, man dürfe Gott nicht ansehen, erkennen, fühlen, leben. So versetzten sich die Menschen in die Lage, daß sie auf mühselige Art - bloß aufgrund von Gerüchten, Erwartungen und Hoffnungen - das suchen müssen, was sie einst so leichtfertig aufgegeben hatten. Es war auch das Volk, das Moses zwang, strenge Gesetze gegen die Verehrung des goldenen Kalbes, gegen das Essen von Schweinefleisch und für das Waschen der Hände vor den Mahlzeiten zu erlassen. Das alles war deshalb notwendig geworden, weil sie mit dem Verlust Gottes in sich auch ihren ersten Sinn verloren hatten und anfingen, das Gold zu verehren.

Und das werden die Schriftgelehrten und Pharisäer Christus nie vergeben, das ist es, was sie dazu zwingt, ihn zu töten: Daß er seinem Volk sagte, wo der Ozean ist, während sie, die Gelehrten, weiter in ihren Büchern danach suchten und kleine Wasser­becken bauten, in denen sie mit Rudern herumstocherten, um einen Scheinozean zu haben.

Christus wagt es, ihnen die Tiefe des Ozeans zu zeigen. Und deswegen muß er sterben. Die Pharisäer von damals sind weder besser noch schlechter als die Genetiker, Bakteriologen, Pathologen und Marxologen von heute, was ihre Haltung dem Leben gegenüber betrifft.

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Über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg werden sie sich zusammenschließen, um Christus zu töten, ihren gemeinsamen Feind, der ihre entsetzlichen Ausflüchte angeprangert hat. Sie werden ihn töten, weil er den Leuten gesagt hat, wo sie das Leben finden können: in ihren eigenen Seelen, in ihrem Innern, in ihren Neugeborenen, in den angenehmen Gefühlen, die ihre Lenden während der sexuellen Umarmung durchströmen, in ihrer glühenden Stirn beim Denken, in ihren der lebensspendenden Sonne entgegengestreckten Gliedern. Sie werden ihn wegen all dem töten, weil er es nicht in talmudische Bücher vergrub.

Aber sie werden ihn nicht direkt töten, nicht, ohne vorher ihren Mord mit allen nur möglichen juristischen Tricks zu verdecken. Sie werden nicht selbst und direkt Hand an ihn legen; damit würden sie ihre Würde beschmutzen, die sie wie ein Seidengewand vor den Leuten zur Schau tragen. Sie werden zwei Dinge tun: Zuerst werden sie Christus mit Hilfe eines seiner treuesten Anhänger fangen. Dann werden sie den Statthalter des Kaisers, ihren schlimmsten Feind und Unterdrücker, dazu bringen, Christus auf «völlig legale» Art zu kreuzigen. So war es damals, so ist es bis heute geblieben, und so wird es auch noch einige Zeit sein. Sie werden niemals aufhören, auf diese Weise zu töten, solange ihnen nicht die Möglichkeit genommen wird, die Seele jeder menschlichen Leibesfrucht schon im Mutterleib zu töten, noch bevor sie das Tageslicht erblickt.

Sie töten Jesus Christus für ein Verbrechen, das sie selbst ihm zur Last legen, das sie selbst erfunden haben und sie selbst tausende Male begangen haben, ein Verbrechen, an das Christus nicht im Traum dachte, dem er völlig fern stand und das er niemals hätte ausgebrütet haben können.

Sind sie selbst gewohnheitsmäßig Spione, werden sie Christus wegen Spionage töten. Leben sie von der Ausplünderung anderer Leute, werden sie Christus wegen Sabotage an Gemeineigentum töten.

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Sind sie Bankräuber, werden sie Christus wegen Bankraubs töten. Geben sie als Scharlatane vor, Krebs heilen zu können, so werden sie Christus wegen eben dieser Scharlatanerie töten. Sind sie sexuelle Dreckschweine, werden sie Christus wegen Unmoral und moralischer Verworfenheit anklagen. Und verschachern sie aus Gewinnsucht massenweise gefährliche Arzneien, werden sie Christus beschuldigen, er verspreche Heilung. Träumen sie selbst davon, das Land als König zu beherrschen, werden sie Christus beschuldigen, er hätte sich zum König der Juden ernannt.

Sie sind die Hüter des Verfaulenden und werden ihr widerliches Geschäft fortsetzen. Sie plappern viel über Wahrheit, aber wollen nichts von der Wahrheit wissen. Sie wollen die Wahrheit morden, wo immer sie ihrer habhaft werden können. Sie reden von geistigen Idealen, aber sie töten den Geist, so auch immer er in den Augen eines Jungen oder eines Mädchens aufleuchten mag. Sie veranstalten mentalhygienische Kongresse, aber sie erwähnen nicht und erlauben auch niemandem zu erwähnen, daß das Wesentliche für das Problem der geistigen Gesundheit die Wahrnehmung der göttlichen Gefühle in den Körpern der jungen Menschen ist.

Sie sind der Fluch der Welt, aber sie beziehen ihre Macht genau von den Menschen, die sie zerstören.

Der Mensch kennt die Wahrheit, aber er schweigt aus tödlicher Angst. Wo sind die Massen, die einst «Hosianna in der Höhe» schrien, als Christus sein Kreuz nach Golgatha trägt? Verschwunden. Doch später wird die Kirche riesige Bilder malen lassen, die Christus zeigen, wie er gen Golgatha geht, umsäumt von ihn bewundernden Menschenmengen. Warum tun sie nicht irgendwas, um ihren Retter zu retten? Riefen sie: «Hosianna in der Höhe»? Der Retter soll sich selbst retten. Jetzt, Menschensohn, jetzt vollbringe dein Wunder!

Und sie werden ihm ins Gesicht spucken und seinen Rücken geißeln, seine Ehre in den Schmutz ziehen und ihn entsetzliche Qualen erleiden lassen, um seine Liebe zu den Menschen und die Liebe der Menschen zu ihm zu zerstören. Denn sie sind scheußlich, bestialisch, wie es kein wildes Tier jemals gewesen ist, eine grausame Satansbrut, in deren halbverwestem Fleisch der Haß schwelt, und die nur auf eine Gelegenheit wartet, das zu töten, was sie in sich niemals fühlen konnte. Und all das wird wahr, mit unerbittlicher Logik und unausweichlicher Konsequenz, nicht nur im Jahre 30 sondern durch alle Zeiten.

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