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15. Die Geißelung    

 

Wilhelm Reich 1953

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Die Hohenpriester, an der Spitze Hanaan und Kaiphas, sind nur ausführende Organe einer gesellschaftl­ichen Situation, an deren Wurzeln schon lange das Böse nagt. Nicht die Hohenpriester hatten den verkommenen, «sündigen» Zustand der Menschheit herbeigeführt, der förmlich nach Propheten und Erlösern schrie; die Hohenpriester verwalteten nur den Status quo, der von den Menschen selbst geschaffen worden war. Der Verwalter ist immer nur Vollstrecker des allgemeinen Willens, ganz egal, was in dieser Hinsicht gesagt wird oder was als gegenteilig erscheinen mag.

Und der allgemeine Wille kann sich sowohl in Gleich­gültigkeit gegenüber ständig praktizierter Ungerechtigkeit als auch in einem aktiven Aufstand gegen oder in tätlicher Unterstützung der Mißstände äußern. In gesellschaftlichen Angelegenheiten gibt es nichts, was auf Dauer gegen die Mehrheit bestehen kann, sei diese nun passiv oder aktiv, gutwillig oder bösartig. Das gesellschaftliche Übel einer einzigen Person oder Kaste anzulasten hieße, die Menschenmassen als völlig indifferent anzusehen.

Es waren nicht Kaiphas oder Hanaan, die falsche Aussagen machten; es waren Leute aus dem Volk. Es waren nicht Kaiphas oder Hanaan, die Christus vor der Kreuzigung geißelten; es waren Leute aus dem Volk. Sie haben nur nicht eingegriffen und den Leuten freien Lauf gelassen.

Gerade die Tatsache, daß die entscheidende Rolle, die das Volk für den Verlauf der sozialen Ereignisse spielt, nirgendwo erwähnt wird, deutet ganz klar auf die Ursache des Übels: Niemand wagt es, die brennenden Probleme des Elends der Menschheit an ihren gesellschaftlichen Wurzeln zu packen.  

Wenn man weiterhin vermeidet, den Menschenmassen die Verantwortung für das soziale Elend und ihre eigene Misere aufzubürden, behindert man damit genau das, was zu fördern man vorgibt. Es war das Volk, das Christus in die Rolle des Messias drängte; es war das Volk, das von ihm Wunder erwartete; es war das Volk, das ihn nach Jerusalem brachte und das ihn im Stich ließ, als er in Schwierigkeiten geriet. Es war der einfache Durch­schnittsmensch, der all das tat und noch die falsche Aussage und die Geißelung hinzufügte, und der heute noch immer eifrig all das und ähnliches tut.

Von dieser Erkenntnis gibt es kein Zurück, und wenn ihr weiterhin ausgewichen wird, verlängert das nur das Elend. Es wäre nach Manier des Politikers, der den Menschen einredet, sie regieren, wenn sie zur Wahl gehen.

Die volle Wahrheit darüber zu erfahren, wie das breite Volk lebt und handelt, ist die allerwichtigste Forderung der Zeit, immer und in jeder Gesellschaft.

Um zu wiederholen: Die Kreuzigung Christi war letzte Konsequenz ganz allgemein menschlichen Handelns und nicht die Tat irgendeines Hohenpriesters oder Statthalters. Sie war Ergebnis menschlichen Handelns, vom Ernennen zum Messias bis zum letzten Atemzug.

Die Kreuzigung war auch nicht etwa typisch für das jüdische Volk oder dessen Priester. Die Kreuzigung Christi geschah und geschieht noch laufend in vielen Ländern. Sie ist allgemein menschlich und nicht typisch jüdisch. Der Tod Christi vereinigte nur in besonders deutlicher Weise all das auf sich, was anderswo auf andere Art und mit geringerer Eindringlichkeit geschah und geschieht oder was im Durcheinander der Geschichte unterging und nie das Interesse eines Schriftstellers oder Historikers erregte.

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Die Leiden der Neugeborenen und kleinen Kinder durch alle Zeiten hindurch wiegen weitaus schwerer — sie wurden aber nie gehört, und kein Historiker hielt sie fest. Und doch ist es wieder das Volk im Großen und Ganzen, das für das Schweigen, das um dieses große Elend herrscht, verantwortlich ist.

NUR NIEMALS BERÜHREN!
Nur wenn eine Metzelei das Ausmaß eines öffentlichen Skandals angenommen hat, wenn sie genügend Blut fordert, dann erwacht die Öffentlichkeit, und das Ereignis wird registriert.

Der Versuch der Hohenpriester, Aufsehen zu vermeiden, indem sie ihn in seinem «Versteck» festnehmen ließen und nicht im Tempel, den er während seines Aufenthaltes in Jerusalem jeden Tag besuchte, scheiterte völlig. Er scheiterte nicht, weil sie den Justizmord etwa nicht sorgfältig genug vorbereitet hätten, er scheiterte am Verhalten Christi. Nur dieses Verhalten war es, das das Aufsehen und alles, was dann folgte, verursacht hat. Wäre er geflohen oder hätte er der Festnahme Widerstand entgegen­gebracht, hätte er große Reden über seinen Glauben und seinen Gott gehalten oder hätte er vor Schmerzen geschrien, gäbe es heute das Christentum nicht.

Das Verhalten Christi während der Peinigungen ist weder aus den vier Evangelien noch aus irgendeiner späteren Darstellung klar zu entnehmen. Es ist jedoch in vielen großen Gemälden der Reformationszeit dargestellt, die die Passion am Kalvarienberg zum Thema haben; es ist durch diese ausdrucksvollen Bilder weitaus ergreifender dargestellt, als dies mit Worten möglich wäre; die Gegensätzlichkeit zwischen den Taten der Menschenmenge und dem, was das Opfer verkörpert, wirkt noch stärker als die Grausamkeiten, die es erleidet.

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Der niederschmetternde Gegensatz zwischen dem Geist der Folterer und dem Geist des Opfers ist es, der direkt bis in unser Innerstes, zum Bewußtsein des lebendigen Lebens durchdringt.

Umso erstaunlicher ist es, daß dieses entscheidende Erlebnis sich in den Berichten über die Passion nicht findet. Es ist durch Mitleid für Christus ersetzt, durch Darstellung des Bösen im Folterer, durch sofortige Versetzung Christi in den himmlischen Bereich, was sagen soll, daß er in Wirklichkeit gar nicht so sehr gelitten habe, weil er ja Sohn Gottes war und nur seine Mission, das höchste Opfer, erfüllte.

Ein behutsames und mitfühlendes Nacherleben der letzten Stunden Christi enthüllt ein grundlegendes Geheimnis, das an die Wurzeln menschlicher Existenz rührt. Es enthüllt wiederum, daß die Geschichte Christi ihre große Kraft aus ihrer universellen Gültigkeit bezieht und nicht aus dem besonderen Schicksal des Menschensohnes. Das Mitleid und die metaphysische bzw. mystische Umsetzung seines Leidens scheinen nur dazu zu dienen, die Erkenntnis der wahren Bedeutung seiner Qualen zu verhindern. Nicht einmal Renan, der einem Verständnis des wahren Wesens Christi noch am nächsten gekommen ist, ist sich des allgemeingültigen Charakters der Passion bewußt.

Kurz gesagt, besteht er darin:
Das gottergebene Leben oder die «Natur», wenn man es lieber so bezeichnen will, trifft jedesmal dann auf die Pest oder «Sünde», wenn ein neues Leben geboren wird und sich an die Gegebenheiten des Lebens des gepanzerten Menschen anpassen soll. Jedes einzelne Leben muß durch Gethsemane und Golgatha. Jeder einzelne Mensch hat tief in seinem Innersten die Narben dieser frühen Erfahrung von Golgatha, eine sensitive Erinnerung, die vor Leid und vergangenen Qualen bebt. Es sind die Qualen vom Töten des Lebens im Organismus, von jedem einzelnen Menschen durchlitten, die ihn mit Christus verbinden.

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Wir wollen nun die einzelnen Stationen dieses identischen Erlebens der Pest nachvollziehen und dabei die Beziehung zu den Ereignissen vor und während Golgatha herstellen. Die einzelnen Gefühlserlebnisse der Passion Christi sind: Das tiefe Vertrauen und die Liebe gegenüber den Menschen und gegenüber Vater, Mutter und Geschwistern. Die völlige Unkenntnis von Boshaftigkeit, sowohl in sich selbst als auch im Freund.

Das ungeheure Entsetzen, das er das erste Mal erlebte, als man ihn wegen nichts bespie und beschmutzte, als man ihn verletzte, obwohl er nichts Unrechtes getan hatte. Das herzzerreißende Leid, den Mitmenschen etwas Gutes getan zu haben, und gerade dafür von ihnen gehaßt und verfolgt zu werden.

Die völlige Hilflosigkeit des Lebens angesichts der menschlichen Brutalität.

Die völlige Unfähigkeit des Opfers, mit den gleichen Waffen, wie sie die Pest benutzt, also Lüge, Verleumdung, üble Nachrede, List und Grausamkeit, zurückzuschlagen. Das Gefühl, durch das eigene tiefe Verständnis der Ignoranz des Folterers gebunden zu sein: «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.»

Das Gefühl, durch die Liebe und Anmut als Basis des eigenen Wesens paralysiert zu sein. Diese Aufzählung, wie sich das Leben fühlt, wenn es auf die Pest trifft, ist ziemlich unvollständig. Der Ausdruck in den Augen eines sterbenden Rehs, das einen letzten Blick auf seinen Killer wirft, kommt dem emotionalen Ausdruck dieser Situation vielleicht am nächsten.

Es ist kein vernünftiger, begründeter Entschluß, nicht die Waffen der Pest zur Vergeltung zu benutzen. Es ist völlige Unfähigkeit, so zu handeln, die das Opfer der Pest so hilflos macht und es der Gnadenlosigkeit des Folterers ausliefert.

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Es scheint so, als hätten sich die russischen Folterer des zwanzigsten Jahrhunderts diese tiefsten Eigenschaften der menschlichen Seele zunutze gemacht, um die irrsinnigen Geständnisse aus ihren unschuldigen Opfern zu erpressen. So etwas ist mit Medikamenten allein nicht zu erreichen. Es ist ein allgemeines Merkmal der Pest, Gift und Dolch im Gewand Christi zu verstecken.

Diese äußerste Hilflosigkeit angesichts der Geißel der Pest ist nicht etwa Folge eines vorgefaßten Plans, den es auszuführen gilt, so wie z.B. der faschistische Verräter und Spion eine bestimmte, typische Linie des Protestes oder der Verkündung seiner Mission verfolgen wird. Wo eine wahre Mission wirklich gegeben ist, wenn wir überhaupt von einer Mission sprechen müssen, so verkündet sich diese nicht; sie lebt etwas vor, vor aller Augen, oder sie erarbeitet sichtbare und dauerhafte Ergebnisse. Sie verkündet sich niemals selber und macht auch keine Reklame für sich.

Die Leute wissen das, wenn sie in Fällen, wo die Wahrheit Verfolgungen ausgesetzt ist, von «christusähnlichem Verhalten» sprechen; sie spüren sehr oft die Identität der Situationen, wo das Leben in Gefahr und ein Zurückschlagen nicht möglich ist.

Der pestilente Charakter wird in Gefahrensituationen geheime Absprachen treffen, Versammlungen einberufen, Resolutionen verfassen, die Leute aufhetzen, dies und jenes organisieren, in den Untergrund gehen, Spionageringe aufbauen und Leute, die ins Gefängnis verschwinden, durch andere ersetzen. Gelegentlich wird er auch zum Mittel des hinterhältigen Mordes greifen, wie bei Trotzki oder Liebknecht oder Luxemburg oder Landauer oder Lincoln oder Gandhi, Bis heute wenigstens haben Verteidiger des Prinzips des Lebens noch nicht zu solchen Praktiken gegriffen.

Dafür gibt es einen guten Grund. Nicht nur, daß solche Waffen dem Leben grundsätzlich zuwider sind, sie würden überhaupt nichts erreichen und nur dem Leben seine Qualitäten

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nehmen. Würde es mit Gewalt operieren, würde es unvermeidlich entarten. Aber das Prinzip der Liebe im Kampf gegen das Prinzip des Hasses und des Mordes einzusetzen wäre auch nicht das Richtige, denn das führte unvermeidlich zu freiwilligem Märtyrertum oder zu Heuchelei.

Christus spielt nicht die Rolle eines Märtyrers. Er wird gegen seinen Willen und ohne Absicht zum Märtyrer. Er praktiziert niemals «absolute» Liebe gegenüber seinem Nächsten oder dem Feind. Sein eindeutiges Verhalten im Tempel von Jerusalem zeugt davon. So wie Christus zu großer Liebe fähig ist, so ist er auch zu großem Haß und zu großer Verachtung fähig.

Dies wirft wieder einmal so manche falsche Legende der christlichen Mythologie über den Haufen, und enthüllt die wahren Gesetze des Lebens: Das Leben wäre nicht in der Lage zu lieben, wo Liebe geboten ist, wenn es nicht auch dort hassen könnte, wo Haß geboten ist.

Im wirklichen Leben wechseln Liebe und Haß entsprechend der Situation. Das hat wenig mit dem ewigen, gleichmäßigen und falschen Ausdruck der Liebe im Gesicht und im Umgang zu tun, die der falsche Christ oft nach außen hin zeigt und innerlich vor Haß fast birst. Hier verdeckt falsche Liebe einen brutalen, mörderischen Haß. Es gibt keine grausamere menschliche Bestie als die nach außen hin ewig gleichmäßig gütige und liebende. Jeder faschistische Folterknecht und jeder perverse Lustmörder hat diese falsche Freundlichkeit im Gesicht, aber auch die glühenden, kleinen Augen mit dem stechenden Blick.

Nein, das Leben kann hassen. Es haßt offen und inbrünstig und bietet sich dabei unter Mißachtung der eigenen Sicherheit offen dem Feinde dar. Es würde nie um des Mordens willen morden, oder um Reichtümer zu erlangen, oder aus Rache. Aber es könnte in einem offenen ehrlichen Kampf auch töten.

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Das Leben, wie es sich in der Tiefe der menschlichen Seele darbietet, ist aber nicht in der Lage, aufgrund einer früher erlittenen Ungerechtigkeit einen langdauernden, rachedurstigen Haß zu hegen. Wenn der Haß entladen ist, scheint wieder die Sonne, wie nach einem Gewitter; hier zeigt sich völlige Übereinstimmung des Lebens innerhalb eines Organismus mit der Lebensenergie in der Atmosphäre.

Die Pest haßt im Geheimen, brütet vor sich hin und wird durch den Druck des ständig verborgen gehaltenen Hasses gequält; sie wartet auf eine passende Situation, bis das richtige Opfer sich von selbst anbietet. Dann schlägt sie gnadenlos zu, aus dem Hinterhalt oder aus einem wohlgeschützten Büro irgendeiner Abteilung einer Verwaltungsbehörde.

Christus begegnet seinen Feinden völlig offen. Er verbirgt nichts, aber er weiß, wann sie darauf aus sind, ihn mit einer gutpräparierten Falle zu fangen, und er ist klug genug, sich dessen trotz seiner grundsätzlichen Vertrauensseligkeit bewußt zu sein. Er ist nicht immer mißtrauisch, aber wie ein Reh hat er einen gut ausgebildeten Sinn für drohende Gefahren.

Der Feind Christi ist wohlverborgen und niemand weiß, was er vorhat. Dann ändert sich die Situation. Christus wird ruhig, weil er nichts hat, das er dem pestilenten Verbrechen entgegensetzen kann, und die Pest ergreift die Szene und beherrscht die öffentliche Aufmerksamkeit. Ihre Mordinstrumente sind bereit. Die Folter dient zur Befriedigung der Schaulust der Öffentlichkeit. Die Wahrheit ist wieder einmal heimatlos und weint.

 

EINSAM

Einsam und allein bin ich - -
und doch reich inmitten aller.
Schweigen überflutet mich und mein Werk.
Doch ich bin: im Wort eines jeden.
Oh, gib mir den Freund,
der nicht ewige Sicherheit
meines Namens verlangt.

Der hilft, meinen Kampf zu beenden
für die Kinder, die kommen.
Der nicht die Pest hat,
tief eingeprägt im Gesicht,
und Verzweiflung in seinem Blick.
Der ehrlich ist bei diesem Spiel,
des Sehens durch Nebel,
der Hoffnung in der Verzweiflung,
des Muts in der Angst.

Im Innern, doch außen - -
Die Maske des Schwindels durchdringen,
die Hoffnung entdecken, im Schuft.

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 16.  «Du sagst es»  

 

 

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Für Christus gibt es keine andere Wahl, als den grausamen Tod eines Märtyrers zu sterben. Er weiß, daß sie nicht verstehen würden, was auch immer er ihnen sagte. Seine Sprache ist nicht ihre Sprache, denn sie sind verwirrt seit Babylon. Deshalb ist er ruhig oder sagt, wenn er antwortet, nur: «Du sagst es.»

Wenn die Pest durch den Mund von Judas ihn fragt, wer in seinem Innersten seinen Meister schon hundert Mal verraten hat; wenn Judas ihn beim letzten Abendmahl mit dieser gewissen unschuldigen und feigen Stimme fragt: «Bin ich es, Meister?», dann antwortet er: «Du hast es gesagt.» Das bedeutet nicht ja, und es bedeutet nicht nein. Das verunsichert uns, wenn wir überhaupt noch zu verunsichern sind und Christus nicht in einen mystischen Kasten an der Wand gepackt haben, auf daß er uns tröste. Christus wiederholt diese Worte mehrmals, bevor er stirbt. War sich Christus selbst im klaren darüber, warum er diese Worte sagte? Niemand weiß es.

Sie ergeben nur dann einen Sinn, wenn man hört, wie er der Pest sagt: «Ich habe mich nicht zum Sohn Gottes ernannt. Du hast das, was ich sagte, verdreht, und du wirst es so hinbiegen, daß es zu dir und deinem Sinn paßt. Du sagst, ich sei Gottes Sohn.»

«Für dich ist Gott etwas anderes als für mich. Für mich ist er das wohlige Strömen der Liebe, jeglicher Liebe, sogar der in Sündern und Huren, im Körper und in den Lenden. Für dich ist ein Gottessohn der Sohn eines Gottes im Himmel, der mit weißem Bart Blitze austeilt, um die böse Menschheit für ihre Sünden zu bestrafen. So wirst du früher oder später Gott und mich auf Leinwand malen.»

«In den Evangelien wird es Verwirrung darüber geben, was ich gesagt habe und was du gesagt hast. Und die Welt wird die Bedeutung der Worte so auffassen, wie du sie gesagt hast und nicht ich. Du möchtest so werden wie ich bin. Aber du wirst niemals so sein wie ich, solange du mich nicht in deinem Körper fühlst.»

Nicht das, was das Leben sagt oder tut, stinkt wie ein faulender Kadaver. Die gleichen Worte sind rein, wahr und weise, wenn sie vom Leben kommen, und Gift aus dem Mund der pestkranken Seele. Eine harmlose Rede kann durch Akzentverschiebung und Fehlinterpretation so ausgelegt werden, daß sie für den Redner den Tod bedeuten kann, und das zu jeder Zeit und in jedem Land. Eine Wahrheit, die ungeschickt ausgesprochen in kranke Köpfe dringt, kann Unheil für Generationen bedeuten.

Irgendwann einmal wird das Leben Worte finden, die von der Pest nicht mehr mißbraucht werden können, neue Worte für alte Dinge und Taten, Worte, die noch nicht durch die pestilenten menschlichen Emotionen verschmutzt sind.

Christus hatte gesagt, daß der Tempel Gottes zerstört und in drei Tagen wieder aufgebaut werden könne. Aus dem Mund Christi haben diese Worte eine tiefe Bedeutung. Sie bedeuten, daß ein Tempel nichts ist im Vergleich zu der Lebenskraft im Universum. Aus dem Mund der Pest bedeuten diese Worte nur bösartige Zerstörung des Tempels durch einen Aufrührer, der sich selbst zum König der Juden ernannt hat. Christus sagte nichts, da er wußte, daß seine Worte entweder nicht oder nur falsch verstanden und mißbraucht worden wären. Deshalb schwieg er.

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Als der oberste Priester ihn «beim lebendigen Gott» mit Nachdruck aufforderte, ihm zu sagen, ob er Gottes Sohn sei, antwortete Christus: «Du sagst es.» Der Hohepriester verstand dies auf seine Art und nicht auf die Art des lebendigen Lebens, zerriß sein Gewand und tobte wegen der Blasphemie. Als zweitausend Jahre später die Quacksalber und Schwindler der Krebsmafia dem Entdecker der Ursache der Krebsgeißel - der die Wurzeln dieser Geißel als sehr viel tiefer sitzend und schwieriger auszurotten als sie erkannte - gegenüberstehen, sagen sie, die diejenigen sind, die immer behaupten, der Krebs wäre bald heilbar, gerade sie sagen dann der Öffentlichkeit, daß er behauptet, er könne den Krebs heilen. So wie ein Esel nur «IA» sagen kann, so kann die Pest nur das sagen, was sie selbst aus den Worten herausliest. Und das Leben schweigt zu all dem. Es hat dazu nichts zu sagen.

Der Hohepriester hatte Christus gefragt, ob er der Sohn Gottes sei. Er blieb im Rahmen seiner Gedankenwelt, die er niemals überschritten hatte, die dunkel und fest verschlossen wie eine Muschel ist.

Der Verräter Judas hatte Christus gefragt, ob er selbst es war, der Christus verraten hatte. Er blieb im Rahmen seiner Gedankenwelt. In beiden Fällen gab Christus die gleiche Antwort: «Du hast es gesagt.»

Dann, als er vor dem Statthalter Jerusalems stand - der nur eine große Sorge hatte: ob die Juden sich erheben und einen neuen unabhängigen König ausrufen würden - wurde er wieder gefragt: «Bist du der König der Juden?» Und er antwortete wieder: «Du sagst es.»

Du sagst es, nicht ich, der Menschensohn. Ich gebrauche nur die gleichen Worte wie du. Aber es gibt keine Verbindung zwischen dem, was sie bei dir bedeuten und dem, was sie bei mir bedeuten.

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In deiner Gedankenwelt ist Judas ein Verräter, der für dreißig Silberlinge seinen geliebten Meister preisgab. Das ist das, was du jederzeit tun würdest. Aus meiner Sicht verrät Judas sich selbst, seinen eigenen Glauben und seine Seele. Er liebte mich, aber er wußte nicht, was er liebte. Er bewunderte mich, aber er bewunderte ein Bild, das er sich selbst von mir gemacht hatte, das Bild eines mächtigen Kaisers der Armen, der in glitzernder Rüstung auf einem feurigen, weißen Hengst an der Spitze einer Reiter­kolonne gen Jerusalem zieht, mit gezogenem Schwert und schmetternden Trompeten. Und du wolltest mich, Christus, prüfen. Deshalb hast du mich preisgegeben, und nicht für dreißig Silberlinge. Du bist viel besser als der Hohepriester, dem du deinen großen Freund ausgeliefert hast, von dir denkt. Er nennt dein Geld «Blutgeld». Es war bloß deine Maske.

In deinem Denksystem behaupte ich, «Gottes Sohn» zu sein, der an seiner rechten Seite sitzt und aus düsteren Wolken Blitze auf dich herniederschleudert. Aus meiner Sicht bin ich Gottes Sohn, weil wir alle Söhne und Kinder Gottes sind. Gott ist das Leben, er hat uns alle geschaffen und ist in uns und um uns, weil er überall ist. Ich fühle Gott in meinem Körper und in meinen Lenden. Du siehst ihn nur als ein Bild im Himmel. Deshalb haben die Worte «Sohn Gottes» solch unterschiedliche Bedeutung für dich und mich.

Und für dich, Statthalter Jerusalems für den mächtigen Cäsar, für dich bin ich der gefährliche König der Juden, der, so wie in Judas' Träumen, gegen deine Soldaten zu Felde ziehen und sie töten will.

Deine Ideen von großen Reichen stammen aus den Träumen der Judasse, so wie ich sie sehe, nicht du. Und die Judasse passen gut in die Träume der Cäsaren. Das ist so wie es ist, und Cäsar sollte bekommen, was er verdient. Ich bitte um das, was ich verdiene. Aber ich bin außerhalb deiner Reichweite; ich bin ganz weit außerhalb, in der Tat so weit, daß meine Worte nur noch als verzerrtes Echo in dein Ohr dringen.

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Deshalb schweige ich, wenn ich in deinem Bereich gefangen bin, und du fragst dich, warum ich als dein Gefangener schweige, wenn ich aufgefordert werde zu sprechen; andere klagen an oder verteidigen sich oder verfluchen sich selbst oder bringen ihre Entlastungszeugen mit. Meine Zeugen sind alle geflohen; auch sie haben nicht verstanden.

Ich habe dir nichts zu sagen. Du würdest auch jetzt nicht begreifen, was ich sage, so wie du es nie zuvor begriffen hast und auch in Zukunft nicht begreifen wirst. Ich möchte nicht noch mehr Verwirrung stiften, indem ich dir mehr sage. Ich habe die Konsequenzen gezogen.

Was du mir und meinen Worten tust, das tust du allem an, was dir in den Weg kommt. Weil ich das weiß, habe ich versucht, dir zu zeigen, wo Gott wirklich wohnt, in den Seelen der Armen und Sünder; in den Lenden der Männer und Frauen, die wissen, was körperliche Liebe ist; und in den Frauen, die du als schlecht bezeichnest, den Huren, mit denen ich mich zusammentat, weil sie die Liebe geben können, die du, ausgetrockneter Pharisäer und Schriftgelehrter, niemals erlebt, gegeben oder gespürt hast, von deren Existenz du niemals gewußt hast.

Du sagst es, nicht ich. Ich habe niemals gesagt, daß die Hände der kleinen Kinder festgebunden werden sollten oder geschlagen, wenn sie die Liebe Gottes berührt haben; und ich habe niemals gesagt, daß keine Freude dabei sein sollte, wenn ein Mann und eine Frau sich in der Liebe Gottes umarmen, und sei es in der geheiligten Ehe; und ich habe niemals endlose Litaneien sich aus meinem Munde ergießen lassen; und ich habe niemals von Engeln im Himmel gesprochen, niemals von Hexen, den brennenden Frauen, die auf den Scheiterhaufen kamen, weil sich mich in ihren Körpern spürten.

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All das und noch viel mehr hast du gesagt und getan, nicht ICH!

Laßt mich schweigen und mich in das große Schweigen der Unendlichkeit zurückziehen. Laßt mich auf ein anderes Kind des Lebens oder auf einen anderen Sohn Gottes warten, der noch einmal versuchen wird, den Sinn meines Daseins euch elenden Seelen zu vermitteln, und der vielleicht einen Apparat ersinnen oder sonst einen Weg finden wird, um eure Herzen und eure Körper zu erweichen, damit ihr Gott in eurem Blut wieder fühlen könnt. Dann vielleicht, dann und nicht eher, wird mein Reich, in meinem und nicht in eurem Sinn, auf diese Erde kommen. Vielleicht ... Bis dahin wollen wir beten, um die Hoffnung nicht zu verlieren:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen
und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen.

Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden.
Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird,
womit soll man's salzen? Es ist hinfort zu nichts nütze,
denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten.

Ihr seid das Licht der Welt.
Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.

Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel,
sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind.

Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten,
daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

(Matthäus 5,3-16)

258-259

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17.  Das ruhige Strahlen  

Alle Freunde sind fort — Die Mystifikation des Strahlens des Lebens —  Die universelle Lebenskraft

 

 

Die Menge will Barabbas 

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Niemals sind es die Herrscher, die das Volk beherrschen, sondern immer ist es das Volk selbst, das die Herrscher zwingt, über es zu herrschen. Es ist zwar Pilatus, der die Kreuzigung Christi anordnet, aber es ist das Volk, das ihn dazu zwingt. Pilatus weiß, daß ihm die Pest einen unschuldigen Mann ausliefert, damit er gekreuzigt werde. Allein vom äußeren Eindruck her glaubt er nicht, daß Christus irgendwelche Absichten hat, Cäsar zu bekämpfen. Das jedoch behauptet die Pest, aber auch Pilatus, entgegen seiner eigenen Überzeugung.

Es spielt nicht die geringste Rolle, ob die historischen Einzelheiten der Geschichte tatsächlich stimmen oder nicht. Die Geschichte wäre auch dann wahr, wenn die Menschheit in einem großen Teil der Welt es fertiggebracht hätte, sie sich auszudenken. Die Geschichte von Christus bleibt die wahre Geschichte der Menschheit, auch wenn kein einziges der berichteten Ereignisse wirklich stattgefunden hätte. Selbst wenn Christus als Mensch nie gelebt hätte, wäre seine Tragödie doch das, was sie wirklich ist: Die Tragödie des Menschen unter der Herrschaft der wohlgeschützten emotionalen Pest.

Jeder wesentliche Teil der Geschichte wäre wahr, auch wenn sie nur der Traum eines einzigen Menschen wäre, denn sie geschieht Jahr für Jahr, jeden Tag im normalen Leben.

Die Qualen der Frustration des Lebens sind nicht weniger wirklich und weniger quälend, wenn sie in einem Traum statt im wirklichen Leben stattfinden.

Alle spitzfindigen Erörterungen darüber, ob Christus gelebt habe oder nicht, ob seine Geschichte eine Erfindung der frühen Päpste sei, ob er bloß ein jüdischer Aufrührer oder der Sohn Gottes («du sagst es») gewesen sei, sind wieder einmal nichts weiter als ein Aspekt des fortgesetzten Christusmordens. Diese Diskussionen werden deshalb geführt, um den wahren Christus nicht zu finden, um nicht zu sich selbst zu finden und zu den eigenen Missetaten eines jeden Tages eines ganzen Lebens. Dies ist wieder genau die Methode der Gelehrten, ganz egal, was sie gerade sagen oder tun. Sofort, nachdem sie diese Darstellung des Christusmordes gelesen haben, werden sie sich zusammensetzen und einen neuen Christusmord ausbrüten. Und die Leute, die gestern «Hosianna in der Höhe» riefen, werden morgen fordern, Barabbas statt Christus freizulassen.

Die Menschen wollen immer Barabbas, denn sie haben Angst und wollen deshalb Christus nicht begreifen. Immer lassen sie Barabbas über sie bestimmen. Barabbas weiß, wie man einen weißen Hengst reitet und wie man sein Schwert zieht; er weiß, wie man eine Ehrengarde abschreitet und wie man lächeln muß, wenn man als Held dieser oder jener Schlacht einen Orden verliehen bekommt. Hat man jemals gesehen, wie Barabbas einer Mutter einen Orden umhängte, weil sie die Liebe des Lebens in ihrem Kind vor einem pornographischen Schwein von der FRIEDENSgesellschaft irgendeiner Volksdemokratie beschützt hat? Nie! Und man wird es auch niemals sehen.

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So, wie die Menschen strukturiert sind, brauchen sie sowohl Barabbas als auch Christus; Barabbas, um auf ihren irdischen Paraden weiße Hengste zu reiten, und Christus, um ihn im Himmel zu verehren, nachdem sie ihn getötet haben. Das ist so, weil man immer etwas für die Seele braucht, im Diesseits und im Jenseits. So ergänzt sich das Mechanistische durch das Mystische.

Dem ewig lebenden Sohn der Liebe aber werden sie nicht erlauben, über ihr Leben zu bestimmen, es sei denn, er paßt sich ihrer Form der Fleischeslust an (wie z.B. eine Prostituierte, die sie dann aber der Sünde bezichtigen). Und damit diese von ihrer Sünde erlöst werden konnte, mußte Christus sterben. Pilatus hegt etwas Hoffnung, daß die Menge erkennen wird, wer der wahre Mörder ist und ans Kreuz gehört. Er hofft, daß sie Christus so sehen wird, wie er tatsächlich ist: für sich selbst jemand, der vom echten Leben weiß und für sie ein Träumer, der vielleicht ein paar Dummheiten gemacht hat, aber ohne böse Absicht.

Gepanzerte Menschen können nur noch rot sehen, wenn sie Christus im Körper erkennen. Er ist das, was sie verloren haben, und nach dem sie sich in allen Leiden ihres Lebens sehnen; er ist das, was sie vergessen müssen, weil sie es niemals wieder erlangen werden. Christus ist ihre verlorene Liebe und ihre längst vergessene Hoffnung. Christus ist der Impuls des Verlangens, der Schrecken in ihrem erstarrten Fleisch verursacht. Aus diesem Körper kann angesichts des stumm leidenden Christus nicht einmal Mitleid kommen, sondern nur Wut und Haß. Deshalb wollten sie Christus und nicht Barabbas gekreuzigt haben.

Das Märchen von den Hohenpriestern, die das Volk gegen Christus aufgehetzt haben, ist eine Erfindung der Freiheitskrämer. Wie könnten zehn Priester die Massen gegen irgendetwas aufgehetzt haben, wenn nicht das, was gegen Christus gerichtet werden kann, schon in den Menschen vorhanden gewesen wäre.

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Hört endlich auf, die Menschen und ihre Taten zu entschuldigen! Bevor sie jemals Christus offen und ehrlich gegenübertreten können, werden sie sich erst einmal selbst so erkennen müssen, wie sie wirklich sind und handeln. Nur die widerlichen Freiheitskrämer verherrlichen die Massen.

Die Liebe des Lebens wurde im Stich gelassen. Wo sind zu dieser Zeit die vielen Freunde und Bewunderer Christi? Nicht ein einziger Freund, kein einziger Bewunderer ist da. Wo sind die Massen, die «Hosianna in der Höhe» dem Sohn Davids entgegenriefen, oder: «Seht her! Da kommt der Sohn Davids.» Alle Bewunderer und Hosianna-Rufer sind verschwunden. Man hört kein einziges «Hosianna», als die Massen sich für Barabbas entscheiden.

Welchen Wert hat Freundschaft oder Bewunderung? Man kann sie für dreißig Silberlinge haben, wenn man nicht gerade in einer so üblen Lage wie Christus steckt. Jetzt erkennt Christus zum ersten Mal die gewaltige Kluft, die ihn von seinen Mitmenschen und von seiner Zeit trennt.

Er nimmt es ruhig hin. Es tut nicht einmal weh. Seine Freunde waren niemals wahre Freunde. Sie waren solange Freunde, wie sie von ihm etwas bekommen konnten: Erregung, Trost, Frieden, Genuß, Begeisterung. Jetzt, als die emotionale Pest um ihn herum tobt, sind sie verschwunden. Kein einziger der Schmarotzer ist mehr da. Christus haßt und verachtet sie nicht. Er erkennt nur die wahre Lage, und er ist feierlich still. Er schaut in einen tiefen, dunklen Abgrund, in eine Hölle, in die die kranke Menschheit ihre Gequälten noch viele Jahrhunderte lang schicken wird.

Christus ist von einer Aura äußerer Ruhe umgeben, die wie ein Schild sein inneres, friedvolles Strahlen schützt. Nichts berührt ihn wirklich, nichts kann ihn berühren. Er befindet sich jenseits allen verrückten Spektakels, das um ihn herum stattfindet. Aus dieser Ruhe heraus entwickelt sich Mitleid mit den Elenden. Sind sie es wert, erlöst zu werden? Sicher nicht! Doch er durchlebt voll, was sie ihm antun.

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Einige, die bei diesem gräßlichen Durcheinander dabei sind, können die friedvolle, leise strahlende Ruhe spüren, von der Christus jetzt erfüllt ist. Die Frau des Pilatus liebt Christus; sie hat von ihm geträumt und ist voller Trauer über sein Schicksal. Frauen haben ihn immer aufrichtig geliebt. Sie liebten ihn, so wie glückliche Frauen für Männer empfinden, die sie lieben. sie wissen bescheid. Sie haben solche Männer in ihren Körpern erfahren. Die Frau des Pilatus versucht vergeblich, ihn zu retten. Sie spürt das ruhige, warme Strahlen, das zu dieser Zeit in Christus wirkt.

Aus solch einem Gefühl ruhigen, strahlenden Vertrauens weit jenseits der elenden Gemeinheit der Menschen wird später die ruhige Kraft der friedvollen frühen Christen erwachsen. Es wird weiterhin gefühlt werden, bis hin zu genau dem Moment, wo diese Zeilen geschrieben werden: Nicht eine einzige der vielen häßlichen Spielarten, in denen sich die Pest des Menschen ausdrückt, kann diesem ruhigen, warmen, inneren Strahlen etwas anhaben. Es ist das Strahlen des Lebens selbst.

Das ruhige, warme Strahlen ist es, das Christus diese qualvollen Stunden überstehen läßt. Die Welt wird ihn später mit einem Strahlenkranz um den Kopf darstellen. Er bleibt ruhig, wenn Schmerzen seinen Körper zucken lassen. Er bleibt ruhig, wenn die Erschöpfung ihn übermannt. Er bleibt ruhig, wenn die Leute ihn verfluchen und verspotten, doch das tut ihm am meisten weh. Ganz zum Schluß stellt er seinen Gott in Frage.

Durch Nachempfindung dieses ruhigen, warmen Strahlens aus dem Innern angesichts von Gefahr und entsetzlicher Geschehnisse erwächst später die Liebe zur Spiritualität; und die Geringschätzung des Körpers setzt sich durch. Der Geist ist wahrhaftig in der Lage, den Körper zu beherrschen, wenn es möglich ist, daß Christus diese Massenorgie menschlicher Pestilenz erdulden und dabei ruhig, gelassen und erhaben bleiben kann.

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Diese Spiritualität lebt in der feierlichen Stille der großen Kathedralen und in stillen Klöstern weiter, und sie schlägt in überschwengliches Entzücken um, wenn sie in Form solch reiner Lebensausdrücke wie der Musik von Bach, dem «Ave Maria» oder dem «Lied der Freude» aus Beethovens Neunter Sinfonie in Erscheinung tritt. Immer dann, wenn sein Herz voll von Hoffnung oder Glaube ist, wird der Mensch von dieser Grundstimmung des ruhigen, warmen inneren Strahlens ergriffen, inmitten der schrecklichen Untaten der Menschen, die ihr Leben schon verloren haben. Dieses Strahlen ist da, wenn eine Mutter zum ersten Mal ihr neugeborenes Kind anschaut. Es ist da, wenn ein liebender Mann ruhig das Ineinanderfließen mit seiner geliebten Frau erwartet. Es ist da, wenn Curie das erste Mal die Radiumstrahlung beobachtet, oder wenn der Entdecker der Lebensenergie das erste Mal sieht, wie kleinste Teilchen einst leblosen Gesteins sich in sanfter Wellenform fortbewegen.

Dieses ruhige Strahlen schreit nicht «Hosianna in der Höhe» oder «Heil, mein Führer» oder «Rot Front», es macht auch sonst nichts von den vielen verrückten und dämlichen Sachen, die die Pest macht. Es strahlt einfach in der ruhigen Gewißheit echten Gefühls für das Leben. Es spielt keine Rolle, ob man es Glaube oder Vertrauen nennt, ob Selbstvertrauen oder innere Stärke. Aus dieser natürlichen Kraft des lebendigen Lebens entwickeln sich alle menschlichen Vorstellungen von Tugend, die mit der später entstandenen «Ethik» überhaupt nichts zu tun haben.

Kann man sich ein Reh vorstellen, wie es eine Kugel auf sein Junges abfeuert? Oder wie es ein anderes Reh foltert? Stellen wir doch einmal die Stimmung, die ein ruhig und friedlich in der Morgensonne äsendes Reh vermittelt, dem Bild des «großen Vaters aller Völker» gegenüber, an dem die Menschenmassen vorbeiparadieren und «Hoch» und «Nieder» schreien, und wir spüren den Kontrast, den das Wesen dieses ruhigen, inneren Strahlens des Lebens zur zerstörenden Pest darstellt.

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Im übrigen war es zu Beginn der großen Revolutionen, als die amerikanischen Pioniere oder die russischen Arbeiter noch um ihre nackte Existenz und nicht für irgendwelche Führer kämpften, so, daß ihre Aktionen vom gleichen Gefühl durchdrungen waren.

Diese ruhige Gelassenheit wurde damals von Christus auf die Frauen und Männer übertragen, die die scheußlichen Taten der Pest mitansahen. Sie müssen Mitleid gehabt haben statt Wut auf diejenigen, die das Verbrechen begingen und die riefen: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.»

Das Blut Christi war lange vor und ist noch lange nach der eigentlichen Kreuzigung über die Menschheit gekommen.

Wir haben keinen Grund, an den Ereignissen, die uns das Alte und Neue Testament überliefert haben, zu zweifeln. Sie sind wahr, weil sie für entscheidende Tatsachen des menschlichen Verhaltens stehen. Diese Berichte sind jedoch durch die späteren Ergänzungen durch Schriftgelehrte und Talmudisten, egal ob Christen oder Juden, unbrauchbar gemacht worden. Das Wesentliche des ruhigen Strahlens, ausgedrückt durch Stille, geht in der mystischen Verherrlichung unter, die wiederum nur dazu dient, die Erkenntnis unmöglich zu machen, wie sich das Leben während ohne Schuld erlittener Qualen verhält.

Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesum zu sich in das Richthaus
und sammelten über ihn die ganze Schar und zogen ihn aus
und legten ihm einen Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone
und setzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine rechte Hand
und beugten die Knie vor ihm und verspotteten ihn
und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!
und spieen ihn an und nahmen das Rohr
und schlugen damit sein Haupt
Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus
und zogen ihm seine Kleider an
und führten ihn hin, daß sie ihn kreuzigten.
(Matthäus 27:27-31)

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Die Bibel wird nach wie vor millionenfach gelesen, weil sie etwas schildert, das zu allen Zeiten und überall in den Menschen vorgeht. Der mechanistischen Wissenschaft und dem rationalistischen Denken ist es nicht gelungen, diese so entscheidenden, typisch menschlichen Dinge zu erkennen. Deshalb konnte sich auch keine Wissenschaft vom Menschen entwickeln. Denn in der Kirche ist das Strahlen körperlicher Liebe als «Sünde» tabuisiert und in der Wissenschaft wird das Gefühl, das zu dem führt, was als Glaube bezeichnet wird, als «unwissenschaftlich» ausgesondert. Vergessen wir einmal die «Engel». Sogar unsere Mechanisten haben schon angefangen, die Sphärenmusik wahrzunehmen. Für sie ist es nur das nüchterne Klicken des Geigerzählers, der auf die kosmische Energie, den Schöpfer, Gott, reagiert.

Das stetige, ruhige Strahlen der Lebensenergie kann niemals zerstört werden. Es ist eine Grundmanifestation der Energie, die das gesamte Weltall bewegt. Dieses Strahlen findet man am schwarzen Nachthimmel; es ist das Flimmern des blauen Himmels, das einen die schmutzigen Witze vergessen läßt. Es ist das leichte Glühen der Liebesorgane der Glühwürmer und es schwebt im Morgengrauen und in der Abenddämmerung über den Baumwipfeln; es ist in den Augen eines vertrauenden Kindes.

Man kann es in einer luftdicht versiegelten Vakuum-Glasröhre sehen, die mit Lebensenergie aus der Luft aufgeladen ist. Und man erkennt es am Gesichtsausdruck der Dankbarkeit eines Menschen, der unter der emotionalen Pest leidet, und dessen Leiden man gelindert hat. Es ist das gleiche Strahlen, das man bei Nacht über dem Spiegel des Ozeans oder an den Spitzen hoher Masten sehen kann.

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Keine Macht der Welt kann je diese ruhige, strahlende Kraft zerstören. Sie durchdringt alles und steuert jede Bewegung in jeder einzelnen Zelle eines lebenden Organismus. Sie ist überall vorhanden und erfüllt den ganzen Weltraum, der durch den leeren Menschen leer gemacht wurde. Sie verursacht das Leuchten der Sterne und auch ihr Funkeln. Für den wahren Arzt ist es ein Zeichen der Gesundheit, wenn er sie auf der Haut fühlen kann, ebenso, wie ihr Fehlen ihm ein Z eichen für Krankheit ist. Beim Fieber steigert sich diese Kraft zu großer Stärke, weil sie die tödliche Infektion bekämpft.

Es ist das Strahlen der Lebenskraft, das auch nach dem Tode des Körpers weiterbesteht. Es ist das Strahlen der Seele, das nach dem Tode jedoch nicht als klare Gestalt weiterbesteht, sondern sich im endlosen, kosmischen Ozean, dem «Reich Gottes», aus dem es einst kam, auflöst.

Dieser Ozean primordialer Energie des Universums ist die Quelle der einzelnen Eruptionen in ein einzelnes Leben hinein; deshalb haben die Menschen seit undenklichen Zeiten dies mit Recht als ihren «Gott», «Vater im Himmel», «Schöpfer» oder ähnlich bezeichnet. Das Wissen um diese universelle Lebenskraft sowie darum, daß das gesamte Weltall von ihr erfüllt ist, kann im Menschen nicht zerstört werden, weil er es fühlt. Dies ist Grundlage aller seiner Ansichten von himmlischen Tugenden und grundlegender emotionaler Reinheit, von engelhafter Geduld und ewiger Liebe, von Beständigkeit und innerer Stärke, von Beharrlichkeit und Sparsamkeit und all den anderen Tugenden, die von allen Religionen von dem Zeitpunkt an als Vorbilder aufgestellt wurden, als der Mensch durch Schändung der körperlichen Liebe den Kontakt zu seinem inneren Strahlen verloren hatte. Bis heute ist dies das Wesen aller kosmischen Sehnsüchte der Menschheit geblieben. In Form mörderischer Wut wirkt dies sogar im pestilenten Vernichter des Lebens.

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Dieses Strahlen ist es, das Christus nach Ansicht der Menschheit während seiner letzten Agonie mit dem großen Universum vereint. Vergessen wir noch einmal die Engel. Sie sind Produkte dessen, wie sich der Kleine Mann das Reich Gottes vorstellt, wenn er in sich selbst keinerlei inneres Strahlen mehr fühlt, aber noch weiß, daß es irgendwo um ihn herum existiert. Es ist dieses Strahlen, das dem brutalen Usurpator weltlicher Macht über den Menschen fremd ist. Machtmenschen sind harte Menschen, Menschen ohne Liebe, Menschen ohne Sehnsucht nach der Sanftheit großer Stärke. Die Stärke Christi in seinen letzten Stunden ist so grundverschieden von der Stärke eines Nero. Es sind zwei völlig verschiedene, ja einander ausschließende Arten von Stärke. Dies zu begreifen ist äußerst wichtig, will die Menschheit je mit dem chronischen Christusmorden aufhören.

Während der Geißelungen ist Christus hilflos und übermittelt damit der Nachwelt das Grundgefühl von passiver Leidensfähigkeit und Märtyrertum. Das Strahlen des Lebens in Christus, das sein Leiden und seine Leidensfähigkeit zur Grundlage einer großen Religion macht, überdauert jedoch die Zeit passiven Erduldens. Im Sinne Christi bringt es den Himmel herab auf die Erde, indem es die gerissene, hinterhältige Bösartigkeit bezwingt, die diese Grausamkeit möglich macht.

Die christliche Welt weiß nichts von der Aktivität des Strahlens des Lebens. Obendrein hat das Christentum, das dieses Strahlen in seiner Musik und in seinen eindrucksvollen Kirchenbauten erhalten hat, sich den Zugang zu diesem Bereich versperrt, indem es dieses Strahlen früh im Leben eines jeden Menschenkindes erstickt. Somit hat es seine eigene Grundlage unterhöhlt. Es ist diese Behinderung des Strahlens, die solche entsetzlichen Szenen wie die Krönung Christi mit einer Dornenkrone als «König der Juden» möglich macht.

Es ist vollkommen klar, daß sich in der menschlichen Existenz solange nichts ändern kann und wird, bis die Mentalität, die sich in der Krönung Christi mit einer Dornenkrone äußert, aus den Herzen der Menschen verschwunden ist.  

Die Abtötung des Strahlens des Lebens in den neugeborenen Kindern ist die Grundlage dafür, daß der Kopf Christi mit einer Dornenkrone gekrönt und Christus auf so grausame Weise verspottet wurde. 

Der Kleine Mann macht all das heute noch immer und überall, sei es in einem sibirischen Lager oder in einem psychiatrischen Krankenhaus in den Vereinigten Staaten von Amerika.

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