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4.  Die Dritte Tradition: Das Individuelle, das Kollektive, das Persönliche  

 

 

   Der Filmstar und der Parteifunktionär  

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Ich sehe im Fernsehen ein Interview, das in den frühen siebziger Jahren aufgenommen wurde. Die Szene bildet eine chinesische Landkommune. Auf der einen Seite eine amerikanische Filmschauspielerin, die zusammen mit einer Frauendelegation China besucht; auf der anderen ein junger kommunistischer Lehrer, Partei­mitglied, ihr Reiseführer. Man diskutiert über Erziehung. Der Jungideologe entwickelt das maoistische Ideal des <Dienstes am Volk> und erklärt, wie Kinder im Neuen China dazu erzogen werden, sich den Bedürfnissen ihrer Kameraden unterzuordnen: niemals wetteifern, niemals tyrannisieren, niemals über­vorteilen, sondern alle Kräfte den anderen zur Verfügung stellen. 

Wie er so spricht, fällt mir Joseph Needhams Behauptung ein, daß China die einzige wirkliche christliche Gesellschaft der Welt geworden ist, denn dies ist in der Tat ein leidenschaftlicher Aufruf zu weltlicher Heiligkeit — wenn er auch zu sehr nach auswendig gelerntem Katechismus klingt.

Als er fertig ist, stellt der Filmstar eine Frage. Was, wenn sich eins der Kinder als ein Michelangelo erweist?

Der Lehrer ist ratlos. Er versteht die Frage nicht. Die Schauspielerin erläutert. Was würde die Kommune mit einem Schüler von außerordentlicher Begabung tun, der seinen eigenen Weg einschlagen, seiner eigenen privaten Neigung nachgehen möchte ... ein Genie, das sich in seiner Kunst hervortun möchte und keinen Sinn für den Dienst am Volk hat?

Der Lehrer zögert keinen Augenblick. Man würde solch einen Schüler beiseite nehmen und 'rehabilitieren' müssen. Man würde ihn nicht zwingen, sich anzupassen, aber man würde ihn solange der kollektiven Kritik aussetzen, bis er einsähe, daß er seine Begabung dem Klassenkampf widmen muß.

Das ist ein aufschlußreicher Austausch von Mißverständnissen. Was meint die Schauspielerin, wenn sie von Michelangelo spricht? Ich vermute, sie spricht von 'Kunst' so, wie eine Filmberühmtheit sie versteht: Ruhm, Reichtum, Unabhängigkeit, die Chance, sich selbst einen großen Namen zu machen. Weshalb sollte sie sonst gerade einen strahlenden historischen Superstar wie Michelangelo wählen — nicht gerade das Urbild des Avantgardekünstlers und verkannten Pioniers.

Und was sieht auf der anderen Seite der eifernde maoistische Erzieher in diesem Beispiel? Egoismus, Selbst­sucht, Gier – ein antisozialer Dorn im Auge der Kommune. Nicht daß es in der Volksrepublik keinen Platz für die Kunst gäbe; aber es ist der Platz für Unterhaltung und offizielle Propaganda. Womit glänzen denn die sozialistischen Gesellschaften? Mit virtuosen Musikern, Athleten, Akrobaten, Turnern – vorzüglich trainierte Spezialisten für unpersönliche Technik, in deren Ruhm der Staat sich sonnen kann, ohne befürchten zu müssen, daß seine soziale Orthodoxie von ihnen in Frage gestellt wird. Das Ideal ist eine Kunst, die nie über das hinausgeht, was die Millionen unmittelbar verstehen, die ihnen nie abverlangt, die vertrauten Normen zu übersteigen. Ein im Kollektiv komponiertes chinesisches Studentenlied drückt es so aus:

Individualistische Ideale
können niemals Poesie haben.
Die Ideale der revolutionären Jugend
müssen vom ganzen Proletariat gestaltet sein
und die Abermillionen aufrufen teilzunehmen!
Unsere herrliche Wirklichkeit
und großen Ideale
sind fest verbunden
durch den roten Faden des revolutionären Kampfs!

Der Filmstar und der Funktionär: wie hübsch bringen sie die ideologische Zerrissenheit unserer Welt auf einen kurzen Nenner. Das Individuelle gegen das Kollektive. Das Individuum als Hort des Eigeninteresses und des Konkurrenzkampfs. Das Kollektiv als Bewahrer sozialer Pflichterfüllung und egalitärer Konformität.

Horatio Alger gegen den Vorsitzenden Mao. Die Räuberbarone gegen Big Brother.
Wir brauchen eine dritte Möglichkeit.

Michelangelo kommt dieser dritten Möglichkeit sehr nahe, allerdings auf eine Weise, die vermutlich weder Filmstar noch Funktionär verstehen würden. Ich meine nicht den Michelangelo, der ein Glanzlicht der Renaissance, ein gefeierter und umsorgter Günstling der Medici und des Vatikan wurde, sondern den Michelangelo, der sich selbst unter den Verdammten des 'Jüngsten Gerichts' darstellte, ein verzerrtes Gesicht an einer menschlichen Hülle im mitleidlosen Griff des heiligen Petrus: der Künstler, der erfahren hatte, wie jammervoll wertlos der Ruhm der Welt unter dem Gericht Gottes letztlich ist. In solchen Gesten der Selbst­auslöschung liegt eine ungeheure geistige Sieghaftigkeit, vielleicht sogar ein heiliger und prophetischer Stolz.

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Das öffentliche Gesicht als die Maske abstreifen, die es ist, und der gewöhnliche Sünder werden, den weder der Papst noch der Prinz jemals in sich selbst zu entdecken weise genug sein werden. In solchen Bildern von Gottes Zorn und Majestät, finden wir ein genaues Maß für uns selbst, für unsere Unvollkommenheit und unsere ungenutzten Möglichkeiten. Es gibt eine Demut, die nur große Seelen erfahren und ertragen können.

Wohlgemerkt – ich empfehle hier nicht den Weg des Künstlers oder Heiligen als unsere dritte Möglichkeit. Das wäre allzu hoch gegriffen. Visionäre Kraft und hohe ästhetische Begabung werden vielleicht immer nur einigen wenigen zukommen. Doch die Innerlichkeit, die introspektive Aufrichtigkeit, aus der solche Gaben gespeist werden, ist für uns alle erreichbar. In der Erfahrung der Selbstentdeckung finden wir eine Identität, die über dem mörderischen Zusammenprall von Individuum und Kollektiv steht. Es ist unsere Identität als Person.

 

   Individuum und Person 

 

Wirkliche Personen hat es noch nie viele in der Welt gegeben. Es hat noch nie viele Menschen gegeben, die wußten, daß es ihnen frei stand, Person zu werden. Stattdessen gab es schon immer diese den Haß schürende Trennung zwischen Führern und Gefolgschaft, verherrlichten Eliten und anonymen Massen. 

Aber ob wir nun zum einen Status auf- oder zum anderen absteigen, in keiner der beiden Rollen verkörpern wir das Ideal der Personalität; wir nehmen nur vorfabrizierte, durch Brauch und Funktion definierte Identitäten an. Die Gesellschaft – diese kollektive Fiktion, die wir uns von uns selbst machen – läßt zu (vielmehr: erfordert), daß es Führer, Helden, Berühmtheiten gibt. Aber diese wenigen Privilegierten sind trotz all ihrer Vergünstigungen nur Menschen, die zugewiesene Rollen spielen. Zuchtmeister, Vertreter der offiziellen Tugenden, Objekte für Verehrung und Bewunderung ... ihr Job ist ihr Leben. Sie sind dazu da, für Ergebenheit, Einheit, Konformität zu sorgen. 

Und um das zu können, müssen sie sich selbst auf jene gedruckten und elektronischen Bilder reduzieren, von denen die Zeitungen, Illustrierten, Plakate und Fernseh­schirme der Welt überschwemmt sind – bis sie endlich zu dieser aller Reste von Personalität entkleideten gesellschaft­lichen Kraft werden, die – unerklärlich, unsichtbar – immer da ist, um die offizielle Kultur, das Recht auf Eigentum, die Unantastbarkeit des Staates zu verteidigen. 

Sie verschmelzen zu dem allgegenwärtigen Sie, von dem wir sprechen, wenn wir einander (oder uns selbst) sagen, das Sie uns nicht lassen werden ... daß es Ihnen nicht passen wird ... daß Sie was dagegen haben werden. Wer diesen Dienst des Niederhaltens versieht, mag wohl Gelegenheit bekommen, sein Ego und seine Brieftasche zu mästen, aber was er auch gewinnt, die Freiheit echter Persönlichkeit wird nicht dabei sein. Er genießt nicht das Recht, sich selbst zu entdecken und er selbst zu werden.

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Die Eliten der Erde gehören wie die Massen, denen gegenüber sie sich als Herren aufspielen, der (wie Marx sagt) "Vorgeschichte" unserer Spezies an, der langen, trostlosen Chronik menschlicher Unterentwicklung.

Ich möchte, daß diese Unterscheidung zwischen Individuum und Person sehr deutlich wird, denn jede unbedachte Verwirrung der beiden wird alles verzerren, was ich von jetzt an zu sagen habe.

Ich schreibe im vollen, bedrückenden Bewußtsein der Tatsache, daß die Bedeutung von Persönlichkeit seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden vom Individuum her bestimmt wird. Und der Wildwuchs des Individuellen hat schließlich zu den Exzessen kollektivistischer Ideologien geführt. 

Die bürgerliche Tradition des Individualismus hat uns gelehrt, alle Sorge um das Selbst als 'selbstsüchtig' zu betrachten; und Selbstsucht, ob wir sie nun als Sünde oder kostbares Recht erachten, ist seit Generationen der einzige moralische Inhalt des Selbst-Bewußtseins. Jede Form des Interesses am Selbst schien immer nur ,Eigen-Interesse' im krudesten sozialdarwinistischen Sinn zu sein. Der Individualismus hat einen düsteren und hartnäckigen Fluch über alle Formen der Selbstentdeckung gebreitet und läßt sie als fadenscheinige Kaschierung für soziale Ungerechtigkeit und politisches Elitedenken erscheinen.

Tatsächlich hat aber dieses aggressive bürgerliche Lebensideal nichts mit Persönlichkeit zu tun. Genauer: Persönlichkeit ist hier durch Angst und schlechtes Gewissen bis zur Unkenntlichkeit entstellt und so vor den Karren des industriellen Fortschritts gespannt worden. Individualismus treibt die Person in die enge Festung des Ego und schließt sie dort ein – isoliert, opportunistisch, immer argwöhnisch. Im Individuum darf es weder Tiefe noch Geheimnis geben, keine Innerlichkeit außer Hintergedanken und heimlichen Motiven. Es gibt nur die harte öffentliche Oberfläche des Eigeninteresses, die sich (manchmal sogar mutig) gegen alle Restriktionen stemmt – gegen tyrannische Einengung durch die öffentliche Autorität ebenso wie gegen die legitime moralische Opposition des Gemeinwohls.

Das Individuum mag sich selbst maßlos wichtig nehmen, doch ein Gefühl von persönlichem Wert gewinnt es dabei nie, denn als Individuen werden wir gemessen und messen wir uns selbst nur anhand von Äußerlichkeiten: durch unsere Errungenschaften sind wir definiert, durch Haben, niemals durch Sein. Und diese Unterordnung unter äußere, vom Konkurrenzdenken bestimmte Normen, bedeutet das genaue Gegenteil von Selbstentdeckung. Das ist der Kern der Sache. Selbstentdeckung bildet Personen, Konkurrenzkampf erzeugt Individuen. Deshalb ist der Individualismus antipersonal und antisozial und entfremdet uns ebenso sehr von uns selbst wie von anderen.

Vergegenwärtigen wir uns, was es bedeutet, irgendein Rennen mitzumachen, sei es ein Wettlauf, ein Rennen um öffentliche Ämter oder um Geld und Status. Zuerst verständigen wir uns über das Ziel, ein Ziel, das 'da draußen' ist wie eine Linie auf der Rennbahn. Vielleicht ist es gar nicht mein Ziel oder dein Ziel. Es ist das Ziel.

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Es zeigt sich nicht als freie und ursprüngliche Schöpfung meiner Gefühle, Vorlieben, Interessen. Sein Sinn als das Ziel besteht einzig darin, objektiv und greifbar da zu sein. Und noch einen anderen Zug muß es haben: es muß rar sein, so rar, daß nur wenige es erreichen können. Im Idealfall sollte es sogar einmalig sein – nicht in dem Sinne, daß nur ich danach streben kann (das käme einer persönlichen Wahl gleich), sondern in dem Sinn, daß nur einer von uns es erreichen kann.

Deshalb ist 'Erster sein' das ideale Wettkampfziel – nur einer kann Erster sein, und alle anderen lassen sich dann in Bezug auf ihn präzise lokalisieren und entsprechend behandeln: ein starker Zweiter, ein schwacher Dritter und dann all die, die 'ferner liefen'. Konkurrenzkampf ist der vollkommene Ausdruck einer Ökonomie der Knappheit; er bietet ein unmittelbares und unzweideutiges Kalkül für die Verteilung der Trophäen. Der Schrecken aller Schrecken, nämlich ohne Geld dazustehen, eignet sich vorzüglich, um die Menschen zu zwingen, ihre Personalität aufzugeben und das zu werden, was das Spiel jeweils erfordert. Sie müssen sich ihrer Homogenisierung fügen, und nicht nur, weil sie alle auf das gleiche Ziel fixiert sind, sondern weil man sich für das Rennen überhaupt erst qualifiziert, indem man bestimmte Regeln anerkennt, bestimmte Eigenschaften annimmt, bestimmte Vorbereitungen trifft.

Mögen also alle Bewerber gewarnt sein. Der Wettkampf macht den Wettkämpfer.

Am Wettkampf teilnehmen bedeutet, daß ich währenddessen nicht mein eigener Herr und Meister bin, nicht mein eigenes Leben lebe. Ich darf während des Wettkampfs selbstsüchtig, das heißt gierig auf den Sieg sein, aber das ist kein Ausdruck meiner selbst als einer einzigartigen Identität. Wie sollte es? Einzigartigkeit bietet keinen Ansatzpunkt für Wettkampf oder Vergleich, nur für Selbsteinschätzung. Deshalb hat Wettstreit nur da Sinn, wo es wie im Sport einfache und objektive Kriterien wie Geschwindigkeit, Weite, Menge und Präzision gibt.

Ich muß allerdings hinzufügen, daß diese Kriterien heute auch in Sport und Spiel nicht mehr uneingeschränkt gelten. Selbst an diesem vollkommenen Modell individualistischen Konkurrenzdenkens hat die personalistische Sensibilität unserer Zeit ihre Spuren hinterlassen. So brauchen wir zum Beispiel unseren Blickwinkel nur leicht zu verändern, um zu erkennen, daß jedes Kampfspiel gewollt oder ungewollt eine Zusammenarbeit der Kontrahenten bedeutet, denn sie machen den Kampf gemeinsam zu einem erregenden und für beide Seiten erfreulichen Ereignis.

Wer in diesem Geist spielt, kann niemals verlieren. Jede Sportart, jedes Spiel, dem man sich in einer meditativen Grundhaltung widmet (Zen-Tennis, Laufen als innere Erfahrung, Aikido und andere Kampfsportarten des Ostens), verliert seinen publikumsbezogenen Wettkampfcharakter und wird eine innere Forschungsreise. Solche Spiele muß man nicht einmal in irgendeinem herkömmlichen Sinne 'beherrschen' – und doch kommt in ihnen vielleicht eine ganz neue Leichtigkeit und Anmut zum Ausdruck.

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Michael Murphy und George Leonard haben für diese neue Auffassung des Sports Pionierarbeit geleistet. Ein weiteres Zeichen der Zeit ist das wachsende Interesse für die von Stewart Brand und Pat Farrington entwickelten „Neuen Spiele" – Feste der Verspieltheit, bei denen es um nichts 'geht' und nur spontane Erfindungsgabe und gemeinsame Freude zählen. Es sind „Spiele ohne Verlierer und Zuschauer", ein bißchen verrückt, aber so ausgeklügelt, daß Improvisation und Beteiligtsein im Mittelpunkt stehen. Hier können wir verfolgen, wie das Ethos der Selbstentdeckung eine der Hochburgen des Konkurrenzdenkens einnimmt und uns bessere Möglichkeiten vor Augen führt.*

 

Konventionelle Spiele und Sportarten kann man immerhin als vorübergehende Aktivitäten gelten lassen, in denen man den Kitzel des Wettstreits sucht: Inseln der Zerstreuung im Meer der weniger leicht durchschaubaren Geschäfte des Lebens. Was aber, wenn das Leben selbst ein endloses, auf Sieg fixiertes Spiel wird? Dann stellen wir uns nicht mehr vorübergehend auf die Bedingungen des Wettkampfs ein, sondern lebenslang. Vielleicht nehmen wir nicht einmal freiwillig an diesem Wettkampf teil, vielleicht werden wir in ihn hineingeboren oder bekommen ihn von Eltern, Lehrern und Arbeitgebern aufgezwungen.

Vielleicht haben wir keine andere Wahl als mitzurennen, weil uns eingetrichtert wurde, das Leben sei dieser Wettlauf und verlieren bedeute, über den Rand der Welt zu stürzen. So haben Begriffe wie 'Verantwortung', 'Disziplin', 'Leistung' schließlich keinen anderen Inhalt mehr als eben dieses Spiel. Das Leben als alles verschlingendes Rennen um Geld, Status, Beifall, vielleicht ums bloße Überleben, das ist das Ideal des bürgerlichen Individualismus. Und daraus entsteht eine Gesellschaft, die niemals aufhört, alles, was wir sind oder tun, anhand grobschlächtiger quantitativer Maßstäbe zu beurteilen: Kaufgewohnheiten, Wahlverhalten, Einkommen, Titel, Rang, Macht. Und sie gönnt uns keine Verschnaufpause, bis wir alle Rivalen ausgeschaltet haben oder erschöpft zusammengebrochen sind ... es sei denn, wir 'steigen aus'.

Im Gegensatz dazu ist die Suche nach Persönlichkeit ein stilles, einsames und rückhaltloses Forschen. Hier geht es nicht um Erfolg oder Ruhm, sondern um Selbsterkenntnis – eine Erkenntnis des Selbst als das, was es ist, ebenso bereit seine Schwächen und Makel anzunehmen wie seine verborgenen Kräfte zu entdecken. Das Vergnügen an dieser Suche besteht nicht darin, kämpferische Energien auszuspielen, mit denen wir andere übertrumpfen können. Es geht vielmehr um jene einzigartigen Eigenschaften, auf die sich keine Wettkampfnormen anwenden lassen. Hier gibt es kein 'besser als', 'weiter als', 'reicher als'. Keine Rennbahn, nur einen Weg, der gerade breit genug ist für einen Reisenden. Vielleicht kann ein Führer, dem ich vertraue, mir voranhelfen, doch niemand außer mir kann diesem Weg folgen.

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Dieser Weg bin ich selbst – meine Lebenserfahrung, die darauf wartet, nach ihrer Struktur und ihrem Sinn befragt zu werden. Für Fortschritte, die ich mache, gibt es keine Belohnung außer vertiefter Einsicht, und die Freude darüber ist ganz privater Art. Nichts zum Vorzeigen oder Prahlen. Nichts, was das Ego bläht.

Wir werden Personen in dem Maß, wie wir den subtilen und doch grundsätzlichen Unterschied zwischen Isolation und Einsamkeit verstehen – ein Unterschied, der in unserer Kultur ganz verlorengegangen ist. Für die Person ist Einsamkeit ein unverzichtbarer Rückhalt. Sie ist jener Augenblick der Stille, in dem wir unsere angenommenen Identitäten abstreifen und so nackt und namenlos wie am Tag unserer Geburt werden. Sie bietet uns die Chance, unsere ursprüngliche Natur zu bewahren, das Selbst, das wir waren, bevor die Welt uns mit Beschlag belegte und anfing uns für ihre Zwecke zurechtzubiegen. 

Aber wenn wir die Einsamkeit vielleicht auch als eine Art Wiedergeburt erleben, entdecken wir, falls wir weit genug hinuntertauchen, in ihrem Kern die Tatsache unseres Todes, die als dunkle, verschleierte, stumme Gegenwart in uns wartet. In der Einsamkeit lernen wir, mit unserem Tod allein zu sein; wir lernen diese unauslotbare Aussicht als Kriterium anzuwenden, um das Dringende vom Trivialen, des Edle vom Gemeinen zu sondern. Wir lernen, wie der Tod uns von Ablenkung, Verschwendung und wertlosem Ehrgeiz befreien kann.

Aber für das Individuum ist Einsamkeit das Nichts, Vernichtung – und umso mehr, wenn der Tod sich ins Bewußtsein drängt, denn er verkehrt alles, was dem Individuum lieb und teuer ist, in totale Absurdität. So erfährt das Individuum Einsamkeit als verrücktmachende, schwindelerregende Leere inmitten der wimmelnden Geschäftigkeit des Lebens: ein bodenloser Abgrund ohne vertraute Wegzeichen und sichere Richtungen. 

Weil das Individuum nur aufgrund von äußerem Status und von Bezugspunkten im Umfeld des Konkurrenz­kampfs existiert, suchen wir als Individuen die Gesellschaft anderer, aber nicht aus Liebe oder echter Mitmenschlichkeit, sondern weil die anderen uns (und wir ihnen) das verschaffen, wovon wir leben: die Möglichkeit, uns neiderfüllt aneinander zu messen. Richtung und Identität beziehen wir von ihnen. Individualität wünscht sich niemals Einsamkeit, denn die findet sie gänzlich sinnlos und schrecklich, sondern Isolation, sicheren Boden inmitten der Schlacht. 

Das Ego in uns ist eine Kreatur der Isolation; es hält Abstand von den Rivalen, die es braucht, um ein Identitätsgefühl zu gewinnen, schmiedet Pläne gegen sie, entwickelt Strategien, kalkuliert seinen Vorteil. Isolation ist immer Isolation von. Das Ego sucht nach Möglichkeiten, inmitten der feindseligen Anderen zu sein und zugleich sicheren Abstand von ihnen zu haben wie ein wehrhafter Turm auf dem Schlachtfeld. Alle emotionalen Fühler des Ego – Eifersucht, Furcht, Ressentiment, Herrschaft, Selbstmitleid, Rachsucht, Arroganz – bezeichnen antagonistische Beziehungen: sie unterstellen die Arena; daher die Unfähigkeit, allein zu sein.

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Und die Einsamkeit der Person? Ein privater Raum, mit mir selbst gefüllt – und vielleicht mit Gott, der jenseits aller Vergleiche ist. Auch das ein richtungsloser Abgrund, aber die Person weiß sich ohne Grauen hinunterzulassen. Einmal in diesen Raum eingetreten, lernt die Person eine völlig neue, von Neid und Furcht befreite Beziehung zu anderen kennen. So paradox es klingen mag, echte und gut genutzte Einsamkeit kann die Basis für gesunde Konvivialität sein, denn nur ganze und selbstbestimmte Personen sind zur Freundschaft fähig.

Von außen betrachtet muß das Unterfangen der Selbstentdeckung natürlich vielen als passiv, unverantwortlich, narzißtisch, als Rückzug aus der 'wirklichen' Welt erscheinen, vor allem, weil Einsamkeit und Introspektion eine so große Rolle darin spielen.

Ich muß gestehen, daß ich nicht ganz sicher bin, was Ausdrücke wie 'Narzißmus' in solchen Kritiken eigentlich besagen. Oft scheint dieses Wort nur zu bedeuten, daß kein Leistungsstreben zu erkennen ist, nichts, was uns eine Gehaltserhöhung oder guten Ruf einträgt, nichts, was anderen zu Bewunderung und Dankbarkeit Anlaß gibt oder zu einem glühenden Beitrag im Time magazine führt. 

Diese Betrachtungsweise enthüllt, wie sehr wir immer noch dem Maßstab der Leistung und Produktivität verhaftet sind. Wen wundert es da noch, daß in dieser schwierigen Zeit des Übergangs von der Kultur der Individualität zur Kultur der Persönlichkeit Meditations- und Therapiekrämer auftreten, die aus der Selbstentdeckung Gewinn zu schlagen versuchen? Gesundheit, Reichtum, Ruhm, Erfolg ... sie versprechen uns das Blaue vom Himmel herunter. An Hochschulen, in denen ich gelehrt habe, tauchen immer wieder mal Lehrer für Transzendentale Meditation auf und versichern den Studenten, TM werde ihren Punktedurchschnitt um zwei Stufen anheben, während sie ihnen zugleich den Weg zu heiterer Gelassenheit weist. Vielleicht ist dieses Versprechen nur ein Köder; jedenfalls spricht es aber genau den falschen Appetit an, nämlich die Bedürfnisse des Ego, nicht die der Person.

Robert Heilbroner wirft die Frage auf, ob Wertvorstellungen wie menschliche Einmaligkeit und schöpferisches Selbst-Bewußtsein das Abdanken der bürgerlichen Kultur und ihrer Geschäftszivilisation, das er voraussieht, überleben können. Es sprechen, so schreibt er,

auch rühmliche Seiten für die kapitalistische Zivilisation, ähnlich wie auch das sklavenhaltende Griechenland, das feudalistische Europa oder das alte China uns wertvolle kulturelle Leistungen hinterlassen haben. ... Unter all diesen Kulturleistungen ist die Kultivierung jenes Individualismus, der so wesentlicher Teil der bürgerlichen Ökonomie, Politik, Philosophie und Kunst ist, am schwersten im Blick auf die Zukunft zu beurteilen. ... Bleibt die große Frage, mit der ein aufgeklärter, humaner 'Sozialismus' sich wird befassen müssen, wie weit es dem Individuum erlaubt sein soll, seine einmaligen Eigenschaften, Unterschiede und Besonderheiten zu kultivieren. ...

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Die Antworten hierauf sind zweifellos weitgehend von der Stringenz der Zwänge abhängig, mit denen der 'Sozialismus' zu kämpfen haben wird. Doch dies ist nicht das einzige Problem. Viel wird auch von der Vorstellung abhängen, die der Mensch sich von sich selbst, von seiner Natur macht – seiner Darstellung als ein unendlich formbares, plastisches Sozialwesen, oder aber als ein Geschöpf, dessen Individualismus letzten Endes die Einmaligkeit und finale Autonomie jeder Person reflektiert. Die Philosophie des Individualismus, die die kapitalistische Epoche hervorgebracht und entwickelt hat, bezieht ihre Kraft – abgesehen von ihren gröbsten Formen – aus der Gewißheit, daß jedes Individuum eine solche Einmaligkeit, eine finale Autonomie besitzt.*

 

Da haben wir diese Verwechslung von Individualität und Personalität, die das Streben nach Selbstent­deckung so nachhaltig behindert. Als Gewächs auf dem Marktplatz des Konkurrenzkampfs hat der kapitalistische Individualismus nicht die Spur mit 'Einmaligkeit' oder 'Autonomie' zu tun – es sei denn, wir reduzierten die Definition für Autonomie auf isoliertes Eigen-Interesse. Der Kapitalismus hat keinerlei Beziehung zu Einmaligkeit und Autonomie und zögert daher keinen Augenblick, ihnen Gewalt anzutun. Unsere Sehnsucht nach ureigenster und autonomer Erfahrung von Personalität stellt ja gerade alle Normen in Frage, von denen die bürgerliche Gesellschaft sich in den letzten drei Jahrhunderten hat leiten lassen. Wenn das Recht auf Selbstentdeckung in unserer Kultur überhaupt überlebt hat, so haben wir das einer Minderheit von Künstlern, Visionären und Eigenbrötlern zu verdanken, die es geschafft haben, sich gegen den Strich der kapitalistischen Zivilisation ein Gefühl von Personalität zu erkämpfen. Marshall Berman verfolgt die „Politik der Authentie" von Rousseau bis hin zum Radikalismus der turbulenten 1960er Jahre und gelangt zu einer scharfen historischen Definition:

Die Anklage der Neuen Linken gegen den demokratischen Kapitalismus sprach nicht von zuviel Individualismus, sondern von zuwenig: Jedes Individuum wurde in die Enge von Konkurrenzkampf und Aggression getrieben ... und das ließ nicht zu, daß irgendwelche individuellen Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Energien zum Ausdruck kommen konnten. Die moralische Basis dieser politischen Kritik bildete ein Ideal der Authentie. Dieser Ansatz war neu und doch alt, radikal und doch traditionell. So besteht die bleibende kulturelle Leistung der Neuen Linken – sie wird die Neue Linke möglicherweise sogar überleben – darin, die Rückkehr des Unterdrückten eingeleitet und den Radikalismus zu seinen romantischen Wurzeln zurückgeführt zu haben.*

Was Berman radikalen und romantischen Individualismus nennt, ist ein personalistisches Identitätsgefühl, das rohe, autonome Selbst, dessen Rechte, wie Rousseau empfand, älter als die Kultur sind und über der Politik stehen.

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Die kapitalistischen Gesellschaften der Welt haben der Persönlichkeit allenfalls ein paar Zentimeter in ihrer Randzone eingeräumt; so zum Beispiel, wenn sie bestimmte große Begabungen, denen es nie um Ruhm zu tun war, verspätet mit (profitablem) Ruhm überschütten. Eine Generation von Kaufherren macht Rembrandt zu einem Ausgestoßenen und Bettler, die nächste schlägt aus seinem einst verachteten Werk ansehnliche Profite. Es sagt zwar etwas über die kapitalistische Gesellschaft aus, daß das Gefühl authentischer Personalität irgendwie in ihr überleben konnte. Daraus kann man aber nicht ableiten, Personalität sei eine Schöpfung des kapitalistischen Marktes und stehe jetzt gemeinsam mit ihm vor dem Untergang. Im Gegenteil, indem der Kapitalismus der Person Nischen zum Überleben geboten hat, nährte er einen seiner eigenen inneren Widersprüche.

Schlimm genug, daß solche Mißverständnisse in unserer Gesellschaft im Umlauf sind. Noch entmutigender ist aber, daß es den kollektivistischen Gesellschaften nicht gelingt, die tragische Verwechslung des Individualistischen mit dem Personalen im Rahmen ihrer revolutionären Mission aufzulösen. Statt dessen haben auch sie die beiden durcheinandergebracht und dann beide im Namen von Gleichheit und Brüderlichkeit als Ausdruck für antisozialen Egoismus verdammt. 

So gehen die zwei ideologischen Lager der Welt zwar heftig aufeinander los, aber wie in einem Alptraum fließen ihre erbittert kämpfenden Gestalten zu einem einzigen Moloch zusammen, zu einer einzigen destruktiven Kraft, die sich auf jede Forderung nach persönlichen Rechten stürzt.
     Wir brauchen eine dritte Möglichkeit.

 

Verdunkelung des Sakramentalen

Die Geschichte des Individualismus wie des Kollektivismus ist mit schweren Widersprüchen behaftet, die ihre besten Absichten zunichte gemacht haben. Gemeinsam ist ihnen die Blindheit für die Ansprüche der Person, die nur zu erklären ist, wenn wir den psycho­logischen Bedingungen revolutionärer Politik in unserer Kultur auf den Grund gehen. Dort wartet eine große, beunruhigende Wahrheit auf ihre Entdeckung, und es ist nur zu verständlich, daß viele Radikale ihr ausweichen: die Erkenntnis, daß wir der Persönlich­keit in der Politik keinen Platz eingeräumt haben, weil wir Persönlichkeit nicht in uns selbst erfahren, beziehungsweise diese Erfahrung nicht zugelassen haben. Irgendwo in der Geschichte haben wir gelernt, uns dieser Erfahrung zu schämen und sie zu verbergen wie ein anrüchiges Geheimnis.

Wie kam es zu diesem unglaublichen Akt der Selbst-Zensur?

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Beginnen wir beim klassischen Angriffsziel des modernen revolutionären Dissens, dem ancien régime mit seinen Institutionen, die auf Bluts-Hoheit und dynastische Privilegien gegründet waren. Heute betrachten wir die letzten Beispiele für aristokratisches Elitebewußtsein als abgewirtschaftete und degenerierte Überreste – vielleicht auch mit einer gewissen Verzauberung, wo sie harmlos sind. Die aristokratische Tradition hat indes einen Zug, der eingehendere Würdigung verdient als ihm von seiner demokratischen Opposition zuteil wurde. Ich meine die intime Beziehung zwischen dem Aristokratischen und dem Charismatischen.

Das aristokratische Prinzip geht davon aus, daß das Heilige und das Profane seinen Ort – durch Geburtsrecht – im Menschen hat. Natürlich nicht in allen Menschen, sondern nur in wenigen Privilegierten von besonderer Geburt, denen die übrigen mit Ehrfurcht und Bewunderung zu begegnen haben. Diesen wenigen räumt das aristokratische Prinzip einen bestimmten umgrenzten Freiraum ein, souveränes Territorium, wie wir es heute nur noch innerhalb von Staatsgrenzen kennen.

Obgleich die revolutionären Bewegungen im Lauf der Generationen erbittert darum gekämpft haben, die feudale Vergangenheit abzuschütteln, hat ihnen der gefallene aristokratische Feind doch ein kostbares Andenken hinterlassen: die Doktrin der immanenten Heiligkeit. Sie bewahren es – nicht als das gesellschaftliche Privileg, das es einst war, sondern als demokratischen Anspruch auf Unverletzlichkeit der Person, als ,Naturrechte', 'Menschenrechte'. Das höchste humanitäre Ziel der demokratischen Revolution besteht darin, den Adel über alle Grenzen von Rasse, Klasse und Geschlecht auszudehnen, bis er unablösbarer Bestandteil des Menschseins wird. 

Ja, die personalistische Demokratie (mein Hauptinteresse auf diesen Seiten) will alle Menschen adeln in einem Maß, wie es kein Aristokrat je war – indem sie jeden von uns von den Klassenrollen und zugewiesenen gesellschaftlichen Funktionen befreit, denen auch die Aristokraten, die vielleicht künstlichsten Menschen überhaupt, unterworfen waren. Das personalistische Ideal zielt darauf, die Aura der Unverletzlichkeit, mit der die Aristokratie sich einst umgab, zu 'sozialisieren', bis diese Unantastbarkeit allen Menschen zukommt, um der Person die Möglichkeit zu geben, innerhalb dieses Bannkreises zu ihrer einzigartigen Berufung zu finden. Die Göttlichkeit, die früher die Könige der Welt abschirmte, ist nichts weiter als eine Projektion unserer persönlichen Erhabenheit – nur müssen wir sie wieder als unsere eigene erkennen und zurückfordern.

Und doch ... irgend etwas hat sich zwischen uns und diese Erfahrung gedrängt. Wir mögen zwar mit Percy B. Shelley von der Revolution sprechen, die den „Menschen zum König über sich selbst" macht, oder mit dem heiligen Martin erklären, daß „alle Menschen Könige sind", aber wir empfinden dieses Königliche nicht, wie einst Könige, Pharaonen und Kaiser es empfunden haben müssen. 

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Es ist prosaisch geworden, verflacht zu einer politischen Theorie, einem konstitutionellen Prinzip. Es hat kein Gepränge, kein Ritual – keinen Zauber. Ein ebenso schwerer wie aufschlußreicher Verlust, der erklärt, weshalb die Heiligkeit der Könige jahrtausendelang ein erfahrenes Mysterium bleiben konnte, während die Menschenrechte in weniger als zwei Jahrhunderten von einem leidenschaftlichen rhetorischen Sentiment zu einer bloßen juristischen Fiktion verkamen. Das kann man nicht dem natürlichen Alterungsprozeß zuschreiben; es hat einen ganz bestimmten Grund: die Kräfte der demokratischen Revolution haben sich von Anfang an mit der Wissenschaft mit ihrer strikten Logik und unbarmherzigen Skepsis verbündet. Gemeinsam marschierten die beiden dann unter dem Banner der Aufklärung. Wissenschaft und Freiheit. Skepsis und Gleichheit. Das Prinzip der politischen Gleichheit entstand im Rahmen der allgemeinen wissenschaftlichen Einebnung aller natürlicher Hierarchien im Kosmos.

Von Galilei zu Rousseau, von Saint-Just zu Mao Tse-tung. Dieselbe revolutionäre Bewegung, die das Universum zu einem sicheren Ort für Demokratie machte, ließ in ihm keinen Platz mehr für solche abergläubischen Vorstellungen wie 'Heiligkeit', denn Heiligkeit ist kein empirischer Befund, keine verifizierbare Hypothese. Sie ist vielmehr nur durch Intuition erfahrbar. Wir haben es hier mit politischen Mysterien zu tun, die auf das Charisma der Könige, das Tabu der Stammespriester zurückgehen. Dies ist heiliger Boden, den vor langer, langer Zeit nur der betreten konnte, der einen Mistelzweig bei sich trug.

Immer wenn humanistische Geister vortreten, um unsere persönliche Würde gegen Übergriffe und Beleidigung zu verteidigen, rufen sie – vielleicht ohne es zu wissen – eine Autorität an, die von Priestern und Propheten auf uns überkommen ist. Sie verteidigen die Person als Ort magischer Kräfte. Aber die Idee ist von ihren historischen und psychischen Wurzeln abgeschnitten, denn das streng logische, nur wissenschaftlichen Normen gehorchende Auge, findet im Universum keinen Platz für Magie; es kann die Legitimität sakramentaler Erfahrung einfach nicht einräumen. 

Wenn ein nüchterner Empiriker wie B. F. Skinner sich über Politik äußert, hat er nicht die geringsten Hemmungen, unsere heiligsten Werte – die sogenannte Freiheit und die sogenannte Würde – einen sentimentalen Brei zu nennen. Denn wo, fragt er, sind die beobachtbaren Indikatoren für solche Attribute? Welche Kriterien der Verifikation und Falsifikation haben sie? Gewiß, das sind barbarische Fragen. Aber haben die Argumente des Mannes nicht eine gewisse einschüchternde Einfachheit und logische Konsistenz?

Jetzt wird deutlich, weshalb die revolutionären Bewegungen der Moderne sich so verbissen mit der Verherrlichung der Aristokratie auseinandergesetzt haben. Die demokratische Bewegung hat sich zwar die Idee des unveräußerlichen Rechts zu eigen gemacht und sie erweitert, andererseits aber diese Verherrlichung gnadenlos entlarvt und als fromme Vernebelung verworfen. 

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"Religion", so bemerkt De Tocqueville, "hat sich lange Zeit mit den Institutionen eingelassen, die die Demokratie zerstört." Hierin liegt eine makabre Ironie der revolutionären Tradition. Der gerechtfertigte Antiklerikalismus des Zeitalters der Vernunft hat sich zu einer Ablehnung jeder Form von sakramentaler Erfahrung ausgeweitet. Revolution ist nicht nur ein Krieg gegen alles Elitäre, sondern gegen jede Art von Mysterium – nicht zuletzt das Mysterium der Person.

 

Wissenschaft und säkularisierter Humanismus 

Die beiden großen revolutionären Traditionen der modernen Welt, bürgerlicher Liberalismus und demokratischer Sozialismus, sind die wichtigsten Träger individualistischer und kollektivistischer Politik. Wir verdanken ihnen viel, denn sie haben die Kräfte der Befreiung in der Welt mobilisiert. Aber in ihrer leidenschaftlichen Distanzierung von der Kultur des ancien régime haben sie sich von der Flutwelle des wissenschaftlichen Skeptizismus tragen lassen, der als integraler Bestandteil des revolutionären Appells an die Vernunft in unserer Geschichte auftaucht. Beide beziehen von der Wissenschaft ihren intellektuellen Stil und ihr Weltbild; sie ist ihr Talisman und ihre Waffe. 

Aber Wissenschaft, mag sie noch so viele positive Seiten aufzuweisen haben, ist eine Sprache der Objekte, nicht der Subjekte. Sie gehört der Welt empirischer Fakten und pragmatischer Manipulation an, nicht dem Leben des Geistes. Die liberalen Revolutionäre der Zeit Jeffersons waren bestenfalls noch zu einer zahmen Minimal­frömmigkeit bereit – 'natürliche Religion' nannten sie das, die Religion des common sense. Die Zehn Gebote, die Bergpredigt und ein höflicher Respekt für Christus als dem besten und weisesten Menschen, der je gelebt hat. Eine Religion, die auch in einem Gespräch unter Gentlemen kein Gefühl der Peinlichkeit erzeugt.

Wo aber Religion ein Ärgernis für Logik und intellektuelle Etikette wurde, eine geheimnisvolle, paradoxe Sache, wollte der Mensch der Vernunft nichts davon hören. Aus Prinzip verbannte er diesen Erfahrungs­bereich in die finsteren, 'irrationalen' Ecken des Bewußtseins. Solch penible Selbst-Zensur hat die weitherzige Menschenfreundlichkeit von Voltaire, Jefferson, Mill in den kalten Positivismus Comtes, den tiefgekühlten Behaviorismus B. F. Skinners, den eisigen Objektivismus Ayn Rands verwandelt. Im Streben nach Vernunft enden wir in der spirituellen Antarktis der Schönen Neuen Welt.

Und wohin hat uns der Sozialismus gebracht? In den großen sozialistischen Staaten der modernen Welt führt er über andere Wege zu einem ganz ähnlichen Ziel; er ist in den gleichen Fehler verfallen, wissenschaft­liche Skepsis zu seinem Leitstern zu machen. „Sozialismus", sagt August Bebel, „ist Wissenschaft, auf alle Bereiche menschlichen Handelns angewendet." 

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Falls wir anderer Meinung sind, haben wir die gewichtige Autorität eines Karl Marx gegen uns – Marx, der sich selbst gern als den Darwin der politischen Ökonomie sah, der Schöpfer eines "wissenschaftlichen" Sozialismus. Auch hier hohe Ziele, aber wieder kein Auge für die Person – nur für 'das Volk'. 

Anstelle der sakramentalen Erfahrung, deren die Person bedarf, gibt es nur soziologische Abstraktionen als schwächliche Garantie für persönliche Unverletzlichkeit. Wieder mal – unweigerlich – verwandelt die Revolution 'das Volk' in ihrem blinden Wüten gegen alle Formen religiöser Tradition in eine bloße Herde, die zum erwünschten Verhalten konditioniert und indoktriniert wird. Schließlich kommen wir bei sozialistischen Gesellschaften an, deren Bild von der Natur des Menschen nicht über Pawlows Reflexbogen hinausgeht.

Zugegeben, es hat auch humanere Versionen der beiden Traditionen gegeben. Immer wieder gab es beachtliche Ansätze, ihren trostlosen Reduktionismus zu mildern. Liberaler Sozialismus. Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Marxistischer Humanismus. Aber keiner dieser Versuche bricht mit der Herrschaft der Wissenschaft oder den Zwängen hoher industrieller Integration, und so kann auch keiner von ihnen unsere Personalität so verteidigen, wie sie verteidigt werden müßte. 

Selbst in China, wo Mao sich alle Mühe gegeben hat, eine barfüßige Volksnähe zu wahren, sind die technokratischen Kräfte wieder in die Machtpositionen eingezogen. Maos paternalistische Zentralisierung von Staat und Partei, die geballte Indoktrination durch 'Bewußtseins­erweiterungs'-Kader während der Kulturrevolution und sein eigener massiver Personenkult könnten in den kommenden Jahren dazu beitragen, China zur besten Verwirklichung von Orwells 1984 zu machen, die es auf der Welt gibt.

Wohin die kulturelle Hauptströmung der Gegenwart uns treibt, liegt auf der Hand: zur geschichtlichen Ironie des Zusammen­flusses von bürgerlichem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus. Hier Skinners Tauben, dort Pawlows Hunde – und dazwischen eine Welt, aus der das Wunderbare für immer getilgt ist und die Menschen nur noch Personal sind, das (zu seinem eigenen Besten, versteht sich) mit 'Verhaltenstechnologie' manipuliert wird. Ist es da ein Trost, wenn 1984 vielleicht nie in seiner ganzen Grauenhaftigkeit verwirklicht wird, sondern wir eher mit einer zerrütteten Technokratie chronischer Notsituationen und wilder Improvisation enden werden? Es reicht schon aus, daß wir unter dem unaufhörlichen Druck entmenschlichender Kräfte leben müssen, die immer wieder zu neuen Übergriffen auf unsere Würde ansetzen.

 

Die modernen Götzen

Die Ironie hat sogar noch einen doppelten Boden. Die beiden revolutionären Strömungen der modernen Welt haben das gemeinsame Ziel, die Menschheit aufzuklären, zwei große Ströme von Karbolsäure, die die Welt von aller Seelenfängerei, allem Aberglauben reinwaschen wollen.

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Aber, wie Alfred Whitehead einmal bemerkte, "von Karbolsäure allein kann der Mensch nicht leben". So ist der alte Aberglaube in unserer Zeit als perverse Kompensation in der Gestalt tückischer Mythologien von Rasse und Nation wieder zum Leben erwacht und fand seinen Höhepunkt in der Revolte des modernen Faschismus gegen die Zivilisation als solche. Wo entspringen diese mörderischen Götzenbilder von Blut und Boden? Aus der unbefriedigten Sehnsucht nach dem schwindenden Zauber von Religion und Adel.

Das zeigt sich in Bewegungen wie dem Sozialdarwinismus, dem Imperialismus, dem preußischen Junkertum – eine Art 'Lumpen-Elitentum', durchsetzt mit dämonischer Wut. Es ist, als wollte die alte Verherrlichung der Aristokratie sich nicht zur Ruhe legen, ohne eine letzte, schreckliche Rache zu nehmen: Sie infiziert die Massen mit anmaßendem Größenwahn, verzerrt sie zum Mob, zu einer kollektiven Karikatur ihrer selbst. Endlich sind die Millionen – die gesichtslose Partei, die Rasse, die Nation unter der Knute des Führerprinzips –, sind wir die Herren, die messianische Elite, die das Privileg genießt, ausbeuten, schikanieren und töten zu dürfen. 

Wir haben das Mystische nicht aus der Politik vertrieben. Wir haben nur, mehr denn je, des Teufels Ungeist daraus gemacht. Wir haben das uralte Übel in den Massenbewegungen unserer Zeit wiederauf­erstehen sehen, um millionenfach Blutzoll zu fordern, diese Bestie, die wir für alle Zeit unter einem Berg von skeptischer Selbstgewißheit begraben glaubten. Natürlich finden die Menschen in diesem säkularisierten Satanismus nicht, was sie suchen. Sie finden nicht den Weg zu heiligem Boden, denn das Heilige kann nur in der Person wirklich werden. Und in den Götzenbildern von Rasse und Nation ist die Person so wenig geduldet wie in der Tradition des Individualismus oder Kollektivismus. Die gleichen Massen- und Klassen­identitäten sind dem hetzenden Mob und seinen Sündenböcken jetzt nur noch tiefer eingebrannt. Und wohin führt die Reise wieder mal? Zu Kriegsmaschine und technokratischem Gigantismus.

 

Die älteste Politik 

Wir brauchen eine dritte Möglichkeit. Damit meine ich nicht die Alternative, die der Sozialismus der Dritten Welt uns angeblich bietet. Die Gesellschaften der Dritten Welt befinden sich noch in einem frühen Stadium der nationalen Konsolidierung und ökonomischen Entwicklung, und das macht sie bestenfalls zu jüngeren, kleineren und deshalb etwas weniger starren Versionen dessen, was die Großmächte geworden sind. Sie müssen noch ihren Weg durch die Massen- und Klassenidentitäten suchen, die eine unvermeidbare Phase nationaler Befreiung und Modernisierung zu sein scheinen.

Die dritte Alternative, von der ich hier spreche, ist eine neue, weder individualistische noch kollektivistische Identität des Menschen. Und dazu brauchen wir eine Politik, die der Verblendung durch Wissenschaft und industrielle Zwangsläufigkeit entwachsen ist, einen Radikalismus, der sich der spirituellen Dimension des Lebens öffnet.

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Seit einiger Zeit versuche ich in meinen Schriften, diese Alternativen für mich selbst herauszuformen — eine dritte Tradition, die mich in eine merkwürdige und exotische politische Ahnenreihe stellt. Ganz direkt verbindet sie mich mit jenem mystischen Anarchismus – Tolstoi und Buber, Whitman und Thoreau, Peter Maurin und Dorothy Day, Gustav Landauer und Paul Goodman –, dem es stets um die Bewahrung der heiligen Mitte des Lebens ging, um das Drama der Erlösung, das nur in Einsamkeit oder im echten Dialog inszeniert werden kann. Buber nannte dieses Anliegen den „Schutz der wahren Grenzen", und damit ist eine Politik angesprochen, die sich der Grenzen des Politischen bewußt ist. 

Gandhi, dessen politische Lehrer Tolstoi und Thoreau waren, ist wohl der Hauptvertreter dieser Art von Anarchismus in unserem Jahrhundert – ich bezweifle allerdings, daß er sich jemals selbst einen Anarchisten nannte (was übrigens viele der besten Anarchisten nicht taten). So groß und militant Gandhis Unabhängigkeitsbewegung auch wurde, er beharrte darauf (wenn auch nicht immer erfolgreich), daß der Ashram und die Ökonomie selbständiger Dörfer immer die beiden Wurzeln der Kongreßpartei bleiben müßten. Andere Führer wie Martin Luther King und César Chávez hatten einen ganz ähnlichen Stil: das gleiche Streben nach einem persönlichen Maß, die gleiche Achtung für Volksüberlieferung und spirituelle Mitmenschlichkeit.

Solchen Anarchisten fällt es nicht schwer, sich mit religiösen Traditionen zu verbünden – stets finden sie dabei jedoch ihre ganz eigene Art von Mystik, ein warmes, intuitives Vertrauen in die Güte Gottes, die Natur und die menschliche Gemeinschaft. Sie haben Finsternis erfahren, aber nie Verzweiflung. 

Tolstois russisch-orthodoxer Glaube, Bubers Chassidismus, Maurins proletarischer Katholizismus, Gandhis kastenzerstörender Hinduismus, Gary Snyders Buddhismus – gemeinsam ist ihnen die Freude an den schöpferischen Möglichkeiten der menschlichen Gemeinschaft. Gewiß sind auch die Quäker und die Bruderhof-Gemeinschaften Variationen desselben Themas. Aber auch, so glaube ich, die Werke vieler 'unreligiöser' Mitglieder der anarchistischen Familie – Gestalten wir Gustav Landauer, Herbert Read, Murray Bookchin. Schon dicht unter der Oberfläche zeigt sich auch bei ihnen ein im Grunde mystisches Empfinden, ein unerschütterliches Vertrauen in die organischen Harmonien der Welt. Kropotkin ist ein typischer Vertreter dieses eher weltlichen Anarchismus. Er sah sich zwar selbst gern als durch und durch wissenschaftlichen Anthropologen, war aber stets voller Verehrung für die Volksweisheit und das subtile Gleichgewicht in der Natur. Fast möchte ich sagen, daß es für Anarchisten nicht möglich ist, keine Mystiker zu sein – es sei denn, sie strengen sich sehr an.

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Als Paul Goodman sich nach einem geeigneten philosophischen Kontext für seine dezentralistische Politik umsah, kam er auf den Taoismus. Eine bezeichnende Wahl; sie erinnert uns daran, daß die Verschmelzung des Mystischen mit dem Anarchischen in jener uralten Tradition des Gemeinschaftslebens in Stamm und Dorf ihren Ursprung hat, deren Laotse in seinen Meditationen gedenkt. Nur ein ganz kurzer Abschnitt der Menschheitsgeschichte war von diesem spontanen Volksanarchismus als einziger Form der Politik bestimmt. Es ist in Wahrheit eine paläolithische Politik, und sie ist heute noch von einer gewissen ,primitiven' Wachheit für die Zeichen geprägt, mit denen die Natur uns leitet. 

Es ist eine Politik, die sich an die Erde hält, auch wenn sie zur reinen Theorie städtischer Intellektueller wird (von denen Laotse selbst einer war) – eine Politik, die niemals leichthin verwirft, was die einfache Landbevölkerung, die Nomaden, die Jäger uns über die Gesetze und Rhythmen der ungezähmten Natur zu sagen haben. Kein Zufall, daß ein politischer Stil, der so sehr auf die spirituelle Autonomie der Menschen bedacht war, auch ökologische Intelligenz besaß. Ist das nicht ein weiteres Beispiel für den Ruf des Planeten an den Menschen, die Öffnung des Menschen für den Planeten – beide im Kampf um ihre bedrohten Rechte?

Anarchistische Philosophen, pietistische Christen, taoistische Weise und irgendwo dazwischen einige romantische Dichter und Naturmystiker – gewiß ein merkwürdiger Stammbaum. Viele dieser oft streitbaren Künstler und Denker hätten untereinander vielleicht nicht einmal ein Gespräch zustandegebracht. Und doch glaube ich, daß sie zusammengehören. Nicht durch eine Ideologie, sondern aufgrund einer gemeinsamen Sensibilität für das Heilige, das Organische, das Personale. Wie fasse ich es zusammen? Im Mittelpunkt der Natur: die menschliche Persönlichkeit mit ihrem einzigartigen Vorhaben der Selbst-Transzendenz; im Mittelpunkt der Persönlichkeit: das Göttliche in uns allen.

 

"Daß all das Volk des Herrn weissagen möge" 

Wenn wir etwas über uns selbst als Massen und Klassen wissen wollen, genügt es, den Blick auf die letzten beiden Jahrhunderte industrieller Kultur zu richten. Elite und Pöbel, Opfer und Unterdrücker – das industrielle System schleift sich diese entfremdeten Identitäten stur nach seinen Bedürfnissen zurecht. Wir sind ihre Arbeitskraft, ihr Einpeitscher und ihr Markt.

Aber die Person gehört einer ganz anderen Geschichte an, einer planetaren Geschichte und doch einer Geschichte am Rande und im Schatten. Die Person ist immer eine bedrohte Spezies gewesen, die sich an die Ränder der Gesellschaft klammerte, die noch nicht ausgetretenen Wege suchte und die heilige Flamme an geheimen Orten bewahrte. Manchmal fällt einem dieser abgeschiedenen Lebenden der Ruf des Heiligen oder Weisen zu.

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Vielleicht sollten wir lieber sagen, daß manche Propheten uns so beunruhigen, daß wir ihnen diesen erhabenen Status verleihen, denn dadurch schirmen wir uns gegen den Anspruch ab, den sie auch an uns erheben. Wir machen sie zu Göttern, damit wir guten Gewissens in unserer bequemen Mittelmäßigkeit verharren können.

Der heilige Anton inmitten seiner Visionen in der Wüste, Blake, dem seine Gedichte den Ruf des Wahnsinns eintrugen, der tibetische Weise Milarepa, wie er der Welt entsagt und sich in die Wildnis der Berge zurückzieht, Gauguin auf der Flucht zu den einsamsten Inseln, um sich selbst zu finden – das sind die Helden der Suche nach Persönlichkeit, sie und ungezählte andere, die keinen Namen, kein Werk hinterlassen haben. Wenn ein Teil unserer immer noch 'prähistorischen' Spezies zu einer authentischen Geschichte des Menschen beiträgt – einer Geschichte des Wachstums, der Wahrheit und des spirituellen Abenteuers —, so ist es diese schöpferische Minderheit.

Es sind jene überragenden Geister, die Nietzsche uns als Übermenschen zu betrachten gelehrt hat. Er stellte sie stets als Menschen von einsamer, felsenhafter Größe dar: tyrannische Künstler, stürmische Propheten. Doch auch Tolstoi, dessen Frömmigkeit und Mitgefühl fürs Volk Nietzsche mißbilligte, gehört zu den Übermenschen unserer Zeit; und Tolstoi war der Überzeugung, daß wahre Seelengröße unauffällig unter den Elenden der Erde zu Hause ist, bei den Bauern, den Strafgefangenen, dem einfachen Volk. Er sah die Welt mit unsichtbaren Heiligen gefüllt, deren verborgene Größe sich nur in Akten tiefster Demut offenbarte. Immer wieder beschreibt er dieses Heldentum der Schatten: heimliche Kreuzigungen des Ego, schlichte Güte, die den Dünkel der Gebildeten und Mächtigen beschämt. Tolstoi gehört zu den größten Dichtern des Erleuchtungs-Augenblicks, in dem letzte Wahrheit die Schleier der Lüge fortreißt und im gewöhnlichsten Leben eine strahlende Fähigkeit zur Selbst-Transzendenz weckt.

Nietzsche und Tolstoi. Der Künder des Übermenschen und der Prophet der Millionen von einfachen Menschen. Kann eine Tradition sie beide aufnehmen? Sie kann – und muß, wenn sie eine Tradition der Person sein will. Denn wenn wir Persönlichkeit so verstehen wie auf diesen Seiten, so sprechen wir von dem natürlichen Adel, der das uneingelöste Versprechen jedes Menschen ist. Das sah Tolstoi unter der elenden Oberfläche der Massen. Nicht nur, wie Marx, eine Forderung nach Gerechtigkeit; nicht nur das kollektive Heldentum, das Mao wachrief, sondern etwas Feineres: die Sehnsucht nach Selbstentdeckung, die jeder Seele ihre einzigartige Bestimmung verleiht. 

Für Tolstoi waren die Bauernmassen nicht eine gesichtslose Woge der Menschheit – Kraft und Waffe der Revolution. Sie waren einzelne Leben auf der Suche nach Wahrheit. Und jedem räumte er das Recht auf Zurückgezogenheit, Innerlichkeit und Abenteuer ein. Nur ein Künstler kann mit seinem Wissen um die Sterblichkeit solche Tiefen der Person ausloten und erkennen, daß jeder, mögen Massen- und Klassenkonformität ihn auch fast ganz verschlingen, für sich allein stirbt. Und im Augenblick unseres Todes sind wir nichts mehr als eine Seele allein mit ihrem Schicksal.

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Aber darum geht es auch Nietzsche und den anderen großen Philosophen des Elitären in unserer Zeit – Kierkegaard, René Guénon, Ortega y Gasset. Wenn das demokratische Ideal unter ihrer kritischen Schärfe blutet, so geschieht das im Interesse unserer bedrohten Möglichkeiten. Was sie an der Demokratie verachten, hat schon De Tocqueville scharfsinnig erkannt: ihre psychologische Grundströmung von Ressentiment – gegen den Wagemut, das Andersartige, das Einmalige. Das Elitebewußtsein ist das Bewußtsein der Selbsttranszendenz: die Bereitschaft, harte Anforderungen an sich selbst zu stellen und Wachstum zu wagen, vor allem aber die Bereitschaft, auf Macht zu verzichten. Selbst Nietzsche konnte das in seltenen Augenblicken des Mitgefühls als eine universelle Möglichkeit ahnen:

... die Menschen, mit denen wir leben, (gleichen) einem Trümmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwürfe [...], wo alles uns entgegenruft: kommt, helft, vollendet, bringt zusammen, was zusammengehört, wir sehnen uns unermeßlich, ganz zu werden.*

 

Es gibt einen Punkt, wo Nietzsches aristokratische Geringschätzung und Tolstois weichherzige Volksverbundenheit sich kreuzen. Ihr gemeinsamer Boden ist das unerforschte Neuland der dritten Tradition.

Mir fällt dazu eine der erstaunlichsten Bibelstellen ein, die ich kenne. Ich zitiere sie, weil sie, wie ich glaube, die ganze Bedeutung einer auf Selbstentdeckung gegründeten Politik umreißt (4. Mos. 11: 26-29).

Es waren aber noch zwei Männer im Lager geblieben; der eine hieß Eldad, der andere Medad, und der Geist ruhte auf ihnen [...] und sie weissagten im Lager. Da lief ein Knabe hin und sagte es Mose an und sprach: Eldad und Medad weissagen im Lager. Da antwortete Josua, der Sohn Nuns, Moses' Diener, den er erwählt hatte, und sprach: Mein Herr Mose, wehre ihnen. Aber Mose sprach zu ihm: Bist du der Eiferer für mich? Wollte Gott, daß all das Volk des Herrn weissagte und der Herr seinen Geist über sie gäbe.

 

Verteidigung der Person  

Es gibt eine Gruppe von Denkern, die eine besondere Stellung in der Genealogie der dritten Tradition einnimmt: die Europäischen Personalisten, die Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts aktiv waren. Keine Bewegung unserer Zeit hat das Manifest der Person präziser gefaßt und gegen so große Widerstände verteidigt. Fast alles, was ich hier über das Recht auf Selbstent­deckung sage, verdanke ich ihrer Vorarbeit. Ich denke an das Werk von Nikolai A. Berdjajew, Gabriel Marcel und vor allem Emmanuel Mounier* und all denen, die sich um seine berühmte Zeitschrift Esprit scharrten.

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Weshalb haben diese Geister in Amerika nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdienen? Vielleicht weil die kommunistische Partei unter amerikanischen Intellektuellen nie soviel Einfluß hatte wie in Frankreich. Der Personalismus spricht eine Gewissenskrise an, die aus den moralischen Mängeln des organisierten Marxismus hervorgeht: der rücksichtslose Partisanenkampf, die schmutzigen Intrigen, das schäbige Kuschen vor autoritärer Führerschaft. Er ist das Banner, unter dem sich all jene sammeln, die zu oft den korrumpierten Idealismus ihrer Kameraden schmerzhaft zu spüren bekommen haben.

Dennoch, die Elemente personalistischer Sensibilität sind hier und da in das amerikanische Denken eingeflossen – in die Werke von Lewis Mumford, Thomas Merton und Paul Goodman, in die Dichtung von Kenneth Rexroth und Denise Levertov. Dwight MacDonald war mit seiner kleinen Nachkriegszeitschrift Politics ein herausragender Vertreter personalistischer Werte; sein Essay The Root Is Man ist vielleicht das klassische personalistische Pamphlet Amerikas.

 en.wikipedia  Dwight_Macdonald  (1906-1982)   wikipedia  Emmanuel_Mounier  1905-1950     wikipedia  Das_personalistische_Manifest (1936)

Der Personalismus ist eine Bewegung der Linken, die mit der mutigen Zurückweisung der wichtigsten revolutionären Führung jener Zeit begann: der Führungsrolle der Sowjetunion und der kommunistischen Partei. Weshalb? In erster Linie wohl, weil die Personalisten (wie alle demokratischen Sozialisten) im bürokratischen Kollektivismus des Stalin-Regimes, vor allem aber in dem Alptraum der Moskauer Prozesse eine Verletzung der Menschenwürde sahen, die dem kapitalistischen Unrecht an Scheußlichkeit in nichts nachstand.

Aber der Dissens der Personalisten ging noch tiefer. Er besaß eine metaphysische Dimension, die sich mit Marx' materialistischer Dialektik anlegte. Gerade diese Dialektik machte ja angeblich den 'wissenschaftlichen' Charakter des Marxismus aus. Ganz und gar nicht, sagten die Personalisten. Eine ausschließlich materialistische Interpretation von Geschichte und Gesellschaft führt nicht zu einem wissenschaftlich stichhaltigen Bild, sondern zu einer schlimmen Karikatur der Wissenschaft, zu einem starren Skeptizismus, der es aus Prinzip ablehnt, die Freiheit, die Kreativität und die transzendenten Strebungen der Person anzuerkennen. 

Und worin unterscheidet sich das letztlich von dem tödlichen Zynismus der kapitalistischen Kultur, die sich weigert, irgend etwas außer Haben und Verbrauchen, Geld und Macht zu achten? In solch einem entleerten Menschenbild ist kein Platz für Feinheiten, für Formbarkeit, für Zärtlichkeit – gleichgültig, welche Bewegung es sich zu eigen macht. Keine freudigen Überraschungen, die dem ökonomischen Kalkül in die Quere kommen könnten, warten im Menschenherz. Die Persönlichkeit ist durch physische Bedürfnisse und physische Macht völlig in Beschlag genommen; Mounier nannte das den "spirituellen Imperialismus des kollektiven Menschen".

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Die Personalisten (außer vielleicht Berdjajew) haben nie versucht, ihre Position zu einem System oder gar einer Ideologie auszuweiten. Vielmehr haben sie sich zum Ziel gesetzt, das sokratische Gewissen revolutionärer Politik zu sein, eine beharrliche ethische Sensibilität, die sich auf alle Systeme, alle Ideologien richtete. Das Herzstück ihrer politischen Einsicht war, daß moralische Sensibilität von lautstarker moralischer Entrüstung kaputt gemacht wird, die sich in Massen- und Klassenidentitäten, abstrakten historischen Bewegungen, Streitfragen, Anliegen und Parteilinien verliert. 

Dies sind die verbalen Phantome der Politik, und sie werden keine Spur 'wirklicher', wenn wir sie mit Blut und erbitterter Rhetorik tränken. So stellten die Personalisten ihr Kriterium auf: Hier ist ein ganzer Mensch, dieser Mann, diese Frau, eine zerbrechliche Verbindung aus Zeit und Ewigkeit, öffentlichem und Privatem, gesellschaftlicher Pflicht und persönlicher Bestimmung. Wird, was du vorschlägst, diesem Menschen in seiner Ganzheit gerecht? Vertieft es unser Bewußtsein von uns selbst als moralischen und schöpferischen Wesen, die zu ergründen versuchen, wozu sie berufen sind? Erkennt es den Genius in jedem von uns, durch den wir mehr sind als nur die Schachfiguren historischer Zwangsläufigkeit?

Und sie forderten Antworten, die nicht, von propagandistischen Alibis, illusionärem 'Realismus', kollektiven Erfolgsmaßstäben und weit hergeholten historischen Rechtfertigungen vernebelt waren. Dwight MacDonald zitierte gern eine Äußerung von Whitehead, in der diese Forderung formuliert war: „Konkrete Kontemplation der vollständigen Tatsachen." 

Der Personalismus forschte nach dem Fleisch und Blut, dem Hier und Jetzt hinter allen ideologischen Apologien. Aber es war immer ein Forschen, das sich auf konkretes Handeln gründete, das sich als Arbeits-Philosophie verstand und zu Bündnissen mit vielen Lagern bereit war – mehr als einmal, zumindest in Frankreich, sogar mit dem Kommunismus. Das konnte eine heikle, manchmal sogar riskante Zusammenarbeit sein; doch Mounier betonte immer wieder, der Personalismus dürfe sich nie zum Luxus isolierter Reinheit verführen lassen. Die Bewegung ließ zwar auch Raum für Einsamkeit und kontemplative Ruhe, wandte jedoch nie den Blick von den Straßen, den Fabriken, den Schlachtfeldern der Welt ab.

Mounier war erstaunlich optimistisch mit seiner Überzeugung, man könne den Industrialismus, den Nationalstaat, den ganzen institutionellen Apparat des modernen Lebens – einschließlich seiner politischen Massenstrukturen, den Gewerkschaften und dem Parteiensystem – doch noch dazu bringen, der Person zu dienen. Dieses Ziel, so meinte er, erfordere organisierte Anstrengungen, den Mut, sich gegen Eigeninteresse und fehlgeleitete Macht zu wenden und die Bereitschaft, im Bündnis mit anderen zu kämpfen, die der Sache des Personalismus zumindest zeitweilig zugänglich waren. Unter Mouniers Führung taten sich die Esprit-Gruppen bei vielen Unternehmungen der Volksfront hervor und schlossen sich im Krieg der Resistance an.

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Bei all seiner feurigen Eloquenz fällt es mir schwer, Mouniers Optimismus bezüglich der humanistischen Möglichkeiten des urban-industriellen Systems oder der konventionellen Politik zu teilen; doch seinen Elan zu Aktion und Engagement kann ich nur bewundern.

Für meinen Geschmack besitzt Mouniers Politik auch zuwenig ökologisches Gespür, zuwenig Achtung für die Natur als den 'unbehauenen Stein', der unser Handeln leitet und ihm Grenzen setzt. Zu oft setzt auch er Fortschritt mit Beherrschung der Natur gleich. Als Gruppe sind die Personalisten allzu intellektuelle hauptstädtische Franzosen, unzweifelhaft die Kinder der philosophes; vom ursprünglichen, organischen Tao ist nicht mehr viel zu spüren. Dennoch stehen sie in einer authentischen Tradition ethischer Mystik, einer Weise der Erfahrung, die wir in unsren desolaten Städten kaum noch anzutreffen erwarten. Am allerwenigsten wollte Mounier, daß aus seiner Spiritualität eine „heilige Beredsamkeit" wird, „die zwischen Himmel und Erde schwebt und beide verrät". Er wollte kein „übereifriger Anathematisierer" sein, der „erhabene Verachtung über eine aufgegebene Welt" ausgießt. Fürchte dich nicht lautet der Titel eines seiner letzten Essays – ein passendes Motto für seinen Mut und seine Energie.

Trotz ihres energischen Widerstands gegen den drückenden Materialismus der Marxschen Kritikmethode gebrauchten die Personalisten sie als Mittel zur Disziplinierung ihres Denkens. Sie räumten auch ein, daß Marx die Mängel konventioneller Religion richtig erkannt hatte – ihre moralische Verkommenheit, ihre „idealistische Blutlosigkeit". Berdjajew äußerte unumwunden, die Neigung zur Selbstversklavung mache sich mit besonderer Zähigkeit an religiöser Dogmatik und kirchlicher Mystifizierung fest.

Paradoxerweise könnte also gerade die prinzipielle Ablehnung alles Religiösen in unserer Zeit sich als ein zutiefst religiöses Unterfangen erweisen. Die religiöse Sensibilität des Personalismus ist streng und ungeduldig gegenüber allen Formen der Spiritualität, die sich zu bloßer psychischer Selbstbezogenheit verflüchtigen. Den neuen Religionen und human-potential-Therapien unserer Tage würde es sicher guttun, dem personalistischen Gewissen ausgesetzt zu werden. Denn hier ist eine moralische Leidenschaft, die ihre Sprache spricht, und der Dialog würde der ekstatischen Wolkigkeit vieler dieser Ansätze ethische Festigkeit geben. Zu häufig finden wir hier jene „entkräftete Spiritualität", die Mounier als „dekadente Selbstzufriedenheit", als „Frucht von Luxus und Müßiggang" geißelte.

In einem Punkt machte Mounier keinerlei Zugeständnisse: „Keine spirituelle Revolution ohne eine materielle Revolution." Er sah die Persönlichkeit stets als verkörperten Geist, dessen körperliche und ökonomische Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Er interpretierte diesen Zusammenhang sogar als die kennzeichnende, wenn auch ganz vernachlässigte Lehre des Christentums.

Für Mounier war die Fleischwerdung des Erlösers ein göttlicher Finger, der unablässig auf die Wirklichkeit von Materie und Geschichte deutet – also auch auf den prophetischen Auftrag, Recht geschehen zu lassen. „Echtes Christentum hat dem heutigen Materialismus mehr zu sagen als alle idealistischen Feinheiten und Ausflüchte."

Mouniers Personalismus ist eine sociologie des profundeurs genannt worden – ein Versuch, Einsamkeit mit Gesellschaft, Transzendenz mit Engagement zu verknüpfen. Und was ist das letztlich anderes als eine Politik der Vernunft – einer höheren Vernunft, die jenseits von eindimensionaler Religion und eindimensionaler Revolution liegt?

Es gibt den Wahnsinn jener, denen die Welt nur ein Traum ist, und es gibt den Wahnsinn jener, die das innere Leben ein Hirngespinst nennen. Der zweite Geisteskranke ist kaum weniger erschreckend als der erste. Während aber der erste in einer Anstalt verwahrt wird, gewinnt der zweite langsam Einfluß unter den Menschen, und sie vergessen, was es heißt, Mensch zu sein. Mag sein, daß der Personalismus über seinen Weg noch im Zweifel ist; doch eins weiß er: wenn es für seine Existenz trotz aller Irrtümer eine Rechtfertigung gibt, so liegt sie darin, diesem zweiten Irren den Weg zu versperren.  

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