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Einführung

(Uhrwerk)

 

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Zeit ist etwas Grundlegendes. Sie ist das Prinzip, das unserem physisch-biologischen System zugrunde liegt und es durchdringt. Sie ist die Sprache des Geistes, formt unser Verhalten und definiert unsere Persönlichkeit. Zeit ist das Instrument, das Gruppeninteraktion und die Schaffung von Kultur ermöglicht.

Der zeitliche Bereich erstreckt sich in die Weiten des Universums und dringt in die kleinsten Strukturen subatomaren Lebens ein. Von allen symbolischen Formen, die die menschliche Familie erfunden hat, ist Zeit die allumfassendste. Die Zeit ist unser Fenster zur Welt. Mit der Zeit schaffen wir Ordnung und gestalten die Art Welt, in der wir leben. Doch wir nehmen unsere Zeitwerte als selbstverständlich hin, ohne jemals innezuhalten und zu bedenken, welche entscheidende Rolle sie in der Definition der sozialen Ordnung spielen.

Jede Kultur hat ihre eigenen, einmaligen zeitlichen Fingerabdrücke. Ein Volk kennen heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt. Um uns selbst zu erkennen, warum wir so und nicht anders aufeinander und die Welt einwirken, müssen wir zuerst die zeitliche Dynamik verstehen, die die Reise des Menschen durch die Geschichte bestimmt. Homo sapiens ist, mit dem Wissenschaftler Alfred Korzybski gesprochen, das einzige »zeitbindende« Lebewesen.

All unsere Wahrnehmungen von uns und der Welt werden über die Art vermittelt, wie wir uns Zeit vorstellen, wie wir sie erklären, benutzen, erfüllen. Die Zeit ist gleichzeitig blendend und vielseitig, rätselhaft und irritierend. Wir können vorausschauen, wir können uns zurückstehlen in die Vergangenheit, wir können uns vom Augenblick lösen und uns aus der Distanz betrachten. Unsere Uhren und Zeitpläne, unsere Wissenschaft und Technik erlauben es uns, uns über die undifferenzierten Tempi der biologisch-physischen Welt zu schwingen. Wir beherrschen die Periodizitäten der Natur. Wir zähmen, zügeln und dressieren. Wir brennen den alten Rhythmen des Universums unsere zeitlichen Vorstellungen auf, in der Hoffnung, die Zeit in unsere Gewalt zu bringen — das unfaßbare Phänomen, das sich unserem Zugriff immer zu entziehen scheint.

Viele der größten Denker in der Geschichte haben mit dem Begriff Zeit gerungen. Der hl. Augustinus, ein hochverehrter Gelehrter und Wegweiser für einen großen Teil des abendländischen Denkens, dachte einmal über die Frage nach: »Was ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.« Siebzehn Jahrhunderte später konnte der Philosoph und Naturwissenschaftler Alfred North Whitehead Augustinus' Verwirrung nur seine eigene Frustration hinzufügen: »Es ist unmöglich, über die Zeit nachzudenken, ... ohne von der Empfindung der Begrenztheit menschlicher Intelligenz überwältigt zu werden.«

Wie kommt es, daß etwas so Grundlegendes wie Zeit so wenig verstanden wird und so schwer zu erklären ist? Der Psychologe John Cohen meint: »Wir haben es hier mit einem tiefen Mysterium zu tun, im besten Sinne des Wortes - es liegt einerseits im Herzen menschlicher Erfahrung und andererseits in der Natur der Dinge.«

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Doch es ist wichtig, die verborgenen Dimensionen dieses Mysteriums zu ergründen, denn wir können nicht wirklich beginnen, uns selbst, unser Bewußtsein, unsere Kultur zu verstehen, solange wir nicht einen Weg gefunden haben, Zeit in all ihren mannigfaltigen Formen zu verstehen. Weil Zeit uns definiert, müssen wir Zeit definieren.

 

Über die Politik der Zeit ist eine Schlacht im Gange. Ihr Ausgang könnte den künftigen Kurs der Politik für die ganze Welt im kommenden Jahrhundert bestimmen. Der neue Zeitkrieg ist ein direkter Abkömmling eines anderen, früheren Krieges - einer wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzung um die lang verehrte räumliche Metapher »Größer ist besser«.

Dieser Leitsatz, der unser Denken nach dem Zweiten Weltkrieg so beherrschte, kam zuerst in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts von vielen Seiten unter Beschuß. Die Industrienationen des Westens hatten mit der Idee der Größe im Kopf die Zukunft organisiert. Zentralisation, Konzentration und Akkumulation wurden zu Parolen der Modernität. Überall wurde wie verrückt gewühlt, um zu entwickeln und zu vergrößern. Die Zusammenballung wurde zur Leidenschaft und Mission, die die treibenden Kräfte des Industriezeitalters band.

Die räumliche Vorstellung wurde am besten ausgedrückt in dem vielverwendeten Etikett: »Unter einem Dach«. Aufbauen, Ausdehnen, Ausfüllen — eine Welt des Gigantismus hatte einen bedrohlichen Schatten über die irdischen Geschäfte geworfen. Die Größe wurde weitgehend nicht hinterfragt und konnte in allen Kulturbereichen nach Belieben um sich greifen, sowohl öffentlich wie privat, bis schließlich kleine Grüppchen von Davids hier und da in der politischen Landschaft aufzutreten begannen, ihre individuellen Salven abschössen und hofften, das Denken des Zeitalters neu auszurichten.

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Big Government wurde angegriffen — es sei verschwenderisch und fahrlässig. Big Business wurde angegriffen — es sei unpersönlich und gierig. Große Städte wurden angegriffen — sie seien anonym und gefühllos. Eine räumliche Häresie begann sich auszubreiten und gewann Legionen von Bekehrten für eine neue Vision. »Small is beautiful« (klein ist schön) wurde zur Herausforderung für den einst mächtigen Mythos, daß größer besser sei. Neue räumliche Metaphern gelangten in das politische Vokabular, als die Menschen begannen, nach Dezentralisierung der Regierung, Demokratisierung der Wirtschaft und Verteilung der Bevölkerung zu rufen. Raumpolitik beherrschte die politische Landschaft, und die Frage nach dem Maß trennte die Menschen durch das ganze politische Spektrum. Das richtige Maß an Regierung, Wirtschaft und Gemeinschaft, an Wissenschaft, Technik und militärischer Stärke wurde zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzung.

Doch während der Kampf um den Raum noch nicht entschieden ist und weitertobt, beginnt sich ein ebenso tiefgreifender Kampf um die Zeit auszubreiten. Wenn Zentralisation, Konzentration und Zusammenballung das Größer-ist-besser-Thema der Raumpolitik zusammenfaßte, dann charakterisieren Effizienz und Geschwindigkeit die Zeitwerte des modernen Zeitalters. Lange Zeit wurde der Vorstellung von Effizienz und Geschwindigkeit der gleiche, unqualifizierte Enthusiasmus entgegengebracht wie der Vorstellung des Gigantismus. Wenn größer besser war, dann war schneller und effizienter wirksamer.

Die Idee, Zeit zu sparen und zu komprimieren, ist der westlichen Zivilisation und nun einem Großteil der Welt in die Seele gebrannt. Zeit gilt wie Raum als ein besonders wertvoller und knapper Rohstoff, der gebraucht wird, um das soziale Leben der Nation auf immer verfeinertere Weise zu gestalten und zu formen.

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Der moderne Mensch sieht mittlerweile die Zeit als ein Werkzeug zur Steigerung des Allgemeinwohls der Kultur. »Zeit ist Geld« drückt den Zeitgeist in bezug auf die Zeit am besten aus. Während die Gesellschaft insgesamt zur Hochgeschwindigkeitskultur des einundzwanzigsten Jahrhunderts hin umkippt, haben sich auf verstreuten Vorposten am Wege kleine Enklaven des Protests gebildet und bekämpfen den beschleunigten Zeitrahmen der modernen Zeit. Die neuen Zeitrebellen sind für einen radikal anderen Zugang zur Zeitlichkeit. Diese Häretiker stellen die Vorstellung in Frage, daß gesteigerte Effizienz und Geschwindigkeit die besten Zeitwerte bringen, um das Wohlergehen der Spezies zu fördern. Sie sagen, die künstlichen Zeitwelten, die wir geschaffen haben, steigerten nur unsere Trennung von den Rhythmen der Natur. Sie wollen von uns verlangen, daß wir aufhören, uns mit der Beschleunigung der Zeit zu befassen, und beginnen, uns wieder in die periodischen Abläufe zu integrieren, aus denen die vielen physiologischen Zeitwelten des Organismus Erde bestehen.

Die Anwälte der neuen Zeitpolitik vermeiden die Vorstellung von der Machtausübung über die Zeit. Sie sind daran interessiert, das menschliche Bewußtsein zu einer mehr empathischen Einheit mit den Rhythmen der Natur zurückzulenken. Sie glauben, wenn wir das Leben »resakralisieren« wollen, müssen wir zuvor die Zeit »resakralisieren«. Wir können unserer Spezies die besten Hoffnungen für die Zukunft bieten, wenn wir die Zeit der Menschen neu werten und die innere Geschwindigkeit, das Zeitmaß und die Dauer der natürlichen Welt akzeptieren.

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Schon zeigt sich eine Vielzahl neuer Bewegungen und Gruppen, die jeweils Elemente einer neuen, radikalen Zeitlichkeit beinhalten. Die Ökologiebewegung, die Bewegung ganzheitlicher Medizin, die Bewegung der biologischen Landwirtschaft, die Tierschutzbewegung, die Bewegung der sanften Technik, die Bewegung des jüdisch-christlichen Schöpfungsauftrags, die ökologisch-feministische Bewegung, die Bewegung des Bio-Regionalismus, die Bewegung ökonomische Demokratie, die alternative Erziehungsbewegung, die Abrüstungsbewegung und die Selbstversorgungsbewegung: Sie alle suchen nach einer neuen Sichtweise der Zeit.

Die neuen Zeitrebellen anerkennen zwar, daß gesteigerte Effizienz zu kurzfristigen Verbesserungen geführt hat, doch nach ihrer Auffassung hat der langfristige psychische und ökologische Schaden alle zeitweiligen Verbesserungen zunichte gemacht, die die fanatische Besessenheit von der Geschwindigkeit um jeden Preis gebracht haben mag. Diese Zeithäretiker meinen, das Tempo von Produktion und Verbrauch sollte nicht weit über die Fähigkeit der Natur hinausgehen, Abfälle wiederzuverwerten und wichtige Rohstoffe zu erneuern. Sie meinen, das Tempo sozialen und wirtschaftlichen Lebens sollte dem Zeitrahmen der Natur besser angepaßt werden. 

In den kommenden Jahren werden diese neuen Zeithäretiker eine politische Kraft werden, mit der es zu rechnen gilt, wenn Zeit landesweit und weltweit zu einem zentralen politischen Feld der Auseinandersetzung wird. Die lang als räumliche Wissenschaft angesehene Politik wird nun zunehmend als Zeitkunst gesehen. Die territoriale Politik wird durch die Zeitpolitik erweitert. Jahrhundertelang wurde der Räumlichkeit der Politik soviel Aufmerksamkeit gewidmet, daß die zeitlichen Aspekte praktisch ignoriert wurden. Dies Buch soll die Einseitigkeit ausgleichen, indem es sich auf die unentdeckten zeitlichen Dimensionen des politischen Prozesses konzentriert. Ein besseres Verständnis der Politik der Zeit kann eine sehr notwendige Grundlage für die spätere Synthese der Raum-Zeit-Politik liefern.

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Während wir die mannigfaltigen zeitlichen Dimensionen der Wirklichkeit entdecken, werden wir ein Verständnis dafür entwickeln, wie Zeitwerte dazu beigetragen haben, die ökologische, ökonomische, soziale und geistige Krise zu beschleunigen, die heute alles Leben auf der Erde in seiner Existenz selbst bedroht. Wenn wir unsere Generation retten und unsere Enkel von dem Gespenst der Vernichtung befreien wollen, müssen wir ein sehr viel feineres Verständnis der Zeitpolitik entwickeln.

In Teil I wollen wir den zeitlichen Kontext für den kommenden Kampf um Zeitwerte darstellen. Wir werden mit der Untersuchung der beschleunigten Nanosekunden-Kultur beginnen (1 Nanosekunde = 10~'sec), die das Aufkommen der Computertechnologien mit sich gebracht hat. Dann werden wir den künstlichen Rhythmen unserer Hochgeschwindigkeitskultur die organischen Rhythmen der Natur in einem Überblick über das neue Wissensgebiet Chronobiologie entgegenstellen. Schließlich werden wir die schnellebige Computerkultur mit traditionellen Kulturen vergleichen, die den biologisch-physischen Rhythmen der Erde besser angepaßt sind.

In Teil II werden wir sehen, wie die westliche Zivilisation sich durch die Einführung einer Reihe neuer Zeitbestimmungsmittel immer weiter vom Rhythmus der Natur entfernt hat. Biotische Rituale, astronomische Kalender, Zeitpläne nach der Uhr und nun Computerprogramme wurden alle dazu benutzt, die Zeit der Gesellschaft von der Zeit der Natur zu trennen und die menschliche Gemeinschaft an die Diktate derer zu binden, die an der Spitze der sozialen Leiter stehen. Wir werden untersuchen, wie diese aufeinanderfolgenden Zeitwerkzeuge der Effizienz als dominierendem Zeitwert der Moderne den Weg geebnet haben.

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In Teil III werden wir darstellen, wie die Machthaber die Menschen dazu bringen, die ihnen auferlegten Zeitbeschränkungen zu akzeptieren, indem sie ihnen versichern, sie würden in der Zukunft ihren Opfern entsprechend belohnt. Den Menschen wird gesagt, als Gegenleistung für das Opfer ihrer Zeit wäre ihnen in der nahen oder fernen Zukunft der Zugang zu einem idyllischen, »zeitlosen« Reich sicher. Die meisten Staaten konstruieren ein paradiesisches Bild der Zukunft, um das die Menschen sich sammeln und nach dem sie streben sollen. 

In Teil IV werden wir sehen, wie die Machthaber die Art legitimieren, in der sie die soziale Zeit manipulieren und regulieren, indem sie behaupten, ein ähnlicher Prozeß halte die natürliche Ordnung in Gang. Jede große Kultur projiziert ihre eigenen Zeitwerte auf das Universum und behauptet, die Art, wie sie die zeitlichen Angelegenheiten der Gesellschaft organisiert, spiegele die Organisation des Universums selbst wider.

Im letzten Teil werden wir die herrschende zeitliche Orthodoxie mit einem Ruf nach Demokratisierung der Zeit herausfordern. Dabei werden wir den »zeitlosen« Illusionen und dem kosmologischen Reduktionismus entgegentreten, die über einen Großteil der bekannten Menschheitsgeschichte Zeithierarchien am Leben erhalten haben. Bei einem Blick in die Zukunft werden wir die hypereffiziente Nanosekundenzeitwelt, die im Aufkommen ist, kritisch hinterfragen und für ein radikal anderes Vorgehen bei der Organisation sozialer Zeit plädieren, das besser zur zeitlichen Orientierung der natürlichen Welt paßt.

Schließlich werden wir untersuchen, wie sich das politische Spektrum von den traditionellen räumlichen Metaphern »rechts« und »links« fort und zu einem neuen zeitlichen Spektrum hin verschiebt, mit ökologischen Rhythmen an einem Pol und künstlichen Rhythmen am anderen.

Die, die sich beim ökologischen Zeitrahmen einordnen, streben die Entwicklung einer ökonomischen und technologischen Infrastruktur an, die der natürlichen Produktion und den Wiederverwertungsrhythmen der Ökosysteme der Erde angepaßt sind. Die Fürsprecher des Kunst-Zeitrahmens ziehen eine High-Tech-Vision der Zukunft vor, wo die Rhythmen der Natur von den beschleunigten Rhythmen einer vollständig simulierten Welt ganz aufgesogen werden. Zeitkriege werden mehr und mehr die Politik von morgen bestimmen.

Deshalb ist es wichtig, daß wir imstande sind, die Künste der Politik, Wirtschaft und Kultur in zeitlichen Begriffen neu zu erfassen, um erfolgreich mit den vielen neuen Themen zu ringen, die sich in den kommenden Jahren zeigen werden, während die Menschheit darum kämpft, ihre Beziehung zur Zeit neu zu definieren. J. T. Fräser hat gesagt: »Die Weltanschauung eines Individuums und einer Ära, d. h. die bevorzugte Wahrnehmung des Lebens und der Dinge, ist im wesentlichen eine Anschauung der Zeit.«

Um uns selbst zu ändern und einer neuen Zeitenordnung den Weg zu bereiten, müssen wir zuerst willens sein, unser Denken über die Natur der Zeit sowie unsere persönliche und politische Beziehung zu ihr neu zu definieren.

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