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14.  Die Langeweile

 

 

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Wie schöpferische Tätigkeit und Arbeit ein Gegensatzpaar sind, so sind Muße und Langeweile ebenfalls ein Gegensatzpaar. Die Langeweile ist ein Produkt der Arbeitsgesellschaft. Sie ist das Ergebnis der monotonen Arbeit am Fließband und bei den Verwaltungs­tätigkeiten, und sie ist das Ergebnis der Monotonie der Produkte, die aus solchen Arbeits­verhältnissen entstehen. Es sind das Massenprodukt, die Massen­behandlung und der Massenkonsum, die die Langeweile selbst hervorbringen.

Insoweit ist die Langeweile in sämtliche Lebensbereiche des Menschen eingedrungen. Der Mensch läßt sich seine Arbeit diktieren, er läßt sich seine Arbeitszeit diktieren, er läßt sich seine Behandlung von der Verwaltung diktieren, und er läßt sich seinen Konsum von der Werbung diktieren. Der Mensch ist ein organisiertes Wesen, und er empfindet in diesem Organisations­geflecht keine Langeweile, es sei denn, es entsteht eine Zwischenzeit; dafür hat er jedoch das Fernsehen.

Fernsehen ist die perfekte Ausfüllung von Zwischenzeit. Es ist unzusammenhängendes Konsumieren, ist Monotonie in Wartestellung. Der weitentwickelte Mensch des 20. Jahrhunderts pocht auf seine Rechte. Er will seine Arbeit — und wehe, man nimmt sie ihm weg. Er pocht auf seine Rechte gegenüber dem Staat, er macht den Staat für fast alles verantwortlich, er stöhnt, wenn er selber Verantwortung tragen soll, und er will als Mensch seinen Konsum, er will ihn aber ohne Folgen. Und wenn er doch einmal alles andere nicht hat, dann hat er wenigstens sein Fernsehen. Das ist dann der Ersatz für Kultur.

Daher haben fast alle großen Massen­gesellschaften eine ungeheure Angst davor, dem Menschen Teile dieses Organisationsgeflechts wegzunehmen. Der Mensch wird dann haltlos. Er verliert seine Ordnung. Er wird sozial heimatlos. Er hat doch lieber seine Routine, seine Monotonie, als daß er selber etwas organisieren muß.

Ich habe bereits dargestellt, daß der Ackerbau nicht aus Not, sondern aus Langeweile vom Mann entwickelt wurde. In irgendeiner Pause seines Lebens zu irgendeinem Zeitpunkt an einer fast beliebigen Stelle ist ein Mensch vor 10.000 Jahren oder noch früher aus seiner Mußehaltung ausgebrochen. Er verließ die tätige, die denkende Muße und empfand Langeweile. Diese Langeweile kam ihm unheimlich vor, sie war nicht ausgefüllt mit seinen denkerischen Vorstellungen, und er setzte nun die Vorstellungen um in Aktivität.

Wie er dies tat, ist bekannt, warum er dies tat, ist nun erklärt. Er tauschte das Unstete des gedanklichen Schweifens in seiner freien Zeit ein gegen die Monotonie der Zeiteinteilung, des Ackerns und Arbeitens. Er hatte nun eine festumrissene Aufgabe, er konnte nun endlich tätig sein. Fast zwangsläufig wurde aus Langeweile Arbeit, aus Arbeit Unterdrückung und Herrschaft und aus allem zusammen Zerstörung. Dieser Irrtum wurde über die Jahrtausende weitertransportiert und weiterentwickelt. Daneben entstand der unausrottbare Mythos, daß Arbeit aus Not und Unterversorgung entstanden sei, und er wurde genährt mit der Verfluchung der Arbeit durch die Vertreibung aus dem Paradies.

Der Mensch versuchte nun, zwei Dinge zu tun: die Arbeit abzuschaffen und gleichzeitig der Langeweile, die für ihn daraus unweigerlich resultierte, zu entfliehen. Eine schizophrene Handlung, weil ihm die Erkenntnis versperrt bleibt, daß der Schritt aus der Arbeit nicht in die Langeweile, sondern in die Muße führt. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier nicht als arbeitender Konsument, sondern als denkendes Mußetier. Er ist genauso faul wie das Tier, hat aber zu seiner kulturellen Empfindung die Reichhaltigkeit seines Denkens. Die Arbeit hält ihn von diesem Empfinden ab.

In der Interpretation von Hannah Arendt kann man nach Karl Marx das menschliche Leben auf zwei Grundprozesse zurück­führen: auf Arbeit und Zeugung. Und der Mehrwert, der hinzukommt, ist auf den Kraftüberschuß zurückzuführen, der übrigbleibt, wenn die Reproduktion der eigenen Lebensmittel und der eigenen Lebens- und Arbeitskraft geleistet ist. Indem Marx die Arbeit und die Zeugung zusammensah, gelangte er in eine Tiefenschicht, die keiner seiner Vorgänger — denen er nahezu alle seine Einsichten verdankte — und keiner seiner Nachfolger je erreicht hat. Hier wird deutlich, daß auch Hannah Arendt der Arbeitsideologie auf den Leim gegangen ist.  

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Das Arbeiten ist eine Erfindung des Mannes, und es geht eigentlich auch nicht um die Zeugung, sondern es geht um das Erschaffen des Lebens und das Gebären. Interpretiert man Marx so, dann ist die Arbeit eine Ersatzhandlung für das Gebären der Frau. Besinnt man sich auf die beiden Flüche, die Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies mitgegeben wurden, so handelt es sich zum einen um die Arbeit und zum anderen um das Gebären unter Schmerzen. Hier werden die Funktionen verteilt, und hier wird klargemacht, daß beide Funktionen für Mann und Frau mit einem Fluch behaftet sind.

Arbeit wird also zu einer Ersatzfunktion für das natürliche Gebären. Nur ist Gebären etwas, was der Natur verhaftet ist, während Arbeiten etwas ist, was gegen die Natur gerichtet ist. Und die Gleichsetzung der Arbeit mit dem Gebären ist eine Ersatzhandlung für den bei diesem Prozeß überflüssigen Mann. Also ist es fast folgerichtig, daß er die Arbeit erfindet und sie solange ideologisch bearbeitet, bis sie aus dem Leben des Menschen nicht mehr wegzudenken ist. Nun hat er endlich etwas, womit er sich wichtig machen oder was er dem Gebären entgegensetzen kann. Er ist nun wichtig, und er wird immer wichtiger.

Aber mit dieser ideologischen Besetzung der Arbeit ist es weder bei Karl Marx noch bei Hannah Arendt getan. Beide setzen noch einen zusätzlichen Akzent: 

"Denn daß die Mühsal der Arbeit und die Mühsal des Gebärens nur zwei verschiedene Formen eines Selbigen sind, darüber sind sich die sonst so disparaten Traditionen des hebräischen und des klassischen Altertums einig. In Marx' Werk wird daher deutlich, daß die neuentdeckte ›Produktivität‹ der Arbeit einfach darauf beruht, daß man Frucht­barkeit und Produktivität gleichsetzte, so daß die berühmte Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte zu einem gesellschaftlichen Überfluß in Wahrheit keinem anderen Gesetz untersteht und an keine andere Notwendigkeit gebunden ist als an das uralte Gebot; ›Seid fruchtbar und mehret euch‹, aus welchem gleichsam die Stimme der Natur zu uns spricht. Die Fruchtbarkeit des Stoffwechsels des Menschen mit der Natur, die aus dem natürlich gegebenen Überschuß an Arbeitskraft, über den ein jeder verfügt, herauswächst, gehört zu dem Überfluß und der Überfülle, die wir überall im Haushalt der Natur beobachten können." 

(H. Arendt, Vita activa, S. 97)

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Nichts kann deutlicher belegen, aus welchen Ursprüngen die Arbeitswut, der Fortschritt der Produktiv­kräfte und die Über­völkerungs­ideologie des Seid-fruchtbar-und-mehret-Euch stammen. Es wird auch hinreichend deutlich, daß es in der Natur niemanden gibt, der den Menschen zu diesem Tun auffordert. Er selbst ist es, und man könnte allenfalls einwenden, er sage es als Teil der Natur; er sagt es aber mit seinem Verstand. Und der Verstand ist ein sehr spröder Teil der Natur, er bleibt es eigentlich nur, solange er als Gedanke im Kopf des Menschen existent bleibt. Verläßt er hingegen den Kopf, so wird er als Handlung vollzogen und setzt sich in Form von Arbeit in Naturzerstörung um. Auch hier finden wir den Begriff des Fortschritts der Produktiv­kräfte wieder, und wir können sehr schnell aus dem Verlauf der Geschichte erkennen, daß es sich um einen Fortschritt der Zerstörungs­kräfte handelt.

Wir sind fast am Ende dieser Fortschrittsleiter angelangt.

Die beiden Motoren der Zerstörung sind gesichtet und erkannt, die Ideologien sind eben nicht der Natur verhaftet. Es gibt keinen Überfluß und keine Überfülle der Natur, und es gibt auch keinen Überschuß an Arbeitskraft, sondern nur Überfluß in der Zerstörung, und die Arbeitskraft führt in ihrer Anwendung zur Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen.

Hannah Arendt wird noch deutlicher: "Und ein in der Arbeit sich verbrauchendes Leben ist der einzige Weg, auf dem auch der Mensch in dem vorgeschriebenen Kreislauf der Natur verbleiben kann." Genau das konnte er nicht, heute können wir es wissen, ein in der Arbeit sich verbrauchendes Leben wird den Menschen aus dem Kreislauf der Natur über kurz oder lang ausscheiden. Und auch da hat nicht die Natur ihn ausgeschieden, sondern nur er sich selbst.

Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Ich habe sehr wohl verstanden, daß Hannah Arendt in ihrem Buch mühsam zwischen Arbeiten und Herstellen zu unterscheiden versucht. Das eine ist für sie das, was ich Tätigkeit nenne, und das andere ist für sie Massen­produktion — um es auf einen Punkt zu bringen.

Aber das Herstellen im Sinne von Hannah Arendt fängt schon an dem Punkt an, wo sie Arbeit definiert. Herstellen ist — das können wir heute wissen — auch Arbeiten.

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Darüber hinaus bewältigt sie nur das Problem der Entfremdung und der Entgeistigung der Arbeit, nicht aber das viel gravierendere Problem der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage durch den Überschuß an Arbeit. Der fleißige Bauer taugt nicht als Idealbild für den arbeitenden Menschen, und zwar nicht erst seit der Einführung der Agrarfabriken in den USA, in der europäischen Wirtschafts­gemeinschaft oder den Kolchosen in den sozialistischen Ländern, sondern schon seit der Erfindung des Ackerbaus.

Es ist schließlich auch ein wahnwitziger Gedanke, daß die Fortpflanzung des Menschen ein Pendant zur Arbeit sei. Wie wenig wird bei dieser Betrachtungsweise von Lust und Unlust verstanden, wie sehr wird dieses denkende Mußetier Mensch herab­gewürdigt zu einem Sklaven von Arbeit und Nachkommenschaft. Es sind genau die christlich-jüdisch-abendländischen Einschätzungen einer allumfassenden Arbeits- und Fortpflanzungs­ideologie, die Hannah Arendt und Karl Marx zu ihren Aussagen kommen lassen.

 

Die Frage, die sich heute viele Konservative, aber auch linke Kritiker der Industrie­gesellschaft stellen, ist die nach dem Verschwinden der Arbeit. Fast überall wird heute die schöne Frage gestellt, was kommt, wenn die Arbeit geht. Alle fluchen auf die Arbeit, alle verwünschen sie, aber sobald die Drohung am Horizont erscheint, daß uns bald die Arbeit ausgeht, entsteht ein furchtbares Gejammere.

Dieses wurde aber bisher nur unter dem Aspekt der allgemeinen Verwahrlosung der Gesellschaft gesehen. Schon die heutigen Probleme mit einem Heer von Beschäftigungslosen zeigen die Tendenzen auf, die eine langfristige Regulierung eines immer größeren Heeres von Arbeitslosen nicht mehr denkbar erscheinen lassen. Zwar glaubt man, die Fehler der zwanziger Jahre gelöst zu haben, indem man den Arbeits- und Beschäftigungslosen ein Mindestauskommen sichert, um sie nicht wieder zur leichten Beute totalitärer Ideologien werden zu lassen, dennoch sorgt man sich immer mehr um ihre geistige und menschliche Denaturierung.

Darüber hinaus tun alle so, als ob man den heute schon Arbeitslosen auf mittlere Sicht wieder Arbeit vermitteln könnte. Und diejenigen, die demnächst arbeitslos werden, bereitet man nicht auf ihre Arbeitslosigkeit vor, sondern suggeriert ihnen, sie könnten durch Weiterbildung und Umschulung dieser Arbeitslosigkeit entgehen. Weiterhin werden die, die zwar formal Arbeit haben, aber an ihren Arbeitsplätzen immer weniger zu tun haben, im unklaren darüber gelassen, daß sie eigentlich nichts zu tun und nichts zu arbeiten haben.

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In einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland machen die genannten Gruppen heute schon einen Gesamtanteil von 20-50 % — je nach Rechnung — der gesamten arbeitenden Bevölkerung aus. Hinzurechnen muß man noch, daß selbst diejenigen, die wirklich noch arbeiten, zur Hälfte oder zu Dreiviertel Produkte herstellen, die entweder gar nicht gebraucht werden oder aber für die Umwelt, den Verbraucher oder die Arbeitenden schädlich sind.

Dieses riesige Problempotential, das heute in allen Industrie­ländern zu beobachten ist, wird mit Methoden des 19. Jahrhunderts untersucht und von allen einschlägigen Praktikern und Theoretikern entweder gar nicht wahrgenommen — wie z.B. die Gruppe der arbeitenden Nichtarbeiter —, statistisch weggedrückt — wie die Gruppe der mittelfristig Arbeitslosen — oder zu Arbeitern in Wartestellung deklariert, genannt Arbeitslose, die mit Sicherheit nie mehr Arbeit finden werden.

Daneben wird weiterhin mit einer ungeheuren Geschwindigkeit automatisiert, und es wird auch in den Bereichen Arbeit abgeschafft, die bisher allein den Menschen vorbehalten waren, nämlich im geistigen Bereich durch die Rechner. In dem bereits mehrfach zitierten Werk von Hannah Arendt findet sich noch ein, heute möchte man fast sagen naiv anmutender Gedanke: "Das Denken schließlich (das wir außer Betracht gelassen haben, weil die gesamte Überlieferung, inclusive der Neuzeit, es niemals als eine Tätigkeit der Vita activa verstanden hat) hat, so möchte man hoffen, von der neuzeitlichen Entwicklung noch am wenigsten Schaden genommen" (Hannah Arendt, Vita activa, S. 317). Geschrieben hat sie das um 1960, gedacht hat sie es wahrscheinlich wesentlich früher, heute kann jedoch niemand mehr von einer solchen Betrachtungsweise ausgehen.

Immer mehr Routinedenkvorgänge und immer komplexere logistische Denkvorgänge werden von den Maschinen übernommen. Es gibt also auch im Bereich des Denkens ein immer mehr wachsendes Potential an Arbeitslosen. Hierunter will ich nicht nur Intellektuelle verstanden wissen, auch die gesamte Schicht der Handwerker und der mittleren Hierarchieebene in der Industrie ist von diesem Prozeß mit horrender Geschwindigkeit betroffen. Die Industrialisierung, die Automatisierung und die Computer­isierung laufen zwangsläufig auf die Abschaffung der Arbeit durch alle Arten von Automaten hinaus.

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Damit ist aber nicht verbunden, daß die Produktionen umweltfreundlich werden, und damit ist vorläufig nicht verbunden, daß die Produkte, die erzeugt werden, verbraucht werden müssen. Der Arbeiter — ich habe es bereits gesagt — wird vom Konsumenten abgelöst.

Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Hat der Arbeiter noch Lust zu konsumieren, wenn er keinen unmittelbaren Bezug mehr zur Arbeit hat? Es geht also gar nicht mehr um die Entfremdung in der Arbeit, sondern um den Entfremdungs­prozeß zwischen Arbeiten und Konsumieren. Es ist hoffentlich bereits deutlich geworden, daß der Arbeiter nur einen Bruchteil seiner Arbeitszeit benötigt, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Den großen Rest, den Überschuß der Produktivkräfte, verwendet er — wie auch teilweise der Unternehmer — zum Konsum, zum Überschußverbrauch. Der Konsum wird in der Arbeitsgesellschaft als Belohnung für die Arbeit angesehen. Löst sich der Konsum bezugsmäßig von der Arbeit, so stellt sich die Frage, ob ein Konsum ohne Belohnungs­funktion möglich ist.

Das Gegensatzpaar Arbeit und Freizeit wird aufgelöst, die Hohlheit des Konsums muß aber aufrechterhalten werden, um die Produktion sicherzustellen. Man kann sich sehr wohl Formulierungen vorstellen, die im übertragenen Sinne das Recht auf Arbeit in ein Recht auf Konsum umwandeln. Wie es das Recht auf Arbeit gibt und die Pflicht zur Arbeit, so kann sehr wohl auch aus dem Recht auf Arbeit die Pflicht zum Konsum entstehen. Der einzelne würde dann durch eine Institution in die Pflicht genommen zu konsumieren.

Schon seit mehr als 40 Jahren kennen wir diese Problematik. In Zeiten kleinerer Wirtschaftskrisen rief schon Ludwig Erhard den Bürgern zu: "Ihr habt genug gespart, konsumiert wieder." Das war der erste, milde Versuch, den Bürger an seine Pflicht, die Volkswirtschaft aufrecht zu erhalten, zu erinnern. Und als der Bürger anfing, auch im Bereich der Nachkommenschaft nicht mehr so eifrig zu sein, ihm also die Lust ausging, Kinder in die Welt zu setzen — und hier ist Lust im wörtlichen Sinne zu verstehen —, wurde er ermahnt, doch fruchtbarer zu sein und für die Produktion von Kindern zu sorgen.

Die Appelle an den Konsumenten wurden im Laufe der Entwicklung zur industriellen Überschuß­gesell­schaft der letzten 40 Jahre immer schärfer und härter. Die Verbrauchs­anforderungen werden immer mehr zu zwanghaften Veranstaltungen, es kommt zu einem Wechselbad zwischen Drohungen und Verlockungen.

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Der Rückfall in vorwohlstandliche Gesellschaftsformen wird beschworen, die Japaner müssen herhalten mit ihren bienenfleißigen Arbeitern und ihrem guten Konsumverhalten, vor allem die Amerikaner müssen herhalten, die eine hohe Binnenkonjunktur durch ein hohes Niveau des Konsums sichern. Sowohl der amerikanische Außen- als auch der Wirtschafts- und Finanzminister fordern die Europäer auf, die Weltkonjunktur durch eine Erhöhung des Konsums zu stützen. Das Wohl der Entwicklungs­länder soll erreicht werden durch ein konsumorientiertes Wirtschafts­wachstum nach dem Motto: Menschen der Industrieländer, verbraucht die Entwicklungs­länder reich!

Trotzdem hätte man wohl kaum den Übergang der verschiedenen Arbeitergruppen in die Konsumenten­gruppen ruckartig organisieren können, wenn es nicht sehr interessante gesellschaftliche Vorformen und Zwischenformen des idealen Konsumenten gegeben hätte. In diesem Zusammenhang ist der Angestellte zu betrachten. 

Er ist der Typus des Menschen, der die Lücke zwischen Arbeiter und Konsumenten ausfüllt. Man könnte ihn als den Idealtypus des nichtarbeitenden Arbeiters bezeichnen. Er tut eigentlich nichts, er verwaltet, aber er hat genügend Möglichkeiten von seinem Arbeitgeber her, dies zu verbergen. Er bereitet sich und die Menschheit perfekt auf die Zeit der Nichtarbeit vor. Damit der Angestellte verwalten kann, müssen Gesetze, Rechtsverordnungen, Verwaltungs­vorschriften, Ausführungsvorschriften usw. erlassen, angewendet und beraten werden. Dies allein füllt wahrscheinlich schon ein Drittel seiner gesamten Tätigkeit und der Tätigkeit seiner Gruppe aus. Darüber hinaus erfindet der Angestellte sowohl in den öffentlichen Verwaltungen als auch in den Industriebereichen den ganzen Tag über Tätigkeiten. Er stellt sie dar, er verwirft sie, er diskutiert sie, er plant sie, und er übt sie dann — nicht in jedem Falle, aber oft — aus.

Ist einmal eine Tätigkeit erfunden, wird als nächstes eine Instanz zur Kontrolle der Tätigkeit entwickelt. Gerechtigkeit muß sein, Kontrolle muß sein, das sieht jeder ein. Es ist ein neuer Arbeitsplatz geschaffen, dieser Arbeitsplatz muß selbstverständlich auch verwaltet werden, schon wieder ist ein neuer Arbeitsplatz geschaffen, und der Angestellte wird immer wichtiger. Sind viele neue Arbeitsplätze in einer oder mehreren Verwaltungen geschaffen, müssen diese vereinheitlicht, zentralisiert, harmonisiert und bewertet werden. Es werden neue Arbeitsplätze erfunden und entwickelt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird der Volks­wirtschaft dies alles zuviel.

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Das Volk murrt, die Arbeitsplätze werden untersucht. Sie werden harmonisiert, sie werden rationalisiert, sie werden weiter zentralisiert, sie werden automatisiert, und es werden Rationalisierungsarbeitsplätze geschaffen. Es entsteht eine Rationalisierungs­verwaltung. Sie wird zwar niemals einen Arbeitsplatz wegrationalisieren, aber für eine gewisse Zeit ist die Zufriedenheit des Volkes wiederhergestellt, alle haben eine Arbeit.

Darüber hinaus ist der Angestellte natürlich kein Arbeiter. Er ist, wo immer er arbeitet, dem Ziel des Unter­nehmens, ob es nun ein Staatsunternehmen, eine öffentliche Verwaltung oder ein Industrie­unternehmen ist, am nächsten, denn er arbeitet nicht mit der Hand, sondern mit dem Kopf. Er ist ein Edelarbeiter, und er denkt mit dem Unternehmen mit, er identifiziert sich mit ihm. Er ist damit schon fast ein Intellektueller und reicht mit seiner Tätigkeit in den Bereich des Schriftstellers, des Dichters und ähnlicher hochangesehener Persönlichkeiten hinein, die natürlich nicht bezahlt werden, während er selbst, und das ist der feine Unterschied, ein Gehalt empfängt. Deswegen ist er in der Regel auch glücklicher und zufriedener. Kurz, der Angestellte ist der perfekteste nichtarbeitende Arbeiter, und da er gleichzeitig kein Arbeiter, sondern ein Angestellter ist, hat er kein Klassen­bewußtsein, organisiert sich wesentlich schlechter, vertritt seine Interessen wesentlich disparater und macht weniger Aufstände.

Wie perfekt ein Angestellter ist, kann man noch an einem anderen Aspekt seiner Tätigkeit sehen. Einem wirklichen Handarbeiter fällt es meist schwer, sich vor der Arbeit zu drücken. Der Angestellte hingegen ist professionell in dieser Tätigkeit, und er lächelt nur über den Arbeiter, den er darüber hinaus auch noch kontrolliert. Als Profi findet er natürlich sofort heraus, wenn sich einer drückt, bei ihm dagegen ist es Profession. Sein Beruf ist es, so zu tun, als arbeite er.

Der Angestellte ist darüber hinaus für jedes System brauchbar. Er ist staatstragend, ordnungsliebend, und er kaschiert seine Inkompetenz perfekt. Die Arbeit des Arbeiters kann man in der Regel sehen, prüfen, bewerten, anfassen und wegwerfen, weshalb dieser zwangsläufig kompetent sein muß. Die Arbeit des Angestellten ist in der Regel unsichtbar. Sie ist ein geistiges Produkt, und er trägt in der Regel für seine Arbeit noch nicht einmal die Verantwortung.

Noch aus einem weiteren Grund ist der Angestellte der perfekteste staatstragende Diener des Systems, denn er lebt vom Überfluß, der im Staat erwirtschaftet werden muß. Nur diesem Überfluß verdankt er seine materielle Existenz.

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Es ist interessant zu beobachten, daß viele Arbeiter sich auch heute noch konstant weigern, Angestellte zu werden. Sie fühlen instinktiv, daß sie für die Existenz des professionellen Nichtarbeiters nicht geboren sind. Sie sind konditioniert zu arbeiten, sie haben dies gelernt, ihre gesamte Erziehung ist auf ein komplexes Hand- und Kopfarbeiten hin ausgerichtet. Hier liegt daher auch die größte Problemgruppe der künftigen Nichtarbeits­gesellschaft.

Die Anzeichen hierfür finden sich immer dann, wenn in Arbeitsbereichen Automatisierungen eingeführt werden. Es werden Automaten­straßen entwickelt, und die ehemaligen Arbeiter sind in der Regel nicht in der Lage, diese zu bedienen. Und zwar nicht wegen mangelnder Qualifikation, sondern weil sie überqualifiziert sind. Sie verstehen als Arbeiter zuviel von den Dingen, sie wollen die durchschnittliche Arbeit der Automaten auf das hohe Niveau ihrer eigenen Arbeit bringen und stören damit den Betrieb. Es hilft nichts, aus Arbeitern müssen dann Angestellte werden. Angestellte sind in der Regel inkompetent und bestens geeignet für die Bedienung solcher Maschinen. Angestellte identifizieren sich mit einem Betriebsablauf, sie suggerieren jedem, daß ein Betrieb nur deshalb läuft, weil sie ihn perfekt verwalten. Sie können einen Betrieb perfekt erklären, einen Besucher perfekt hindurchführen, und jeder glaubt dem Angestellten, daß er den Betriebsablauf in Gang hält. Der Arbeiter wirkt da hilflos.

Der Angestellte hat viele weitere Vorteile, er ist — wie schon gesagt — leistungsorientiert, er arbeitet nicht in Gruppen, sondern in Sachgebieten, er ist Sachbearbeiter, er ist deshalb auch sachbezogen, und er akzeptiert Sachzwänge oder erfindet diese sogar. Die Sachgebiete des Angestellten sind gegliedert, untergeordnet, übergeordnet, zusammengefaßt, nebengeordnet. Der Angestellte ist zuständig und unzuständig, aber er hat eigentlich keine Tätigkeitsbeschreibung. 

Ein Arbeiter arbeitet, ein Angestellter angestelltet nicht, er hat viel differenziertere Tätigkeiten, er verwaltet, er leitet, er koordiniert, er revidiert, organisiert, er führt und faßt zusammen, er entscheidet, er macht Ausnahmen, er trägt Bedenken vor und kann in komplexen Systemen denken, er ist selber das komplexe System.

Im Angestellten ist die Hierarchie das Normale, Er ist ihr verhaftet, er trägt sie in sich, er denkt in einem Teil seines Kopfes wie er selbst, im anderen Teil wie der Bürger und im dritten Teil wie der Vorgesetzte.

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Und daraus macht er eine abgewogene Entscheidung. Gleichzeitig macht ihn das so flexibel, daß er fast an jeder Stelle arbeiten kann. Er legt aber sehr großen Wert darauf, daß er kein Jobber im amerikanischen Sinne ist. Er wechselt deshalb nicht so gerne seinen Arbeitsplatz, er entwickelt Treue zum Betrieb, und er solidarisiert sich in der Regel nicht mit seinesgleichen. Der Angestellte erhält nach 25jähriger Betriebs­zugehörigkeit, also nach 25jähriger professioneller Nichttätigkeit, eine Urkunde mit etwa folgendem Wortlaut: Wer 25 Jahre seinem Betrieb die Treue gehalten hat, gab mehr als seine Arbeitskraft.

Nun werden Sie vielleicht sagen, dies alles ist wissenschaftlich nicht belegbar, es ist nicht berechenbar, es sind lediglich Vermutungen. Recht haben Sie, denn wer sollte es auch berechnen. Schließlich sind alle Wissenschaftler ebenfalls Angestellte.

Siegfried Kracauer hat 1929, als die Verwandlung des Proletariers zum Angestellten im vollen Gange war, eine hervorragende Definition der ideologischen Grundlage des Angestellten gegeben.

"Eine moralisch-rose Hautfarbe — diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufenster­dekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist. Seine Moral soll rosa gefärbt sein, sein Rosa moralisch untermalt. So wünschen es die, denen die Auslese obliegt. Sie möchten das Leben mit einem Firnis überziehen, der seine keineswegs rosige Wirklichkeit verhüllt. Wehe, wenn die Moral unter die Haut dränge und das Rosa nicht gerade noch moralisch genug wäre, um den Ausbruch der Begierden zu verhindern... Die Behauptung ist kaum zu gewagt, daß sich in Berlin ein Angestelltentypus herausbildet, der sich in der Richtung auf die erstrebte Hautfarbe hin uniformiert. Sprache, Kleider, Gebärden und Physignomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesse ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann. Eine Zuchtwahl, die sich unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht und zwangsläufig durch die Weckung entsprechender Konsumenten­bedürfnisse von der Wirtschaft unterstützt wird."

Kracauer, Die Angestellten, S. 24

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Weiter stellt Kracauer fest, die Masse der Angestellten unterscheide sich vom Arbeiterproletariat vor allem darin, daß sie geistig obdachlos sei. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, da ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte, also lebt sie in Furcht davor, aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen.

Kracauer beschreibt die kulturelle, soziale und industrielle Realität der berühmten zwanziger Jahre, die auch heute noch trotz aller gegenteiligen Beweise als die Roaring Twenties gefeiert werden und auf die sich die junge deutsche Demokratie mangels anderer demokratischer Grundlagen beruft. In Wirklichkeit waren die zwanziger Jahre die Ablösung des Proletariats durch den Angestellten. Auch für Kracauer hat das Proletariat noch eine fast nostalgische Bedeutung. Es schwingt in seinen Sätzen noch die Hoffnung mit, daß nach einer gewissen Bewußtseinsbildung des Angestellten ein Pakt zwischen dem führenden Proletariat und den Angestellten möglich sein könnte.

Der Angestellte der zwanziger Jahre war zweifelsohne einer der Wegbereiter, Träger, Mitläufer und Organisatoren des Faschismus. Nach dem Zusammenbruch und der Befreiung durch die Alliierten löste sich der Angestellte zunächst in Luft auf, und scheinbar traten die Proletarier in allen Parteien ihren endgültigen Weg in die Machtfunktionen des Staates an — im Westen wie im Osten.

Aber welch merkwürdige Wandlung in den fünfziger Jahren: In der Zeit des Wirtschaftswunders schlichen sich in alle Parteien, Organisationen, Verbände, Gewerkschaften — kurz, in alle gesellschaftlichen Institutionen — die Angestellten ein. Zuerst okkupierten sie wie immer die bürgerlichen Organisationen. Sie ebneten die Unterschiede zwischen Beamten und Angestellten ein, so daß wir heute nicht mehr zwischen Beamten und Angestellten, sondern nur noch zwischen dem Rest der klassischen Arbeiter und der anonymen Schicht der Angestellten unterscheiden können.

Der Angestellte beherrscht nahezu alle Positionen des öffentlichen und privaten Lebens. Er hat die CDU übernommen, er übernahm im Laufe der sechziger Jahre die Gewerkschaften, er hat mit Hilfe des Godesberger Programms die SPD geduldig aufgeweicht, er arbeitete sich auch in die Berufsverbände und selbst in die mittleren und oberen Etagen der Industrieimperien vor.

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Berthold Beitz ist kein Krupp, ist kein Unternehmer mehr, sondern ein klassischer Angestellter, der zwar ein spätbürgerliches Gehabe hat und sich furchtbar patriarchalisch gibt, aber in Wirklichkeit mit seiner Unver­bindlichkeit jeden anderen Unternehmer aussitzen kann.

Der Angestellte ist jener klassische Aussitzer, der am Ende seiner Karriere Bundeskanzler geworden ist. Und auch wenn an dieser Stelle nicht der Angestellte schlechthin sitzen würde, wäre er abhängig von seinen Angestellten, die alle Ministerien durchsetzt haben und sich deshalb auch mit Gewerkschaftern, SPDlern, Bürokraten in Brüssel und jedem beliebigen Menschen auf dieser Erde verstehen, wenn er nur Angestellter ist.

Jeder Kongreß selbst über die kontroversesten Themen — und wenn es um den Untergang dieser Welt geht — kann heute mit einem konstruktiven Kompromiß enden, weil er von Angestellten besucht wird, die sein Programm bestimmen und jene unverbindliche Sprache entwickelt haben, die alle wirklichen Probleme ausklammert und die unwichtigen Probleme in das zentrale gemeinsame Interesse rückt. 

Auch wo sich Kritik noch hätte formulieren können, im Unterholz des Staates an den Universitäten, in der Kunst und in der Literatur, dringt der Angestellte wie eine Wühlmaus unerbittlich vor. Er wird Stadt­schreiber, Hofliterat, Professor, Naturwissenschaftler, Chemiker, Gaukler oder Hofkünstler. 

Bereits Kracauer hatte bemerkt, daß Berlin ein bestimmtes Kulturbild vermittelt.

"Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur, das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird. Nur in Berlin, wo die Bindungen an Herkunft und Scholle so weit zurückgedrängt sind, daß das Weekend große Mode werden kann, ist die Wirklichkeit der Angestellten zu erfassen. Sie ist auch ein gut Teil von der Wirklichkeit Berlins" (S.15).

Das war 1929. 1988 war Berlin die Kulturstadt Europas. Heute kann wohl nichts mehr als dieses Kulturereignis dokumentieren, daß die Egalisierung der Kultur noch wesentlich weiter vorangeschritten ist als 1929. Die E 88 war nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Feier der Angestelltenkultur. Alle Versuche, dem kulturellen Ereignis durch das Herbeiholen von vielen kulturellen Gruppen aus anderen Teilen Europas Glanzlichter aufzusetzen, haben die Biederkeit, die Verwechselbarkeit und die Illusions­haftigkeit des Kulturbegriffs nur noch deutlicher gemacht. Kracauer drückte das 1929 mit dem Begriff "zwangloses Niveau" aus, heute würde man sagen "Seid nett zueinander".

Es ist jene zwanglose Zufriedenheit mit dem, was wir erreicht haben, und jenes grausige Verdrängen von dem, was wir nicht sehen wollen.

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Im Kulturjahr E 88 tagten gleichzeitig der Internationale Währungsfond und die Weltbank in Berlin und faßten Beschlüsse, die der Abholzung der Regenwälder und damit dem endgültigen Untergang der Menschheit den Weg ebnen. Ein Treffen von 10.000 Angestellten aus aller Welt, die für nichts Verantwortung übernehmen wollen, aber bereit sind, alles, was man ihnen aufträgt, durchzuführen. 

Vierzehn Tage zuvor tagten an derselben Stelle weitere 5000 Angestellte, die sich unter dem Motto "Straßen und Verkehr 2000" um ein anderes Kapitel zur endgültigen Vernichtung des Planeten Erde bemühten. Auch sie verweigerten sich einer grundsätzlichen Diskussion, sie fühlten sich letztlich für die großen politischen Schritte genauso wenig verantwortlich wie IWF und Weltbank, und auch sie suchten die Lösung in kleinen, machbaren Verbesserungen eines nicht verbesserungsfähigen Systems.

Max Frisch hat den Angestellten Biedermann genannt, und er hat für seinen Biedermann noch eine zweite Figur gefunden, nämlich den Brandstifter. Im Jahre 1988 sind Biedermann und Brandstifter identisch. Sie zünden gemeinsam ihr eigenes Haus an, und sie lachen noch über den Brand und erfreuen sich der Sensation.

Franz Kafka hat im "Schloß" sowohl das System des Angestelltenstaates und der Angestellten­organisation beschrieben, er hat aber auch den Landvermesser K. als den Typ des künftigen Staats­bürgers für immer festgehalten. Es ist der kleine, ängstliche Mensch, der nie aufbegehrt, immer wartet, sich einrichtet, keinen Widerstand leistet und zum Schluß froh ist, eine Stelle als Hilfslehrer zu erhalten, um auch das Letzte, was noch Hoffnung geben könnte, zu vernichten, nämlich die Kinder, die etwas anders und besser machen könnten als ihre Eltern. Er bleut ihnen denselben Quatsch ein, an dem er zugrundegegangen ist.

In meiner Terminologie ist der Angestellte dem Archetypus des Ackerbauern zuzurechnen. Der Angestellte ist ein Ackerbauer ohne Acker. Sein Acker sind die Gesetze, die Vorschriften und seine internalisierte Kleinbürgerlichkeit. Er ist das Maß aller Dinge. Er herrscht über seinen Acker, er sitzt hinter seinem Tresen, und die Menschen sind Bittsteller. Seine Zäune sind seine Verfügungen, seine Schreiben, seine Anordnungen und seine Verurteilungen.

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Er plant unaufhörlich immer größere Systeme, und er modernisiert auch seine Landwirtschaft. Seine Traktoren sind seine Computer, die über alles hinwegfahren, was menschliche Regungen zeigt. Nichts geht mehr, wenn der Computer des Angestellten es nicht gespeichert hat. Error heißt die Parole von heute, und der Angestellte unterwirft sich diesem Error als Produzent und als Konsument.

Der Angestellte ist die Endform des Arbeiters und das Übergangsstadium des Menschen zum Konsumenten. Der Angestellte ist Produkt, Produzent und Konsument zugleich. Und es geht unaufhörlich weiter mit ihm. Seine Zukunft ist geplant, ist vorherseh­bar, er wird aus seinen großen Fabriken, Institutionen und Gebäuden ausziehen und endgültig seinen Arbeits-, Lebens- und Konsumenten­platz in seinem Eigenheim neben seinen Zimmerpflanzen, seinem Fischbassin, auf seiner Eckcouch, vor seiner Schrankwand gegenüber seinem Fernsehapparat haben. Er wird zum Heimarbeiter degradiert werden, der zu Hause arbeiten darf, mit seiner Konzernspitze durch eine Leitung korrespondiert, seine Arbeit am Computer verrichtet und gleichzeitig in den Arbeitspausen den Computer durch BTX und Telefax nutzen kann, um seinen Konsumenten­pflichten nachzukommen. Sein Bankkonto wird automatisch abgebucht, und alle anderen Verpflichtungen, die er gegenüber der Gesellschaft hat, ebenfalls. Zur Krönung seines Lebens wird er denselben Computer auch für seine Angestelltenkultur nutzen können.

Der Angestellte der achtziger, neunziger und 2000er Jahre kann zu Hause bleiben. Denver, die Schwarzwald­klinik, George Bush oder der Förster vom Silberwald kommen zu ihm nach Hause. Kracauer verstand es 1929 noch so, daß die Masse, wenn sie in die großen Lokale wie Haus Vaterland oder Mokka Efti ging, bei sich selbst zu Gast war, heute ist sie wirklich nur noch zuhause bei sich selbst zu Gast.

In diesem Zuhause kann der Angestellte wohl auch endgültig alles vergessen, was ihn noch verunsichern könnte. Er braucht nicht mehr hinaus­zugehen. Das Draußen kann er vergessen, er muß es noch nicht einmal mehr verdrängen, weil er es gar nicht mehr sieht. Und wenn er doch in einer Umschaltpause einmal etwas über die Nordsee, das Ozonloch oder einen Wirbelsturm erfährt, so tröstet ihn sofort ein angestellter Professor darüber hinweg, indem er erklärt, es sei alles nicht so schlimm und mit wenigen Maßnahmen, die selbstverständlich auch von Angestellten getan werden und für die man ein staatliches Konjunktur­programm braucht, sei das Ganze wieder zu richten — die Welt wird endgültig heil.

Damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo in der Tat für manche Utopisten Hoffnung angesagt ist, daß nämlich durch die Welt des Fernsehens eine reale Lösung all unserer Probleme möglich wäre. Die multi-mediale Verknüpfung aller Menschen miteinander verkürze alle Entfernungen, ermögliche multi-funktionale Kommunikation, erschließe einen unendlichen Kulturbegriff und reduziere den Energie­verbrauch zur Aufrecht­erhaltung der multifunktionalen Versorgung der Menschen auf ein Minimum — die Fernseh- und Computer­gesellschaft als Ablösung der Arbeitsgesellschaft.

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 S. Kracauer bei detopia  

 Hans Joachim Rieseberg . Arbeit bis zum Untergang . Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit

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