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10. Die Christusmörder werden geschützt

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Das Absurdeste, Perverseste und Unglaublichste ist das: Durch die Jahrtausende hindurch ist der Christusmord von eben den Menschenmassen, die am meisten unter ihm zu leiden haben, geschützt worden. Der Christusmord wird geschützt durch:

Das ganze System der Gerichtsverfahren und der Bildung der öffentlichen Meinung ist ein jahrhundertlanges Schweigen über die Methoden der emotionalen Pest in den Lehrbüchern aller Nationen. Niemand hat es je gewagt, die emotionale Pest als festen Bestandteil aller menschlichen Organisation anzugreifen. Es gibt keine Gesetze, die ausdrücklich Liebe und Wahrheit schützen.

So unglaublich pervers der Schutz des Christusmordes durch die Opfer der Pest selbst auch ist: die Widerlegung des Propheten ist vollkommen korrekt. Sie folgt einer grausamen Logik: Wenn der Prophet mit der vorherrschenden öffentlichen Meinung keinen Kompromiß eingeht, wenn er den Wunsch der Menschen, ihr Unterdrücker zu werden, zurückweist, wenn er bei seinen Auffassungen bleibt und natürlich die Erwartungen der Menge, Wunder zu vollbringen, nicht erfüllen kann, dann muß er notwendigerweise sterben.

Der grausame, aber zutreffende Grund dafür ist: Wenn den Forderungen des Propheten auf der Stelle entsprochen würde, dann wäre der allgemeine Zustand des Einzelnen und der Gesellschaft weitaus schlimmer, als es die Immobilität und die Verkommenheit sind, gegen die der Prophet sich wendet. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung seiner Träume liegt begründet in der Unmöglichkeit, daß die menschliche Charakterstruktur die Welt des Propheten leben, weiterführen und sichern, ja, überhaupt nur verstehen oder bewußt an sie denken kann, ohne von fürchterlicher Angst befallen zu werden.

Durch diese tragische Verwirrung ist alles, was den Status quo schützt, tief im Leben der Menschen verankert; also alles, was sich gegen den menschlichen Traum vom Paradies richtet, der vom Standpunkt des Propheten aus gesehen jedoch vernünftig und erfüllbar ist. Es ist ein tragischer gordischer Knoten, durch dessen unauflösbare Verwicklungen all das gesichert ist, was das Irrationale rational macht und die Herrschaft des Teufels - verstanden als pervertierte Liebe Christi, die die emotionale Pest aller Zeiten ist - errichtet und aufrechterhält. Der eifrige Vertreter der emotionalen Pest ist in der Regel jemand, der mit Schwung und Hingabe etwas vermeintlich Gutes tut.

Die ganze Situation ist in einem so gewaltigen Ausmaße unglaublich und absurd, daß die Weisen aller Zeiten sie nicht durchschaut haben. Die «Logik des Unlogischen» fängt damit an, daß innerhalb des Bereiches, in dem der Teufel herrscht, alles vollkommen vernünftig und korrekt ist.

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Alles ist so, wie es sein soll, und somit auch durch entsprechende Institutionen und Gesetze gesichert. Die Menschen schützen diesen Zustand, und sie müssen ihn schützen, weil sie andernfalls als Einzelne und auch als Träger bestimmter Funktionen innerhalb dieser bestehenden Ordnung zugrunde gingen.

 

Ein wirklich guter Führer kann nur derjenige sein, der gerade aufgrund dieser Einsicht jeglichen Ehrgeiz aufgegeben und allen Versuchungen widerstanden hat, jemals «Führer» der Menschen zu werden. Indem er weit abseits steht, ohne den DRANG, DAS SCHICKSAL DER JETZT LEBENDEN MENSCHEN VERBESSERN zu wollen, wird ein solcher Führer in der Lage sein, einen Weg aus dem Schlamassel und der Tretmühle normalen Lebens vorzubereiten.

 

Ein echter Führer der Menschen wird weit über die Grenzen seines Zeitalters hinaus denken und handeln, weit hinaus sogar über den Zeitraum der geschriebenen Geschichte und der bisherigen Gesellschaft überhaupt. Wenn er den Menschen in einer Umgebung, die er Reich gottes nennt, sehen will, muß er ihn, so wie er war und wie er ist, völlig abschreiben, mitleidlos und ohne Zögern. Absurderweise ist es wiederum die christliche Liebe zum Menschen im kosmischen Sinn, das Grundprinzip Christi, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, das genau wie alles andere zu einer mächtigen Waffe pervertiert wurde, um Christus durch alle Zeiten hindurch zu töten.

Dieses göttliche Prinzip wird dazu benutzt, den zu schützen, der Christus tötet. Und das ist so, weil es so sein muß, wiederum betrachtet innerhalb des Systems des Menschen, so wie er ist und sein muß. Das tragische, ja kosmische Schicksal Christi besteht darin, daß sein Tod notwendig und absolut logisch ist, eine Konsequenz der menschlichen Charakterstruktur, die, einmal geprägt, durch nichts mehr geändert werden kann. Wenn ein Baum einmal gezwungen wurde, krumm zu wachsen, kann keine Macht der Welt ihn wieder gerade biegen.

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Und weil in der Welt des Menschen der krumme Baum durch bloße Anpassung an eine Umwelt der krummen Bäume auf die zukünftigen Generationen übertragen wird, wird der Christusmord solange notwendig sein, wie die Bäume weiterhin krumm wachsen. Der krumme Baumstamm wird den geraden Baumstamm solange hassen und morden müssen, bis alle Baumstämme in der Umgebung anfangen, gerade zu wachsen und somit auch keinen Schrecken mehr in den krummen Baumstämmen verursachen. Genau an dieser Stelle beginnt die Aufgabe unseres Projekts «Die Kinder der Zukunft».

Es gibt viele verschiedene Arten des chronischen Christusmordes; verschaffen wir uns einen Überblick: Die schließliche, schändliche Kreuzigung Christi kann nicht verstanden werden, wenn die geheimen, zwielichtigen und wohlerprobten Methoden der emotionalen Pest nicht voll und ganz verstanden sind. Schon allein die Tatsache, daß das Geheimnis des Christusmordes solange ungelöst blieb, bis die Erkenntnis des Menschen in den Bereich jenseits seiner gepanzerten Existenz und zum Kern seines Lebensprinzips vorgedrungen war, ist zugleich Meisterstück und Ausdruck der teuflischen Rationalität der Pest.

Das Geheimnis wurde geschützt durch:

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Es hätte doch wenigstens ein Tausendstel der nutzlosen Anstrengungen, die zu allen Zeiten gemacht worden sind, um die Tragödie Christi zu verstehen, sinnvollerweise dafür verwendet werden können, um herauszufinden, ob nicht die monotheistischen Religionssysteme, bei den Juden angefangen, verzweifelte Anstrengungen waren, um mit einer fickenden, furzenden, klatschenden, verleumdenden, auf der Stelle sitzenden, bösartigen, mörderischen, neidischen, hinterhältigen, leeren, denkfaulen und sturen Charakterstruktur fertig zu werden, wie sie bei den Untertanen der großen patriarchalischen Weltreiche Asiens und des Mittelmeerraumes erzeugt worden war.

Um die Juden in Ägypten vor Verfolgung zu retten, mußte Moses sie organisieren und zivilisieren. War es nicht vielleicht das, was ihn dazu zwang, ihnen die zehn Gebote und die Regeln für Reinheit und Ordnung zu geben? Und das wiederum konnte nicht erreicht werden, ohne die bösartige, sekundäre Charakterstruktur vollständig zu unterdrücken. Dies mußte durch eine Ethik geschehen, die die Grausamkeit und Starrheit ihrer Forderungen von den pervertierten Trieben übernahm, von den grausamen Eigenschaften der Menschen, die sie mit aller nur möglichen Strenge und Brutalität in Schach halten mußte. Der Ritus der Beschneidung als einer der am meisten geheiligten Glaubensbestandteile der Juden weist ganz eindeutig auf die Genitalien als Wurzel des Übels.

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Davor ist Christus, wie viele Propheten vor ihm, letztlich zurückgeschreckt. Aber es scheint, als hätte niemand vor ihm die Charakterstruktur gehabt, die nicht nur theoretisch zum Kern des menschlichen Ursprungs vordringen konnte, sondern die zudem voll das leben Gottes so lebte, wie es in diesem Buch verstanden wird: als ein Leben der Natur mit unbeschnittenen Genitalien und ein leben der liebe.

Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, daß die Juden zu Zeiten Christi in der Lage gewesen wären, im Massenmaßstab und in kurzer Zeit die Lehren Christi anzunehmen. Sie konnten ihn natürlich bewundern und ihm Erfolg wünschen; sie haben vielleicht daran geglaubt, daß seine revolutionäre Kritik am Judaismus der damaligen Zeit sinnvoll und vernünftig war; aber sie wären niemals in der Lage gewesen, das Leben Christi zu leben. Ihre Gesellschaft und ihre tägliche Routine wären beim ersten Versuch bis ins Innerste erschüttert worden.

 

In diesem Licht gesehen erscheinen die schweren, mörderischen Feindseligkeiten, denen die Orgonomie im zwanzigsten Jahrhundert anfangs begegnete, vollkommen verständlich. Kann man sich die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, des Jahrhunderts von Hitler, Stalin und Mussolini, vorstellen, wie sie entsprechend den großen Einsichten in das unbewußte Seelenleben und die Bedeutung einer natürlichen, orgastischen Genitalität leben? Das ist völlig unmöglich. Die Charakterstrukturen des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts schienen bereit zuzuhören, waren aber nicht bereit, danach zu leben. Entsprechend degenerierte auch die Psychoanalyse innerhalb von drei Jahrzehnten nach ihrer Entstehung in eine Kulturphilosophie übelster Sorte. Und die Sexualökonomie mußte mehr als drei Jahrzehnte um ihr Leben kämpfen und sich gegen Mord und Verleumdung, Klatsch, Beleidigung und Polizeiverfolgung behaupten.

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Die Sexualökonomie bekam solange keinen festen Boden unter die Füße, bis das allgemeine sexuelle Elend so groß geworden war, daß man es kaum noch übersehen konnte; bis die amerikanischen Musterungsbehörden jeden vierten oder fünften Mann wegen psychischer Störungen ablehnen mußten; bis in einer beginnenden sexuellen Revolution die Jugendlichen infolge ihrer brennenden sexuellen Frustration massenweise drogenabhängig wurden; bis das «Eheglück» das Gewissen aller Betroffenen ruiniert hatte und Gerichte und Zeitungen mit Fällen von Partnermord überschwemmt wurden.

Dieses Zeitalter war noch weit entfernt von einem Verständnis des engen Zusammenhangs zwischen «privatem» Elend und den großen Kriegen, den Massenmorden in Deutschland, Rußland und Korea. Aber die Sexuelle Revolution war in Gang gekommen. Deshalb war es auch möglich, daß die Sexualökonomie sich dem Los des Christusmordes bis jetzt entziehen konnte. Sie hatte außerdem durch die Entdeckung der Lebensenergie im Jahre 1936 eine mächtige Stütze erhalten, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf die biologische Natur des menschlichen Elends lenkte.

Die klare Unterscheidung der Sexualökonomie zwischen primären, natürlichen, und sekundären, perversen Trieben drückte sich äußerlich in einem Wechsel der Benennungen sexueller Dinge aus, was zusätzlich dazu beitrug, die Atmosphäre rein zu halten. Der Ausdruck «Verkehr» bedeutet heute für jedermann etwas Schmutziges; der Ausdruck genitale Umarmung unterscheidet den reinen vom schmutzigen Akt und soll dies auch weiterhin tun. Das Wort sex, mißbraucht und zu einem schrecklichen Alptraum verkommen, zum Reiben eines kalten Penis in einer trockenen Vagina, wurde völlig gestrichen. Die neuen Erkenntnisse über das Erstrahlen und Strömen des Lebens im Organismus während der Umarmung wurden unter dem Begriff orgonotisch zusammengefaßt, der bis jetzt noch nicht durch die zerstörerischen, grausamen Hände der Pest beschmutzt worden ist.

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Es können jedoch kaum Zweifel bestehen, daß die Pest früher oder später versuchen wird, sich auch an dieser reinen Funktion zu vergehen. Aber dieses Mal sind wir besser gerüstet, um mit dem Bösen fertig zu werden.

Es gibt natürlich nach wie vor Verleumdung, Diffamierung und eifriges Herumspionieren von pornographisch gesinnten Staatsbeamten, von frustrierten Frauen und schweinischen Männern. Aber in letzter Zeit erreichen sie weniger, weil wir gelernt haben, die Wahrheit als Waffe gegen die Pest zu gebrauchen; weil es möglich wurde, die Barrieren zu durchbrechen, die bis dahin den Träger der Pest vor jedem Angriff geschützt hatten. Die christlichen Prinzipien «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!» und «Vergib deinen Feinden!» — die übrigens auch in allen anderen großen Taten außerhalb der christlichen Kirche wirken und ihre Kraft aus ihrer Verbundenheit mit den Prinzipien von Leben, Tiefe und Wahrheit beziehen — zielen letztlich auf den Schutz von Christus, Gott, Liebe und Genitalität in den Neugeborenen. Es ist nicht mehr so leicht wie bisher, jene zu schützen, die Christus in Millionen von unschuldigen Kindern und Jugendlichen ermorden, indem sie sie den Qualen genitaler Frustration aussetzen.

Der Christusmörder ist erkannt; die Maske der Jovialität und Ehrenhaftigkeit ist ihm von seinem häßlichen Gesicht gerissen worden. Seine charakterliche Grundstruktur ist eine mörderische Mischung aus Frustration, Neid und Intoleranz dem lebendigen Leben gegenüber, aus Impulsen zum Durchbohren, zum Töten des Lebens und zum Besudeln alles Reinen und Freundlichen, aus verkniffenem Gesicht, versteiften Gliedern und einer Seele voll schmutziger Träume; diese Charakterstruktur wurde sorgfältig erforscht und entlarvt, damit sie weit und breit jedermann bekannt werde.

Das ist nur ein Anfang. Der Mord mag weiterhin geschehen, und es gibt noch viele Schlupfwinkel, die bis jetzt mit den Waffen der Vernunft und des Interesses am Schicksal ungeborener Generationen nicht zu erreichen sind.

Christusmorde werden mit Sicherheit weiterhin im Übermaß geschehen. Aber auf jeden Fall ist der Bann einmal gebrochen. Das ende des Christusmordens ist in greifbarer Nähe, nicht als Reich Gottes, nicht als Traum, sondern als entscheidende praktische Aufgabe für Generationen von Erziehern, Psychiatern, Ärzten und Verwaltern.

Es ist nicht mehr eine Sache der Verkündung irgendwelcher Wahrheiten, sondern es gilt, die Schlupfwinkel der Pest zu finden. Wird es der Pest wiederum gelingen, diese Arbeit in einen Alptraum menschlichen Leids zu verwandeln? Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich.

Wir wollen mehr darüber erfahren, indem wir eine der vielen Methoden näher betrachten, die die Pest viele Jahrhunderte nach dem eigentlichen Mord an Christus anwandte, um Christus erneut zu töten, diesmal in Form einer großen Naturphilosophie, die Ganzheit, Kontinuität und umfassende Belebtheit des Universums lehrte. Der Begründer dieser Naturphilosophie war Giordano Bruno, der somit einige orgo-nomische Grundgedanken vorweggenommen hatte.

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11  Mocenigo  

Der echte Killer  —  Mocenigos Methode  —  Beschuldigung des Opfers

 

DER CHRISTUSMORD AN GIORDANO BRUNO

Es gibt leere Seelen, die nach Erregung gleich welcher Art dürsten, um ihren öden Geist zu füllen. Also brüten sie Böses aus. Gewiß tun dies nicht alle von ihnen, aber einige tun es, und ihr Opfer ist höchst wahrscheinlich ein Giordano Bruno. Und Giordano Bruno ist deshalb als Opfer auserwählt, weil er Christus im Universum also Gottes Liebe in Begriffen der Astrophysik wiederentdeckt hat.

Bruno hatte im sechzehnten Jahrhundert allein durch Gedankenarbeit die Entdeckung der kosmischen Orgonenergie vorweg­genommen. Er hat die Beziehungen zwischen Körper und Geist, zwischen einzelnem Organismus und dessen Umgebung und die grundsätzliche Einheit in der Mannigfaltigkeit des unendlichen Universums entdeckt und in ein System gebracht. Alles existiert für sich als Einheit und ist doch integraler Bestandteil eines Ganzen. Deshalb existiert auch die individuelle Einheit oder Seele für sich selbst und ist gleichzeitig integraler Teil des Ganzen, das unendlich mannigfaltig und einheitlich zugleich ist. Bruno glaubte an eine universelle Seele, die die Welt belebt. Für ihn war diese Seele identisch mit Gott. Bruno war von Grund auf Funktionalist. Er kannte das Gesetz der gleichzeitigen funktionellen Identität und Gegensätzlichkeit, wenn auch nur in abstrakter Form.

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Er bewegte sich in dem Hauptstrom des menschlichen Denkens, der vierhundert Jahre später zur konkreten Formulierung der funktionellen orgonometrischen Gleichungen führte. Sein orgonotischer Sinn ließ ihn viele Eigenschaften der atmosphärischen Orgonenergie erkennen, die der Entdecker der Lebensenergie im zwanzigsten Jahrhundert sichtbar und für praktische, bioenergetische Zwecke nutzbar gemacht hat. Für Bruno hatten das Universum und alle seine Teile Eigenschaften, die identisch waren mit Leben. In seinem System gab es keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Individualismus und Universalismus, da das Individuum für ihn integraler Bestandteil eines allumfassenden Ganzen war, und nicht nur Nummer eines Teils in einer Summe von Teilen, wie in der mechanischen Mathematik. Die «Weltseele» wirkte in allem, als individuelle Seele und zugleich auch als integraler Bestandteil der universellen Seele. Diese Ansichten stimmen trotz der astrophysikalischen Formulierung mit dem modernen orgonomischen Funktionalismus überein.

Bruno hatte den Weg entdeckt, der zur Erkenntnis Gottes führt, und deshalb mußte er sterben. Und er ist einen langen, neun Jahre dauernden Tod gestorben, von 1591 bis 1600, bis er am frühen Morgen des 16. Februar von den Nachfolgern Christi unter Gebeten zum Scheiterhaufen geführt und den Flammen übergeben wurde, alles im Namen der Liebe des Schöpfers.

Obwohl die katholische Kirche infolge ihrer großen Macht über Millionen menschlicher Seelen die grausamen Praktiken der Eroberer von Weltreichen entwickelt hatte - sie hatte es hierin zu höchster Vollendung gebracht und u.a. auch die gefährlichen Sucher nach der Wirklichkeit der Welt Christi auf dem Scheiterhaufen verbrannt — wäre es doch falsch, diese teuflischen Methoden allein der Kirche anzulasten.

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Die Kirche ist für die Erfindung und Aufrechterhaltung der Methoden der emotionalen Pest nicht mehr verantwortlich, als Nero, Caligula, Dschingis-Khan oder — in moderner Zeit — Hitler oder Stalin. Die Pest hat ihre zügellose Böswilligkeit überall dort entwickelt, wo sich Führer der äußerst schwierigen Aufgabe gegenübersahen, die kranken, abgetöteten und grausamen Menschenmassen zusammenzuhalten. Eben weil Brunos Lehre in die richtige Richtung wies, trug sie zu viel verändernde Kraft in sich für eine Ordnung, die eine noch vor sich hindämmernde Masse von Menschentieren zusammenhielt — eine Masse, die in den nächsten drei Jahrhunderten ihre Träume zu erfüllen suchen und dabei die Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird. Hätte man zugelassen, daß die Entdeckung Gottes und seines Reiches zu praktischer Wirklichkeit geworden wäre — hätte man also die Menschen das, was die Kirche mystifiziert und in den unerreichbaren Himmel verlegt hat, mit Geist und Herz erfassen und in ihrem praktischen Leben Wirklichkeit werden lassen — so wäre bald eine allgemeine Katastrophe hereingebrochen. Dies ist die Tragödie aller Erkenntnis, die zur Unzeit in einer unvorbereiteten Welt auftaucht. Deshalb mußte Bruno Nolanus sterben.

Das Unheil geht nur selten von den höchsten Inquisitoren, den Staatsanwälten und den Hohenpriestern etablierter Glaubens­bekenntnisse aus. Es ist auch nicht die Masse passiver, leidender und träumender Menschen, die einen Bruno vor das Tribunal der Inquisition schleppt, ihn schon im voraus zum Tode verurteilt hat und dann dem Scheiterhaufen übergibt. Weder der Inquisitor noch die schlafenden Massen sind oder fühlen sich verantwortlich für den Tod eines Gelehrten. Die schlafenden Massen haben nicht die geringste Ahnung davon, welche Verbrechen um ihretwillen begangen werden, und der Inquisitor befolgt nur mechanisch und starr die festen Vorschriften bestimmter Gesetze: roboterhaft, ohne Gnade und ohne daß es ihm freistünde, anders zu handeln.

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Der echte Killer, der das häßliche Schauspiel in Gang setzt, ist gewöhnlich ein unauffälliger «aufrechter» Bürger, der überhaupt nichts zu tun hat mit dem Problem der schlafenden und träumenden Menschenmasse oder mit der schwerwiegenden administrativen Verantwortung der Inquisitoren und Richter. Der echte Killer ist der Bluthund, der den entflohenen Gefangenen aufspürt, nicht etwa, weil er ihn haßt oder weil er der Gerechtigkeit Genüge tun will oder weil er über das, was vorgeht, Bescheid weiß. Den echten Killer bestimmt ein ärgerlicher Zufall, ein Mißgeschick, das das Opfer aus heiterem Himmel trifft, wie eine verirrte Gewehrkugel, die ein Reh verfehlt und einen Wildhüter trifft, der zufällig gerade vorbeikommt.

Der echte Killer hat nicht die Absicht, diese bestimmte Person oder auch irgendjemand anderes zu töten. Das Opfer wird Beute des pestilenten Mörders aus Gründen, die mit seinem wirklichen Leben oder seinen Ansichten oder seiner Beziehung zu dem Mörder überhaupt nichts zu tun haben. Das Opfer hat lediglich das Pech, den Weg des Killers in einem bestimmten Moment zu kreuzen, einem Moment, der im Leben des Killers, nicht des Opfers, eine besondere Bedeutung hat. Ein Henker, der für das Töten bezahlt wird, haßt sein Opfer nicht, er hat es nicht ausgewählt und wünscht ihm nichts Böses. Der Henker tötet, weil er nun mal den Beruf des Tötens gewählt hat, ganz gleich, wer da zufällig unter seiner Axt, unter dem Fallbeil oder auf dem elektrischen Stuhl ist. Der Killer andererseits tötet, weil er töten muß. Das Opfer wird nur deshalb ein Opfer, weil es zufällig zu einem bestimmten günstigen Moment in der Nähe ist.

Der Killer von Giordano Bruno war zufällig ein venezianischer Edelmann mit dem völlig nebensächlichen Namen Giovanni Mocenigo. Dieser Name hat keinerlei Bedeutung. Niemand kannte ihn vor dem Mord, und niemand legte Wert darauf, ihn sich nach dem Mord zu merken.

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Er hätte genausogut Cocenigo oder Martenigo lauten können. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Mocenigo ist nichts weiter als eine riesengroße Null. Er weiß nichts, er tut nichts, er liebt nichts, er kümmert sich um nichts außer um seine totale Nichtigkeit. Er sitzt herum, läuft herum, nicht unbedingt immer in einem Palast, gewohnheitsmäßig Böses ausbrütend. Er produziert böse Pläne, so wie eine Henne Eier legt, eines nach dem anderen. Er ist zu gerissen, um Untaten wie ein einfacher dummdreister Verbrecher zu begehen. Er raubt keine Bank aus, um schnell und leicht zu Geld zu kommen und er fällt auch kein Mädchen aus sexueller Frustration nachts auf der Straße an. 

Der pestilente Killer hat nicht einmal einen triftigen Grund für seine Untat. Da er selbst keinen triftigen Grund hat, ein Verbrechen zu begehen, muß er in jemand anderem nach einem Grund zum Töten suchen. Die Öde seiner eigenen Seele und die Leere seines Geistes sind kein triftiger Grund zum Töten; warum sollte er jemanden umbringen, nur weil er selbst so leer wie eine Wüste ist? Daher heckt der pestilente Charakter einen raffinierten Grund aus, jemanden - ganz gleich wen - umzubringen. Um einen guten Grund für einen Mord zu liefern, muß das Opfer nur ein einziges Merkmal aufweisen: Es muß sich irgendwie von den schlafenden bzw. sitzenden Menschen unterscheiden und am besten eine Seele sein wie Christus, der die Ewigkeit kennt;

Der pestilente Killer zieht im Gegensatz zum «vernünftigen» Killer, der auf Geld oder Vergewaltigung aus ist, keinen Nutzen aus seinem Mord. Er mordet sein Opfer nur, weil er die Existenz einer Seele wie Bruno oder Christus, Ghandi oder Lincoln nicht ertragen kann. Er kann irgendein Mitglied einer Regierung oder einer Handelsgesellschaft, eines bakteriologischen Universitäts­instituts oder einer Krebsgesellschaft sein. Er kann jung oder alt, Mann oder Frau sein.

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Wesentlich ist nur eines: Er brütet aufgrund seiner frustrierten, auf grausame Art pervertierten genitalen Wünsche Böses aus und haßt die Liebe Gottes, die zu töten er im Namen Gottes oder Christi oder der nationalen Ehre entschlossen ist.

Dementsprechend schreibt Mocenigo, der leere, nichtige, venezianische Edelmann, zwei Briefe an Bruno, der damals in Frankfurt lebte. Er lädt den Gelehrten ein, ihn die «Kunst des Gedächtnisses und der Erfindung» zu lehren. 

Das bedeutet: Mocenigo weiß, daß Bruno in gänzlich anderer Hinsicht als er selbst sehr reich ist, und er plant, sein künftiges Opfer auszusaugen. Bruno glaubt an die Macht der Liebe, die alles mit allen vereint und Quelle alles Guten ist. Deshalb ist er von Mocenigo dazu ausersehen, getötet zu werden. Bruno glaubt fest an die große Liebe im Universum, die alle Menschen verbindet und das Gute im Menschen schafft, genauso wieJesus Christus an die Macht der Liebe als die große Macht im Reich Gottes glaubte. Und Bruno willigt ein, in das Haus seines Mörders überzusiedeln.

Von Bruno wird erwartet, daß er seinem Mörder Mocenigo die hohe Kunst des Denkens beibringt. Keinesfalls soll er seine Kenntnisse auch anderen vermitteln. Als Bruno den Wunsch äußert, nach Frankfurt zurückzukehren, um einige seiner Werke dort drucken zu lassen, widerspricht Mocenigo und droht Bruno mit der heiligen Inquisition. Natürlich hat Mocenigo — wie jeder Killer seiner Art — seine Beziehungen zur Inquisition. Und er wird sich dieser Beziehungen zum Schaden des reichen Gebers bedienen, falls dieser nicht bereit sein sollte, seinem Killer seine hohe Kunst des Denkens und des Gedächtnisses zu vermitteln. Mocenigo ist fest entschlossen, sich zu verschaffen, was er haben will, selbst um den Preis des Mordes. Natürlich kommt es einem Mocenigo nicht auf Wissen an. Er wüßte überhaupt nichts damit anzufangen, er wüßte nicht, wie er damit umgehen sollte, wie er es vergrößern oder anwenden sollte.

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Er kann nur dasitzen und aus toten Genitalien Unheil brüten. Es geht ihm überhaupt nicht um Wissen um des Wissens oder Lernens willen oder darum, Probleme aufzuspüren oder zu lösen. Er verlangt nur nach Wissen, so wie man einen schönen Wagen oder eine Musikbox haben will, um lustige Melodien zu spielen, oder ein Ruderboot, oder ein Mädchen aus einer bestimmten Bar, oder auch nur ein Fischgericht, um sich den Bauch vollzuschlagen. Daß man es bekommt, darauf kommt es an; und zwar von jemandem, der dafür gearbeitet und sich dabei abgemüht hat.

Mocenigo muß mit Wissen gefüllt werden, das er weder selbst erwerben noch dann verdauen kann, wenn er es von jemandem bekommt. Er kann es nicht ertragen, wenn ein anderer dieses Wissen oder die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, besitzt. Er kann es nicht ertragen, mit anzusehen, wie ein anderer — auch wenn er tausend Meilen von ihm entfernt lebt — sich wohlfühlt mit seinem Glauben an die Liebe und an eine universelle Seele; etwas, das vielleicht irgendwann einmal in ferner Zukunft die Menschen in Frieden miteinander verbinden könnte. Ob er nun Mocenigo oder Kaiphas oder Judas oder Saulus von Tarsus oder Stalin heißt, es ist und bleibt dieselbe alte Geschichte. Er kann es einfach nicht ertragen, es macht ihn grün vor Neid, es erfüllt ihn mit einem unerträglichen Verlangen nach etwas, zu dem er völlig unfähig ist; und deshalb liefert er Christus dem Kreuz und Bruno dem Scheiterhaufen aus, oder er läßt die wissenschaftliche Soziologie vor die Hunde gehen. Je näher das zukünftige Opfer mit seinem Wissen dem Reich Gottes ist, desto sicherer ist es, daß es vom pestilenten Charakter ermordet wird.

All dies spielt sich ab, ohne daß irgend jemand, auch nicht der Killer selbst, sich bewußt ist, was geschieht. Als Bruno auf seiner Abreise besteht, vielleicht weil er die Bösartigkeit seines Mörders ahnt, läßt Mocenigo ihn durch den «Arm des Gesetzes» bei Nacht aus dem Bett holen.

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Dann setzt wie eh und je die Maschinerie der organisierten emotionalen Pest ein, ein Mahlwerk, das nicht anhält, bevor das Opfer total zermalmt ist. Der Neid und die bösartigen Intrigen Mocenigos zählen nicht und erscheinen nicht einmal im Protokoll. Das wahre Motiv des Mordes wird nicht erwähnt und niemals vor Gericht zugegeben, weder 1592 noch 1952, weder in Italien noch in den USA noch in der UdSSR. Das wahre Motiv des feigen Mörders ist in allen Ländern der Erde kein Gegenstand der Ermittlungen, wenn es um einen Christusmord und nicht bloß um einen einfachen Routinemord geht. Die Juristenverbände aller Länder dulden nicht einmal die Diskussion der Motive derartiger Morde. Urteilende Richter und Henker werden nie bestraft, ganz gleich, wie unschuldig das Opfer ist. Wenn nach Jahrzehnten vielleicht einmal der Irrtum nicht länger zu verbergen ist, muß das Opfer, wenn es noch lebt, «Dankeschön» sagen; wenn es tot ist, kniet jemand an seinem Grab und betet. Aber keiner tut etwas gegen den wahren Killer.

Von nun an ist es völlig unwesentlich, was im Protokoll steht, ob es verboten ist, die Erde um die Sonne kreisen zu lassen oder an eine Weltseele oder an eine universelle Liebe zu glauben, ob jemand hier gelehrt oder dort gelehrt hat, ob er sein ganzes Leben lang anständig war und nur den Fehler beging, zufällig einem pestilenten Heckenschützen zu begegnen, der aus dem Hinterhalt schießt. Das alles spielt keine Rolle, denn das wahre Motiv ist der Christusmord — an einem Menschen, der die gefürchtete Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden tatsächlich herbeiführen könnte. Es ist unwesentlich, ob Christus sich tatsächlich zum König der Juden erklärt hat oder nicht. Es ist nur ein Vorwand, und jeder weiß das. Deshalb erwähnt es auch keiner, und niemand tut etwas dagegen. Das bestehende Gesetz ist gemacht, um das Himmelreich ewig zu suchen, aber nicht, um es auch zu finden. Es ist nicht auf Christus zugeschnitten, der das Reich Gottes kennt.

Nur Formalitäten zählen. Nach außen ist man fair und tut, als wolle man jede Möglichkeit eines Justizmordes ausschalten, aber nur, damit der Mord auf die «richtige, legale» Weise begangen werden kann. Niemand soll je einer Ungerechtigkeit beschuldigt werden können. Die weiße Weste muß rein bleiben. Jeder weiß, was geschehen ist, und keiner rührt einen Finger.

Viel später, wenn das Opfer längst tot ist, wenn seine Schreie zum Himmel, zu Gott, für immer verstummt sind, wenn der Mythos verflogen ist, «Gerechtigkeit habe geherrscht», dann graben die Historiker die Tatsachen aus, dann ist es ungefährlich. Und dann kann es vorkommen, daß ein Papst am Grabe eines Opfers niederkniet, um postum dessen Ehre wiederherzustellen. Dankeschön! hören wir das Opfer flüstern. Und Gott wendet sich wieder einmal ab von seinem gottähnlichen Geschöpf, dem Menschen, und schickt weiter seine Propheten, auf das sie in die endlose, leere Wüste predigen. Mocenigo ist vergessen. Niemand untersuchte seinen Fall, niemand hielt ihn auch nur für schuldig, wenn ihn auch einige verachtet haben dürften. Ja, viele werden sogar behaupten, daß Christus zu Recht gekreuzigt worden sei, weil er als gemeiner Aufrührer gegen die rechtmäßige Regierung gehandelt und unnötigerweise die Schriftgelehrten provoziert habe, und daß er besser still und ruhig dagesessen und die Seelen der Menschen unbehelligt gelassen hätte, damit sie immer und ewig hätten sitzen bleiben können. Und Bücher werden geschrieben und von den Massen gelesen werden, in denen steht, wie man der Wahrheit über den Mord an Christus aus dem Weg gehen und sich seinen Seelenfrieden bewahren kann. Nur niemals berühren!

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