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8 Judas Ischariot

 

  09 Paulus

 

173-176

Es geschieht direkt vor den Nasen, Ohren und Augen der großen Richter und weisen Männer aller Nationen, aber sie verlieren kein Wort darüber, es sei denn, in besonderen Fällen, die längst der Vergangenheit angehören und zudem ihren Zwecken dienen. Die Menschen schweigen, obwohl sie sehr genau wissen, welch übles Spiel da getrieben wird, und sie nehmen den gemeinen Verräter Christi und nicht die Anmut der Liebe in Schutz.

Einen Judas Ischariot kann man in jeder Gruppe von Menschen finden, die sich um einen reichen Geber schart, in jedem Land und zu allen Zeiten der menschlichen Geschichte. Er ist der Jünger, der begeisterte Schüler, der vor allen anderen dazu bereit ist, für den Meister zu sterben. Er ist der Kleine Mann mit den schmalen Lippen und dem blassen Gesicht, mit glühenden Augen und steinernem Herz. Er ist das Kind, das in den Dreck geprügelt wurde, die Seele abgestumpft und zum strukturellen Verräter herangewachsen.

Er ist der Hasser und Nehmer, der wutgeladene leere Sack, der darauf wartet, daß er in den Himmel kommt; er ist der, der keine einzige Bewegung, kein Wort, kein Geräusch, keinen Blick und keine sanfte Berührung des Meisters mit seinem Körper versteht. Er ist der leere Sack, der darauf wartet, mit der Freude gefüllt zu werden, die er selbst niemals in anderen hervorrufen kann. Er ist der scharfzüngige, schlangenhafte Bewunderer einer menschlichen Größe, gemäß der er selbst niemals leben kann. Er hat es nicht auf die dreißig Silberlinge Verräterlohn abgesehen.

Ihm geht es darum, die Anmut Gottes aus seiner Nähe zu entfernen. Er muß die Qualen beenden, die ihm aus dem täglichen Umgang mit der großen Seele entstehen. Er ist der, der fürchterlich darunter leidet, daß er in jeder Sekunde, die er mit Christus, dem Sohn des Lebens, zusammen ist, den grüngelben Neid in eine scheußliche Liebe verwandeln muß. Er ist der, der alles verloren hat, seine Seele und sein Leben, seine Freude und seine Kindheit, seine Liebe zu Frauen und Kindern. Er ist der, der alles tun wird, um auf Kosten des Gebers schnell reich zu werden, um ohne eigene Verdienste zu Ruhm zu kommen, um ohne sich anzustrengen Wissen zu erlangen, um ohne Hingabe Liebe zu bekommen, um vor allem aber sicherzustellen, daß seine leere und öde Seele täglich aufgefüllt wird.

Er klebt wie ein Blutegel am reichen Geber. Und er gerät in Verzweiflung, wenn er auch nur für eine Stunde nicht vom Reichtum des Gebers saugen kann. Er kommt sich vor wie eine dreckige Ratte, aber er hat nicht den Mut, sich umzubringen. Deshalb muß er den umbringen, der ihn ständig an sein Elend erinnert. Er muß sogar das Bild davon zerstören, die letzte Erinnerung an die ihn peinigende, lebensspendende Kraft direkt vor ihm. Er kann den Blick in ein ehrliches Gesicht, klar wie ein Bergbach, den direkten Ausdruck von ruhiger, geduldiger Liebe und Verständnis, nicht länger ertragen.

Nie käme es ihm in den Sinn, jemanden zu töten, der unschuldige Kinder quält. In den Nächten hegt er seine Alpträume von einem verlorenen Leben. Er weiß genau, daß seine Seele niemals von den Toten wiederkehren wird. Sie ist bereits tot, und es gibt nichts, wohin sie zurückkehren könnte. Für ihn gibt es kein Himmelreich; und warum sollte er überhaupt so lange warten? Fang an, Meister! Werde berühmt und König der Juden, um meinen vertrockneten Kadaver zu trösten, um mich mit Stolz zu füllen, und sei es auch nur für eine kurze Stunde. Laß mich mein verhärtetes Herz fühlen, wie es vor Freude schneller schlägt, wenn ich deinen Triumphen beiwohnen kann.

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Warum redest du immer von Dingen, die ich nicht verstehen kann, die ich weder leben noch fühlen noch jemals zu erreichen hoffen kann? Warum machst du nicht Dinge, die ich verstehen kann? Z.B.: Machtdemonstrationen, das Schreien einer Menschenmenge, den Aufstand aller Unterdrückten dieser Erde für einen schnellen Sieg des Himmels auf Erden. Warum sollte ich meine Seele prüfen, bereuen, es jetzt anders machen als bisher, die Last schmerzhafter Gedanken auf mich nehmen oder meine Persönlichkeit umformen?

Das alles kann man ja so viel leichter haben, so ganz nach meinem Geschmack, mit Trompeten und Fanfaren. Wenn du Gottes Sohn bist, warum vernichtest du dann nicht die Feinde meiner nationalen Ehre? Warum läßt du mein Herz nicht freudig erschaudern, indem du mit einem Streich des flammenden Schwertes in deiner Faust tausende Soldaten des großen Kaisers vernichtest? Da für mich das Paradies für immer verschlossen ist und ich ohne Sinn und Zweck und ohne Liebe durch dieses Leben gehe, sind Schwert, Tod und Feuer meine einzigen Freuden geblieben. Mein Gott ist ein Gott der Rache und des donnernden Zorns. Wenn du Gottes Sohn bist, warum handelst du dann nicht wie der Sohn meines Gottes? Dein Gott ist mir fremd und unerreichbar. Die Liebe ist nicht von dieser Welt und wird es auch niemals sein. Wenn die Liebe sich ausbreiten soll, mußt du die Menschen dazu zwingen. Ich kann deine Liebe nicht ertragen. Ich kann die reinen Strahlen göttlichen Lichts nicht mehr ertragen. Ich muß dich töten, ich muß es, muß es, weil ich dich liebe, weil ich dich brauche und nicht mehr ohne dich leben kann. Und da ich leben muß, mußt du sterben.

Ich darf niemals zu seinen Feinden gehen, aber ich werde es tun. In Gottes Namen, ich darf meinen Meister nicht verraten, aber ich werde es mit Sicherheit tun. Ich kann auf die Erregung äußersten Hasses nicht verzichten, auf den Kitzel der Gewissensbisse, auf das Gefühl, ein widerlicher Schuft zu sein.

Deshalb muß ich ihn verraten. Christus muß beweisen, daß er der Sohn Gottes ist. Er wird sich selbst retten. Im letzten Moment wird er das große Wunder vollbringen, um mir den Glauben zu geben, der mir so fehlt.

Ich werde ihm damit in Wirklichkeit ja gar nichts antun. Letztlich werde ich ihn nur dazu zwingen, sich als Sohn Gottes zu offenbaren. Er ist doch mein geliebter Meister, oder nicht? Ich vertraue auf seine Stärke und seine göttliche Macht. Ich werde ihm nichts antun. Aber ich muß ihn prüfen. Er ist zu bescheiden; er ist nicht das, als das ich ihn gern hätte, zu dem ich ihn machen muß. Er verbirgt seine Macht. Er muß sie beweisen, zeigen, damit ich erlöst und von meinem ewigen Elend befreit werden kann.

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9. Paulus von Tarsus

Die Liebe Christi zu Frauen —
Notwendige moralistische Beschränkungen  — 
«Primäre» und «sekundäre» Triebe

KÖRPER GEGEN FLEISCH

Christus ist das alles bekannt, und er trägt es in stiller Bitterkeit. Christus versucht es zu vergessen, aber es kehrt ständig wieder und läßt ihm keine Ruhe. Sie sind nicht gut. Sie verstehen überhaupt nichts. Sie hassen mich, weil ich ihr Leben störe. Sie werden mit Sicherheit weglaufen, wenn das Unheil geschieht. Ich muß sterben. Meine Welt ist nicht von dieser Welt.

Um mich zu akzeptieren, müßte diese Welt sich ändern oder zumindest bereit sein, sich bald entscheidend zu ändern. Doch das kann nicht durch das Schwert zustandekommen; es muß durch die Liebe geschehen. Aber die Liebe Gottes ist aus ihren Herzen längst entschwunden. Deshalb verstehen sie nicht. Kinder verstehen noch, aber nach einiger Zeit auch nicht mehr.

Ich muß sterben, weil ich jetzt nicht gewinnen kann. Sie werden mich kreuzigen. Ich muß es ihnen sagen, sie darauf vorbereiten. Sie dürfen nicht zu sehr leiden. Aber sie verstehen nicht wirklich. Ich werde mich mit ihnen treffen und bei unserm letzten Abendmahl mit ihnen reden.

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In seiner überströmenden Liebe schafft es Christus nicht, seiner Welt zuliebe weiterzuleben, noch ein paar Jahre wenigstens, um seine Mission des lebendigen Lebens zu Ende zu führen. Die Seele eines jeden beliebigen Menschen erscheint ihm noch zu wichtig. Er kommt nicht zu dem Schluß, daß das einzelne Leben wenig zählt, daß es das Prinzip des Lebens selbst ist, das zählt und Milliarden einzelner Leben retten kann.

Er sollte seine Schar verlassen. Er sollte sich zurückziehen, weggehen, sich verstecken, bis der Sturm vorüber ist. Sein Opfer wird kein bißchen nützen. Alles wird so bleiben wie es jahrhundertelang gewesen ist. Seine große Anmut und Liebe wird vergeudet sein. Sie werden niemals verstehen. Sie werden nur wieder nehmen, seinen Tod so mißverstehen, als hätte er sterben müssen, um ihre Seelen zu retten und sie von ihren Sünden zu befreien.

Sie sind und bleiben egoistisch bis in die letzte Faser und bar jeglicher Anmut und Liebe. Er muß sterben; sterben, um sie von ihren Sünden zu erlösen. Er muß «für sie» sterben. Sonst ist seine Mission nicht erfüllt.

Wie groß muß die Liebe Christi gewesen sein, daß er dieses Opfer für die wertlose und undankbare Menschheit auf sich genommen hat? Sind sie das wert? Diese tiefe Verdorbenheit ist sie ein einziges Leben eines Menschen wie Christus wert?

Sein Opfer wird kein einziges Kind vor den Grausamkeiten des entstellten Lebens schützen. Es wird das Leiden unschuldiger Seelen vergrößern. Seine Liebe, die Körper und Seele umfaßt, wird in den Mörder der Liebe Gottes verwandelt werden; und nur ein verkniffenes Gesicht mit einem falschen Grinsen wird übrigbleiben. Die kosmische Bedeutung des Menschen, die Christus fühlte und seinen Mitmenschen vergeblich nahezubringen versuchte, wird zu einem Bild in einem Spiegel werden; und wo immer auch diese wahre Bedeutung auftauchen wird, sie wird gerade von denen, die sich als seine Vertreter fühlen, grausam und gnadenlos vernichtet werden. Er hat der Ehebrecherin vergeben, weil er das sexuelle Elend der Menschen kannte. Seine Kirche wird die Ehebrecherin töten, wie einst die alten Juden es taten. Es wird keine Gnade geben.

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Er hat mit Sündern, Huren und Zöllnern gelebt, und er wußte, daß das gepeinigte Leben seine kleinen Freuden heimlich in dunklen, schmutzigen Kellern auslebt. Seine Vertreter werden nichts davon wissen und mit Zöllnern, Huren und Sündern kein Erbarmen haben. Gerade die Liebe Gottes werden sie zu einer schweren Sünde erklären, und sie werden nicht zwischen der Liebe Gottes und der Liebe des Teufels unterscheiden. Zweitausend Jahre vergehen, bis der Mensch es wieder wagt, sich mit der Liebe Gottes zu befassen. Und was tun sie jetzt? Bereuen? Sich ändern? Ihren Fehler finden und ihn zugeben? Christus wiederentdecken? Zu seiner großen Liebe zurückkehren? Unmöglich! Sie bleiben in den Kathedralen des Paulus sitzen, so wie sie durch alle Zeiten gesessen haben.

Sie verbieten, die herrlichen Gefühle der Liebe Gottes zu erleben, selbst innerhalb der heiligen Ehe, die sie selbst vor den Altären segnen. Ehemänner sehen den Körper ihrer Frauen ihr ganzes Leben lang nicht. Ihre Sinne sind in Dunkel gehüllt. Ein paar hundert Jahre nach dem Ereignis auf dem Kalvarienberg ist die Liebe Gottes völlig aus ihren Kirchen vertrieben, und es herrscht der Teufel. Auf der Suche nach der Liebe Gottes werden neue Kirchen gegründet. Die Protestanten verändern ein bißchen in Richtung auf Gottes Liebe, doch dann geht diese im Puritanismus unter. Sie kennen die Wahrheit etwas besser, aber sprechen sie niemals aus. Einige stehen der Liebe Gottes nicht mehr so feindlich gegenüber und verzeihen der Jugend, wenn sie mit dem Körper liebt; aber niemals werden sie der Liebe Gottes ihren angemessenen Platz im Leben zugestehen.

Alles, was auf die Liebe Christi zu Frauen, wie Gott selbst sie geschaffen hat, hinweist, werden sie in tiefen, dunklen Katakomben verstecken, mit schweren Schlössern an den Türen, deren Schlüssel sie in den Fluß werfen werden. Keine menschliche Seele wird je die volle Wahrheit über die körperliche Liebe Christi erfahren.

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Die Lebensart Christi eignet sich gut als Grundlage einer Religion der Zukunft. Sie wird in ihrem Wesen eine Religion der Liebe sein. Liebe umfaßt alle Arten der Liebe: die Liebe zu den Eltern, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe seinem Nachbarn und seinem Feinde gegenüber, auch dem Kind, den Tieren, Gott und der ganzen Welt gegenüber. Man kann die Liebe nicht zerteilen und sagen: Du darfst deine Liebe hierhin aber nicht dorthin strömen lassen. Als kleiner Junge darfst du deine Mutter aus ganzem Herzen lieben, aber als junger Mann darfst du deine Freundin nicht voll und ganz mit aller Leidenschaft lieben. Sinnlichkeit ist schlecht und sündig: unterdrücke sie! Und das Verbot der Sinnlichkeit wird über das Leben der Menschen herrschen.

Man kann die Liebe nicht erst hierhin und dann dorthin kommandieren. Man kann unmöglich einem Bräutigam sagen, er solle seine zukünftige Frau bis zehn Uhr abends auf die eine Art, und danach, wenn die Hochzeitsfeier vorbei ist, auf eine völlig andere Art lieben. Das wäre nicht die Liebe Gottes, denn diese kann weder säuberlich in Teile zerlegt noch auf andere Art und Weise eingeschränkt werden.

Wenn du ein Mann bist, der eine Frau liebt, so liebst du sie vielleicht von Anfang an voll und ganz und möchtest in sie hinein verschmelzen, so wie es von Gott gewollt ist. Wie kannst du den Strom der Liebe aufhalten? Nach seinen Aposteln ist Christus gegen Ehebruch; aber sagte er wirklich, daß es eine schwere Sünde sei, die Frau eines anderen Mannes auch nur in Gedanken zu begehren? Wieviel haben die, die uns die Geschichte Christi überlieferten, ihm in den Mund gelegt, was er nie gesagt hat?

Man kann von einer Anzahl Eigenschaften mit einiger Sicherheit jene, die zusammengehören, zu einem Bild zusammensetzen und andere, die nicht dazugehören, aussondern. Es ist ohne weiteres möglich, daß ein Mann von Geist und Liebe Frauen glücklich macht und dennoch Ehebruch verabscheut, insbesondere in der Art, wie er im Durchschnittsleben von der Durchschnittsfrau oder dem Durchschnittsmann vollführt wird.

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Es ist jedoch undenkbar, daß ein Mann mit lebendigem Körper und gesundem Geist, der viele junge, begehrenswerte Frauen glücklich gemacht hat, Asketentum predigte oder die Liebe auf eine Form der Ehe beschränkt sehen wollte, die es zu seiner Zeit noch gar nicht so gab wie dann später, in dem Zeitalter, das seinen Namen trägt. Wo hat wohl der harte, gnadenlose Kampf gegen die «Sünde des Fleisches» seinen Ursprung? Welchen Sinn hat die Grausamkeit — die Grausamkeit, mit der gerade diese Sünde durch die Jahrhunderte hinweg bestraft wurde? Was soll das Märchen von der Jungferngeburt Christi, die weder jemals von Christus selbst erwähnt oder auch nur angedeutet wurde noch von seinen Aposteln in den vier Evangelien genannt ist?

Die Verdämmung des Fleisches in ihrer katholischen Ausprägung erscheint erst spät in der Geschichte der christlichen Kirche. Sie erscheint zuerst mit Paulus, der das Imperium des Christentums begründet, indem er den engen Daseinsbereich einer jüdischen Sekte überschreitet. Und der strenge Asketismus für Priester tritt erst vier Jahrhunderte nach dem Tode Christi auf. Christus spricht nie von Asketentum, und nach allem, was wir aus den vier Erzählungen über Christus wissen, können wir ihn uns kaum als einen vorstellen, der für sich oder seine Anhänger Enthaltung von der genitalen Umarmung forderte. 

Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß er mit den Frauen, die er kannte, in Abstinenz lebte; in seinem ganzen Leben deutet nichts daraufhin. Wir haben von Christus das Bild eines Mannes, der jung, stark, attraktiv, begehrenswert und von jungen, gesunden Frauen umgeben ist; der sich mit Sündern, Zöllnern und Kurtisanen zusammentut und als Zimmermann das Leben in den armen Volksschichten sehr gut kennt. Es würde nicht in dieses Bild passen, wenn er ein Asket gewesen wäre.

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So voller Liebe, wie er uns überliefert wurde, kann er gar kein Asket gewesen sein. Und es würde auch nicht in das Bild eines Gottes einer paulinischen Welt passen, die so viel aus der griechischen Religion entlehnt hatte. In der griechischen Welt wurden die Götter nie als abstinente Wesen beschrieben. Und der ganze Zorn des späten Paulus richtet sich ja gegen das «Fleisch», also die schmutzige Art der Sexualität, und nicht gegen die natürliche Sexualität, d.h. den «Körper». Diese Unterscheidung verschwindet jedoch später in der Kirche der Päpste völlig.

 

Warum aber ist dann der dynamische Kern der gesamten katholischen Welt bis zum heutigen Tage die Verdammung der sexuellen Bedürfnisse geblieben? Und warum wird daran so unnachgiebig festgehalten?

Nach allem, was uns über die Liebe in der Tier- und Menschenwelt bekannt ist, müssen wir annehmen, daß die Christen beim Aufbau ihres Weltreichs schon zu Lebzeiten des Paulus überall auf die pornographische Charakterstruktur der Menschen trafen. Diese Struktur, der die Liebe so fremd ist, die Liebe nur in schmutziger und verzerrter Form kennt, vereinnahmte die Religion der Liebe, um ihre eigene ausschweifende Verkommenheit zu rechtfertigen. Genau dasselbe wiederholte sich, als dann im zwanzigsten Jahrhundert die Funktion der orgastischen Konvulsion des lebenden Protoplasmas entdeckt wurde. Das natürliche Recht auf natürliche Liebe wurde vom perversen Geist und von den frustrierten Bedürfnissen der gepanzerten Menschen für deren üble Zwecke mißbraucht.

Ist aber das Göttliche erst einmal ins Fließen geraten, kann es nicht mehr klar vom Teuflischen geschieden werden, und zwar deshalb, weil das Teuflische nur die perverse Umkehrung des Göttlichen ist. Deshalb ist dann das Teuflische zunächst nur schwer vom Göttlichen zu unterscheiden und oft hinter der Maske der wahren Liebe nicht zu erkennen. Letztendlich jedoch sind diese beiden Daseinsweisen unvereinbar und schließen einander aus. Aber am Anfang, wenn die Liebe zu fließen beginnt, ist die Trennungslinie zwischen beiden noch sehr unscharf.

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Nichts ist leichter, als aus einer Lehre, DIE DIE LIEBE UND DIE NATÜRLICHE GENITALE UMARMUNG UMFASST, EINE RELIGION DER PERMISSIVEN, PORNOGRAPHISCHEN SEXUALITÄT ZU MACHEN.

Und es gäbe für die Menschheit keine größere Katastrophe als die Herausbildung solch einer Bordellreligion aus einer Botschaft, die die Liebe mit genitaler Umarmung verbindet.

 

Jeder Begründer einer solchen Bewegung hätte mit zwingender Notwendigkeit zuallererst ein Problem zu lösen: Er müßte mit allen Mitteln versuchen, die pornographische Flut einer Epidemie permissiver Fickerei einzudämmen. Das wäre in jedem Land so, zu jeder geschichtlichen Zeit und unabhängig von historischen Vorbedingungen; denn die genitale Aktivität der Tiere, .den Menschen eingeschlossen, ist eine bioenergetische Funktion und ein Ventil für die Lebensenergie. Jede Erregung des lebendigen Organismus erhöht zwangsläufig den inneren Druck und verringert damit den natürlichen Widerstand des Ventil­mechanismus. In Krisenzeiten, wie bei Kriegen, Hungersnöten, Überschwemmungen und anderen gewaltigen Katastrophen sowie bei großen ideologischen Umwälzungen wie der Geburt einer neuen Religion muß der innere Druck auf das Millionenfache steigen.

Unter natürlichen Bedingungen und bei einer biologischen Struktur, die zu Harmonie und Befriedigung d.i. eine zeitweise Senkung der Intensität des Triebes und innerliche Beruhigung fähig ist, bestünde nur wenig Gefahr für Individuen und Gesellschaft. Hier und da würde mal einer über die Stränge schlagen; aber daraus würden sich kaum Schäden ergeben.

Bei Organismen, die zu einer Befriedigung unfähig sind, ist die Situation vollkommen anders. Auf die Erregung des Biosystems und den Anstieg des inneren Drucks würde keine Entladung und Befriedigung folgen, also auch keine Beruhigung.

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Sie würde aber zu immer größerem Anstieg des inneren Drucks führen, für den es keine Möglichkeit der Entladung gibt. Die Ventile sind geschlossen, und so würden überall die Dämme brechen. Es gibt kaum einen Zweifel, daß eine solche Periode permissiver Fickerei, wie wir sie manchmal in Kriegszeiten beobachten können, jede Spur einer menschlichen Existenz auslöschen würde, ohne auch nur etwas Glück und Befriedigung zu bringen.

Als der christliche Glaube begann, sich über seinen begrenzten, lokalen Einflußbereich hinaus auszubreiten und sich über riesige Landstriche zu erstrecken, und besonders, als er auf heidnische Völker einzuwirken begann, da ergossen sich deren alte, religiöse Fruchtbarkeits- und Phalluskulte in die neuen Formen und drohten die Fundamente der Religion der liebe Christi zu zerstören. Diese alten heidnischen Kulturen befanden sich im Niedergang, während der neue christliche Glaube sich im Stadium der Expansion und des Aufstieges befand. Ohne die harten Maßnahmen gegen die Tendenzen zur Entwicklung einer Fickreligion unter den Massen, die der Kirche zuströmten, hätte sich der christliche Glaube mit seinem grundsätzlichen Evangelium der Nächsten­liebe nicht durchsetzen können. Er wäre in einem Chaos von Fickerei untergegangen, dem lieblosen, haßerfüllten, dreckigen, schweinischen, grausamen und rücksichtslosen Reiben kalter Penisse an den Wänden trockener Vaginas, gefolgt von Abscheu, Zerknirschung, Haß, Verachtung und Mord am Partner.

Es spielt hier keine Rolle, ob die Erbauer des christlichen Weltreichs sich über diese Gefahr voll im Klaren waren. Es ist jedoch sicher, daß sie die Gefahr gespürt haben müssen, ganz abgesehen von der eigenen, persönlichen Abneigung gegen die frei wirkende, natürliche Liebe.

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In der Phase des Niedergangs der römischen Herrschaft müssen sie gesehen und gefühlt haben, wie das menschliche Leben durch die steigende Flut des Schmutzes und der lieblosen Umarmungen zerstört wurde. Und sie waren gezwungen, auf strenge Weise dagegen vorzugehen. Die entsprechenden Maßnahmen des Paulus waren ziemlich unmißverständlich. Im zwanzigsten Jahrhundert, kurz nachdem die russische Revolution der Liebe freie Bahn gegeben hatte, wurden aus genau den gleichen Gründen neue und weitaus brutalere Unterdrückungsmaßnahmen eingeführt.

Paulus hatte natürlich keine klaren Vorstellungen von der Widersprüchlichkeit dessen, was er «Körper» und «Fleisch» nannte. «Wißt ihr denn nicht, daß eure Körper Teile Christi sind?» Das ist vollkommen richtig in dem Sinn, daß Christus die Liebe Gottes ist und der Körper ein Teil dieser Liebe ist. «Jede vom Menschen begangene Sünde ist außerhalb des Körpers begangen, doch der unmoralische Mensch sündigt gegen seinen eigenen Körper.» Der heutige orgonomische Arzt stimmt mit diesem Gebot völlig überein, wenn der Körper als ausführendes Organ der natürlichen Liebe gesehen wird. Ein Mann oder eine Frau, die beide zu vollkommener genitaler Liebe fähig sind, würden sich nach einem häßlichen, leeren und abscheulichen Akt, dem Reiben eines kalten Penis an den Wänden einer trockenen Vagina, äußerst elend fühlen. Sie würden es als eine Schande, als Beschmutzung ihres reinen Körpers empfinden. Meinte Paulus das, was ja wahr und richtig gewesen wäre? Wir haben gute Gründe, es zu bezweifeln.

Christus schien sich nie besonders mit der Erfüllung der vollen, natürlichen, körperlichen Liebe beim Menschentier befaßt zu haben. Aus dem, was wir über den Menschen wissen, können wir schließen, daß Christus die reine, natürliche Art voll befriedigender Liebe gekannt und gelebt hat, und daß er schmutzige Fickerei für nichts und wieder nichts verabscheute.

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Daß auch Paulas ein solches Bewußtsein hatte, scheint unwahrscheinlich. Er befaßte sich wohl kaum mit der natürlichen Sexual­ökonomie der Bevölkerung. Auch wußte er nichts von der Entstehung seelischer Krankheiten aus der Frustration natürlicher Liebe und war wohl auch weit entfernt von jeglicher Einsicht in die materiellen Konsequenzen einer Religion der reinen Liebe; wobei «rein» hier steht für: nicht schmutzig, nicht pornographisch, nicht schleimig, nicht kalt und leer, nicht brutal und rücksichtslos. Reinheit des Herzens und Reinheit der Liebe schließen aber nicht automatisch die Genitalien des Menschen aus, zumindest nicht ausdrücklich.

Die Achtung der menschlichen Genitalien, sogar innerhalb der geheiligten Ehe, tritt erst viel später in Erscheinung, erst dann, als die Kirche ihre gesellschaftliche Macht zu entwickeln beginnt, als sie schon riesige Menschenmassen umfaßt. Erst da ist die unerbittliche Ächtung der Genitalien zu verstehen, obwohl sie nur in eine Sackgasse ohne jede Hoffnung auf eine Lösung dieses entscheidenden Problems der menschlichen Existenz führt.

ES IST DIE PORNOGRAPHISCHE CHARAKTERSTRUKTUR DES GEPANZERTEN MENSCHEN, DIE DEN EINBRUCH DER KATHOLISCHEN IDEOLOGIE DER KÖRPERLICHEN SÜNDE UND DIE ÄCHTUNG DER FLEISCHESLUST VERURSACHT HAT.

Die universelle und allesumfassende Liebe Christi muß eingedämmt und beschränkt werden; die Genitalien müssen ausgeschlossen und sogar das herrliche Strömen in den Lenden muß verdammt werden, damit nicht die erste Regung in den Lenden zu permissiver Fickerei führt.

Wahrscheinlich ist dies die größte Lektion, die der Menschheit in der Zeit ihrer geschriebenen Geschichte erteilt worden ist. Natürliche Liebe, die sich in tote Genitalien ergießt, wird zu Haß und stumpfem Mord am sozialen Dasein. Damit beginnt das große Elend, und die Menschheit verstrickt sich immer mehr in den Komplikationen, die ein Leben voller Tabus mit sich bringt.

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Jeder Religionsstifter stand genau demselben Problem gegenüber, war jedoch nur unzureichend ausgerüstet, um ihm wirksam begegnen zu können. Das geht klar aus den Lehren des Gautama Buddha und dem Glauben des Mohammed hervor. Der große Fehler ist nicht die Eindämmung der bösen Triebe des Menschen gegen permissive Fickerei mit toten Genitalien. Der große Fehler ist das Verschütten gerade der natürlichen Kräfte im Körper des Menschen, die allein fähig wären, die pervertierte Sexualität der Menschheit außer Kraft zu setzen. Die Alternative zur pornographischen Genitalität der katholischen Priester des Mittelalters wäre nicht der Puritanismus eines Luther gewesen, sondern die Reinheit des ursprünglichen christlichen Liebeslebens.

Eine klare Trennung zwischen den primären, natürlichen, sozial nützlichen, genitalen Wünschen und Bedürfnissen und den sekundären, unergiebigen, schmutzigen, grausamen, unbefriedigenden und perversen Trieben des Menschen wird erst vollzogen, nachdem zwanzig Jahrhunderte vergangen sind; und auch dann ist es noch sehr schwer, das Brauchbare aus den Jahrtausende alten Ruinen auszusondern. Die erste große und tiefgreifende Psychologie der Menschheit übernimmt die große Verwirrung über die primären und sekundären Triebe und verankert damit das große Ausweichen in den Köpfen tausender von Ärzten, Erziehern, Kindergärtnern und Eltern. Keiner wagt es, das so bedeutsame Problem der Orgasmusfunktion zu berühren, die so unheilvoll mit dem sexuellen Schmutz der Jahrtausende verquickt ist.

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Der Sexologe des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts befaßt sich mit den sexuellen Perversionen des Menschen, als seien sie naturgegeben. Niemand hat auch nur eine blasse Ahnung davon, daß die perverse Sexualität ihren Ursprung in der Unterdrückung der strömenden Liebe beim Kind und beim Heranwachsenden hat. Es ist zunächst gar kein Organ da, das verstünde, was herrlich strömende Liebe überhaupt ist. Sie betrachten die Homosexuellen als eine Art drittes Geschlecht. Sie konzentrieren ihr Interesse auf Phalli, Kondome und indische Liebestechniken. Sie erteilen den Unwissenden und Impotenten Ratschläge, wie sie «erfolgreich den Sexualakt vollziehen» (man beachte die Wortwahl!) können.

Sie lehren Liebes«techniken» (man beachte das Wort «Technik»!), wie man mit dem Genital des Partners spielen soll, wie man sich gegenseitig erregen soll, was man tun und was man lassen soll, und welche Stellungen man beim Sexualakt einnehmen soll. Sie geben sich aufrichtig große Mühe, die Schuldgefühle abzubauen, von denen alle genitale Aktivität durchsetzt ist, von der Selbstbefriedigung des Heran­wachsenden bis zur ersten Umarmung nach der Hochzeitsfeier. Aber sie berühren die Strömungen der Liebe im Körper der Kinder, der heranreifenden Jugendlichen und in der vollen, natürlichen Umarmung nicht und erlauben dies auch keinem anderen. Die katholische Kirche gibt Warnungen und päpstliche Erklärungen gegen all diese Versuche heraus, um die größte Tragödie, die je einer ganzen biologischen Art, dem Menschen, zugestoßen ist, zu lindem. Die christliche Kirche versucht alles, um ihre Position zu behaupten, die auf der Verdammung des Fleisches beruht, was in einem tieferen Sinne chronischen Christusmord bedeutet.

Die Politiker ergreifen die Chance, die sich hier bietet, und versprechen «den Massen» «freie Liebe». Sie wissen wenig davon, was Liebe ist, wie sie funktioniert, was in vergangenen Zeiten mit ihr geschehen ist; sie unterbinden sogar jede Diskussion über die Funktionsgesetze des Körpers, wenn die große Aktualität dieses Problems ihre ökonomistische Propaganda zu übertönen droht.

Nach der großen russischen Revolution erlassen sie anfangs Gesetze zur sexuellen Befreiung der Menschheit. Aber bald bricht eine Epidemie permissiver Fickerei aus, und nun unterdrücken sie alle Liebe, um wenigstens etwas Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie verbieten das Lehren und Lernen der Liebe und führen Ehegesetze ein, die noch schlimmer sind als die einst vom Zaren erlassenen.

Das alles ist fürchterlich, aber notwendig und unvermeidbar. Es wird sich solange wiederholen, bis der Mensch seinen Lenden gestatten wird, das Strömen des Lebens wieder zu fühlen. Bis dahin werden tote, trockene weibliche Organe nicht aufhören, stoßende, reibende, bohrende, kalte männliche Organe zu empfangen: die Quelle aller Frustration und der Tod jeder echten Liebe, die sie die Liebe Christi genannt haben.

Das alles reicht vollkommen aus, um die unerbittliche Ächtung aller genitalen Aktivitäten (d.h. Glück und Befriedigung), sogar in der geheiligten und von der Kirche gesegneten Ehe, zu erklären. Es ist unmöglich, die ersten leisen Regungen des Lebens zu fühlen und nicht den Drang zu verspüren, sich mit einem anderen Körper zu vereinigen. Und man kann nicht hoffen, daß der Natur ohne Gefahr für das menschliche Leben freier Lauf gelassen werden kann, solange diese Regungen sich in Angst verwandeln und die Angst in einen Schnellfick, «um die Spannungen loszuwerden».

Es gibt keinen größeren Haß, als den, der aus dieser frustrierten Liebe Christi entspringt. Und es gibt keine größere Versuchung zu morden, als die, die aus dem Gefühl erwächst, daß das lebendige Leben für immer unerreichbar ist, daß es sich der ausgestreckten Hand für immer entzieht. All das war implizit schon in den Vorbereitungen zum Mord an Christus im Jahre 30 enthalten.

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Wilhelm Reich 1953