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13. Die Jünger schlafen  

  14 Gethsemane 

 

227-243

Die Tragödie Christi ist deshalb so bewegend, weil sie die universelle Tragödie ist, die Tragödie des Menschen per se. Der Mensch ist gepanzert. Alles geht nur von außen nach innen, wenig oder nichts von innen nach außen. Der Mensch sitzt, weil seine Bewegungen schmerzhaft beschränkt sind. Wenn das Leben vorstürmt, geht er ein Stück mit, bleibt dann aber sitzen. Und er haßt das Leben, weil es vorstürmt und er zurückbleibt. Daraus entwickelt sich unweigerlich der Christusmord.

Der sitzende Mensch möchte nicht zurückgelassen werden. Er möchte geliebt, beschützt, umsorgt, gesichert und gewärmt werden. Er möchte von Christus soviel Trost und Hilfe wie möglich haben, und er ist bereit, mit Bewunderung dafür zu bezahlen. Wenn er einige oder alle diese Wohltaten nicht mehr bekommt, steigt die emotionale Pest in ihm hoch. Und nun wird er gerade den Geber verleumden: Nie wird er sich von dem ehemaligen Geber lösen können und auf eigenen Füßen stehen oder sich einem anderen zuwenden. Kein Haß ist stärker als der, der aus dieser Frustration entspringt.

Christus kennt seine kosmische Bedeutung. «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen ... Niemand kennt Tag und Stunde, nicht einmal die Engel im Himmel, nicht der Sohn, sondern nur der Vater ... Paß auf und sei wachsam, denn du weißt nicht, wann die Zeit kommen wird ... Sei wachsam, damit er nicht plötzlich kommt und dich schlafend findet. Und was ich dir sage, sage ich allen: Sei wachsam. »Sei wachsam, handle, ändere, ändere weiter, bewege dich weiter, gib weiter, liebe weiter, baue weiter!

Es ist völlig nutzlos. Christus hofft noch immer, daß sie verstehen. Sie verstehen nicht. Sie saugen sich mit seinen wärmenden Worten voll. Aber sie verstehen nicht, sie können nicht verstehen. «Wenn ich den Schäfer schlage, werden die Schafe auseinanderlaufen». Christus sagt ihnen, daß sie alle abfallen werden, wenn die schreckliche Stunde gekommen sein wird. Sie verstehen nicht. Jeder unter ihnen glaubt, alle anderen werden abfallen, nur er selbst nicht. Christus weiß es anders. Er weiß es, weil es in ihren Gesichtern geschrieben steht, weil es durch jede einzelne ihrer Bewegungen und Worte ausgedrückt wird. Indem er es fühlt, weiß er es. Und er liebt sie noch immer, denn er versteht. Es wäre besser für ihn, sie zu verfluchen, sie nicht mehr zu sehen, weil einer von ihnen ihn schon an seine Feinde verraten hat.

So ist das Leben: Es leidet weit mehr unter der Tat seines Mörders als unter seinem eigenen Tod. Es leidet mehr unter dem Prinzip des Verrats und der Verfolgung als unter den Folgen dieser Taten. Es leidet, weil von seiner, des Lebens, Warte aus gesehen Mord und Verrat unnötig sind, ein häßlicher, kratzender Ton in einer wunderschönen Sinfonie; wie das Zerschmettern des Kopfes eines Säuglings an der Mutterbrust mit dem Gewehrkolben eines rasenden Soldaten; wie das Töten der Väter und Mütter von kleinen Kindern, die dann kraftlos auf den Straßen zurückbleiben, ihre kleinen, erstarrten Herzen voller Trost­losig­keit.

Aber Jünger haben keine Herzen. Sie wollen vom Meister nur Inspiration und Wärme. In Gethsemane, kurz bevor er mitge­nommen wird, möchte Christus beten, und er bittet sie, etwas zurückzubleiben und auch zu beten.

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Nur drei von ihnen nimmt er noch ein Stück des Weges mit, läßt sie dann aber auch hinter sich und bittet sie, dort zu bleiben und zu beten. Seine Qualen brechen ihm das Herz, er ist in schwerer Not und Bedrängnis. Er sinkt zu Boden und betet, ein Kind des großen himmlischen Reiches wie andere Kinder des Himmels auch, die in vielen Ländern zu allen Zeiten in allen Staaten zu Boden sinken und beten. Ihre Väter und Mütter wurden durch die emotionale Pest, die Kriege führt und Seuchen verbreitet, hinweggerafft, und keiner wird, keiner kann etwas dagegen tun. Schon lange sind alle Herzen abgestorben, und aus den meisten ist der Wille längst entschwunden. Das Leben wurde aus ihrem Blut gezogen. Sie können nichts dafür, daß sie sitzen oder schlafen. Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Christus bittet sie: «Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet!» Demütig betet er zu seinem Vater, auf daß diese Stunde an ihm vorübergehe und der Kelch der letzten Agonie ihm erspart bleiben möge. Wenn das jedoch nicht geht, ist er bereit, alles bis zum Ende durchzustehen, in äußerster Unterwerfung unter den Willen Gottes.

Als das Leben nach durchlittenen Qualen zu seinen Kindern zurückkehrt, findet es sie schlafend. Nicht ein einziger von ihnen, die ihn bewundern und seine Liebe empfangen, ist wach. Sie machen sich keine Sorgen; sie haben keine Herzen, nur entleerte Seelen, die durch ständiges Auffüllen mit dem himmlischen Saft des Lebens am Leben erhalten werden sollen. Alles ist ziemlich klar. Es kann nicht anders sein. Für eine lange Zeit bevorstehender Qualen muß es so sein und wird es so bleiben wie es ist. Das ist so, weil die Seele eines jeden Neugeborenen schon im Mutterleib getötet wurde. Deshalb kann es nicht anders sein, wie aufrichtig es auch versucht werden mag.

Das Evangelium wiederholt mehrere Male die Geschichte der schlafenden, fliehenden und verratenden Jünger.

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Und Jesus sprach zu ihm:
Wahrlich, ich sage dir:
Heute, in dieser Nacht,
ehe denn der Hahn zweimal kräht,
wirst du mich dreimal verleugnen.
(Markus 14, 30)

Und kam und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Simon, schläfst du?
Vermochtest du nicht eine Stunde zu wachen?
Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet!
Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Und er ging wieder hin und betete und sprach dieselben Worte
und kam wieder und fand sie abermals schlafend;
denn ihre Augen waren voll Schlafs,
und sie wußten nicht, was sie ihm antworten sollten.
Und er kam zum dritten Mal und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen?
Es ist genug; die Stunde ist gekommen.
Siehe, des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände.
Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe.
(Markus 14, 37-42)

Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ihr seid ausgegangen
wie gegen einen Mörder mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen.
Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt,
und ihr habt mich nicht gegriffen.
Aber es muß die Schrift erfüllt werden!
Da verließen ihn alle und flohen. 
(Markus 14, 48-50)

 

Auf ihre einfache Art versucht diese Geschichte uns etwas Entscheidendes einzuprägen, etwas äußerst Wichtiges, das jeden von uns überall und immer angeht.
Sie sagt: Sei auf der Hut, du Mensch, der du das lebendige Leben schützest. Du wirst dazu verführt werden, die zerstörten Menschen einer Freiheit entgegen zu führen, die sie niemals würden ertragen können.

Du wirst dazu verführt werden, ihnen alles zu geben und wirst von ihnen nur leere Bewunderung zurückbekommen.

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Sie kriegen nie genug und müssen ständig aufgefüllt werden. Von ihnen kommt nichts Angenehmes zurück zum Geber; es fließt alles aus ihnen wieder heraus und versickert nutzlos im Sand.

Du wirst glauben, daß sie auch meinen, was sie sagen. Das tun sie nicht. Sie reden dir nur nach dem Munde, um von dir mehr vom Saft des Lebens zu bekommen.

Eine Zeit lang werden sie dir folgen. Früher oder später werden sie dann aber anfangen, heimlich über dich zu schmunzeln und zu sagen, wie herrlich verrückt du doch seist mit deiner großen Begeisterung, wie unrealistisch deine Überzeugung sei, die große Hoffnung könne verwirklicht werden. Sie meinen, sie könne nicht verwirklicht werden. Sie wissen es, und sie haben Recht. Für sie bist du ein Träumer, ein Phantast, etwas sonderbar, seltsam durcheinander, ein bißchen verrückt. Aus ihrer Sicht haben sie Recht. Aber du hast von deinem Standpunkt aus recht. Die Kluft zwischen dir und ihnen ist tief und unüberbrückbar.

Sie bleiben auf der Stelle sitzen und ziehen dich hinunter, damit auch du mit ihnen sitzt. Du gibst ihnen eine Zeit lang nach, weil du sie liebst, und gibst ihnen weiterhin den Lebenssaft, den sie aus sich selbst heraus nicht bekommen können. Du glaubst, sie werden sich nach einer Zeit des Ausruhens bald selbst bewegen und dir folgen. Sie tun es nicht. Sie bleiben sitzen, und sie hassen dich dafür, daß du allein voranschreitest. Sie wollen deine Kraft und nicht deine Sorgen; auch nicht mit dir in Bereiche vorstoßen, die noch dunkel und gefährlich sind und voller unberechenbarer Ereignisse. Und schließlich, nachdem sie ihr Ich mit allem, was sie brauchen, gefüllt haben, aber weiterhin auf der Stelle sitzen bleiben, fangen sie langsam an, dich zu hassen, dafür, daß du sie in ihrer Selbstzufriedenheit gestört hast.

Letztendlich kommt es soweit, daß einige von ihnen dich deinen Feinden ausliefern. Das ist unausweichlich so, mit der perfekten Logik des Bösen. Du verwickelst dich immer mehr und gehst schließlich unter.

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Wenn sie dich nicht physisch umbringen oder dich zu diesem Zwecke nicht denen ausliefern, die auch ihre eigenen Feinde sind, beschmutzen sie deinen Namen oder zerstören deine Ideen; Ideen, die du unter Schmerzen und mit viel Leid hervorgebracht hast, und von denen sie nichts verstehen. Sie zerstören sie mit vielen verwirrenden Worten und mit nichtssagenden, gelehrten Spitzfindigkeiten.

Wenn sie deine Ideen nicht auslöschen, ziehen sie sie in einen talmudischen Dreck. Gib ihnen keine Schuld dafür, denn sie können nichts dafür, sie können nicht anders handeln. Aber werde nicht selbst so wie sie. Gib nicht den Versuchungen nach, wenn sie dich bewundern. Denn das bedeutet überhaupt nichts. Sie bewundern dich, um deine Lebenskraft zu bekommen.

Hab' kein Mitleid mit ihnen. Letzten Endes würde das ihnen nicht helfen, deiner Sache aber schaden, und damit auch vielen, vielen Ungeborenen, für die deine Sache so wichtig ist. Dein Mitleid würde die Menschen nur noch hilfloser und abhängiger machen.

Arbeite mit ihnen als Helfer zusammen und sage ihnen, daß du das tust, um einer guten Sache zu dienen. Sie werden dir dankbar sein, wenn sie für eine Sache Opfer bringen dürfen.

Bleib allein, bleib du selbst. Deine Seele wird weniger belastet sein. Und laß sie unter sich. Letztlich werden sie dir dankbar sein. Und ganz wenige werden ihren Weg dahin finden, wo du bist und werden zu verstehen anfangen.

Am Anfang wird die Einsamkeit dir unerträglich erscheinen, weil du Menschen liebst, Freundschaften liebst und weil du ein Mensch bist wie sie ihnen gleich trotz der gewaltigen Kluft zwischen ihnen und dir. Aber du mußt deine Einsamkeit als einen nicht vermeidbaren Zustand deines Lebens akzeptieren. Es gibt keine Alternative zur Einsamkeit, solange die Menschen innerlich leer sind und nicht wissen, was die Liebe des Körpers ist.

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Erlöse die Menschen nicht. Deine Bewunderer werden dich dazu verrühren wollen, die Menschen zu erlösen. Lass die Menschen sich selbst erlösen. Das ist der einzige Weg zur Erlösung, zu einer wahren, echten und gesunden Erlösung. Das Leben hat genug Kraft, sich selbst zu erlösen. Leb' du dein eigenes Leben ihnen voran.

Schreibe nicht für die Menschen, sondern über wichtige Dinge des Lebens. Sprich nicht zu den Menschen, um ihren Beifall zu bekommen, sondern sprich über die Menschen, um die Atmosphäre von der drückenden emotionalen Leere zu befreien.

Laß deine Worte und Gedanken hinaus in die weite Welt strömen, und überlaß es der Welt, was sie damit anfängt, ob sie sie aufnimmt oder nicht. Die bösen Früchte der Entstellung werden ihnen genauso gehören wie das Gute, das in deinen Ideen sein mag.

Und dann, du Christus der Liebe und des Lebens, schau einmal tief in deine eigene Seele hinein und prüf deine eigenen Gefühle. Hast du nicht auch Angst gehabt vor der dir auferlegten Aufgabe? War dir das einsame und verlassene Leben selbst vor dem Verrat des Judas nicht äußerst unangenehm? Hast du dich ihnen nicht angeschlossen und bist mit ihnen über Land gezogen, weil du Angst vor dem Alleinsein hattest? Auch du brauchtest sie aus vielen Gründen: um zu ihnen zu sprechen, um die Wirkung deiner Worte auf das Denken deiner Mitmenschen zu erfahren, um zu hören, welches Echo deine Worte auslösen; um das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen deiner Freunde zu sehen, wenn du ihnen von deinen Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen erzählst; um den Boden zu prüfen, auf den deine Saat einmal fallen wird; um zu sehen, ob sie Früchte tragen und deine Werte vermehren wird.

Es war dein Fehler, wenn du das Leuchten in den Augen deiner Freunde für ein Zeichen tiergehender Erkenntnis einer Welt der Freude und des Friedens hieltest. Es war dein Fehler, die Rolle des Erlösers der Menschheit anzunehmen. Zwar bekamen sie deine Hoffnung von dir und zehrten Jahrhunderte davon, aber dein höchstes Opfer war vergeblich. Es half nichts, sondern verlängerte ihren Schlaf. Es rüttelte sie nicht zu Taten auf, die ihre Seelen in Bewegung hätten bringen können. Sie haben keine Seelen. Was sie wollen, ist einzig Trost, aber was sie brauchen, ist eine völlige Erneuerung, und zwar nicht im Himmel, sondern auf der Erde. Jedes Neugeborene bringt dein göttliches Leben wieder auf diese Welt zurück. Hier ist das Reich deiner Ewigkeit. Die Qualen, die du erlitten hast, haben hier ihre universelle Bedeutung erwiesen, jenseits des Menschen, der Engel und sogar jenseits von Gottes Sohn: Die Sprache des göttlichen Lebens zu lernen, um dem Christusmord ein Ende zu bereiten. Nur der göttliche Vater, das Leben in deinem Körper, weiß, wann dein Opfer einen Sinn hat.

233-234

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14. Gethsemane

 

 

Wenn die emotionale Pest zuschlägt, dann schlägt sie schnell und fest zu. Sie schlägt gnadenlos zu, kümmert sich nicht um Wahrheiten, Tatsachen oder sonst etwas, und hat nur ein Ziel: das Opfer zu töten.

Es gibt Staatsanwälte, die wirkliche Anwälte sind und alles tun, um tatsächlich die Wahrheit zu finden. Es gibt aber auch Staatsanwälte, die bei ihren Ermittlungen nur das eine Ziel haben, das Opfer zu vernichten, egal ob mit oder ohne Beweismaterial, ob mit oder ohne Recht. Und das ist der Christusmord heute, genau wie vor zweitausend oder viertausend Jahren.

Wenn die emotionale Pest zuschlägt, ist ihr Opfer den Blicken und der Begutachtung aller Leute ausgesetzt; alle Anschuldigungen werden für jedermann sichtbar vorgebracht. Das Opfer steht nackt vor seinen Richtern, wie ein Reh auf einer Waldlichtung, um von einem im Wald lauernden Jäger abgeschossen zu werden. Der wirkliche Ankläger erscheint kaum in der Öffentlichkeit, seine Identität wird bis kurz vor dem letzten Schlag geheim gehalten. Ein Gesetz, das den Schützen aus dem Hinterhalt bestraft, gibt es nicht. Die Situation des Opfers der emotionalen Pest ist immer die gleiche, mag sie auch diese oder jene Form annehmen: Es Wald, ist für jeden klar sichtbar und wird von allen Seiten aus dem Wald beschossen.

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Wenn die emotionale Pest zuschlägt, weicht die Gerechtigkeit unter Tränen zurück. In den Rechtsbüchern aus alter Zeit gibt es nichts, was es wert wäre, noch heute zu gelten. Die Todesstrafe ist vollstreckt, bevor das Verbrechen aufgeklärt wurde. Das wirkliche Motiv für die Strafverfolgung kommt nie ans Tageslicht. Der Grund für den Mord bleibt vor jedermann gut verborgen, sozusagen im Dickicht des Waldes.

Wenn der Ankläger wichtiger ist als der Angeklagte, die Anklage wichtiger als die Verteidigung und der Buchstabe des Gesetzes wichtiger als der wahre Grund für die Anklage, dann hat man es mit einem Mord durch die emotionale Pest zu tun.

Wenn die Pest tötet, tötet sie aus niedrigen Motiven. Um dennoch den Mord sicherzustellen, läßt sie es nicht zu, daß Anklage und die ganze, wirkliche Person des Opfers gegeneinander aufgewogen werden. Sie zieht die Ehre des Opfers in den Dreck und beschmutzt jedes Anzeichen von Unschuldigkeit in Absicht oder Tat; sie bauscht harmlose Einzelheiten in einer tendenziösen und voreingenommenen Weise auf, um auch noch die letzten Reste von Liebe oder Wertschätzung für das Opfer in den Herzen seiner besten Freunde zu zerstören.

Wenn man den giftigen, mörderischen Tonfall des Verfolgers hört, dann weiß man, daß wieder ein Christusmord begangen werden wird.

Wer auf dieser Welt hat noch nie davon geträumt, einen König abzusetzen, eine verbotene Liebe auszuleben oder Gott für ein erlittenes Unrecht zu verfluchen; oder wer hat niemals seine Genitalien berührt oder an «Ehebruch» gedacht oder in seinen Träumen die Tempel der ganzen Welt mitsamt ihren Kaisern, Königen, Herzögen, Führern und gottgesandten Befreiern zusammen­stürzen sehen? Es gibt niemanden, der das alles nicht getan hat, es sei denn, er ist der Inbegriff des Spießers, erzeugt, um gedankenlose Folgsamkeit und tödlichen Konformismus zum Ideal einer erbärmlichen Nation zu machen.

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Das Opfer der Pest hat all dies getan, so oder so, früher oder später, mit oder ohne wirkliche Absicht, den Traum in die Tat umzusetzen. Und das in Verbindung mit der Entfernung des Rechts aus dem Rechtswesen macht das Opfer sprach- und hilflos.

Wenn man im gütigen Gesicht des Opfers traurige, hilflose Augen sieht, kann man gewiß sein, daß gerade ein weiterer Christusmord begangen wird.

Wirkliches Recht, das von den Gesetzen des Lebens und der Wahrheit geleitet wird, zieht die Ehre des Opfers nicht in den Dreck. Es versucht zuerst einmal zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, daß ein Gotteskind (und alle Menschen sind Kinder Gottes) sich in diese unangenehme Situation gebracht hat, vor ein Gericht gestellt zu werden. Wirkliches Recht wird die besonderen Lebensumstände herausfinden, unter denen jeder Mann und jede Frau ein bestehendes Gesetz verletzt hätten.

Wirkliches Recht wird sogar das Gesetz beurteilen, das es anwenden will. Ist es in diesem Fall anwendbar? Wie alt ist das Gesetz? Wann und unter welchen Umständen wurde es gemacht? Sind die Umstände, die ein solches Gesetz hervorbrachten, noch vorhanden? Gab es zu der Zeit, als das Gesetz gemacht wurde, besondere Gründe, die heute nicht mehr existieren?

Wenn man ein Gericht vor sich hat, das das Gesetz, das in einem lebendigen Fall menschlichen Schicksals angewendet werden soll, nicht selbst prüft und beurteilt, und das nicht fragt nach dessen Entstehungsgeschichte, seiner Funktion, seinem Urheber, den Gründen für seine Anwendung zu Zeiten, als es neu war, dann hat man es mit einem potentiellen oder tatsächlichen Werkzeug der Pest zu tun, darauf aus, einen weiteren Christusmord zu begehen.

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Sagen wir, ein Gesetz wurde vor zweihundert Jahren erlassen, zu einer Zeit, als noch niemand etwas von Gottes Liebe im Kind und im Heranwachsenden wußte. Dieses Gesetz machte die Liebe zum Verbrechen für den, der ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht hatte. Wenn nun zweihundert Jahre später, wo solches Wissen weit verbreitet ist und zum Allgemeingut der Menschheit gehört, ein Richter es ablehnt, dies in sein Urteil mit einzubeziehen, so hat man es mit einem Gesetz zu tun, das den Christusmord durch die emotionale Pest absichern soll. Und das wahrhaft Kriminelle liegt nicht im Opfer begründet, sondern im Gesetz selbst, das nicht den Veränderungen im lebendigen Leben angepaßt wurde.

Wenn man ein Gesetz vor sich hat, das vor sechstausend Jahren erlassen wurde, muß man bei dessen Anwendung sechs­tausend­mal vorsichtiger sein. Wie sonst sollte jemals wahre Gerechtigkeit geübt werden? Solche Gesetze sind die mächtigsten Werkzeuge in den Händen böser Menschen, die sie gegen Christus anwenden, der Liebe, Wahrheit und Vorwärts­entwicklung mit dem übrigen Reich Gottes verkörpert.

Hier liegen die Ursachen verankert, die den Menschen in Unfreiheit halten; die Menschen schaffen selbst die Diktatoren, weil sie Angst davor haben, das laut zu sagen, was sie tief in ihrem Innersten sehr wohl wissen.

Wenn man jemanden von Fortschritt und Freiheit, Glück und Frieden und Brüderlichkeit reden hört, und er nicht sagt, welches Gesetz bleiben soll und welches weg muß, so ist er ein Heuchler und sagt überhaupt nichts. Er ist nur aus auf Stimmen, Reichtümer, Macht oder einen Sitz in diesem oder jenem Gremium, oder er will weitere Christusmorde sichern. Christus versteckt sich nicht vor Gesetz und Ankläger, so wie die Ankläger, die ihre wahren Motive für das Töten verbergen, und wie das uralte Gesetz, das seine tatsächliche Bedeutung vor Christus verbirgt.

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Er versucht nicht, zu fliehen. Wohin sollte er auch fliehen? Warum sollte er fliehen? Er würde seine Lebensart immer beibehalten und an jedem Ort der Erde das gleiche Schicksal erleiden. Deshalb versteckt er sich weder, noch flieht er, noch macht er irgendwelche geheimen Pläne. Er hat überhaupt nichts zu verstecken. Wenn er seinen Schülern sagt, sie sollten nicht über seine Heilkräfte sprechen, so verheimlicht er nichts, sondern versucht nur, ihre übersteigerten Wünsche nach Wundern zu bändigen.

Christus weiß, daß die Soldaten kommen und ihn abführen werden. Er erwartet sie und trifft sie. Und das Leben weiß so genau, wie die Pest arbeitet, daß es zu den Soldaten sagt:

Und Jesus antwortet und sprach zu ihnen:
Ihr seid ausgegangen wie gegen einen Mörder
mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen.
Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt,
und ihr habt mich nicht gegriffen.
Aber es muß die Schrift erfüllt werden:
(Markus 14, 48.49)

Zweitausend Jahre später wird der Entdecker der Lebensenergie festgenommen, damit die Polizei seine Tätigkeiten überprüfen kann, um herauszufinden, ob er Spion dieses oder jenes Landes sei. Sie hätten ihn einfach gefragt haben können, weil er über­haupt nichts zu verbergen hatte und ihnen gerne gesagt hätte, was er macht. So aber schlichen sie selbst wie Diebe herum und fragten die Nachbarn, die kaum etwas wußten, um herauszufinden, was er tut. Sie mieden die reine Luft seines Labors. Und neun Jahre später wußten sie noch immer nicht, was er tut, obwohl er inzwischen tausende von Seiten geschrieben und veröffentlicht hatte. Sie wußten nichts, weil sie nicht in der Lage waren, zu begreifen. Sie hatten keine Organe dafür, um etwas über das Leben zu erkennen.

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Und deshalb schlichen sie herum wie Diebe in der Nacht, um zu erspähen, was sauber und klar in vollem Tageslicht zu sehen gewesen wäre. Sie lagen versteckt im Gebüsch und hatten die Gewehrläufe auf ihn gerichtet, während er für alle sichtbar auf der Wiese stand. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Pest arbeitet, denkt und funktioniert.

Christus ist das Leben. Und man war rücksichtslos gegen ihn, so wie man es gegen das Leben schon lange vor und noch lange nach seiner Kreuzigung war und es noch heute ist. Und alle seine Bewunderer flohen und verließen ihn, als er gefangengenommen wurde, genau wie sie immer wieder in Schlaf verfielen, bevor er gefangen wurde und während er in höchster Verzweiflung die Agonie des Unschuldigen durchlitt.

Und sogar sein Gott schien ihn verlassen zu haben. Aber das Leben in ihm hatte ihn nicht verlassen. Das Leben in ihm funktionierte weiter bis zum letzten Atemzug. Und das war so, weil Gott das Leben ist, im Innern und außen. Gott gab ihn ganz und gar nicht auf, es sei denn, in der Phantasie der irregeleiteten Menschen, die aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Das Leben hatte gewußt, wer es seinen Feinden ausliefern würde. Es hatte es schon lange gewußt. Es sah den Verräter, wie er zu ihm hochstieg, es auf die Wange küßte und «Meister» zu ihm sagte. Und das ist wiederum die Pest. Die Geschichte Christi hat die Menschheit tief berührt und zu Tränen, Jammer und großer Kunst bewegt, weil sie die eigene, tragische Geschichte der Mensch­heit ist. Jeder Mensch ist ein Christus und Opfer der Pest. Die Menschen sind hilflos vor ihren eigenen Gerichten, fliehende Jünger und schlafende Bewunderer; sie sind Judasse, die dem Meister den Todeskuß geben und Marias, die Christus eine verbotene, göttliche Liebe geben; sie sind abgestorbene Körper, die die Schön-

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heit Gottes in ihren erstarrten Gliedern vergeblich suchen, aber niemals aufhören, seine Existenz in sich und außerhalb zu fühlen. Trotz aller Panzerung, Sünde, Haß und Perversion sind auch die Menschen im Grunde Lebewesen, die nicht anders können, als die Lebenskraft in sich und außerhalb zu fühlen.

Christus ist das Leben, das durch die Hände eines pervertierten Lebens seit vielen Jahrtausenden immer wieder unschuldig sterben muß. Dieses pervertierte Leben hat die Verbindung zu seiner ursprünglichen, göttlichen Natur verloren und konnte sie bis jetzt nicht wieder herstellen. Deshalb schützt es die uralten Gesetze mit mörderisch glühenden Augen und ist bereit, jeden zu töten, der Gottes Leben lebt. Christus ist das Baby, das in seinem Bettchen festgebunden ist, das mit schädlichen Medikamenten vollgestopft wird, bis es bricht, das nicht weiß, warum alles so schrecklich schmerzhaft ist und sich langsam in ein Dasein eines lebenden Todes hineinergibt, selbst langsam zu einem Christusmörder heranwächst.

Christus ist das vierjährige Kind, das nachts verzweifelt in seinem Bett liegt und fühlt, wie Gott sich in seinem kleinen Körper regt, und das schreckliche Angst hat, daß Mutter und Vater hereinkommen und es schimpfen und schlagen, weil seine Hände nicht oben auf der Bettdecke liegen.

Christus ist der Alptraum, der durch die Unterdrückung Gottes in den gottgeschaffenen Genitalien der Babys und Kinder in der ersten Pubertät erzeugt wird. Aus dieser Unterdrückung entstehen dann all die Ängste der Kinder:  vor Geistern und vor Räubern mit Messern, vor dunklen Schatten am Fenster und vor Kraken mit langen Fangarmen, vor Teufeln mit glühenden Forken und vor einem Höllenfeuer, das die arme, kleine Seele verschlingen will, die nicht mehr ein noch aus weiß zwischen der Regung Gottes in seinem Körper und den Eltern, die es als Vertreter Gottes dafür strafen, daß es Gott in seinen Gliedern spürt. Hier ist die Quelle aller Sünden, die in Dantes Inferno bestraft werden, hier in diesem von Menschen gemachten, wahnwitzigen Alptraum.

Und die Judasse, das sind die Erzieher und die Mentalhygieniker, die Ärzte und die Priester, die den Zugang zur Erkenntnis Gottes mit drohenden Worten und flammenden Schwertern bewachen. 

Hast du jemals daran gedacht, welch eine Unzahl von kleinen Kindern auf dieser Erde über die Jahrtausende hinweg die Qualen Christi von Gethsemane und Golgatha durchgemacht haben? Hast du mal daran gedacht? Du hast es nicht getan. Du warst immer «umgänglich» und «nett zu deinen Nachbarn» und «hast deine Feinde wie dich selbst geliebt». Und du hast Gebete für die Erlösung deiner Seele zum Himmel geschickt und vor vielerlei Altären gekniet, damit dir deine Sünden vergeben werden sollten. Aber nie und nimmer hast du an die unzähligen Babys und Kinder gedacht, die den frischen Lebenssaft Gottes aus dem endlosen Universum in diese deine elende Welt mitbringen und die du bis zum heutigen Tage immer nur verstümmelt, bestraft und in Angst und Schrecken versetzt hast, weil sie Gott erkannten und das Leben Christi leben wollten. Und jeden Eingang zu den Häusern des Wissens bewachst du gut gegen jedes Eindringen der Wahrheit über die unzähligen Christusmorde, die du und die von dir Beauftragten im Namen Gottes begangen haben.

Du Verteidiger der Ehre Gottes, der du jetzt in einem abgedunkelten Raum irgendwo sitzt, denkst du nicht gerade jetzt daran, wie du wohl den Schreiber solcher «Blasphemien» packen könntest, ihn teeren und federn und dann in Brand setzen könntest, damit er unter Qualen schreiend durch die Straßen läuft und eine Warnung für jeden guten Staatsbürger ist? Genau das denkst du jetzt. Aber die Zeit ist gegen dich.

Einige wohlbeschützte Tore an den Eingängen zu einigen Palästen des Wissens sind durchbrochen worden, und wir bekommen gerade eine Ahnung von dem Ausmaß dessen, was über so schrecklich lange Zeiten hinweg an so unendlich vielen unschuldigen, kleinen Christussen, Kindern des Lebens und Kinder Gottes, begangen worden ist. Die Erkenntnis, daß die Liebe in deinem Körper, die du verfolgst, mit Gott identisch ist, wird die Wachen am Eingang zum Paradies überwältigen, die Wachen, die du selbst in deinen Träumen und durch deine lebensfeindlichen Aktivitäten errichtet hast.

Jahrhundertelang hast du über das Rätsel der Ermordung Christi gebrütet, und du bist schuld, wenn die Lösung des Rätsels dich als den einzigen und tatsächlichen Christusmörder bloßstellt. Du hast das lange und gut verborgen gehalten. 

Aber damit ist jetzt bald Schluß.

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  Wilhelm Reich 1953