3. Unschuld und Anarchie: Die personalistische Ethik
Roszak-1987
Der Junge, der <nicht ganz richtig> war
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Unweit des Hauses in Chicago, in dem ich aufwuchs, wohnte ein Junge namens Lester, oder Les, wie er sich selber lieber nannte. Les hatte in der Nachbarschaft einen besonderen Ruf; jeder kannte ihn als den Jungen, <der so komisch aussah> ... der <nicht ganz richtig> war. Rückblickend vermute ich, daß Les eine zerebrale Lähmung hatte, aber diesen Ausdruck schien damals niemand zu kennen. Ein- oder zweimal bekam ich mit, wie er <Spastiker> genannt wurde, oder ein andermal (hinter vorgehaltener Hand) <Schwachsinniger>. Aber meistens war er für die Leute, auch für die Eltern, einfach <nicht ganz richtig>.
Les' Behinderung betraf vor allem einen Arm und ein Bein, und außerdem wirkte sein Körper fürchterlich verrenkt. Sein Gang war ein ruckartiges Schlingern, und einen Fuß schleifte er mit einwärts gerichteten Zehen nach. Er war klein und gedrungen, was den Eindruck, daß er <komisch aussah>, verstärkte. Aber wenn die Leute sagten, daß er <nicht ganz richtig> war, meinten sie eher seine scheinbare Zurückgebliebenheit. Er hatte einen etwas stieren Blick, und wenn er sprach, war seine Stimme heiser und stockend. Manchmal stotterte er oder brachte die Worte durcheinander, obgleich er zu den Leuten auf der Straße kaum mehr sagte als "guten Tag", "Wiedersehen", "ja, Herr X... nein, Herr X", "ja, Frau Y... nein, Frau Y". Er verzog auch oft die Nase nach einer Seite und hatte merklich Mühe zu atmen; manchmal hörte man ihn schon von weitem heranschnaufen.
Damals war Les vielleicht Mitte zwanzig, aber er spielte immer noch gern mit den Jungen auf der Straße. Er konnte erstaunlich gut Ballwerfen und besaß tolle Sportsachen, die er uns borgte. Da er alt genug war, um für die Jungen Zigaretten einzukaufen, war er ein beliebter Kumpel, und wenn er mit uns spielte, legte er keinerlei Anzeichen von Zurückgebliebenheit an den Tag. Er sprach klar und selbstbewußt und äußerst intelligent. Niemand sprach so gewandt über Baseball wie Les. Außerdem besaß er handwerkliche Geschicklichkeit; er hatte sich eine Modelleisenbahn gebaut, die den größten Teil des Kellers in seinem Haus in Anspruch nahm und um die wir ihn alle beneideten.
Les arbeitete nicht. Seine Mutter <kümmerte sich> den ganzen Tag um ihn. Er blieb zu Hause, las Bücher, bastelte an seiner Eisenbahn ... und im übrigen kümmerte man sich um ihn. Les' Mutter hatte davon sehr bestimmte Vorstellungen. Sie sorgte dafür, daß er nah beim Haus blieb, ermahnte ihn, sich nicht schmutzig zu machen, paßte auf, daß er sich nicht überanstrengte, jagte die Jungen weg, wenn sie schmutzige Wörter benutzten, und rief Les jeden Tag zum Mittagsschlaf ins Haus. Sie rief ihn immer <Lester>. Les verzog dann das Gesicht. Er stammelte ein paar unterdrückte Flüche, und einmal knirschte er: "Sie könnte mich Les nennen. Wenigstens das könnte sie tun." Aber er gehorchte immer und ging seinen Mittagsschlaf halten. Merkwürdig, daß er unbedingt Les genannt werden wollte. <Weniger> (engl.: less) war doch nicht das, was er sein wollte.
Drei- oder viermal die Woche und jeden Sonntag machten Les und seine Eltern einen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Seine Mutter putzte ihn mit Hut, Schlips und frisch gebügeltem Anzug heraus, damit er auch mal <wie andere Leute aussehen> konnte — so drückte sie es aus; allerdings gab es in unserer Gegend nicht viele Leute, die sich so anzogen. Les ging ein paar Schritte voraus, zog vor jedem den Hut und sagte immer: "Guten Tag", "Wiedersehen", "Ja, Herr X... nein, Herr X", "Ja, Frau Y... nein, Frau Y." Auch das tat sonst keiner. Aber wenn Les so herumlief, fanden ihn alle <nett angezogen> und <so höflich>.
Eines Tages hatte er bei diesem Spaziergang plötzlich einen kleinen Blumenstrauß bei sich, und von da an immer. Der, so erklärte Les' Mutter jedem, bei dem sie stehenblieben, war für "Lesters Freundin". Die Freundin war eine entfernte Cousine, die ein paar Straßen weiter wohnte. Les' Mutter beschrieb sie als "sehr nettes, normales Mädchen", das Les "nur so besuchte, wissen Sie". Dazu setzte sie einen Blick auf, der <falsche Gedanken> gar nicht erst aufkommen ließ. Lester wartete einer jungen Dame auf, aber es war nur seine Cousine, also war es eigentlich nicht das, was man vielleicht denken könnte.
Eines Tages verbreitete sich das Gerücht, daß Les weg sei. Die Polizei hatte ihn weggebracht. Die Nachbarn entrüsteten sich flüsternd. Ich ließ mir von den anderen Jungen berichten. Les war mitten in der Nacht aufgestanden, hatten seinen tollen Baseballschläger hergenommen und alles Erreichbare kurz und klein geschlagen, auch seine Eisenbahn und etliche Fenster. Da mußten seine Eltern natürlich die Polizei rufen und ihn wegbringen lassen. Man raunte sich zu, Les hätte seiner Cousine am Tag zuvor einen Antrag gemacht und sei abgelehnt worden. Manche Andeutungen waren noch finsterer: er sei <zudringlich> geworden oder hätte versucht, "etwas zu tun, du weißt schon, was er besser gelassen hätte".
Ich kann mich noch an Leute erinnern, die ziemlich angewidert die Meinung vertraten, ausgerechnet er dürfe sich <so was> nun wirklich nicht erlauben. Er war ja sehr nett und sehr höflich, aber das ging nun wirklich nicht, daß er sich einem <normalen Mädchen> aufdrängte, denn schließlich war er ja <nicht ganz richtig>. Kein Wunder also, daß er abgelehnt wurde. Und da muß er wohl <durchgedreht> haben.
Nach jenem Abend sahen wir Les nie wieder, und ein paar Monate später zogen auch seine Eltern weg.
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Identitäts-Schubladen
Les gehört zu einer Millionen Jahre zurückliegenden Welt: einer Welt entfremdeter Identitäten und geborener Opfer. Es war eine Welt, die wußte, daß es 'richtige' und 'nicht ganz richtige' Arten zu sein gibt, die ewig, unanfechtbar und unerbittlich waren. Sie waren Schicksal — jedermanns Schicksal. In dieser Welt leben wir noch. Aber jetzt erscheint sie mit jedem Tag mehr Menschen als prähistorische Landschaft. Wenn ich jetzt Les' Geschichte erzähle, zweifle ich nicht daran, daß jeder sofort erkennt, was damals, so weit ich mich erinnere, niemand erkannte — daß es die Geschichte eines tückischen Unrechts ist, das dann entsteht, wenn menschliche Identität als lebenslange zugeschriebene Pflicht und nicht als Abenteuer mit Ungewissem Ausgang betrachtet wird.
In meiner Kindheit und Jugend, im Amerika der dreißiger und vierziger Jahre, gab es nur eine begrenzte Auswahl von Rollen fürs Leben. Sie waren von Parametern definiert, die das Leben wie hohe Mauern umschlossen: Alter, Rasse, Geschlecht, Klasse, manchmal Arbeit und Beruf. Es gab nur ein paar Arten, arm oder reich, alt oder jung, männlich oder weiblich zu sein; nur ein paar Arten auszusehen, zu handeln, sich zu kleiden und zu fühlen. Eine Frau sollte verheiratet und zu Hause sein, aber sie durfte arbeiten; für viele Frauen war es eine ökonomische Notwendigkeit, besonders in den Kriegsjahren.
Aber wenn sie es tat, verschwand sie während der Arbeitszeit in einer von zwei Identitäts-Schubladen: Im Büro hatte sie sexy zu sein, während ihre Arbeit in der Fabrik eine (verzeihliche) Vermännlichung mit sich brachte (weshalb ein besonderer Kriegszeiten-Freibrief das Tragen langer Hosen erlaubte). Jeder wußte natürlich, daß diese Rollen nicht zum 'wirklichen Leben' paßten. Aus dieser Spaltung bezog das populäre Melodrama sein Repertoire: Menschen, die gegen ihre 'gottgewollten' Rollen verstießen, wohlverdiente Schande über sich brachten und die unvermeidlichen Konsequenzen zu tragen hatten. Wo das geschah, gab es 'Skandal', und wo es Skandal gab, war die Vergeltung nicht weit.
Rasse und Volkszugehörigkeit waren Parameter, die in meiner Kindheit noch mit offener Gewalt und legalisierter Bigotterie gewahrt wurden. Lynchjustiz, Rassenkrawalle und Polizeiterror waren in den Gettos an der Tagesordnung. Aber neben dieser institutionalisierten Unterdrückung half noch ein anderes Mittel, die Grenzen von Rasse und Nationalität zu wahren: erbarmungsloses Lächerlichmachen, Haß mit einem Grinsen im Gesicht.
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Nachdem ethnischer ,Humor' lange Zeit ats geschmacklos verpönt war, blüht er in den letzten Jahren als Nostalgie wieder auf, ein schnurriges und unschuldiges Vergnügen. Im Fernsehen machen ethnische Typen ethnische Witze über sich selbst. Sie lachen, und wir lachen; wir lachen auch über die Ewiggestrigen, die an den alten Rassenstereotypen festhalten.
Aber in meiner Jugend waren Rassenwitze nichts zum Lachen. Sie waren einfach gemein und überschwemmten die Erde mit häßlicher Verachtung. Es gab Witze über niggers, greasers (Lateinamerikaner), spicks (Spanisch-Amerikaner), micks (Iren), yids (Juden), pollacks, wops (Italiener), krauts (Deutsche), chinks, japs, hunkies (Ungarn), limeys (Engländer), blöde Schweden und geizige Schotten. Rückblickend kann ich mich nicht an viele Witze erinnern, die nicht auf irgend jemandes Kosten gingen. Verletzen, darum ging es beim Humor.
Niemand (außer vielleicht den 100prozentigen WASP*-Amerikanern) entkam diesem boshaften Gelächter. Zudem galt dieses Gelächter auch noch wirklichen sozialen Rollen, denen sich die Menschen murrend oder gehorsam unterwarfen. Im Chicago meiner Kindheit habe ich zum Beispiel nie einen Chinesen getroffen, der nicht in einer Wäscherei oder einem Restaurant arbeitete; und jeder Schwarze verrichtete irgendwelche niederen Arbeiten oder war Straßenhändler, Ramba-Zamba-Entertainer oder ein krakeelender Prediger. Wenn es Ausnahmen gab, dann waren sie — jedenfalls für Kinder in einer von der Rassentrennung beherrschten Stadt — kaum zu sehen.
Und dann gab es noch Witze für Leute wie meinen Freund Les, die 'nicht ganz Richtigen', die Aussätzigen, deren wichtigste Lebensaufgabe darin bestand, niemals 'normale' Leute durch ihre bloße Existenz zu belästigen. Sie hatten sich zu verstecken und ruhig zu verhalten. Für sie gab es die Irren-, Trottel-, Knacki-, Penner-, Schwulen-, Perversen- und Säuferwitze. Les war irgendwo in der Schwachsinnigen-Kategorie — ein stotternder Krüppel, ein hinkender Simpel, die Sorte Mensch, die seit urdenklichen Zeiten die Rolle des Dorfdeppen in der Gesellschaft spielen muß. Aber als er 'durchdrehte', fiel er in eine andere Kategorie. Er wurde ein gefährlicher Irrer. Also mußten seine Eltern ihn 'wegbringen'. Er wurde in Dunning eingeliefert, Chicagos Version des alten Bedlam (St. Mary of Bethlehem, frühere Irrenanstalt von London). Die Klapsmühle.
Als Kinder spielten wir das Dunning-Spiel. Wir wurden alle 'irre' und dann ging es darum, wer am gefährlichsten, abscheulichsten oder obszönsten sein konnte. Wir stellten uns vor, daß es so in der Irrenanstalt zuging: eine wilde, entsetzliche Hölle. Vermutlich lagen wir damit ganz richtig. Dunning war ein großer, düsterer Komplex zerfallender Gebäude, umgeben von einem rostigen Eisenzaun. Die Insassen durften auf dem öden Hof spazierengehen — ein beliebter Menschenzoo in Chicago. Ich weiß noch, wie die Leute auf dem Weg zu sonntäglichen Vergnügungen vor der Anstalt hielten, in der Hoffnung, ein paar unterhaltsame Schwachsinnige zu sehen.
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Die ersten Verrückten, an die ich mich erinnere, sah ich im Hof von Dunning bei eben solch einer Autofahrt. Ein zahnloser alter Mann, der Obszönitäten schrie und durch die Gitter spuckte. Eine alte Frau, die für die vorbeifahrenden Autos ihren Rock hob. Eine junge Frau, die kichernd an der Mauer lehnte, sich kratzte und an einem Stück Kordel kaute.
Les landete in Dunning, weil er vergaß, auf die einzige Art respektabel zu sein, die einem spastischen Irren offenstand, nämlich ein unschuldiges, gehorsames, von seiner Mutter nett angezogenes und immer sehr, sehr höfliches Kind zu bleiben. Statt dessen mutete Les einem 'netten, normalen' Mädchen zu, ihn zu heiraten oder gar mit ihm ins Bett zu gehen; und als sie sich weigerte, 'drehte er durch'. Dadurch wurde er ein öffentliches Bitternis, das in die Klapsmühle gehörte. So war diese Welt. Ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, die Menschen in Identitätsschubladen zu zwängen, und das waren keine metaphorischen Behältnisse; sie konnten sehr reale Gefängnisse sein, ummauert und bewacht, Markierung der Grundfläche, die einem im Leben zustand. Für Gesetzesbrecher das Gefängnis. Für Kinder die Schule. Für einsame alte Leute das Altersheim. Für die Armen und Schwarzen das Getto und die Slums. Für Frauen das Haus ihres Vaters oder Mannes.
Was ist aus dieser Welt geworden, in der ich aufgewachsen bin? Nein, Vergangenheit ist sie noch nicht. Aber sie ist als das erkannt, was sie immer war, ein Ort bitteren Unrechts und unsäglicher Grausamkeit. Wie bereitwillig wir heute diese Tatsache anerkennen! Wie klar erkennen wir jene, die immer noch an den alten Identitäts-Schubladen festhalten, als bemitleidenswerte Unverbesserliche! Ich staune immer wieder, wie gelassen die Menschen den rapiden Zerfall dieser Welt hinnehmen, wie reibungslos die Grundannahmen dieser Welt aus ihrem Leben verschwinden. Heute fällt es kaum noch auf, wenn die Leute die unentrinnbaren Rollen der Vergangenheit einfach als 'Rollen', willkürliche 'Spiele', 'Programmierung' oder 'Drehbücher' bezeichnen.
Ganz deutlich, ohne daß Aufhebens davon gemacht würde, ist dieser Wandel auch an dem wichtigen sozialen Indikator Fernsehunterhaltung abzulesen. Noch vor einer Generation basierten alle Situationskomödien auf wohldefinierten Typen- und Rollenmustern; es waren Sittenbilder eines Genres, das bis auf Moliere zurückgeht. Heute dreht sich die Situationskomödie um Identitätskrisen, um Menschen, die sich einem Stereotyp, einem zugeschriebenen Status, einer sozialen Restriktion widersetzen. Da gibt es eine Mutter, einen Vater, einen Ehemann, eine Ehefrau, einen Chef, die der konventionellen Rolle zum Sieg verhelfen wollen. Aber die Frauen in diesen Stücken wollen einfach nicht gewöhnliche Hausfrauen oder Schätzchen sein; die Kinder wollen nicht die üblichen Kinder sein; die Großeltern weigern sich, so zu sein, wie Großeltern sein sollen.
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Die Stücke überbieten sich gegenseitig mit bizarren und früher unvereinbaren Typen: freie Liebende, gemischtrassige Paare, unverheiratete Mütter, Homosexuelle, Kleinwüchsige, Zwerge, Transvestiten, ehemalige Sträflinge, geistig Zurückgebliebene, körperlich Behinderte. Sie alle treten auf und sehen keinen Grund, sich für irgend etwas zu entschuldigen; sie bestehen auf ihrem Recht, so zu sein, wie sie sind. Dann gibt es komische Verwicklungen, und schließlich setzt der Rebellierende seinen Willen durch. Und viele Millionen Zuschauer lachen mit, identifizieren sich, stimmen zu.
Nach der Gleichheit — die Besonderheit
Fernsehprogramme, psychologische Programmierung, Fernseh-Drehbücher, 'Lebens-Drehbücher'. 'Die ganze Welt ist eine Bühne' — diese Idee muß so alt sein wie das Theater. Aber erst in unserer Zeit beginnen Menschen — viele Menschen —, diese Idee als echte Einsicht zu leben und sich so durch die zugewiesenen Rollen hindurch und aus ihnen heraus zu leben.
Zum Teil sind die Ursprünge dieser bemerkenswerten Schamlosigkeit offensichtlich. Es gab den heroischen Kampf der Minderheiten gegen ethnische Vorurteile und die Tyrannei des Rassismus. Aber diese Kampagne hat die weiße Mittelklassengesellschaft niemals wirklich in Frage gestellt, wie es viele Radikale gern gesehen hätten; niemals wurde die Hierarchie fixierter Rollen und Identitäten, auf der unsere Gesellschaft — und jede Gesellschaft — beruht, angezweifelt. Im Gegenteil, diese Rollen und Identitäten wurden bestätigt; es ging ihnen nur darum, an den Vorteilen des weißen Amerika teilzuhaben.
Aus diesem Kampf allein könnten wir niemals all das ableiten, was inzwischen geschehen ist, all die anderen 'Befreiungen', die noch vor zehn Jahren niemand kommen sah. Frauenbefreiung, Männerbefreiung, Schwulenbefreiung, Altenbefreiung, Kinderbefreiung, Befreiung der Verrückten, der Dicken ... selbst der Tiere.
Allmählich erkennen wir jetzt den Kampf der Minderheiten als Teil einer weit umfassenderen kulturellen Bewegung, einer Bewußtseinsverschiebung, die nicht mehr nur ein politisches Phänomen ist. Wir haben es hier nicht einfach mit einer Fortführung liberal-demokratischer Ideale zu tun: Gleichheit, Freiheit, die traditionellen Bürgerrechte. In der Theorie wird die Verleihung solcher politischer und sozialer Rechte als universelle Errungenschaft einer undifferenzierten Menschheits-Partei gewertet, ein Ziel, das durch massenpolitische Organisation verfolgt und erreicht wurde. Ihre Führer haben sich ganz auf die Aufgabe geworfen, die Menschen für verbindende Klassen- und Rassensolidarität zu begeistern; ihre wichtigste Waffe waren disziplinierte Rangfolgen, eine Nation loyaler Kader.
All das gehört zur Politik blutleerer Abstraktionen und gesichtsloser Kollektive. Genau dieser Hang zu Vermassung hat in Beobachtern wie De Tocqueville den Verdacht geweckt, das demokratische Ideal beschwöre die Gefahr der kulturellen Homogenisierung herauf, die Gefahr einer zu öder, despotischer, egalitärer Uniformität eingeebneten Welt.
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Diese Sorge ist nur allzu berechtigt. Die Demokratie hat sich als Garant für einen Grundbestand an Menschenwürde ihren Platz in der Geschichte erkämpft — nicht als Ruf nach tieferer Selbsterkenntnis.
Mit der Kultivierung meiner Besonderheit oder meiner Freude an der Besonderheit eines anderen hat sie nichts im Sinn. Für die Schwarzen ist es eine Sache, die universelle und farbenblinde Anerkennung gleicher Rechte zu fordern. Das war das Ideal der frühen Bürgerrechtsbewegung. Eine ganz andere Sache ist es aber, der Welt zu sagen, daß 'schwarz schön ist', daß Schwarz das Recht auf seinen eigenen kulturellen Stil, seine Sprache, seine Kleidung, sein Bewußtsein hat. Damit verlangt man nicht einen gleichen Raum in der Welt, sondern einen besonderen, einen Raum, der die Welt für die Vielfalt öffnet. Das Schlagwort, das wir für diese Phase schwarzer Politik haben, heißt 'schwarzer Nationalismus'. Ich finde es irreführend, denn es berücksichtigt nicht den dynamischen Strom des Bewußtseins, wie er heute immer tiefer in diese behelfsmäßigen, schikanösen Identitäten — Rassenzughörigkeit, Weiblichkeit, Homosexualität, Alter — eindringt und nach der Persönlichkeit sucht, die hinter all dem steht. 'Dick ist schön', 'Glatze ist schön', 'schwul ist schön', 'häßlich ist schön': scheinbar nur Aufklebersprüche sind sie doch irgend jemandes Art, sich ohne Scham der Welt zu präsentieren und das Recht auszuüben, seiner ureigenen Bestimmung nachzugehen.
Sehen wir heute nicht auf einen Blick, daß zum Beispiel Les ein Wahnsinniger war, der in den Wahnsinn getrieben wurde, eingesperrt in den Bereich des Verrückten und dann von denen als 'verrückt' bezeichnet, die ihn angeblich liebten und sich seine Freunde nannten? Für ihn müssen wir nicht nur längst überfällige gesetzliche Maßnahmen fordern, die ihn vor Übergriffen schützen, sondern wir müssen weiter gehen und sagen: "Wer hat das Recht, seine Definition für akzeptables Verhalten auf einen Körperbehinderten anzuwenden? Wer hat das Recht, manche Leute als geistig gesund und andere als verrückt zu bezeichnen? Wer hat das Recht, Normalität zu definieren?"
Das sind nicht mehr nur Fragen über Bürgerrechte und gleichen Rechtsschutz — wenn man sie vielleicht auch gelegentlich in solche Begriffe übersetzen muß. Es sind Fragen, die sich gegen die bisherige Wirklichkeit unserer Kultur richten. Sie gehen weit über die politischen Ideale hinaus, die wir mit Namen wie Jefferson, Mill, Marx und Mao verbinden. Wir können sie nur aufgrund dessen stellen, was wir von Freud, Jung, Laing, Maslow, Szasz über die Vielfalt und Abgründigkeit der menschlichen Natur gelernt haben — von ihnen und von etlichen Generationen von Künstlern, die uns zwangen, uns dem Wahnsinn zu stellen, den wir in unserem eigenen Innern finden, und sogar schätzen zu lernen, was dieser Wahnsinn uns über unsere wahre Natur sagen kann. Fragen dieser Art bedeuten eine Kriegserklärung an das Konzept der Identitäts-Schubladen.
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Les — Spastiker, Irrer, Freak — war das Opfer von gestern, weil ihm als einziges Mittel der Verteidigung nur ein Akt wahnsinniger Gewalt einfiel. Opfer gibt es immer noch, aber heute stehen wirksamere Verteidigungsmaßnahmen zur Verfügung. Zum Beispiel das folgende Poster, dessen Sprache dem Manifest der Person entnommen ist:
Hört Radio Free Madness vom Network Against Psychiatrie Assault einer Organisation ehemaliger Insassen psychiatrischer Anstalten. Wir kämpfen um die Rechte der Menschen, die der gegenwärtigen Zwangs-Psychiatrie ausgeliefert sind.
WAHNSINN IST
ein 8-Stunden-Job und ein Haus in den Vororten
WAHNSINN IST
ein Schritt auf dem Weg zur Wahrheit
WAHNSINN IST
ein Mythos
Noch ein Beispiel: Im Fenster des Zentrums für unabhängiges Leben in Berkeley, Kalifornien, einer Behinderten-Organisation für gegenseitige Hilfe, sind unter der Zeichnung eines Menschen im Rollstuhl die Worte zu lesen: Ihr habt uns eure Groschen gegeben. Jetzt wollen wir eure Rechte.
Rechte. Dieses Wort ist einer der strahlenden Sterne der westlichen politischen Tradition. Aber von welchen Rechten sprechen wir hier? Vom Recht, verrückt... sonderbar ... anders zu sein? Dem Recht, sich nicht zu schämen? In welchem herkömmlichen Sinn des Wortes ist es eine Verletzung von 'Rechten', den Menschen das Gefühl zu geben, sie seien schuldig, unzulänglich, ,nicht ganz richtig'?
Mögen 'nicht ganz Richtige' auch manche Schlacht verlieren — wie die Homosexuellen in letzter Zeit bei etlichen Wahlen und juristischen Scharmützeln in Amerika —, jedenfalls haben sie sich jetzt auf eine sehr öffentliche, sehr selbstbewußte Art zusammengeschlossen. Die alten, unterdrückenden Vorurteile sind noch da, aber sie treffen jetzt nicht mehr auf schuldbewußtes Stillhalten, auf Ausflüchte oder zaghaftes Ersuchen um 'Toleranz', sondern auf offenen und stolzen Trotz und sogar auf die Entschlossenheit, die eigene Geschichte publik, den eigenen Lebensstil sichtbar zu machen — kurz, auf das Manifest der Person, wie es Menschen mit ihrem Leben schreiben, die oft nicht einmal wissen, wie radikal sie damit den Lauf der Geschichte ändern.
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"Das ist das Ende der Welt ..."
Und das ist (vielleicht) das Ende der industriellen Welt — wenn es nicht, wie wir hoffen, mit dem Knall ihrer Atombomben eintritt, dann in einem rauschenden Fest der sozialen Abweichung und des persönlichen Widerstandes. Ihr Zerfall beginnt mit der geschärften Empfindungsfähigkeit ihrer Opfer und Untertanen, ihrer Massen und Klassen, wenn einer nach dem anderen — Mann, Frau und Kind, alt und jung, normal und schwul, verrückt und behindert — seine Identitäts-Schubladen verläßt, die noch jede Zivilisation ihre Autorität und ihre Ansprüche gegründet hat.
Diese Aussicht können alle Kräfte der Regierung und Wirtschaft, die institutionelle Interessen zu verteidigen haben, nur als lebensbedrohend empfinden. Institutionen gehen schließlich von einer begrenzten Zahl zugewiesener und verläßlicher Identitäten aus, für deren Verwaltung sie ins Leben gerufen wurden; folglich können sie auch nur mit begrenzt vielen Geschmacks-, Verhaltens- und Reaktionsmustern umgehen. Aber seit sich das personalistische Ethos in den Industriegesellschaften immer mehr durchsetzt, fangen die Leute an, mit der Möglichkeit zu liebäugeln, daß die uralte Beziehung zwischen Person und Institution umgekehrt werden kann, daß man Institutionen auf unser Maß zuschneiden kann — auf deins, meins, seins, ihres. Vielleicht ist eine grenzenlos formbare Welt möglich, die sich unbeschränkt an persönliche Bedürfnisse und Stile anpassen läßt. Alvin Toffler stellt sich die Zukunft zum Beispiel als eine "Adhokratie" mit Wegwerf-Institutionen vor: nichts Stabiles, Permanentes, Absolutes, überall Ausnahmen und Freiräume ... und doch, so hofft Toffler, soll das Ganze noch mit den Anforderungen hoher industrieller Produktivität vereinbar sein.*
Auf den jeweiligen Bedarf zugeschnittene Institutionen: das ist natürlich ein anderer Name für Anarchie, und Anarchie kann niemals eine Basis für urban-industrielle Herrschaft sein. Dennoch wird die Idee heute fröhlich und optimistisch diskutiert, und man probiert sogar ein bißchen herum: 'Offene Eheverträge' erlauben Partnern jeden Geschlechts und jeder Zahl, selbst zu bestimmen, was für Ehemänner, Ehefrauen oder Gefährten auf Zeit sie sein wollen. 'Individualisierter Unterricht' und unabhängige Kurse in Schulen — meist als Teil eines computergesteuerten Lernprogramms. 'Gleitzeit' und 'Bereicherung' der Arbeit. Sensitivity-Gruppen in großen Industrieunternehmen, wo man den Frust des Tages abbauen kann. Bataillone von Personaltechnikern in jedem größeren Wirtschaftszweig, die jede Klage zu beschwichtigen wissen. Und irgendwo in jeder großen Bürokratie gibt es professionelle, 'Klienten-orientierte' Beratungsdienste, die den Leuten über jede Krise, jeden Wendepunkt im Leben hinweghelfen.
Meist sind diese unwillig gemachten Konzessionen nichts als Kosmetik, werbewirksame Tricks. In der Werbung, wo man jetzt die personalistischen Wertvorstellungen auszuschlachten versucht, zeigen sich solche manipulativen Absichten auch am deutlichsten. "Jedem sein ganz besonderer", hämmert eine Hamburger-Imbißkette uns jeden Abend ein dutzendmal in Fernsehspots ein.
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Und eine Anzeige für die Versicherungen Amerikas verkündet:
Sie sind für uns mehr als ein Gesicht in der Masse. Die unpersönliche Zukunft? Das ist nicht unsere Art. Wir sprechen von Person zu Person mit Ihnen.
Aber das ist die Verheißung einer der größten, gnadenlos profitorientierten Branchen der Wirtschaft.
Persönliche Geldberater und Makler. Persönliche Tourismusberater. Persönliches Scheckbuch. Lippenstift, Parfüm, Frisur mit persönlicher Note. Der Markt scheint von Krämern zu wimmeln, die uns die ganz persönliche Wahl bei all den Dingen lassen, die sie uns mit allen Mitteln aufschwatzen wollen. Jedes menschliche Bedürfnis, selbst die Bedürfnisse der Person, werden für irgendwen ein Geschäft.
Wir sind in einem Stadium, in dem die industrielle Technokratie Zeit schindet und mit dem neuen Geist der Selbstentdeckung herumexperimentiert, um herauszufinden, ob sie ihn sich einverleiben kann. In späteren Kapiteln werden wir diese Strategien näher betrachten, um zu sehen, wie weit sie tatsächlich den Bedürfnissen der Person dienen. Um meine Schlußfolgerung vorwegzunehmen: Zugeständnisse, die in Wahrheit nur dazu dienen, der urban-industriellen Herrschaft den Rücken zu stärken, können nur der verlogene Abklatsch einer aufrichtigen personalistischen Reform sein.
Anpassungsversuche, wie ich sie oben beschrieben habe, mögen als Symptome eines akuten, dringenden Bedürfnisses einige Aufmerksamkeit wert sein, und sie können den Hunger nach persönlicher Anerkennung verstärken, obgleich eine solche Absicht den Manipulatoren gewiß fernliegt; wo es um echte personalistische Werte geht, kann die Wirkung auf Institutionen nur zersetzend, niemals fördernd sein, denn diese Werte zielen auf dezentralisierte, partizipative soziale Formen ab und auf einen ökonomischen Stil, der die Reserven des Planeten nicht belastet.
Sollte tatsächlich eine bedeutende Bewegung zu solch einem persönlichen Maß des Lebens entstehen, so können wir sicher sein, daß die Verantwortlichen in Regierung und Wirtschaft den Versuch cleverer Anpassung sofort aufgeben und sich gegen alles weitere sperren werden. Von da an werden wir sehr viel mehr über 'Disziplin', 'Pflichterfüllung', ,harte Arbeit' und 'Leistung im Konkurrenzkampf' zu hören bekommen — und nicht nur von ganz rechts, wo man dieses Repertoire altmodischer Tugenden ja am ehesten erwartet, sondern von Akademikern und Liberalen aller Schattierungen, die ihre kulturelle Autorität von den anarchischen Tendenzen des personalistischen Ethos ernsthaft bedroht sehen.
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Anarchie und Kultur
In allen Lagern — links, rechts und Mitte — hat die zersetzende Kraft der Selbstentdeckung die gleiche drängende Sorge um Ordnung, Leistung und soziale Verantwortung ausgelöst. Wie weit die Wertvorstellungen der Liberalen, Konservativen und Radikalen auch sonst auseinandergehen mögen, gegen die 'Gefahren', die mit dem personalistischen Manifest verbunden sind, bilden sie eine gemeinsame Front: gegen die human-potential-Therapien und die Innerlichkeit der neuen Religionen, gegen die verschiedenen Formen der Bewußtseinserforschung und das neue Interesse am Okkulten, gegen die soziale Aufsplitterung, die aus den situativen Gruppierungen resultiert, gegen den Geschmack an ungehemmter, bekennender Selbstdarstellung, gegen die wachsende Begeisterung für Mystik und Introspektion, gegen das offen Erotische und formlos Spontane.
Sie sehen darin eine Herausforderung all dessen, was Vernunft und Überlegenheit in der westlichen Gesellschaft seit jeher bedeutet haben. In ihren Augen scheinen Barbarei und Vulgarität alle zivilisierten Verhaltensnormen über den Haufen zu schmeißen und als Streben nach persönlicher Autonomie in völliger Antimoralität zu münden. Verständlich, daß sie sich angstvoll und zornig zurückziehen, denn es hat gewiß Exzesse gegeben, die man zurückweisen muß: den ausgeprägten Geschäftssinn mancher religiöser Führer und therapeutischer Unternehmer, den grauenhaften Mordkult der Manson-Familie.
In der grundsätzlichen Ablehnung zeichnen sich aber bereits die Ansätze eines gewaltigen kulturellen Gegenschlags ab, in dem sich liberaler Intellekt und radikales Gewissen mit der antipersonalistischen 'Resistance' von Staat und Wirtschaft verbünden könnten. Die Formel, die diese Allianz zusammenhalten würde, ist so einfach wie überzeugend; sie vereinigt in sich einige der besten Seiten der Tradition der Aufklärung: Ohne Respekt für die leidenschaftslose Vernunft kein Respekt für objektive soziale Normen ethischen Verhaltens und intellektueller Leistung; ohne objektive soziale Normen keine Kultur und kein Gewissen. Mit diesem Argument wird sich den Rechten der Person eines Tages vielleicht eine unbesiegbare Koalition aus roher politischer Macht und ethischer Überzeugung entgegenstellen.
Die Sünden, denen dieser Gegenschlag gilt, tragen für gewöhnlich Namen wie: 'Narzißmus', 'Subjektivismus', 'Hedonismus', 'Privatismus', 'Irrationalismus'. Alles, was nur entfernt an mystische Religiosität erinnert, wird automatisch verdammt, denn es ist sowohl agnostischen Liberalen wie frommen Konservativen ein Dorn im Auge. Introspektion und Spontaneität, die bei den meisten Formen der Selbstentdeckung eine Rolle spielen, werden als 'anti-kognitiv', 'anti-intellektuell' abgetan. Das Fetisch-Wort 'Vernunft' wird wie das Schwert des Gerechten geschwungen, als besäße es noch den ursprünglichen und unzweideutigen Sinn, den Descartes ihm vor dreihundert Jahren beigelegt haben mag — bevor Rousseau und die Romantiker, Freud und die Psychiater es wagten, nach dem wirklichen Ort, der wirklichen Macht dieser noch weitgehend unerforschten Fähigkeit der menschlichen Persönlichkeit zu fragen.
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Die ganze antipersonalistische Kritik gründet sich auf eine tragisch gespaltene Psychologie, die sich nicht davon abbringen läßt, das Rationale gegen das Emotionale, das Intellektuelle gegen das Instinktive, das Analytische gegen das Inspirative auszuspielen — ein uralter Feldzug des Selbst gegen das Selbst, der immer noch das Hauptsymptom einer zerrissenen Empfindungsfähigkeit in der westlichen Gesellschaft ist. Immer wieder werden uns diese alten, wohlvertrauten psychischen Polaritäten als Wahlmöglichkeiten vorgehalten, zu denen wir Stellung beziehen sollen, und nie wird dabei auch nur im geringsten der Tatsache Rechnung getragen, daß keine der beiden Seiten allein Sittlichkeit und Vernunft garantieren kann. Die Persönlichkeit ist ein organisches Ganzes, und der Geist ist ein Spektrum von Möglichkeiten; das Problem ist die Dichotomie, die das Kontinuum zerreißt. Sie läßt uns — vor allem, wenn sie als moralischer Imperativ präsentiert wird —, immer tiefer in die spirituelle Verzweiflung sinken, die die Kräfte der Selbstentdeckung erstickt.
Viele mächtige und einflußreiche Kräfte stehen hinter dieser Dichotomie. Fangen wir, um diese Diskussion auf die letzten Jahre zu begrenzen, mit der vorausschauenden Kritik Phillip Rieffs an, die er in seinem Werk The Triumph of the Therapeutic (1966) ausspricht. Rieff beklagt den zersetzenden Einfluß, den die postfreudianische Psychiatrie auf moralische Disziplin und kulturelle Stimmung nehmen könnte. "Der psychologische Mensch", so bemerkt er, "sucht nur das Vergnügen". Als Ergebnis befürchtet er "einen permanenten Abbau tief internalisierter moralischer Forderungen" und eine Kultur, "die weniger verlangt und mehr erlaubt".*
Das Echo dieser Sorge hallt selbst aus den seriösesten Meinungsmagazinen noch immer zurück. So auch die herben Schlußfolgerungen, zu denen John Passmore in seinem Buch Der vollkommene Mensch (Originalausgabe 1970) gelangt. Diese historische Untersuchung perfektionistischer, romantischer und utopischer Menschenbilder schließt mit einer ernsten Rüge für den "neuen Mystizismus", der zum "Stolz auf die eigene Kreativität und Originalität" aufruft und überhaupt unrealistische Erwartungen von Freude und Unschuld weckt.*
Die gleichen Zweifel äußert auch Daniel Bell in Die Zukunft der westlichen Welt (Originalausgabe 1976). In der gegenwärtigen "Megalomanie der Selbstentgrenzung" sieht Bell eine Vulgarisierung des faustischen élan und der Künstler-Rebellion der Boheme.
Die moderne Kultur ist geprägt durch diese außerordentliche Freiheit, das 'Warenlager' der Welt zu plündern und jedweden Stil, den sie antrifft, zu verschlingen. Solch eine Freiheit, rührt von der Tatsache her, daß das axiale Prinzip der modernden Kultur das ,Selbst' ist, ein
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Ausdruck suchendes, sich wandelndes Selbst, das Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung anstrebt. Dieses Bestreben leugnet alle Erfahrungsgrenzen und -schranken. Es handelt sich um ein Streben nach jedweder Erfahrung; nichts ist dabei verboten, alles muß erforscht werden.*
Aber, so fährt Bells Kritik fort, nachdem dieses hohe und ungestüme Ideal als "neue Sensibilität der sechziger Jahre" auf die Straße heruntergestiegen ist, nachdem es seine eigenen "hedonistischen" Psychotherapien ausgebrütet hat, die "die Person von Hemmungen und Beschränkungen 'befreien' " wollen, "so daß sie ihre Impulse und Gefühle leichter zum Ausdruck bringen kann", setzt zugunsten "prä-rationaler Spontaneität" und "schamanischer Vision" ein "Angriff auf den Verstand als solchen" ein. Bell fragt:
Kommt in diesen Forderungen etwas anderes zum Ausdruck als das Sehnen nach den verlorengegangenen Gratifikationen einer idealisierten Kindheit ... das Leugnen jener notwendigen Unterscheidungen — zwischen den Geschlechtern und zwischen den Ideen —, die zum Erwachsensein gehören? (S. 173)
Mit gutem Grund befürchtet Bell, daß eine solche Sensibilität die soziale Struktur unterminiert, "indem sie einen Schlag gegen das System der Motivation und psychischen Belohnung führt, das diese Struktur stützt". In seiner Betrachtungsweise ist das gleichbedeutend mit einem "Schwund an civitas, jener spontanen Bereitschaft, dem Gesetz zu gehorchen, die Rechte anderer zu respektieren und der Versuchung zu widerstehen, sich auf Kosten des Allgemeinwohls zu bereichern" (S. 283).
Eine noch aggressivere Version dieses Arguments kann man in Russell Jacobys beißender Analyse Soziale Amnesie: Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing (Originalausgabe 1975) finden. Hier liegt der Ansatzpunkt ein gutes Stück links von Bell oder Rieft. Jacoby spricht aus der Perspektive der neomarxistischen Frankfurter Schule, der wir auch Herbert Marcuses Versuch, Marx und Freud zu verschmelzen, verdanken — doch die Stoßrichtung des Angriffs ist ziemlich die gleiche. Wir hören, daß die nachfreudianische und humanistische Psychologie (von Adler und Fromm bis zu Laing und Cooper) einem "wildgewordenen Narzißmus" erlegen ist, der alle "politische Energie und Theorie" zunichte macht.
Die Ablehnung von Theorie und Theoriebildung beruht auf der Bejahung von Subjektivität. Theorie erscheint politisch ohnmächtig und unter individuellem Gesichtspunkt als unwirklich und esoterisch. Nur die menschliche Subjektivität — das persönliche Leben — ist bedeutungsvoll und konkret.*
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Der daraus entstehende "Kult der menschlichen Subjektivität ist nicht die Negation der Bürgerlichen Gesellschaft, sondern ihre Substanz." (S. 123)
Die nicht enden wollende Rede von menschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen ist utopisch; sie unterstellt, was überholt oder noch zu verwirklichen ist: nämlich menschliche Beziehungen. Heute sind diese Beziehungen unmenschliche; sie haben eher etwas mit Ratten gemein als mit Menschen, mehr mit Dingen als mit Personen. Und dies liegt nicht an bösem Willen, sondern an einer unheilvollen Gesellschaft. Das zu vergessen heißt, sich der Ideologie von Sensitivitätsgruppen zu verschreiben, die eine Desensibilisierung bewirken, indem sie die menschlichen Beziehungen von den gesellschaftlichen Wurzeln, die sie zu gewalttätigen haben werden lassen, abtrennen. Mehr Empfindlichkeit bedeutet heute Revolution oder Wahnsinn. Alles andere ist Geschwätz. (S. 125)
Sehr richtig. Je tiefer echte persönliche Sensibilität geht, desto lebhafter und quälender das Bewußtsein der Entfremdung. Aber wie stellt Jacoby sich vor, daß solch eine subversive Sensibilität in breiten Schichten unserer nach wie vor unmenschlichen und prähistorischen Gesellschaft geweckt werden soll? Wie sollen die in der Falle sitzenden Ratten sich ihrer Lage bewußt werden? Durch noch stärkere Dosen soziologischer Gelehrsamkeit in irgendwelchen radikalen Magazinen, durch noch mehr ideologische Pamphlete, durch Vorträge und Straßenecken-Tiraden?
Oder soll es die Freudsche Psychoanalyse leisten, die er in seiner Analyse so entschieden verteidigt — eine Form der Therapie (oder Theorie), die immer nur eine kleine Elite von Wohlhabenden erreicht? Und welche politisch belangvollen Veränderungen hat sie, nach oft jahrelanger kostspieliger Behandlung, im Leben der Menschen bewirkt? Fragen, auf die die Geschichte eine unzweideutig negative Antwort hat. Also haben wir nun neue therapeutische Ansätze, die vom unerkannten Potential der Person ausgehen, einzeln oder in kleinen Gruppen. Wie kann Jacoby (oder Rieff oder Bell) so sicher sein, daß keine dieser neuen Bewußtseins- oder Therapiebewegungen — keine — die Macht oder Absicht hat, die richtige Art von Sensibilität zu erzeugen?
Bezeichnenderweise stammt die Einleitung zu Jacobys Buch von Christoper Lasch, der viele dieser Kritiken im Rahmen eines Essays in der einflußreichen New Yorker Review of Books vorgestellt hat.* Er kommt darin zu dem Schluß, daß "der Narzißmus den Schlüssel zur Bewußtseinsbewegung und zum moralischen Klima der heutigen Gesellschaft bildet"; aber auch hier hat man das Gefühl, das Lasch über "die Bewußtseinsbewegung" in ihrer verwirrenden Vielfalt nicht mehr weiß, als er aus ablehnenden Bücher und Artikeln und durch bloßes Hörensagen erfahren hat.
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All diese Kritiker berücksichtigen nicht, das es in der Selbsterforschung Phasen geben kann, die extreme Introversion und anstößige emotionale Entblößung erfordern, manchmal sogar Augenblicke infantiler Regression, in denen die Menschen sich den Weg zurück zu den frühesten, schmerzhaftesten und am tiefsten vergrabenen Erfahrungen ihres Lebens ertasten.
Wo das Unbewußte und Verdrängte befreit und nicht nur analysiert, erfahren und nicht nur zu Büchern und Vorträgen verarbeitet werden soll, könnte es notwendig sein, das psychisch Bizarre und Beunruhigende oder gar das Dämonische ans Licht zu bringen. Zumindest vorübergehend und innerhalb der Grenzen therapeutischer Disziplin, könnte ein Experiment mit dem, was Kierkegaard (in einem theologischen Zusammenhang) die "Ideologische Suspendierung des Ethischen" nannte, unumgänglich sein — mit dem Ergebnis, daß unsere soziale Natur, unser Gefühl für Etikette und unser rationales Urteilsvermögen vorübergehend einem anderen Bettreben untergeordnet werden. Selbst Sokrates, dieser höchst analytische westliche Guru, der keine Unklarheiten duldete, sah keinen Widerspruch zwischen seiner philosophischen Berufung und Perioden der Trance, in denen er sich Stimmen und Visionen öffnete, die seiner ganz persönlichen Welt angehörten. Wenn also im Namen von Vernunft, zweckmäßiger Politik und guten Manieren niemandem solche Intervalle 'irrationalen' In-sich-Gehens zugestanden werden können, unterbinden wir dann nicht jede Möglichkeit der Selbsterkenntnis?
Daniel Bell ist offen genug, um den Widerspruch in solch einer Position einzuräumen. Er sieht in den gegenkulturellen Experimenten der sechziger Jahre eine Fortführung des alten liberalen Kampfes gegen puritanische Repression. Aber die Predigten des Liberalismus wurden jetzt auf den Straßen und in therapeutischen Begegnungen in die Praxis, in Aktion umgesetzt, wie es früher nur ein paar Bohemiens gewagt hatten; die Gegenkultur wollte diese Werte
so fest im Lebensstil verankern, wie es die liberale Mentalität — die solche Ideen im Bereich der Kunst und Imagination durchaus billigte — zuzulassen nicht bereit war. Doch der Liberalismus tat sich schwer damit, eine Erklärung dafür abzugeben. Er befürwortet elementare Freizügigkeit, kann aber keinesweg mit Bestimmtheit angeben, wo die Grenzen liegen. In der Kultur wie im Bereich der Politik steht der Liberalismus heute mit dem Rücken zur Wand. (S. 98)
Der antipersonalistische Konsens
Liberale und Radikale brauchen nur einen Blick nach rechts zu werfen, um festzustellen, daß sie ins selbe Hörn stoßen wie einige gestandene Konservative — zum Beispiel der politische Theoretiker Robert Nisbet, der über "die Atmosphäre des Subjektivismus" herzieht, die angeblich die sechziger Jahre beherrscht hat.
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In seiner Studie The Twilight of Authority stützt Nisbet sich so sehr auf Edmund Burke wie Russell Jacoby auf Karl Marx; aber das Ziel im Fadenkreuz ist wiederum das personalistische Ethos der Zeit, das Nisbet als "individuellen Rückzug auf innerste Bereiche des Bewußtseins" charakterisiert und als "eine Art Heiligsprechung des Selbst, des Selbstbewußtseins und des unverfälscht Subjektiven". Und wo führt das wieder mal hin? Zur "Kultivierung von Infantilismus und Irrationalismus... zu einem Rückzug vom Geist und seinen Disziplinen", und zwar auf Kosten sozialer Pflichterfüllung.
In Kunst, Literatur und Philosophie ist Subjektivität ein normaler Geisteszustand, aber in der Sozialwissenschaft, sogar im sozialen Protest muß sie notgedrungen zu den Kräften zählen, die einen negativen Einfluß nicht nur auf Kultur, Vernunft und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Ordnung haben, sondern auf die politische Gemeinschaft überhaupt.*
In den mittleren und späten siebziger Jahren ist diese Kritik von Zeit zu Zeit immer wieder in den Massenmedien aufgetaucht. Aber die Haltung der Medien war doch zwiespältig, denn da sie immer auf der Jagd nach dem letzten Schrei sind, haben sie die wachsende Popularität der Selbstentdeckung schnell erkannt und ihre sensationellen und anstößigen Züge auszuschlachten gewußt. Sie sahen die Möglichkeit, daß die neuen Therapien und Bewußtseinsbewegungen ein vielversprechender psychischer Gebrauchsartikel werden könnten — neueste Mode der Selbstvervollkommnung und des Mittelklassenzeitvertreibs.
Entsprechend wandten sich die meisten Kommentare und Berichte dieses Niveaus besonders hingebungsvoll den schlimmsten Auswüchsen alberner Selbstverherrlichung und blinder Geschäftemacherei zu — Entgleisungen, die sich in Amerika bei allen Dingen einstellen, die ein nennenswertes Publikum finden. Sex, Nacktheit und die abenteuerlichsten Formen hemmungsloser Selbstdarstellung finden am meisten Beachtung, wobei man allerdings einen Tonfall wohlkalkulierter Entrüstung wahrt, der eher von heimlicher Faszination als von Mißbilligung zeugt.
In einem erbarmungslos sarkastischen (und jämmerlich uninformierten) Stück Parajournalismus, das im New York magazine erschien, fegt zum Beispiel der Satiriker Tom Wolfe die Popularität der therapeutischen Selbsterkundung kurzerhand als dekadenten Ausdruck der "Ich-Dekade" vom Tisch, und zur Entstehungsgeschichte dieser Popularität fällt ihm nicht mehr ein als clevere Geschäftemacherei und "Leistenzuckungen".
Ganz ähnlich in einem großen Newsweek-Feature über die neuen Religionen und Therapien; hier kommen die Autoren im Tonfall düsterer augustinischer Feierlichkeit zu dem Schluß, daß die neue Innerlichkeit "allen, die zuviel Realität nicht vertragen, eine sentimentale Reise anbietet" und damit "die dunkle Seite des Menschen ignoriert und in einer Wolke von Bewußtsein verschwinden läßt."*
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Hier haben wir eine Form des Illustriertenjournalismus vor uns, der ganz von einer Konsumwerbung getragen wird, deren 'Realität' nichts als Profit und Verlust ist und die zum Verkauf ihrer Waren jede Art von skrupellosem Schwindel, erotischen Trugbildern und Seelenfängerei einsetzt. Doch in den Artikeln wird der wachsende Geschmack an der Selbstentdeckung als hedonistisch, eskapistisch und sozial verantwortungslos dargestellt. Offenbar ist es also (zumindest im Sinne der redaktionellen Politik dieser Publikationen) moralisch akzeptabel und gesellschaftlich lobenswert, ein Produkt — jedes inserierte Produkt zu kaufen. Aber etwas zu kaufen, das man (zutreffend oder nicht) als Mittel der Selbsterkenntnis betrachtet, ist nicht akzeptabel. Warum nicht?
Der gleiche schreiende Widerspruch findet sich auch in einer weit substanzielleren Kritik von Peter Marin in Harper's (Oktober 1975). Die neuen Therapien erhalten hier ein vernichtendes Urteil, weil sie sich, wie Marin es sieht, "aus der Welt der Moralität und Geschichte zurückziehen" und sich "weigern, die Vielschichtigkeit des Moralischen zu berücksichtigen und all die Vernachlässigten, die in Asien sterben, in Afrika hungern und in unserem eigenen Land Armut leiden". Aber neben dieser herben Entlarvung des "neuen Narzißmus" prangt auf der gegenüberliegenden Seite eine üppige Anzeige für den neuen Cadillac Eldorado.
Auch R.D. Rosen verdammt in seinem Artikel Psychobabble "die neuen Therapien und Bewußtseins-Disziplinen" in Bausch und Bogen und macht viel Aufhebens von ihrem "Narzißmus" und "schamlosen Materialismus".* Aber Rosens schriftstellerische Karriere ist die eines Restaurant-Begutachters für das Boston magazine, das wie Tom Wolfes New York eine der neuen großstädtischen Glanzpapier-Illustrierten ist, deren Haupteinnahmequelle in der Werbung für die allerfeinsten Spirituosen, Parfüms und Urlaubsreisen besteht.
Ich will damit nicht unterstellen, solch eine Verbindung entwerte die Kritik von Wolfe oder Marin oder Rosen; manches, was sie sagen, ist völlig zutreffend, denn sie suchen sich die einfachsten Ziele heraus und sammeln so im Handumdrehen viele Punkte. Aber machen sie sich klar, wozu ihre ethischen Bedenken von jenen Kräften benutzt werden, die ihnen das Forum stellen? Eine Frage, die wir alle, die schreiben und lehren, uns einmal durch den Kopf gehen lassen sollten.
Was die meisten dieser Kritiker nicht zu wissen scheinen: All diese Fragen sind in den neuen Religionen und Therapien, in dem ganzen Feld der human-potential-Bewegung längst aufgeworfen worden und bis heute ein sehr heikler Diskussionsgegenstand geblieben. Das gilt zumindest seit der Konferenz des Esalen Institute in San Francisco (1973) über "Spirituelle und therapeutische Tyrannei" und andere ethische Dilemmas der Bewußtseinserweiterung. Die immer mehr nach links gerichtete Politisierung der Radikaltherapie seit den frühen Siebzigern ist ein noch früheres Anzeichen dieser inneren Gärung.
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Und bei der Konferenz der Association for Humanistic Psychology (AHP) im Jahre 1977 erwies sich das Problem von Selbst und Gesellschaft als beständiger und am heißesten umstrittener Diskussionsgegenstand; diesen Status verspricht es auch noch einige Zeit beizubehalten.
In einem Artikel im AHP Newsletter, der unmittelbar vor der Konferenz erschien (Juli 1977), spitzte Rick Gilbert vom Humanistic Psychology Institute die Kritik so weit zu wie nur irgendein Outsider:
Im Gegensatz zu unserem öffentlichen Selbst-Image als Spezialisten für kosmische Transformation, sehe ich uns als leicht desperate Gruppe mittelalter, betuchter, dickbäuchiger Sucher nach ein bißchen Spaß und Entspannung ... Ich glaube, indem wir der individuellen Transformation und dem neuen Bewußtsein soviel Bedeutung beimessen, entfernen wir uns vom Rest der Welt, wie Peter Marin und Tom Wolfe dargelegt haben. Die humanistische Psychologie hat zur Lösung von Problemen in der wirklichen Welt manches zu bieten. Wenn wir aber den Ort unserer Modelle der menschlichen Erfahrung weiterhin in den Kosmos oder tief ins ,innere Ich' verlegen, werden wir das menschliche Potential tatsächlich verfehlen. Meine Sorge ist, daß die Brutalität der sechziger Jahre, Watergate, Vietnam usw. bei vielen von uns dazu geführt hat, daß sie sich nicht mehr mit der wirklichen Welt abgeben wollen, sondern sich nach innen wenden in dem Gefühl, daß wir im Grunde ja doch nichts ändern können. Die human-potential-Bewegung bereitet den Weg in diese Richtung.*
Gilbert empfiehlt der humanistischen Psychologie und anderen Psychologien der dritten Kraft, sich von der human-potential- Bewegung zu lösen, um "unsere Glaubwürdigkeit zu stärken" und um endlich solide akademische Forschung zu betreiben, die "der humanistischen Psychologie eine substantielle, kognitive (wenn es denn sein muß: von der linken Hemisphäre bestimmte) und handfeste Basis geben" würde. Also wieder mal — und diesmal aus dem psychotherapeutischen Lager selbst, wo Gilbert sicher nicht alleinsteht — der Ruf nach gesellschaftlicher Relevanz und intellektueller Strenge angesichts dessen, was man als um sich greifende Anarchie der Selbstentdeckung empfindet.
In all diesen Urteilen bildet sich ein schwerwiegender Konsens, der vielleicht ganz unterschiedliche konservative und radikale intellektuelle Kräfte vereinigen könnte: prinzipielle Ablehnung von permissiven Therapien, östlicher Mystik, Privatismus und Irrationalität. Diese vereinigte Front könnte zum Beispiel einen weiten Fächer von Zeitschriften umfassen, von Dissent und Commentary bis zu The Public Interest und The National Review, von der schicken Satire des Esquire bis zur gewichtigen Gelehrsamkeit wissenschaftlicher Zeitschriften, von Hermann Kahns Hudson Institute bis zum abweichenden Institute for Policy Studies*, von den Radikaltherapeuten bis zu den strikten Behavioristen und orthodoxen Freudianern. Eine wahrhaft sonderbare Allianz.
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Doch ich spreche aus Erfahrung: meine Kritik der Wissenschaft, der technokratischen Politik und der urban-industriellen Dominanz hat mir kritischen Beschuß in genau dieser Variationsbreite eingetragen. Die Vorwürfe des "Romantizismus", "Mystizismus" und des "Apolitizismus" scheinen dabei letztlich gegen meine Überzeugung gerichtet zu sein, daß es ein Selbst jenseits der Kultur, eine überpolitische Person gibt, zu deren Identität auch eine transzendente Berufung gehört (daher in diesem Buch mein Bemühen, die besten Werte der Selbstentdeckung zu retten). Für mich ist es deshalb leicht vorstellbar, daß diese ansonsten antagonistischen Lager in ihrem heroischen Kampf für Vernunft, Intellekt und soziale Verantwortung gemeinsame Sache machen. Für die politische Rechte bedeutet soziale Verantwortung zweifellos Konformität mit den Zwängen privater Wirtschaftsmacht und nationaler Verteidigung; für die Linke bedeutet sie Dissens und Widerstand im Dienst der sozialen Gerechtigkeit. In jedem hall bedeutet sie aber Unterwerfung des Selbst unter die gesellschaftliche Pflicht, totale Politisierung der Persönlichkeit und letzten Endes die Verkapselung des inneren Lebens außer vielleicht da, wo es in wohlwollend aufgenommenen literarischen Werken oder (in wohlbemessenen Dosen) in der Praxis des Psychoanalytikers erfahrbar wird.
Alles in allem wäre das eine machtvolle Bekräftigung einer umfassenden kulturellen Orthodoxie, die schon immer die Kräfte der Linken, der Rechten und der Mitte in sich vereinigt hat, um die urban-industrielle Herrschaft voranzutreiben. Auf der Ebene tiefer psychischer Zwänge wäre es ein Aufruf an uns. zu all den entfremdenden Sublimierungen und pflichtschuldigen Verdrängungen zurückzukehren, die das Fundament dieses Systems bilden. Unterschiedslos würde jede Art von kontemplativer Zurückgezogenheit, jede Form der Selbsterforschung, sei sie tief oder seicht, als Narzißmus und Verrat an der Vernunft verdammt. Und doch, irgendwo zwischen all diesen Ansätzen sind die Mittel zu finden, deren sich die Selbstentdeckung bedienen muß, wenn sie unser Leben vom lähmenden Einfluß der industriellen Kultur und vom Entfremdungsdruck des naturwissenschaftlichen Weltbilds befreien will.
All denen, die sich einem alle Kräfte verschlingenden politischen Leben verschrieben haben, fällt es nicht leicht einzuräumen, daß uns außer staatsbürgerlicher Pflichterfüllung noch etwas anderes bewegen könnte oder gar sollte. Wir alle im Westen, Gläubige wie Agnostiker (und manchmal die Agnostiker noch mehr als die Gläubigen), leben unter dem Verdikt der Propheten des alten Israel, die bestimmten, daß Recht zu geschehen habe, und sollten die Himmel darüber einstürzen.
Gerade die Angehörigen der politischen Linken haben sich mit höchster ethischer Entschlossenheit diesem prophetischen Ruf gebeugt und dabei ihr Recht auf Selbstentdeckung oft auf dem Altar unermüdlichen sozialen Engagements geopfert — ein Akt selbstgewählter spiritueller Entfremdung, der zweifellos einen ebenso bitteren wie verbohrten Stolz begründen kann.
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Umso mehr beeindruckt es mich, wenn ein gestandener Radikaler wie Irving Howe aufrichtig die Frage nach der Beziehung zwischen sozialistischem Bewußtsein und den "letzten Fragen" stellt, in denen es um "die Stellung des Menschen im Universum, den Sinn seines Daseins und die Natur seiner Bestimmung" geht. In der klassischen radikalen Theorie gehören solche Fragen ja in das Stadium der Geschichte, das mit dem Sieg des Sozialismus beginnt. Aber in den neuen Religionen und Therapien werden sie schon gestellt, erfassen immer mehr 'gewöhnliche' Leute, während wir, wie Howe bemerkt, immer noch "in einem Kontext aus Klassenherrschaft und sozialem Snobismus" leben.
Wir würden uns selbst zu philisterhafter Engstirnigkeit verdammen, wollten wir abstreiten, daß Menschen von solchen Fragen bewegt werden, daß es wichtige Fragen sind und daß es gerade jetzt sehr triftige Gründe gibt, auf sie zurückzukommen... Wir müssen die Entfernung, die vielleicht notwendige Entfernung zwischen politischer Strategie und existentieller Reaktion erkennen. Wir sagen, daß viele Dinge, die gebessert werden müssen, sozialpolitischen Lösungen zugänglich sind ... Wir sagen auch, daß wir in einer Zeit leben, in der Probleme, die nicht in der Reichweite der Politik liegen — die nicht in der Reichweite der Politik liegen sollten —, immer dringender und beunruhigender geworden sind.*
Howes Bemühung, einen ehrlichen Ausgleich zwischen sozialer Aktion und philosophischer Einkehr zu finden, gleicht im wesentlichen dem Ziel, das sich der französische Personalismus in den dreißiger und vierziger Jahren setzte. Wir werden darauf im nächsten Kapitel zurückkommen; hier will ich nur ihre Position vorwegnehmen, und dazu zitiere ich den wichtigsten Sprecher des Personalismus, Emmanuel Mounier:
Der Mensch ist nur Mensch durch sein Engagement. Doch wäre er nur sein Engagement, so wäre er ein Sklave, zumal in einer Welt, in der das Netz der Kollektivität sich immer weiter zuzieht und der Austausch zwischen Einzelnen und Gruppen immer weiter eingeschränkt wird. Freiheit im Engagement garantiert uns nur die relative Natur des Engagements — relativ in bezug zu dem Absoluten, auf das es sich beruft, das es verwirklichen will und dabei zugleich verrät.
Der sich abzeichnende liberal-radikal-konservative Konsens gegen die Selbstentdeckung, der immer energischer auf festen Normen für objektive Leistung und staatsbürgerliches Engagement besteht, könnte durchaus zu einem Angriff gegen jegliche auf Verbesserung und Fortschritt zielende gesellschaftliche Strategie werden, und zwar mit einer Wucht, die die liberalen und linksradikalen Mitglieder dieses Konsens niemals beabsichtigt hatten.
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In einer Publikation wie The Public Interest kann man eben diese neokonservative, volksferne Verknöcherung ehemals liberaler Intellektueller ausmachen: die mit finsterer Miene verkündete Bereitschaft, die Laissez-faire-Haltung zu überdenken, die zu den Geschehnissen der sechziger Jahre geführt hat: die laxe Erziehung der Kinder, nachlassender Notendruck in den Schulen, Rehabilitationsprogramme in den Gefängnissen und die Nachlässigkeit im Wohlfahrtssystem, die opportunistischen Aussteigern und chronischen Faulenzern erlaubt, sich mit Lebensmittelmarken und Freimahlzeiten durchzuschlängeln.
Natürlich muß man nicht befürchten, daß diese neokonservative Flutwelle ungehindert ausrollen kann. Jene, die links vom Konsens stehen, werden sicherlich weiterhin mutig für die Untergebutterten, die ins Hintertreffen Geratenen und die Behinderten unserer Gesellschaft eintreten. Der politische Riß zwischen der leidenschaftlichen, sendungsbewußten Linken und der kleinlichen, griesgrämigen Rechten könnte bestehenbleiben. Aber 'Mitleid haben', 'nett sein', nach gleichen Rechten und Chancen rufen — das sind nicht die wichtigsten Dinge, wenn wir von den Rechten der Person sprechen. Hier geht es nicht um das Elend und das Unrecht, das die Menschen zu erdulden haben, sondern um ihre Personalität — die Person, die jeder von uns in und jenseits von all seinem Kummer ist. Nicht Mitleid für die Glücklosen brauchen wir, sondern Freude am Aufblühen ihrer verschütteten Persönlichkeit als dem unmittelbaren und obersten Aspekt ihrer Befreiung. Es geht nicht nur darum, die Steine aus dem Boden der Gesellschaft zu klauben, sondern die menschlichen Samen darunter zu finden, deren jeder in seine eigene Dunkelheit eingeschlossen ist. Ich frage also: Was ist erforderlich, um diese Persönlichkeiten zu befreien, damit sie wachsen und ihre einzigartige Bestimmung entdecken können? Und die Antwort ist, so behaupte ich: Alle zugeschriebenen Identitäten widerrufen und — was notwendig daraus folgt — ein radikales Schrumpfen der urban-industriellen Institutionen.
Damit kehren wir zu der Schlüssel-Aussage zurück, daß Selbstentdeckung eine zersetzende Kraft ist, die jetzt im Zusammenhang mit der ökologischen Misere Bedeutung gewinnt. Person und Planet schließen ein Bündnis auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Bedürfnisse. In diesem Licht betrachtet, stößt uns die Selbstentdeckung auf eine der härtesten Tatsachen im politischen Leben. Die Rechte der Person lassen sich nicht vertreten, ohne daß man dabei auf das Feld der anarchistischen Politik gelangt — oder zumindest auf einen bestimmten Abschnitt dieses Feldes, dem wir uns im nächsten Kapitel widmen wollen. Selbstentdeckung hat ihre Herkunft und ihren Ort in dieser Tradition — und weder Liberale noch orthodoxe Sozialisten sind Anarchisten; vielmehr führt ihr Kurs an dieser wichtigen Kreuzung — insbesondere wo der Anarchismus die kulturelle Orthodoxie und die politische Autorität zu bedrohen scheint — zu noch mehr urban-industrieller Herrschaft, nicht zu ihrem Abbau.
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Leistungstyrannei — Kultur der Schuld
Soviel als Erwiderung an all jene, die es vorziehen, das Abenteuer der Selbstentdeckung zu verwerfen. Ich möchte jedoch meine Sympathie für ihre aufrichtigen Zweifel hinzufügen, denn ich wäre der letzte, der bestreiten wollte, daß man in diesem Wirrwarr neuer therapeutischer Praktiken nicht auch Unsinn und Schwindel findet. Mir ist völlig klar, daß die Dummheiten und Fehlstarts beim Aufbau neuer Identitäten leichte Ziele für Kritik und Satire abgeben. Deswegen halte ich mich hier auch nicht lange damit auf, all die Schmähungen zu wiederholen, mit denen diese offensichtlichen Entgleisungen schon reichlich bedacht worden sind. Man muß nicht klug sein, nur recht grausam, um in solche offenen Flanken zu stoßen.
Für viele Menschen beginnt die Suche nach Persönlichkeit mit einer zweiten Kindheit; sie kämpfen sich durch eine unbegreifliche zweite Geburt und haben dabei oft nicht mehr an der Hand als ihren verzweifelten Drang und improvisierte Hilfsmittel. Sie müssen noch einmal ganz von vorn lernen zu fühlen, zu atmen, sich zu bewegen, zu träumen, sich anderen zuzuwenden. Sie tasten sich vor wie ein Neugeborenes; sie lassen sich theatralisch gehen und sind einfältig wie Kinder. Und da sie aus einer Ego-dominierten Gesellschaft stammen, durchlaufen sie wahrscheinlich Phasen des Narzißmus und der völligen Selbstbezogenheit. Wie will man überhaupt mit Introspektion anfangen, ohne daß es von außen betrachtet selbstbezogen aussieht?
Und wer nicht die richtige Anleitung hat, findet vielleicht überhaupt keine innere Dynamik, die ihn über dieses Stadium hinausträgt. Zweifellos stehen die Opportunisten bereit, um diese Augenblicke der Verwirrung und Unsicherheit auszunutzen — zweifelhafte Gurus, <psychische Helfer>, die gleich mit irgendeinem billigen therapeutischen Dreh zur Stelle sind, mit dem sie ihre Klienten am Ende in einer ausweglosen Bucht ihrer Persönlichkeit auflaufen lassen.
Was soll man aber angesichts dieses Problems tun? Wohlfeilen Zynismus auf die qualvolle spirituelle Notlage der Menschen zu häufen, dürfte kaum dem Zustand unserer Kultur gerecht werden. Denn das ist genau das Gift, an dem wir sterben — der Zynismus, mit dem alle großen Strukturen unserer Gesellschaft durchsetzt sind und der uns alles an unserem Leben als mies und verlogen erscheinen läßt. Dieser Zynismus hat viele Verpackungen. Die kaltschnäuzige Ausbeutung persönlicher Bedürfnisse des Menschen aus Profit- oder Machtgier ist eine Art. Aber es gibt noch eine schlimmere: Die Ausgebeuteten gemeinsam mit den Ausbeutern zu verhöhnen, das Bedürfnis ebenso wie seinen Mißbrauch.
Ich selbst bringe all den Versuchen der Selbstentdeckung soviel Nachsicht wie irgend möglich entgegen (außer da, wo sie deutlich mit einer Art 'spirituellem Faschismus' behaftet sind). Ich bin überzeugt, daß zwischen all den hilflosen und fehlerhaften Ansätzen, die ich so klar sehe wie irgendein Kritiker, ein ehrlicher, wenn auch chaotischer Kampf um Authentie stattfindet.
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Ich sage das, obwohl die gefühlsduselige Selbst-Dramatisierung bei vielen dieser bewußtseinserweiternden Übungen mich manchmal abgestoßen hat. Ich gebe zu, daß es mir auch auf die Nerven geht, wenn die Leute immer und immer weiter über sich selbst erzählen und alle nebensächlichen Einzelheiten über ihre Gefühle, ihre Motive, ihr Elend ausbreiten — als ginge es in der Welt nur um sie. Auch ich kann wie viele Kritiker die Wörter kaum noch hören, die einfach zu oft benutzt werden: 'Wachstum', 'Sensibilität', 'Bewußtheit', 'Beziehung' ... aber ein besseres Vokabular für Gespräche über das innere Leben stellt unsere Kultur uns ja nicht zur Verfügung. Hat die barbarisch wissenschaftliche Sprache Freuds oder die metaphysisch dunkle Sprache Jungs diesem Zweck besser gedient? Man braucht nur einen Blick auf die introspektive Vielschichtigkeit indischer oder tibetischer Philosophie zu werfen, um zu erkennen, daß unsere Sprache kein exaktes und sprechendes psychologisches Vokabular besitzt; wir müssen uns mit groben Improvisationen behelfen.
Fraglos haben viele der neuen therapeutischen Praktiken etwas furchtbar Amateurhaftes, das durch mangelnde intellektuelle Präzision und scheinbar fehlende 'Ernsthaftigkeit' Anstoß erregt. Ich habe mich mitten in faden, nervtötenden Sitzungen schon manches Mal gefragt: "Haben diese Leute denn noch nie was von Dostojewski, Proust oder Johannes vom Kreuz gelesen? Wo ist denn die quälende Zwiespältigkeit der Sache geblieben?"
Aber dann besinne ich mich. Ist es nicht ungerecht, solche niederschmetternden Vergleichsnormen zu setzen? Bei dem, was hier vor mir abläuft, geht es nicht um kulturelle Hochleistungen, sondern um persönliche Dringlichkeit, um persönliches Beteiligtsein. Haben in dieser Welt etwa nur die Heiligen und Künstler das Recht zur Introspektion? Paßt auf uns Übrige nur die Rolle des bewundernden Zuschauers dieser Helden der Selbsterforschung?
Das hier sind 'gewöhnliche' Menschen wie ich, genauso zerrissen, beladen und unbegabt. Und dann denke ich, sie tun ihr Bestes, um ihre wirkliche Persönlichkeit zu finden. Sie können weder große Literatur noch große Kunst schaffen; sie maßen sich diese Talente auch nicht an. Aber sie leben auch im Schatten des Todes und leiden unter der Last verzweifelter Stunden. Machen sie hier nicht einen mutigen Anfang mit dem schwierigen Projekt der Selbsterkenntnis — und vielleicht mit ganz unangemessener Anleitung? Habe ich keine schlimmeren Anklagen vorzubringen als die, daß sie keine gepflegte und unsterbliche Literatur zu meinem Vergnügen produzieren? Tatsächlich zielen sie überhaupt nicht auf meinen kritischen Beifall; das hier ist keine kulturelle Darbietung. Das ist ihr privates Abenteuer mit Authentie und vielleicht der beste introspektive Weg, den sie bis jetzt gefunden haben.
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Habe ich das Recht, sie in verlegenes Schweigen zurückzuhöhnen, nur weil mein Geschmack verletzt ist? Was für elitären Ansprüchen gebe ich mich da hin? Errichte ich nicht eine Leistungstyrannei, die alle außer einigen Hochgebildeten zur Stummheit verdammt?
Ich weiß, daß ich mich damit der Gefahr aussetze, am Ende alles gelten lassen zu müssen. Aber für den Augenblick will ich dieses Risiko eingehen, damit eine Frage sichtbar werden kann, die meist vorschneller Verärgerung über die intellektuelle Seichtheit vieler neuer Therapien zum Opfer fällt. Ich sehe sehr deutlich, daß manche Modeerscheinungen in der Szene (wie Transaktionsanalyse und Transzendentale Meditation) ihre Vertreter über Nacht reich gemacht haben, indem sie leichte und schnelle Erleuchtung versprachen. Ich stimme zu, daß solche banalen Systeme mit ihren schnell gemeisterten Methoden, ihrem endlosen Ausstoß von Wortneuschöpfungen, ihren nimmermüden Analysen des Offensichtlichen die Selbsterkenntnis eher behindern als erleichtern. Es gibt Therapien, die auf kaum mehr abzielen, als die psychische Oberfläche mit Schlagwörtern und Plattheiten zu massieren. Dennoch möchte ich darauf vertrauen, daß irgendein richtiger Instinkt die Menschen — auch belesene und gebildete Menschen — in solchen Mengen zu diesen Übungen hinzieht. Selbst hier können wir ein kulturelles Symptom entdecken, das uns etwas über die Bedürfnisse der Zeit sagen kann.
Ich frage mich also — und umso dringender, wenn ich sehe, wie die Leute von seichten und bloß modischen Therapien angezogen werden —, wohin ich sie schicken könnte, damit sie angemessenere Normen der Selbstentdeckung finden, die Hand und Fuß haben. Wo gibt es in unserer Kultur die Traditionen und Techniken der Persönlichkeitserforschung, die sie sich zum Modell nehmen sollen?
Und während ich darüber nachdenke, beginne ich zu verstehen, weshalb diese Bemühungen so anstößig sind. Es ist eigentlich nicht ihre Sentimentalität und Banalität, die mir Unbehagen macht; das ist hauptsächlich meine Abwehrhaltung angesichts einer viel größeren Herausforderung. Der wahre Grund ist: Hier gibt es kein Gefühl der Sünde.
Weder in den situativen Gruppen noch in den neuen Therapien entschuldigen sich die Leute für das, was sie sind. Sie ducken sich nicht, sie zeigen keinerlei Zerknirschung. Und wenn doch, dann bleiben sie da nicht stehen. Sie gehen nicht in sich, um sich ihrer Sünden zu bezichtigen, sondern letztlich, um Schuldlosigkeit für sich selbst zu beanspruchen. Sie erdreisten sich, alle Schuldgefühle abzulegen und ohne Scham dazustehen. In den östlichen Formen der Selbstergründung wird das Selbst auf der Suche nach Persönlichkeit sogar Gott; man macht sich auf, um die eigene innere Göttlichkeit zu erfahren — eine Lehre, die im Westen vermutlich nur wenige richtig verstehen.
Das sind Absichten, die in unserer Gesellschaft nicht viele billigen können. Im Gegenteil, wir können gar nicht anders, als über ihre Anmaßung oder gar offene Blasphemie empört zu sein. Was unsere Kultur über die Kunst der Introspektion weiß, ist Erbe religiöser Traditionen, die sich sehr stark auf Furcht und Zittern gründen.
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Die wichtigsten Formen tiefer Selbstanalyse, die im Westen entwickelt wurden, leiten sich von der Erfahrung der Sünde und der Furcht vor göttlichem Mißfallen ab: die katholische Beichte, das puritanische Tagebuch, die Gemeinschaftsbekenntnisse. Für uns ist das innere Leben das, was Paulus, Augustinus, Luther, Calvin, Jonathan Edwards, Kierkegaard und Karl Barth darüber gesagt haben: Schande und Unwert. Und hinter diesem Korpus der Moraltheologie schwebt die düstere biblische Lehre vom Sündenfall des Menschen, vom Akt des Ungehorsams, der Tod und Leid in die Welt brachte. Sich nach innen kehren, um Unschuld, schöpferische Wachstumskräfte oder gar den Glanz der Göttlichkeit zu finden — das tut man einfach nicht. Man erfleht Vergebung im Schatten des Todes und der Verdammnis.
Dieses peinigende Bild des Selbst ist uns bis heute erhalten geblieben, sogar bei den atheistischen Existentialisten, die uns das innere Leben als ein privates Inferno des Versagens und des Aberglaubens vorführen. Immer wieder konfrontieren sie uns mit der gleichen vernichtenden Erfahrung; das Selbst als Schreckenskammer und Hort des Lasters. Und auch in der klassischen psychologischen Literatur unserer Kultur wartet es wieder auf uns, ausgenommen einige bemerkenswert ungezwungene romantische Geister, die zu den Pionieren unserer heutigen Bemühung um Selbstentdeckung zählen. Was ist Freuds Psychoanalyse letztlich anderes als quälende Suche nach schuldbehafteten Geheimnissen, die im Unbewußten verborgen sind: Inzestwünsche, sexuelle Perversionen, Vatermordfantasien, Todeswünsche, feige Flucht vor der eigenen Sterblichkeit? Mit Freud erarbeiten wir eine durch Katharsis und Purgation nüchterne geistige Gesundheit — sonst nichts.
Hier stoßen wir auf einen wichtigen Aspekt des antipersonalistischen Widerstands. Erstaunlich einhellig greifen die Kritiker der neuen Bewußtseinsdisziplinen auf die Freudsche Analyse als einzig akzeptable Technik der Selbsterforschung zurück, als wollten sie sagen: "Bis hierher und nicht weiter." Und das trotz der Tatsache, daß die Psychoanalyse die «m schwersten zugängliche, teuerste und zeitaufwendigste Form der Psychiatrie ist und man ihr mit Recht nachsagen kann, sie sei ein elitäres, bourgeoises, ja 'narzißtisches' Privileg. Im Vergleich dazu sind die meisten der neuen Therapien (selbst solche, in denen, fünfzig bis sechzig intensive Workshop-Sitzungen vielleicht ein paar Hundert Dollar kosten) spottbillig und ungeheuer demokratisch, und sie bringen nicht so viele wohlhabende Therapeuten hervor, wie wir unter den orthodoxen Psychiatern linden, von denen die meisten, darauf kann man wohl setzen, so konservativ oder apolitisch sind wie die große Mehrheit der Ärzte. Aber weshalb hält die Psychoanalyse dem prüfenden Blick dieser Kritiker als akzeptable Form der Introspektion und Selbst-Enthüllung stand?
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Lionell Trilling weiß die Antwort:
Die Natur des Schuldgefühls, wie Freud es versteht, liegt genau darin, daß es nicht aus tatsächlicher Missetat entsteht ... Es ergibt sich aus einem unerfüllten und unterdrückten Wunsch, Böses zu tun ... und wird als Verweigerung von Befriedigung und Genuß, ja selbst von Verlangen erlebt.
Diese morbide Vision unauslöschlicher Schuld, einer Schuld, die nicht unserem Handeln, sondern der Natur unseres Seins selbst entspringt, enthält etwas — viel — von jener Härte, die sich als Reaktion auf die Härte des menschlichen Schicksals durch die christliche und jüdische Tradition zieht. Ihren Kern, die Erklärung für das Leiden, bildet die Lehre von so etwas wie Ur-Sünde: nicht umsonst wählte Freud sich in seiner Jugend Milton als Lieblingsdichter, und wenn er auch der Idee der Erlösung keinen Glauben schenkte, so ergab er sich doch mit einer Spur von diesem schaudernden Stolz Miltons in die Qual des Menschenlebens.*
So betont auch Daniel Bell, daß alle Therapie, die vom Freudschen Weg abweicht, "hedonistisch" ist und nur "instrumentelle und psychologistische" Absichten hat. "Die Moral des Vergnügens tritt an die Stelle der ,Moral des Guten', der es um die Zügelung der Impulse ging." Russell Jacoby geht noch weiter. Für ihn besteht der ganze Wert der Freudschen Psychiatrie darin, daß sie Erwartungen herabsetzt und die Bereitschaft zur Resignation bestärkt. Wie Freud selbst erklärte, ist die Psychoanalyse schon zufrieden, wenn sie den Menschen in einem Zustand des 'alltäglichen Unglücks' zurückläßt (im Unterschied zum 'neurotischen Unglück'). Jacoby betrachtet nun diese in Fleisch und Blut übergegangene Freudlosigkeit als Vorbedingung für revolutionären Wandel, denn sie beweist, wie unbelehrbar unmenschlich die bestehende gesellschaftliche Ordnung ist. Das scheint eine psychologische Version von Marx' geradezu peinlich kurzsichtiger Annahme zu sein, daß gesellschaftlicher Aufruhr nur aus erbarmungsloser 'Verelendung' der Massen entstehen kann.
Man beweist also die Bösartigkeit der kapitalistischen Gesellschaft, indem man alle Verbesserungen ablehnt und alle Reformen torpediert. In dieser verdrehten Argumentation wird jedoch übersehen, daß eine Psychiatrie, die den Menschen nur dazu bringen will, sich mit ständiger Bestrafung durch das Über-Ich und mit »alltäglichem Unglück« abzufinden, jenen gesellschaftlichen Kräften in die Hände spielt, die eine unglückliche Wirklichkeit erst schaffen. Menschen, die noch nicht viel von ihrem Potential gespürt haben, werden kaum auf die Idee kommen, mehr zu verlangen, als die bestehenden Mächte ihnen zugestehen. Der autoritäre gesellschaftliche Stil, auf den die Psychoanalyse abgestellt ist, zeigt sich in Freuds Schriften immer wieder — zum Beispiel wenn er uns sagt, daß man das nach Lustgewinn strebende Unbewußte mit einem modernen Staat vergleichen kann, "in dem eine nach Vergnügen und Zerstörung begierige Masse gewaltsam von einer klugen Oberschicht niedergehalten werden muß".
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Ich will nicht unterstellen, es sei gerade der autoritäre Stil der Freudschen Psychiatrie (in Theorie und Praxis), der ihren Verteidigern so gefällt. Es ist eher die strafende Strenge und das tragische Flair, was der Psychoanalyse eine Aura von Echtheit und Ernsthaftigkeit verleiht. Darin findet die tiefe Überzeugung von unserer Gefallenheit ihren Widerhall. Und die ist wiederum Antwort auf unseren geheimen Schmerz angesichts unserer entstellten Persönlichkeit. Die Schuld ist gewiß in uns; aber es ist die Schuld unserer unerfüllten Bestimmung, unserer Unfähigkeit zu werden, was wir sind. In dieser Erfahrung — ist sie erst geklärt und in ihrem kulturellen Zusammenhang eingeordnet — liegt, so vermute ich, die Kraft für eine machtvolle politische Gegenströmung.
Dieses Gefühl der Gefallenheit hat immer den Sinn gehabt, die gehetzte und gedemütigte Seele um Gnade flehend in die Arme Gottes zu treiben. Zuerst unsägliche Schuld, dann das Blut des Lamms. Heute ist der religiöse Kontext dieser Selbstquälerei für die meisten Menschen weggefallen, aber ernsthafte Introspektion und echte Psychiatrie ist für viele Intellektuelle immer noch gleichbedeutend mit der Suche nach verborgenem Grauen.
Selbsterkenntnis darf nie adeln, sondern wird nur als steinerner Weg zu schuldbewußter Resignation akzeptiert. Und das bleibt für viele der Kritiker, die ich hier zitiert habe, das Fundament der Persönlichkeit und die Conditio sine qua non jedes moralischen Entschlusses. So predigen sie denn wie alle moralischen Autoritäten der Vergangenheit weiterhin Moral: um mit moralischer Rhetorik zu tadeln, zu gebieten und einzuschüchtern. Und wo ihnen die Sprache nicht schon Ethik signalisiert, können sie sich auch keine ethische Absicht vorstellen.
Von diesem traditionellen westlichen Standpunkt aus hat man nur eine Möglichkeit, die Menschen moralisch zu machen: ihnen solange zu sagen, daß sie es nicht sind, aber werden müssen, bis sie in ihrer Schmach sich endlich zum Wohlverhalten bekehren. Nein, es gibt vielleicht noch eine andere Möglichkeit, auf die uns die behavioristischen Psychologen in neuerer Zeit gebracht haben. Mit strategischem Einsatz von Bestechung und Strafe konditioniert man die Leute einfach, 'gut' zu sein. Aber das ist vielleicht auch nur eine säkularisierte Variante der alten Drohung von 'Himmelsferne und Höllenqualen'.
Befreiung der Unschuld
Aber jetzt kommt an den Rändern unserer Kultur eine ganz andere Sensibilität ins Spiel, und ich muß zugeben, daß es mir schwerfällt, ihr zuzustimmen, wenn ich sie auch nicht leichtfertig von mir weisen will. So fand ich mich zum Beispiel unter den Schülern Swami Muktanandas umgeben von Menschen verschiedenster Herkunft und Altersstufen, denen Meditation nicht länger Kontemplation ihrer Sünden bedeutete. Sie bedeutet ihnen, so sagen sie, ekstatische Einheit mit Shiva, dem Gott des göttlichen Selbst.
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"Werde zu deinem Geliebten", lehrt der Swami sie. "Meditiere über dein Selbst. Bete dein inneres Sein an. Gott lebt in dir als du." Ich weiß nicht, wie echt der Hinduismus dieser Menschen ist; vielleicht ist er noch gar nicht tief genug ergründet. Aber das scheint mir nicht die wichtige Frage zu sein. Eigentlich sogar eine pedantische Frage. Es ist nicht einmal interessant zu wissen, ob sie die Ekstase finden, die sie suchen. Auf die unerklärliche Spontaneität, mit der diese Menschen den Religionen und Therapien der Schuldlosigkeit zuströmen, kommt es an. Sie wagen es, unschuldig zu sein. Wie Whitman in seinem großen Lied wagen sie es, das Selbst zu singen. Es gibt weder Qual noch Demut in ihrer Suche, nur eine Stimmung von Begeisterung und Freude.
Freude und Unschuld. Das ist für viele kritische Geister der Stein des Anstoßes im "Triumph des Therapeutischen". Sie sehen unsere ganze kulturelle Tradition durch diese angemaßte Sündenfreiheit bis in ihre ethischen und psychischen Fundamente erschüttert — und sie sehen richtig. "Die menschliche Natur", behauptet Abraham Maslow, einer der Väter der humanistischen Psychologie, "ist nicht annähernd so schlecht, wie man gedacht hat. Man kann sogar sagen, die Möglichkeiten der menschlichen Natur seien gewohnheitsmäßig unter Wert veranschlagt worden."*
Die Sprache dieser Aussage ist wie bei Carl Rogers, Rollo May und so vielen anderen Sprechern der neuen Therapien, aufreizend mild; sie kann sich kaum mit dem düsteren, misanthropischen Brüten eines Augustinus oder Calvin messen. Auch fehlt ihr die wütende Streitbarkeit eines Nietzsche, der den Adel des Menschen gegen eine immer noch mächtige christliche Opposition verteidigen mußte. Dennoch: Zwei Jahrtausende christlicher Moraltheologie werden von solchen Stimmen in die Schranken gefordert, aber auch von all denen, für die Personalität gleichbedeutend ist mit: sich für nichts schämen müssen, keine Angst davor zu haben, aufrecht in der Welt zu stehen und seine Einmaligkeit darzustellen.
Aus seiner konservativen psychologischen Perspektive heraus hat Alan Mintz allen Grund, über die radikale Loslösung der neuen Therapien von allem Überkommenen besorgt zu sein.
In den Begriffen eines sozialen und historischen Menschenbilds haben wir hier die Lehre der Aufklärung von der Vervollkommenbarkeit des Menschen, aber ohne deren Bindung an die Rationalität; die romantische Verklärung der Subjektivität, aber ohne deren Akzeptieren von Qual und Leiden; den Szientismus des 19. Jahrhunderts, aber ohne dessen Beharren auf dem Primat der Gesellschaft. Für jeden, der sich den Widersprüchen in der Geschichte nicht verschließt, muß dieses selbstsichere Menschenbild unserer Zeit, das über die menschliche Wirklichkeit so bemüht hinwegsieht, ein merkwürdiges und beunruhigendes Phänomen sein.*
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An solchen Ängsten zeigt sich, mit wieviel perversem und tröstlichem Stolz wir alle an einem unerschütterlich zynischen Bild von der menschlichen Natur hängen — obgleich wir uns selbst zu ihrem ersten Opfer machen. Es kommt soweit, daß wir uns verzweifelt an unseren eigenen psychischen Wunden und ihrer Häßlichkeit festklammern. Wir finden Geschmack an unseren Gewissensbissen, bis wir schließlich unsere ganze Identität aus ihnen ableiten und uns nur noch das Eingeständnis bleibt: "Zumindest weiche ich der elenden Vergeudung meines Lebens nicht aus und suche nicht nach Ausreden für den Schlamassel, in den ich mich selbst gebracht habe."
Das ist es, was viele von uns für totsicher und zutiefst 'ernsthaft' halten — diese gallige Aufrichtigkeit und verbissene Resignation. Dieses Gefühl besudelter Kreatürlichkeit ist von einem verblaßten religiösen Erbe noch geblieben, nur fehlt jetzt jede Spur von Gnade, die es mildern könnte. Schließlich enden wir bei dem Glauben, daß Sünde die Wirklichkeit des Selbst ist, und an die Scham, die aus dem Glauben hervorgeht, können wir noch die Hoffnung auf moralisches Handeln knüpfen.
Aber die Sache reicht noch tiefer und gewinnt eine soziologische Dimension. Denn spüren wir nicht mit angstvoller intuitiver Gewißheit, daß Disziplin und Produktivität unserer industriellen Ordnung — all die besitzergreifenden Zwänge, die uns als Arbeitsethos, kapitalistisches Leistungsdenken und Befriedigungsaufschub bekannt sind — an die überkommene Kultur der Schuld gebunden sind? Aus diesem ruhelosen Schuldbewußtsein entspringen die unternehmerischen Energien, aber auch der innere Zwang zu gehorchen und zu dienen, dessen diese Energien bedürfen. Das ist die Verlagerung einer qualvollen inneren Unzufriedenheit nach außen; wir wenden uns nach außen und weg von uns, denn innen ist nur bodenloses Grauen. Wir fliehen in die Geschichte, unsere Strafe heißt 'Fortschritt'. Grund genug also zu fragen, was es uns an ökonomischer Sicherheit und sozialer Disziplin kosten wird, wenn dieses Rerservoir des Selbst-Ekels jetzt ausgetrocknet wird. Woher dann die aufgestaute Aggressivität und die entfremdeten Energien nehmen, die jetzt das Gedeihen unseres industriellen Systems tragen?
Als einer, der in diese Kultur der Schuld hineingeboren ist, fühle ich mich auch selbst ziemlich unbehaglich angesichts einer Psychologie, die ihr Hauptaugenmerk nicht auf die dunkleren Seiten der Persönlichkeit richtet. Auch mir ist beigebracht worden, daß strenge kritische Introspektion das sicherste Anzeichen für 'Ernsthaftigkeit' ist und daß ehrliche Introspektion ein rücksichtsloser Akt der Selbstkreuzigung sein muß. Mein erster bewußter Versuch der Selbsterforschung fand im Alter von neun Jahren in der katholischen Beichte statt. Und was wurde da von mir verlangt? Ich sollte über meine Sünden nachdenken, jede einzelne abwägen, betrübt sein über das Ungemach, das ich Gott bereitet hatte, und mir zitternd die Aussicht auf ewige Verdammnis vor Augen halten. Nichts sonst hatte man mich zu tun gelehrt, und nur das hatte ich in mir zu suchen: Scham und Furcht.
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Und wenn es keine Sünden zu beichten gab, dann mußten meine 'schlechten Gedanken' herhalten — sexuelle Fantasien, heimliche Wonnen, ungesprochene Worte des Widerstands und des Zorns. Da praktizierte ich also die älteste introspektive Disziplin der christlichen Geschichte, und sie bestand aus nichts weiter als demütigender und durch und durch trivialer Selbstverdammung, die mich gemäß den Erwartungen der sozialen Autoritäten formen sollte ..., zu einem 'guten Jungen'. Diese und nur diese Form der Selbstbefragung sollte ich nun für den Rest meiner Tage repetieren, dieses elende, angstschlotternde Flehen um Vergebung.
Erst in jüngster Zeit und vielleicht aufgrund meiner Erfahrungen mit den neuen Therapien und spirituellen Disziplinen wurde mir klar, wie unbedeutend solche moralischen Ängste letztlich sind und wie überflüssig. Wie wenig haben sie mit all dem zu tun, was ich jetzt als wirkliche Bösartigkeit betrachte: mit Verrat seiner Mitmenschen, mit der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer, mit Gewalt und Unrecht. Das westliche Gewissen, davon bin ich überzeugt, ist im Kern eine schwärende Ansammlung von 'Sündhaftigkeit', die ernsthafter Erwägung nicht wert ist und unseren Kindern gar nicht erst eingeimpft werden sollte. Sie besteht aus armseliger, kindischer Körperscham, sexueller Unsicherheit, unterdrückten Aggressionen (die zu Hause nicht ausgelebt werden konnten) und einem unerschöpflichen Vorrat an Rollenängsten. Von solch dürftigem moralischem Ballast lassen wir uns ein Leben lang zu ,gutem Benehmen', 'Leistung' und 'Verantwortlichkeit' treiben und versuchen immer wieder zu beweisen, daß wir sauber, nett und liebenswert sind. Ich frage mich oft, wieviele unserer eigenen moralischen Skrupel und der unserer Vorfahren sich in dumpfem Groll auf Schuldgefühle über alte Masturbationsfantasien gründen.
Aber beginnen wir jetzt nicht, die Möglichkeit einer feineren, positiveren und reiferen ethischen Sensibilität in uns zu spüren — ein authentisches Gewissen, das von Natur aus auf das Gute anspricht und keine Beschämung braucht, um sich Geltung zu verschaffen? Fühlen wir nicht, wie diese Überzeugung sich in uns regt — unter dem zurückgehaltenen Zorn, den dummen kleinen Sexualnöten, denen die Menschen jetzt bemerkenswerterweise ohne Scham vor aller Welt Ausdruck geben? Wo diese Erfahrung in unser Leben tritt, finden wir, so glaube ich, Zugang zum strahlendsten Versprechen der Selbstentdeckung: Moralität aus Unschuld, Anständigkeit aus Freude.
Schicht um Schicht wird die wertlose und menschenunwürdige Schuld abgeschält. Körper, sexuelle Bedürfnisse, aggressive animalische Energien werden offen eingestanden und bekommen ihre Chance, sich menschlich darzustellen. Und darunter stoßen wir schließlich auf das Schuldgefühl, das alles übrige trägt — ein bohrendes Gefühl, dem nicht gerecht zu werden, was sie (unsere Eltern, Lehrer, soziale Autoritäten) von uns erwarten.
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Immer waren wir von dieser Schande heimgesucht, nicht ganz der Rolle zu entsprechen, die sie uns zugedacht hatten, uns nicht ganz der vorgefertigten Identität zu unterwerfen, die die Welt uns auferlegte. Das ist die Kraft, die unsere erotischen Triebe und das leidenschaftliche Bedürfnis zu wachsen unterdrückt hat; und da wir diesen Zwang verabscheuen, lehnen wir uns offen oder insgeheim gegen ihn auf — um uns diese Missetat dann selbst vorzuwerfen.
Die Erfahrung, die wir 'Gewissen' nennen, ist ein gemischtes und facettenreiches Ding. Ich fürchte, daß sie wenig mit Gerechtigkeit, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit zu tun hat. Meist ist sie nichts anderes als die Peitsche, mit der die Gesellschaft unseren instinktiven Wunsch nach Personalität zurückschlägt. Sie ist ein strafender Dämon, geformt aus vereiteltem Wachstum.
Der Kampf um Selbstentdeckung ist in der Tat gleichbedeutend mit dem Anspruch auf Unschuld — nach allen moralischen und psychologischen Maßstäben der Welt ein anmaßender Anspruch. Aber genau das habe ich als ihre befreiende moralische Qualität betrachten gelernt. In dieser Anmaßung liegt die Möglichkeit zu unserer Befreiung von einem ungeheuren Arsenal entfremdeter und trivialer ethischer Forderungen, die nur den einen Zweck erfüllen, uns falsche soziale Identitäten aufzuzwingen, um so eine Zivilisation aufrechtzuerhalten, die den ganzen Planeten vergiftet. Wenn wir jemals — in irgendeinem höheren, dem Leben zuträglichen Sinn — moralische Wesen werden sollen, so müssen wir uns von den Schuldgefühlen befreien, die wir jetzt mit uns herumtragen, weil wir den uns zugeschriebenen Identitäten nicht gerecht werden. Ich bezweifle nicht, daß es eine Moralität der Person gibt, aber was sie ist, werden wir erst wissen, wenn wir die Unschuld erfahren haben, die freier Selbstentdeckung entspringt.
Natürlich wird es strenge Kritiker geben, die gegen den sozialen und ökonomischen Zerfall im Gefolge dieser Befreiung der Unschuld wettern werden — und ihre Befürchtungen sind begründet. Mißtrauen gegenüber sich selbst kann die Menschen noch besser als Polizeigewalt bei der Stange halten; Selbst-Ekel macht sie emotionalen Einschüchterungsversuchen zugänglich. Das sind die geistigen Handschellen sozialer Herrschaft. Doch gegenüber unschuldigen Menschen besitzt die Gesellschaft kaum Druckmittel außer nackter physischer Gewalt. Sie kann sie nicht dazu manipulieren, ihre Unterjochung abzusegnen; sie kann sie nicht dazu bringen, sich selbst zu verachten und sich so den verordneten Pflichten zu beugen.
Wir haben schon erlebt, was geschieht, wenn Schwarze, Lateinamerikaner, Indianer, Homosexuelle, Frauen und Behinderte Unterwürfigkeit und Schuldbewußtsein abschütteln und ihrer natürlichen Identität im stolzen Bewußtsein ihrer Schuldlosigkeit Nachdruck verleihen. Ist es nicht offensichtlich, daß das Ethos der Selbstentdeckung in eben dieser Befreiung besteht — erweitert bis zur universellen Bekräftigung scham-loser Personalität?
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Diejenigen, die schon etwas von dieser Freiheit erlangt haben, lehren uns, daß der Blick nach innen nicht nur schuldbeladene Schrecken ans Licht bringt, sondern — im Kern der Persönlichkeit — auch eigenständige Kräfte des Wachstums, der Kreativität und der Erneuerung.
Hier zum Beispiel die Worte der feministischen Theologin Mary Daly, mit denen sie ihren Kampf um eine persönliche Identität beschreibt — jenseits der Gottvater-Religion mit ihrer einschüchternden Grundannahme von der Überlegenheit des Mannes. In ihrer Stimme schwingen jene Bedrängnis und jener revoltierende Stolz mit, die für das Abenteuer der freien Selbstentdeckung kennzeichnend sind.
Am Anfang des Durchbruchs steht das Erkennen, daß ein existentieller Konflikt zwischen dem Selbst und Strukturen besteht, die eine verkrüppelnde Sicherheit gewährt haben: die Inbesitznahme durch den Ehemann und <alles, was sein ist> — Kinder, Haus, Job etc.
Das verlangt, daß wir dem Schock des Nicht-Seins mit dem Mut zum Sein entgegentreten. Das bedeutet, den namenlosen Schicksalsschlägen ins Gesicht zu sehen, die sich konkret als Verlust von Arbeitsstellen, Freunden, gesellschaftlicher Anerkennung, Gesundheit und selbst als Verlust des Lebens darstellen. Hinzu kommt die Angst vor Schuldgefühlen, wenn wir uns weigern zu tun, was die Gesellschaft von uns verlangt; Schuldgefühle, die noch lange, nachdem sie als falsch erkannt wurden, auf uns lasten.
Schließlich ist da die Angst vor Bedeutungslosigkeit, die dann überwältigend werden kann, wenn wir die alten einfachen Bedeutungen, Rollendefinitionen und Lebensziele mit der Wurzel ausgerissen und uns öffentlich davon losgesagt haben und in einer Welt ohne Vorbilder stehen. Diese Auseinandersetzung mit der Angst vor dem Nichtsein hat Offenbarungscharakter.*
In einer auf solche Erfahrungen gegründeten Gesellschaft würden sehr wahrscheinlich all die psychischen Zwänge fehlen, auf denen das industrielle System beruht. Unschuldige Menschen unterwerfen sich nicht der Strafe eines entfremdeten Lebens; sie werden zu viele Rechte fordern — und nicht zuletzt das Recht auf Entspannung und Freude.
Gewissen und Bewußtsein. Wie aufschlußreich die etymologische Überschneidung dieser beiden Wörter doch ist. Aus dem neuen personalen Bewußtsein unserer selbst werden wir vielleicht ein neues Gewissen ableiten, und dessen ethisches Empfinden wird dann endlich auf ein sinnerfülltes Verständnis von Gut und Böse eingestimmt sein.
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