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18  Sexueller Mißbrauch an Jungen und seine Folgen

 

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Herbert wurde mit elf Jahren über einen Zeltraum von zwei Jahren durch seinen Jugendgruppenleiter sexuell mißbraucht. Seither hat er Angst, er könnte ebenfalls zum Triebtäter werden. Er möchte darum nie Kinder haben, weil er fürchtet, er könnte sich vielleicht eines Tages genauso an ihnen vergreifen. Die Angst, ein Triebtäter zu sein, macht ihm auch Probleme beim Sex. Wenn er eine Frau kennenlernt, fragt er sich immer mißtrauisch, ob er die Frau jetzt anspricht, weil sie ihn als Mensch interessiert oder ob er sie nur als Sexobjekt benutzen und seinen sexuellen Trieb an ihr abreagieren will. Auch wenn er mit einer Frau schläft, hat er ständig Angst, ihr wehzutun oder ihr nicht genug Liebe entgegenzubringen.

Er ist mißtrauisch gegen sich selbst, und seine Neigung zu Selbstanklagen macht sich im Umgang mit anderen Menschen deutlich bemerkbar. Immer ist er bereit, sehr viel für seine Freunde, Kollegen und Mitmenschen zu tun und wenig dafür zurückzuverlangen. Dadurch zieht er Menschen an, die seine Gutmütigkeit ausnutzen, ihn hintergehen und enttäuschen. Trotzdem reagiert er bei der Auflösung einer Freundschaft oder Partnerbeziehung mit Verzweiflung und Depression. Immer öfter hat er den Eindruck, daß Menschen nicht in der Lage sind, vertrauensvoll miteinander umzugehen. In diesen Phasen greift er öfter zum Alkohol, um seine Verzweiflung und seine Selbstmordgedanken zu vertreiben. Er stürzt sich in seine Arbeit, macht bereitwillig Überstunden, übernimmt dabei zum Teil auch die Arbeiten seiner Kollegen und wird in seiner Gutmütigkeit auch hier ausgenutzt. Auf der Suche nach Selbstbestätigung hat er eine Reihe Ehrenämter übernommen und engagiert sich für schwache oder benachteiligte Menschen.

Dieses Beispiel zeigt, daß die Probleme, die Männer aufgrund ihrer sexuellen Mißbrauchserfahrungen entwickeln, teilweise denen der Frauen ähneln, sich zum Teil aber auch von ihnen unterscheiden.

Herbert hat eine große Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Er tut daher sehr viel für andere und läßt sich selbst zu kurz kommen. Da er bemüht ist, ein guter Mensch zu sein und daher seine aggressiven Reaktionen stark unterdrückt, hat er ständig Angst, eines Tages selbst zum Täter zu werden. Seine Lebenseinstellung und seine Verhaltensweisen sind typisch für die Depressionsspirale.

   Psychische Folgen sexueller Gewalterfahrungen   

Daß auch Jungen und Männer Opfer sexueller Gewalt werden, wird in unserer Gesellschaft weitgehend verdrängt. Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, daß auch erwachsene Männer von Männern vergewaltigt werden, und zwar nicht nur in Gefängnissen. Da die meisten Menschen glauben, Jungen und Männer müßten in der Lage sein, sexuelle Übergriffe abzuwehren, fällt es den Betroffenen auch als Erwachsene sehr schwer, über ihren sexuellen Mißbrauch zu sprechen. Viele fürchten, daß man sie für unmännlich oder schwul hält, weil die Täter in der Regel Männer waren.

Der amerikanische Psychotherapeut Michael MYERS konnte als einer der wenigen Erfahrungen mit Männern sammeln, die als Junge sexuell mißbraucht oder als Erwachsene vergewaltigt wurden. Von den vierzehn betroffenen Männern, denen er im Laufe seiner Arbeit begegnete, meldeten sich nur zwei ausdrücklich wegen ihrer sexuellen Gewalterfahrungen an. Die anderen nannten andere Probleme als Grund. Vieles, was im folgenden beschrieben wird, beruht auf seinem Erfahrungsbericht.

  Angst, Selbstzweifel und Depressionen   

Viele der Männer leiden unter ständig wiederkehrenden Mißbrauchserinnerungen. Meist geschieht dies in Form von Alpträumen, gelegentlich aber auch in Tagträumen und in <Flashbacks>. Diese lösen in den Betroffenen Unruhe und Angstzustände aus. Deshalb versuchen viele ihren Erinnerungen aus dem Weg zu gehen und reden selbst dann nicht über den erlittenen sexuellen Mißbrauch, wenn sie unter massiven psychischen Beeinträchtigungen leiden.

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Vermutlich sind von den Männern, die sich in Psychotherapie begeben, einige Opfer sexueller Übergriffe geworden, manche sogar wiederholt. Die meisten Männer reden aber erst auf ausdrückliche Nachfrage über diese traumatischen Erlebnisse. Das Sprechen ist dann häufig begleitet von Aufgeregtheit, sichtbarer Angst, Trauer und Wut. Diejenigen Männer, die von sich aus dieses Thema in der Psychotherapie anschneiden, beschreiben den sexuellen Mißbrauch ohne gefühlsmäßige Beteiligung, rein mechanisch und verstandesbetont und verharmlosen ihn oft. Viele der Männer schämen sich für diese Geschehnisse, halten sich beim Erzählen die Hand vor die Augen, versuchen alles möglichst schnell zu erzählen und überspringen Einzelheiten, um das Ganze rasch hinter sich zu bringen. Oft fühlen sie sich mitschuldig und können nur halbherzig oder gar nicht wütend auf ihren Mißbraucher sein. Einige der Betroffenen empfinden Angst, wenn sie an ihren Mißbraucher denken oder erinnert werden. Bei manchen hat sich dies zu einer tief sitzenden Angst vor allen Männern ausgeweitet.

Rüdiger arbeitet als Verkäufer in einer Boutique. Er ist als Kind sexuell mißbraucht und vor zwei Jahren durch den Mann seiner Chefin vergewaltigt worden. Seither kann er es nicht aushalten, mit einem Mann allein zu sein. Es ist ihm unmöglich, allein im Geschäft einen Kunden zu bedienen, sich ohne Begleitung ärztlich untersuchen zu lassen oder sich mit seinem Psychotherapeuten allein zu besprechen.

Manche Männer haben Angst vor bestimmten Situationen, wie z.B. dem Trampen, dem Aufsuchen öffentlicher Toiletten, den Begegnungen mit älteren Männern oder Männern, die sie für schwul halten. Bei manchen Betroffenen äußert sich das Mißtrauen gegenüber Männern eher versteckt, beispielsweise indem sie mit Männern immer sehr kühl und distanziert umgehen und keine Freundschaft zu einem Mann aufnehmen können.

Die meisten Männer haben Probleme mit ihrem Selbstvertrauen und fühlen sich minderwertig. Viele sind depressiv oder haben Schwierigkeiten, ihren Körper anzunehmen. Das äußert sich darin, daß sie sich selbst unattraktiv finden: »Ich bin nur Haut und Knochen.« Selbst regelmäßiges Krafttraining kann den Eindruck der eigenen Unattraktivität nicht verändern. 

Ein Mann erzählte, daß er, seit er sexuell mißbraucht wurde, wie von seinem Körper abgetrennt aufgewachsen sei. Ein anderer berichtet, daß er sich vom Bauchnabel bis zu den Knien wie betäubt fühlt, wenn er sich nackt im Spiegel sehen muß.

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Viele Männer zweifeln an ihrer eigenen Männlichkeit, weil der Mensch, von dem sie als Kind sexuell mißbraucht wurden, ein Mann war. Sie haben das ständige Bedürfnis, sich als Mann zu beweisen. Daher trinken einige viel Alkohol, legen sich mit jedem an und prügeln sich mit anderen Männern. Andere sprechen verächtlich über Frauen oder behandeln sie herablassend und aggressiv. Manche brüsten sich mit ihren sexuellen Leistungen und machen jede Frau an, die ihnen über den Weg läuft, weil sie glauben »Wenn ich nicht sexuell aktiv bin, bin ich kein richtiger Mann«.

 

Sexuelle Probleme

Fast die Hälfte der Männer, die sexuell mißbraucht wurden, haben sexuelle Funktionsstörungen, also Probleme mit dem Samenerguß, dem Steif werden des Penis oder es fehlt ihnen die sexuelle Lust.

GERO ist es unmöglich, in der Scheide seiner Frau einen Samenerguß zu haben. Aufgrund seiner Erlebnisse beim sexuellen Mißbrauch empfindet er dies als gewalttätig und demütigend für seine Frau. Das ändert sich auch nicht, wenn seine Frau ihm immer wieder das Gegenteil beteuert. Wenn er es versucht, bricht seine Erregung kurz vor dem Höhepunkt ab, so daß der Samenerguß ausbleibt. Bei einer Prostituierten dagegen hat er keine Probleme damit.

WERNER ist schwul und in seiner Partnerwahl immer sehr unentschieden, zögerlich und passiv. Es fehlt ihm an Selbstsicherheit und Durchsetzungs­vermögen. Obwohl er oft keine Lust hat, mit seinem Partner zu schlafen, kann er dies nicht deutlich machen. Er fügt sich darum oft den Wünschen seines Partners, um das Ganze schnell hinter sich zu bringen. Auf die Idee, sich zu verweigern, kommt er nicht. Er kann auch gar nicht glauben, daß er damit etwas erreichen könnte.

Viele der Männer haben sexuelle Orientierungsprobleme, d.h. sie wissen nicht, ob sie hetero-, homo- oder bisexuell sind. Dies kommt daher, daß sie glauben, ihr Mißbraucher müsse schwul gewesen sein und habe sie auch für schwul gehalten.

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Wenn sie während des sexuellen Mißbrauchs ein steifes Glied hatten, nehmen sie dies oft als Beweis dafür, daß ihnen das Ganze Spaß gemacht haben muß. Sie halten sich dann selbst oft für homosexuell und entwickeln Schuldgefühle. Wenn der sexuelle Mißbrauch vor der Pubertät stattfand, haben diese Befürchtungen weitreichende Folgen : Die Jugendlichen haben kein Vertrauen in ihre Anziehungskraft auf Mädchen, machen keine Verabredungen aus und vermeiden sexuelle Erfahrungen. Da sie auf diese Weise nicht lernen können, mit Frauen umzugehen, entwickeln manche eine ausgeprägte Angst vor Frauen und bleiben lebenslang allein, obwohl sie sich nach einer Partnerschaft sehnen.

Auch homosexuelle Männer fühlen sich durch den sexuellen Mißbrauch beeinträchtigt: Sie betrachten ihre eigene Homosexualität mit gemischten Gefühlen und können diejenigen Sexualpraktiken, die sie erstmals beim sexuellen Mißbrauch erlebten, nicht mehr ohne Mißempfindungen und Unbehagen erleben.

In vielen Jungen ruft die Selbstbefriedigung die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch wach und damit auch die Angst, sie könnten möglicherweise schwul sein, ohne dies gewollt oder bisher gemerkt zu haben. Manchmal geht das so weit, daß sich ein Junge aus Selbstzweifel und Schuldgefühlen vor seinen eigenen Geschlechtsteilen und seinem männlichen Körper ekelt und ihn ablehnt. Viele Männer wollen nicht so werden wie ihr Mißbraucher. Manche betroffenen Männer nehmen sehr viel Anteil an dem Schicksal von Frauen, die von ihren Männern mißhandelt werden. Einige lehnen es ab, die typische Männerrolle einzunehmen und haben Angst, Frauen zu verletzen und zu demütigen. Manche sind zutiefst angewidert von der Art, wie manche Männer über Sexualität und über Frauen sprechen. Das erinnert sie an die Verachtung, mit der sie selbst von ihrem Mißbraucher behandelt wurden. In sehr seltenen Fällen kann der sexuelle Mißbrauch zusammen mit anderen Lebensbedingungen zur Entwicklung von Transsexualität beitragen.

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HARALD hätte eigentlich ein Mädchen werden sollen. Seine Mutter zieht ihn daher bis zu seinem fünften Lebensjahr eher wie ein Mädchen an und läßt ihm auch die Haare wachsen. Irgendwie entspricht diese Aufmachung auch dem feinfühligen und empfindsamen Wesen von Harald. Er hat kein Interesse an den wilden Spielen und Raufereien anderer Kinder, sondern spielt lieber mit ruhigeren Mädchen. Seinem Vater gefällt dieses mädchenhafte Verhalten des Sohnes nicht. Da er aber meistens auf Geschäftsreisen im Ausland ist, kann er es nicht verhindern. Als der Vater durch berufliche Veränderungen schließlich wieder mehr Zeit zu Hause verbringt, ist er für Harald ein fremder Mann, vor dem er sich fürchtet. Der Vater versucht mit Strenge und Härte aus seinem Sohn einen Mann zu machen. Harald fühlt sich von seinem Vater gequält und sucht immer wieder Zuflucht bei seiner Mutter, die ihren Mann ebenfalls ablehnt.

Harald erlebt auch andere Männer als gewalttätig und gefährlich. So wird er beispielsweise von seinem Großvater sexuell mißbraucht und von anderen männlichen Verwandten wegen seines mädchenhaften Aussehens und Benehmens verlacht und kritisiert. Auf diese Weise entwickelt Harald eine abgrundtiefe Abscheu vor allem Männlichen. Selbst seine eigenen Geschlechtsteile erfüllen ihn mit Ekel. Er will kein Mann werden und ist fest davon überzeugt, daß er ein Mädchen ist, das mit dem falschen Körper auf die Welt gekommen ist. Wo immer er kann, versucht er dieses Mädchen zu sein. Auch als Erwachsener leidet er darunter, daß er keine Frau sein darf. Er versucht gegen seine Neigung anzukämpfen, sucht sich eine Frau, fühlt sich aber zutiefst angewidert, wenn er sich wie ein Mann verhalten muß. Das Leben ist ihm eine Qual, und er versucht sich mehrfach das Leben zu nehmen. Da ihm alles Männliche verhaßt ist, ist es sein innigster Wunsch, als lesbische Frau zu leben.

Da Transsexualität bisher durch keine Psychotherapie erfolgreich behandelt werden konnte, versucht man transsexuellen Menschen durch geschlechts­angleichende Operationen und eine Hormonbehandlung das Aussehen einer Frau zu geben. Auch die Personalien können in solch einem Fall entsprechend abgeändert werden.

Einige Männer, die sexuell mißbraucht wurden, leiden unter sexuellem Sadismus bzw. Masochismus, d.h. sie erleben sexuelle Erregung, wenn sie einen anderen Menschen beim Sex demütigen oder ihm Gewalt antun bzw. wenn sie selbst beim Sex gequält werden. Zur Befriedigung dieser ausgefallenen Wünsche suchen sich viele über die Kontaktanzeigen entsprechender Zeitungen passende Sexualpartnerinnen oder Prostituierte.

Manche versuchen ihre Neigungen auch in ihrer Ehe umzusetzen, was aber oftmals zur Trennung führt. Diese sadistischen und masochistischen Wünsche sind für manche Männer wie ein unkontrollierbarer Zwang, der umso stärker wird, je mehr sie ihn zu verdrängen versuchen. Oftmals wird dieser Zustand als etwas sehr Unverständliches und der eigenen Person Fremdes erlebt. Viele schämen sich für diese Neigungen.

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Werner wurde als Kind von seinem Lehrer jahrelang sexuell mißbraucht. Trotzdem ist er ein liebevoller und fürsorglicher Vater und ein verständnisvoller Ehemann, der sich um alles kümmert. Dann aber kommen eines Tages schwere Zeiten: Er steht wegen finanzieller und beruflicher Schwierigkelten unter einer starken Belastung. Diese verschärfen sich noch durch die Spannungen und Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die sich ihm daraufhin sexuell entzieht. Durch einen Bericht über die Folterung und sexuelle Mißhandlung weiblicher politischer Gefangener, den er zufällig sieht, wird er sexuell so erregt, daß er durchdreht und seine Frau vergewaltigt, als sie sich weigert, mit ihm zu schlafen. Dabei reagiert er einen Teil seiner aufgestauten Frustrationen ab.

Danach plagen ihn schwere Schuldgefühle und er versucht, das Geschehene durch besondere Aufmerksamkeit und Liebe wieder gutzumachen. Obwohl er seine sadistischen Impulse zu kontrollieren versucht, kommt es immer wieder zu solchen sexuellen Mißhandlungen an seiner Frau, die zunehmend mehr Angst vor seiner ünberechenbarkeit bekommt und sich schließlich von ihm trennt. Er zieht sich von allen Menschen zurück und reagiert mit Depressionen und selbstzerstörerischem Grübeln. Schließlich beginnt er sich selbst Schmerzen zuzufügen und erreicht dadurch sexuelle Befriedigung. Während er mehrfach täglich Selbstbefriedigung macht, stellt er sich immer häufiger vor, wie er von einer Frau sexuell mißhandelt wird.

Rein statistisch gesehen scheinen Männer viel eher sexuelle Perversionen zu entwickeln als Frauen. Woher das kommt, ist bis heute weitgehend ungeklärt. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß Jungen während des sexuellen Mißbrauchs neben dem Ekel, der Angst und der Scham auch eher sexuelle Lust und Erregung erleben als Mädchen. Über den Lernmechanismus der Klassischen Konditionierung können unter diesen Umständen Gewalt, Demütigung und körperlicher Schmerz zu Auslösern sexueller Lust programmiert werden, so daß die Betroffenen solche Situationen immer wieder aufsuchen.

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   Der Lebensweg als Sexualstraftäter   

 

Aus Angst, vielleicht nicht männlich genug zu sein und so zu den sexuellen Übergriffen beigetragen zu haben, verhalten sich manche Jungen betont draufgängerisch und aggressiv oder begehen Straftaten, um sich und andere von ihrer Männlichkeit zu überzeugen. Viele der Jungen fallen nach dem sexuellen Mißbrauch gehäuft wegen ihres Sexualverhaltens, z. B. ausgeprägter Selbstbefriedigung, auf. Bei einigen Jungen entsteht mit dem sexuellen Mißbrauch der Wunsch, die dabei erlebte sexuelle Erregung und Befriedigung wieder zu erleben, allerdings nicht mehr mit dem Mißbraucher. Sie fordern dann jüngere Kinder zu sexuellen Spielen auf und gehen dabei ähnlich vor, wie sie dies bei dem Mißbraucher beobachten konnten. Auf diese Weise mißbrauchen sie selbst andere Kinder. Manchmal nimmt dies zwanghafte Züge an, was darauf hindeutet, daß es nicht allein aus sexuellem Interesse geschieht, sondern auch ein Ausdruck dafür ist, daß die Jungen mit ihren eigenen sexuellen Gewalterfahrungen nicht fertigwerden.

Eine amerikanische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß 80% aller verurteilten kriminellen Männer als Kinder sexuell oder körperlich mißhandelt wurden. In einer anderen Studie fand man, daß 23% der inhaftierten Vergewaltiger und 57% der Mißbrauchstäter als Kind sexuell mißbraucht wurden. Männer sind also viel mehr als Frauen in Gefahr, aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs und anderer Mißhandlungen aggressive und antisoziale Verhaltensweisen zu entwickeln. Wenn Männer sich im Alltag ohnmächtig oder gekränkt fühlen, reagieren sie eher mit Wut und Aggression, während Frauen sich in diesen Situationen eher ängstlich und deprimiert in sich zurückziehen.

Aufgrund der Geschlechtsrollen verarbeiten Frauen ihren sexuellen Mißbrauch und andere Mißhandlungen eher im Sinne von »ich bin schuld und nicht liebenswert«, reagieren mit gesteigerter Opferbereitschaft und werden dadurch auch immer wieder Opfer von Demütigung und Gewalt. Dagegen verarbeiten Männer ihre Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen eher in Richtung »die anderen sind schuld und böse« und reagieren mit gesteigerter Aggressivität und unangemessener Gereiztheit auf ihre Mitmenschen. Dies erklärt, warum die meisten Mißbraucher, Vergewaltiger und Gefängnisinsassen Männer sind, während die Opfer sowie die Patienten psychotherapeutischer und psychiatrischer Einrichtungen mehrheitlich Frauen sind. Befassen wir uns etwas genauer damit, wie ein Mann zum Gewalttäter wird.

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Abbildung 18:

Die AGGRESSIONSSPIRALE bei Sexualstraftätern

 

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Unter dem Einfluß der männlichen Geschlechtsrolle wird aus der ursprünglichen Überzeugung »Ich bin nicht okay« leicht die Vorstellung: »Ich bin noch einigermaßen okay, aber die anderen sind gar nicht okay.« Manche jungen Männer, die als Kind viel Gewalt und Kränkungen erlebt haben und keine Freundin finden, weil sie sich im Umgang mit Frauen ungeschickt und kränkend verhalten, erklären sich ihre Zurückweisungen damit, daß Frauen arrogant und berechnend sind.

Durch die frauenverachtenden Bemerkungen anderer Männer und das Anschauen frauenfeindlicher Gewaltpornos fühlen sie sich berechtigt, sich mit Gewalt zu holen, was ihnen scheinbar ungerechterweise von den Frauen vorenthalten wird: Sie vergewaltigen Frauen. Sie haben dabei oft kein schlechtes Gewissen, weil sie sich selbst gar nicht als Täter, sondern eher als Opfer erleben und sich von den Gerichten zu einer ungerechten Strafe verurteilt fühlen. Die Vorstellung »Alle Menschen sind böse und wollen mich fertigmachen« hat sich damit erneut bestätigt und verstärkt das Mißtrauen und die Bereitschaft zu aggressiven Übergriffen. Auch der Gefängnisaufenthalt, wo die Betroffenen auf Männer treffen, die ein ähnlich menschenverachtendes Weltbild entwickelt haben, bremst diese psychische Fehlentwicklung nicht, sondern fördert sie noch weiter.

Viele Männer benutzen Sex als Ablaßventil für ihre Wut. Im Gefängnis, wo Frauen als Blitzableiter für den männlichen Frust fehlen, richtet sich die aufgestaute Aggression gegen schwächere Männer. Als schwach gelten Männer dann, wenn sie sich nicht sofort selbstbewußt abgrenzen können, sondern Unsicherheit und Angst zeigen.

Ein Mann berichtete Phyllis Chesler folgendes von seinen Hafterlebnissen:

»Knast ist gleichbedeutend mit Gewalt. Beinahe jeder im Knast ist durch den Staat fertiggemacht worden. Ganz gleich, was er gemacht hat. Darum machen sie sich im Knast gegenseitig fertig. Wenn zum Beispiel ein Neuer in den Knast kommt, versucht irgend jemand, ihn anzumachen... Jetzt hat der Gefangene die Wahl. Er kann entweder sagen, <weißt du, ich mach da nicht mit> - oder er kann sich darauf einlassen. Vielleicht versucht der andere, etwas Gewalt anzuwenden, doch wenn er sich wirklich wehrt, passiert ihm nichts. Die Gefangenen wollen sich nicht mit den Behörden anlegen. Außerdem könnte der Neue einfach zurückschlagen und den anderen verletzen...

Na, ein Kerl versucht, den Neuen anzumachen. Im Gespräch kann er gleich sehen, worauf der eingeht. Dann folgt beiden ein Dritter. Wenn sie glauben, daß der Neue jemand ist, mit dem sie es machen können, vergewaltigen sie ihn zu dritt oder viert in seiner Zelle... er ist im Gespräch auf etwas eingegangen, worauf er sich besser erst gar nicht eingelassen hätte. Einmal ist ein Junge in seiner Zelle von vier Leuten vergewaltigt worden. Er hatte ungeheure Schmerzen und blutete sehr stark. Er wurde ins Krankenhaus gebracht...

Wer vergewaltigt wird, wird nicht als Opfer angesehen, sondern als jemand, der gezeichnet ist und von dem man sich fernhält. Zu seinem eigenen Schutz wird er eine Zeitlang von den anderen getrennt. Wenn sie ihn dann wieder mit den übrigen Knastologen zusammensperren, wird er von jedem gefickt... Aber Sie sehen ja, ich bin ziemlich kräftig gebaut. An mich kommt keiner ran. Sicher, auch ich kann zusammen­geschlagen werden — doch im allgemeinen gucken mich die Kerle an und fragen sich, warum sie gerade mich ficken sollen... Ja [ich bin ein Einzelgänger], ich brauche niemanden in meiner Nähe.«

Es gibt also auch unter Männern eine Rollenaufteilung in Opfer und Täter. Opfer wird, wer sich zuviel gefallen läßt und nicht rechtzeitig seine Wehrhaftigkeit demonstriert.

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   Der Lebensweg als Stricher   

 

Jungen, die in einem kaputten Elternhaus oder im Heim aufwachsen und dann noch sexuelle Mißbrauchs­erfahrungen machen, laufen oft von zu Hause weg. Sie werden bevorzugt von pädophilen Männern aufgelesen, die sie mit den Versprechungen locken: »Bei mir kriegst Du was zu essen, kannst duschen, fernsehen und hast ein warmes Bett.« Auf diese Weise beginnt oder wiederholt sich der sexuelle Mißbrauch. Geprägt durch diese Erfahrungen fangen manche Jungen an, nach pädophilen Männern Ausschau zu halten, ihnen hinterherzulaufen und sich sexuell anzubieten, um auf diese Weise für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Die meisten haben ein großes Nachholbedürfnis nach väterlicher Fürsorge und Geborgenheit, weil es die in ihrem Leben bisher nicht gab. Der Weg in die Prostitution ist dann nicht mehr weit. Viele Stricher sind relativ jung (13-15 Jahre), wenn sie sich das erste Mal an einen Mann verkaufen. Sie fühlen sich wertlos und ohnmächtig, können sich nicht durchsetzen und sind unfähig, die Verant­wortung einer festen Partnerbeziehung auf sich zu nehmen. Aufgrund ihrer großen Sehnsucht nach Nähe und ihrer gleichzeitigen Angst davor sind sie unfähig, sich auf eine engere Gefühlsbindung einzulassen und die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen.

Die meisten von ihnen haben weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch eine eigene Wohnung. Viele leben davon, von frühmorgens bis spät in die Nacht nach einem Freier Ausschau zu halten, an den sie sich für 30, 50 oder 80 DM verkaufen. Sex findet dann in den Kabinen öffentlicher WCs oder in Stundenhotels statt. Ab und zu werden sie von einem Freier mit nach Hause genommen, wo sie sich duschen und über Nacht bleiben können.

Stammkunden, bei denen die Jungen für längere Zeit wohnen können, sind selten und bleiben es auch nicht sehr lange. Ansonsten übernachten viele Stricher in abgestellten Zügen oder S-Bahnhöfen. Die Freier sind in der Regel Männer um die 40 Jahre und älter, oft auch verheiratete Familienväter, die ihre homosexuelle Neigung zu verbergen suchen. Die meisten Freier behandeln den Stricher wie eine Ware. Es interessiert die wenigsten Freier, ob der Stricher homo- oder heterosexuell ist und wie hoch bei ihm das Aids-Risiko ist. Sex findet meist ohne Kondom statt.

Den meisten Strichern ist das Aids-Risiko egal. Ihr Leben ist so verpfuscht, daß es ihnen nicht mehr viel bedeutet. Fast alle Stricher nehmen irgendeine Art von Droge. Die Hälfte ist heroinsüchtig, weil sie nur so ihr Leben ertragen können. Ihre Drogen­abhängigkeit zwingt sie noch mehr, sich zu verkaufen. Stricher sind sowohl durch ihr Sexualleben als auch durch ihren Drogenkonsum extrem aidsgefährdet. Durch diesen Lebenswandel werden viele nicht alt. Selbstmordversuche sind nicht selten. Und wenn sie zu alt sind, um auf den Strich zu gehen, enden sie oft als alkoholkranke Stadtstreicher.

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