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   Teil 2   -  Das persönliche Maß des Lebens: Heim, Schule, Arbeit und Stadt  

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5.  Zu groß ... 

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Zu groß.... und doch nicht groß genug. Das tödliche Paradox des modernen Lebens. — Wir leben in einer Zeit riesenhafter Institutionen, neben denen wir selbst als Zwerge erscheinen. Wir sehen uns von politischen und ökonomischen Systemen umzingelt, die in ihrer Gier nach grenzenloser Expansion nicht mehr fähig sind, sich bescheiden unseren persönlichen Bedürfnissen unterzuordnen. 

Selbst wo wir es mit öffentlichen Institutionen zu tun haben, die guter Absicht sind und nicht versuchen, private Vorteile aus uns zu schlagen, bedrückt uns die Gesichtslosigkeit und Starrheit, die unweigerlich jede Art von Massen­verarbeitung begleiten. Bei der Arbeit, in der Schule, auf der Straße, auf dem Markt sind wir Ziffern und Massen, und so erfahren wir auch uns selbst und einander — als Arbeitseinheiten, Arbeitslosenstatistik, Umfrageergebnisse, Gefallenen­listen, Computer-Ausdrucke ... selten als du und ich in unserer widerspenstigen Einmaligkeit.

Auf der anderen Seite erweisen sich diese weltumspannenden Systeme immer wieder als so engstirnig und von so beschränkter ethischer Perspektive, daß es einem Verrat an unseren Aufgaben als Weltbürger gleichkommt. Die Führer, die sich mit diesen Systemen globalen Einfluß zu verschaffen suchen, handeln ohne jedes beständige und verläßliche Verantwortungs­bewußtsein für das Wohl des Planeten, sondern jagen nur kurzsichtigen nationalen Vorteilen und wirtschaftlichen Profiten nach. 

Krieg und industrielle Technologie sind die beiden Faktoren unserer Zeit, die es zu wahrhaft planetaren Dimensionen gebracht haben; sie füllen die Meere mit Waffen und Dreck, die Luft mit Terror und giftigen Abgasen. Das eine bedroht den Planeten mit allmählichem Umwelttod, das andere mit augenblicklichem ökologischem Zusammenbruch. Aber unter denen, die über diese gewaltigen Kräfte gebieten, findet man allenfalls zaghafte Lippenbekenntnisse zu einer planetaren Ethik.

All unsere Probleme drehen sich um dieselbe Tatsache. Die großen Kräfte des politischen und ökonomischen Lebens, die uns in menschenfressenden Kollektivismus treiben und damit unsere Personalität zerschlagen, können sich nicht zu planetarer Verantwort­lichkeit aufraffen. Wenn unsere Regierenden in großen Zusammen­hängen denken, geht es nur um Macht und Profit. Ihrer promethischen Dynamik steht keine promethische Vision zur Seite.

 

Ich wundere mich immer, wenn praktisch denkende Menschen utopische Gemeinschaften und soziale Experimente kritisieren und kein anderes Argument zur Hand haben als daß sie oft mißlingen und wieder verschwinden. Wenn eine menschliche Institution soviel organische Geschmeidigkeit besitzt, daß sie zerfallen kann, nachdem sie fehlgeschlagen ist, um den Boden für neues Wachstum freizumachen — das kann doch nicht so schlimm sein. 

Etwas anderes ist viel ernster: wenn sie sich weigert zu sterben, nachdem sie sich selbst überlebt hat. Sie verrichtet dann weiterhin, was überflüssig geworden ist, drängt sich Menschen auf, für die sie keinen Wert mehr hat, und saugt deren Kräfte auf. Das ist, glaube ich, die Situation, in der wir uns mit den überentwickelten Institutionen der Industriegesellschaft befinden. Sie bedrohen die Person und den Planeten, aber sie wollen einfach nicht sterben und Platz machen. Sie sind nicht biologisch abbaubar. Sie sind unsere Schöpfung, vielfach mit hohen Idealen erdacht, aber dann in solchen Größenordnungen verwirklicht, daß sie einen brutalen, unpersönlichen Automatismus annehmen mußten. Sie sind eine Legion von Zombies, die uns eigentlich dienen sollten, dazu aber nicht die organische Sensibilität haben.

Vielleicht ist das Leben in manchen kleineren Ländern etwas sicherer vor ihnen. Aber kleine Länder sind oft nur im Umfang klein und haben ansonsten den gleichen Geist, die gleichen Gelüste. Zu oft imitieren sie freiwillig oder gezwungener­maßen den Stil der Supermächte. Sie urbanisieren, mechanisieren, systematisieren, und schließlich werden sie in größere Bündnisse und Märkte einbezogen. Schweden und Israel müssen unbedingt ein hochgerüstetes Militärsystem haben, inklusive atomarer Feuerkraft; die Schweiz profitiert stolz aus der Verfilzung des internationalen Geldmarkts. Jedes bettelarme Land der Dritten Welt möchte als erstes eine Metropolis mit Luxushotels und Wolkenkratzer-Bürokratie.

Ich glaube, daß die personalistische Sensibilität mit ihrem leidenschaftlichen Eintreten für das Recht auf Selbstentdeckung immer mehr Bedeutung gewinnt, um dem bedrohlichen Gigantismus des urban-industriellen Lebens entgegenzuwirken. Sie ist eine spirituelle Kraft, die der Planet selbst als Abwehrreaktion auf das wuchernde Wachstum hervorgebracht hat. Immer mehr Menschen suchen auf all den Wegen, die wir im ersten Teil erwähnt haben, nach einem noch nicht von Strukturen durchsetzten Raum, wo jeder seinen eigenen Weg gehen kann. Gerade jetzt, wo die urbane Kultur den Planeten zu monopolisieren droht, wird diese Sehnsucht, jenseits vorgeschriebener Identitäten zu leben, immer stärker.

Keine Gesellschaft ist diesem Verlangen jemals mit mehr als Wegsehen begegnet; keine Gesellschaft hat es je als legitimes Bedürfnis akzeptiert. Allen Gesellschaften, selbst solchen, die sich viel auf ihre Freiheit und Offenheit zugute halten, geht es in erster Linie darum, den Menschen zu sagen, wer sie sind; wenn wir ins Leben treten, sind wir schon mit Namen, Geschlecht, gesellschaftlicher Klassenzugehörigkeit und einem kulturellen Stil versehen. Wie sollen wir also politische und soziale Strukturen schaffen, die der Persönlichkeit Raum zur Expansion lassen, anstatt sie in eine Schublade zu zwängen?

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Natürlich kann niemand eine Gesellschaft entwerfen, für die es kein Vorbild gibt. Deshalb werde ich mich im folgenden auf die Erörterung einiger Grund­bedürfnisse beschränken, denen jede Gesellschaft Rechnung tragen muß. Einige Bedingungen müssen auch in einem personalistischen Sozialgefüge erfüllt sein, gleichgültig, was wir ansonsten ablegen wollen oder entbehrlich finden: Es muß ein Zuhause da sein, wo die Familie sich trifft und ihre Funktionen ausübt, es muß dafür gesorgt sein, daß die Jugend unterrichtet wird, und es muß Arbeit geben, mit der man seinen Lebensunterhalt verdient.

Familie, Erziehung, Arbeit, sie bilden das Stützgewebe des täglichen Lebens. Und weil sie so beständig und eng mit unserem Leben verknüpft sind, bilden sie das soziale Material, das wir ganz direkt zur Hand haben und experimentell verändern können. Wenn ich mich im folgenden eng an das Zuhause halte, so hoffe ich, daß es dadurch eine Art häusliche Praktikabilität gewinnt.

Ich frage also: Was ist eine personalistische Familie, eine personalistische Erziehung, ein personalistischer Lebensunterhalt? Niemand weiß das, es gibt keine fundierte Forschung, die wir befragen könnten, keine Führer, die uns mehr als ein paar inspirierende Anstöße geben können. Wir müssen die Antworten aus unserer eigenen Erfahrung ableiten, vielleicht vorwiegend aus unserer deprimierenden Kenntnis dessen, was nicht funktioniert hat. Wir müssen uns von unseren Wunden lehren lassen. In der gesamten Weltgeschichte haben Familie und Schule immer die Funktion gehabt, die Kinder nach den vorhandenen gesellschaftlichen Normen zu formen; Chef, Herr und Meister haben die Aufgabe, den Arbeitenden die Interessen der ökonomischen Elite aufzuzwingen. Immer hat es allwissende soziale Autoritäten und überlieferte Modelle gegeben, Hüter der Tradition einer Kultur, die mit der Macht zu legalem Zwang ausgestattet waren und Identitäten zuweisen durften.

Ausgehend von den Rechten der Person, schlage ich hier jedoch vor, die Stromrichtung unseres kulturellen Flusses umzukehren, so daß er bei den immanenten Bedürfnissen der Person entspringt und in die Strukturen der Gesellschaft mündet — aufgrund der Annahme, daß die menschliche Persönlichkeit unser kostbarster »Rohstoff ist, weil sie die ganze Spezies bereichert und den Planeten adelt. Welche Art von häuslichem Leben, von Erziehung und Arbeit kann also dem Abenteuer der Selbstentdeckung dienen? Diese Frage weist zwar drei Elemente auf, die einzeln zu erörtern sind, doch betrachte ich sie im Grunde als eine einzige soziale Konstellation, ein kontinuierliches erzieherisches Projekt. 

Die Aufspaltung dieses geschlossenen Prozesses der Persönlichkeits­entwicklung in einzelne Zuständigkeitsbereiche ist in der Tat eine der schlimmsten Entstellungen des modernen Lebens:

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hier das Zuhause, hoffnungslos auf Versorgung von außen angewiesen, auf Dienstleistungen, auf Einkommen aus entlegenen Quellen; die Arbeit anderswo, mit dem Zuhause nur durch die Gehaltsabrechnung verbunden; die Schule, noch woanders, geleitet von Spezialisten, die nur zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten äußeren Gegebenheiten lehren und deren Hauptaufgabe darin besteht, die Kinder den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen.

Diese drei sollten als ein Kontinuum verstanden werden, die nicht etwas herbeiführen, sondern etwas geschehen lassen sollen. Personalität kann nicht beigebracht werden; sie kann nur von selbst ans Licht kommen, wenn ihre Zeit reif ist. Das ist leicht gesagt, aber wieviel Überzeugung gehört dazu, glauben zu können, daß Menschen wirklich Personen sind, daß man auf ihr Wachstum vertrauen darf. Wir müssen uns die offene Kindheit zum Ideal machen — vom vorgeburtlichen Leben bis zum Erwachsenwerden. Zuhause und Schule sind in ihrer Verantwortung für diese Offenheit untrennbar verbunden; vielleicht werden sie sogar ein und dieselbe Institution, indem Eltern und Lehrer sich immer wieder abwechselnd um diesen oder jenen Aspekt der kindlichen Entwicklung kümmern.

Die große Herausforderung besteht darin, Sicherheit zu gewähren, ohne zu ersticken, zu führen, ohne zu beherrschen. Eine schwierige Kunst für alle Beteiligten: als Beispiel für reifes Erwachsensein vor den Kindern zu stehen und dabei nicht die Originalität zu überschatten, die in jedes Kind hineingeboren ist. Der Höhepunkt der Kindheit ist die Entdeckung der eigenen Berufung, der zu antworten die besondere Bestimmung jedes einzelnen ist. Und wenn diese Berufung dann nicht in einen Beruf umgemünzt wird, dann war unsere Erziehung nur Betrug und Enttäuschung. Arbeit ist nur die reife Phase des Lernens, ist Selbstentdeckung, die in die Arbeit jedes Tages hineingetragen wird.

Und schließlich werden wir in diesem Abschnitt noch über die Großstadt sprechen. Nicht weil die Großstadt eine soziale Grundstruktur ist; den größten Teil ihrer Geschichte sind die Menschen schließlich ohne Großstädte ausgekommen. Aber sie ist eine Grundstruktur des zeitgenössischen Lebens. Sie ist der Kontext all dessen, was wir hier erörtern; sie umschließt unser Zuhause, unsere Schule, unseren Arbeitsplatz. Städte regieren Staaten und unterhalten den industriellen Apparat. Vor allem erheben die Städte ein Monopol auf die Kultur. Ihnen gehört der Geist, das Expertentum, das Wissen der Welt. Selbst was wir über das Landleben sagen wollen, muß mit den Städten beginnen, denn das Land und die Rohstoffreserven der Natur gehören den Städten und werden von ihnen verwaltet. 

Wenn wir von einem persönlichen Maß des Lebens sprechen, wo steht dann die Großstadt? Können Städte — unsere Städte, diese wuchernden, alles verschlingenden Leviathane — zum Recht auf Selbstentdeckung beitragen? Oder sind sie die Falle, in der unsere Personalität ihren Geist aufgeben wird?

Die folgenden Kapitel haben wenige gesellschaftliche Rezepte zu bieten. Dafür verraten sie einiges über die Zweifel und Fehlschläge, denen ich auf meiner Suche nach einem Heimweg durch das urban-industrielle Ödland begegnete. Mein Familien­leben, meine Erziehung, meine Arbeit waren von den personenfressenden Pressionen unserer Zeit genauso übel zugerichtet wie bei allen anderen Menschen, die ich kenne. Und wieviel Zeit habe ich damit vertan, dieser Reform und jener Bewegung den Rücken zu stärken! 

Aber die Jahre vergehen, und ich bezweifle immer mehr, daß irgendeine Massenaktion oder offizielle Strategie mehr als ein wenig Erleichterung erreichen kann — und meist nur so, daß die Belastung auf andere Opfer und andere Lebensbereiche verschoben wird. Sollte es eine Revolution der Person geben, so wird es eine stille Revolution sein, die sich in erster Linie dem Wiederaufbau der Grundstrukturen des Lebens widmen wird. Sie wird Wurzeln in Heim und Nachbarschaft, in Schule und Arbeit haben müssen; sie wird die Dörfer wiederentdecken, die von unseren Großstädten begraben wurden; sie wird — vielleicht wörtlich — die fruchtbare Erde zurückfordern müssen, die unter dem Asphalt erstickt.

 

Alles, worüber ich hier spreche, beginnt mit der Person; doch die Bedürfnisse der Person, wohin ich auch schaue, bilden Gemeinschaft. Gemeinschaft gehört zu ihrem Wesen. Das Zuhause braucht einen tragenden Zusammen­hang: die Großfamilie, die Nachbarschaft, die Gemeinde, das Dorf. Arbeit, die einer Berufung entspricht, sucht nach gemeinschaftlichen Formen der Selbstorganisation. Erziehung braucht eine pädagogische Umgebung, die unsere Kinder davor schützt, daß ihre Kräfte und Wünsche von ökonomischen Kräften ausgebeutet werden. Die Stadt muß ihrer kollektiven Anonymität entrissen und zu einem Zusammenschluß von urbanen Dörfern gemacht werden. Überall, um es mit Mouniers Worten zu sagen, "kommt das Du, welches das Wir impliziert, vor dem Ich — oder begleitet es zumindest." Ein Gedanke schwebt über diesen Seiten: Mit Personalität ist Konvivialität gegeben.

Ich weiß, daß solch ein Ansatz — häuslich, unmittelbar, Schritt für Schritt — nicht mehr als zentimeterweises Vorwärtskommen erlaubt. Aber es ist eine Bewegung, die hier und jetzt durch wirkliche Projekte hervor­gebracht wird, und jeder gewonnene Zentimeter bedeutet wirklichen Boden für die Rechte der Person und die Gesundheit des Planeten.

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